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Sehnsucht nach dem „Großen Bruder“

Sind wir wirklich, indem Gott uns sieht? Erlaubt uns Gott, uns zu ändern, indem er mit den Augen zwinkert? Jedenfalls ist Gott selber nicht beobachtbar außer durch Symbole. Der Feuerbach-Kritik entgegne ich: nicht wir projizieren unser eigenes Bild in den Himmel, sondern wir sind die von Gott Beobachteten, denen Gott sich offenbart.

Sprechblase "see me"
„See me“ – „Sieht mich denn keiner?“ (Bild: Gerd AltmannPixabay)

Inhalt

Einführung

Wer bin ich? – Ich will gesehen werden!

Mobbing? – Ich will Wertschätzung erfahren!

Bevormundung? – Lebe echt!

Anonymität? – Suche nach Vertrautheit!

Kunstfiguren zur Identifikation!

Suche nach Überschaubarkeit und Einfachheit!

Suche nach Zoff und Sex? – Lebensbewältigung ist gefragt!

Big Brother als Überwacher? – Nein, als Vaterersatz!

Randbemerkung: Schwesterkirchen

Und die Gegner? Was haben sie von Big Brother?

„Dem Volk aufs Maul schauen“

Einführung

Mehr oder weniger bedeutende Medienereignisse sorgten schon immer nicht nur für Begeisterung, sondern auch für Empörung, man denke nur an die Erfindung des Buchdrucks, die einen nicht unerheblichen Beitrag zur Verbreitung der für die katholische Amtskirche „ketzerischen“ Gedanken Dr. Martin Luthers leistete, oder an die ersten sexuell freizügigen Filmszenen im Deutschen Fernsehen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Einführung des Privatfernsehens vor zwanzig Jahren wurde schon damals mit Skepsis seitens bildungsbürgerlicher und auch kirchlicher Kreise betrachtet; man befürchtete eine Verflachung des Niveaus der Inhalte von Fernsehsendungen und fühlte sich bestätigt durch eine Fülle täglicher Talkshows und ähnlicher Produktionen, die mit geringem Aufwand großen Anklang bei einem Publikum finden, das weniger an Information und Kultur als an schlichter Unterhaltung interessiert ist.

Seit Beginn des neuen Jahrtausends macht sich Empörung an einer neuen Gattung von Fernsehproduktionen fest, die meiner Einschätzung nach mit „Big Brother“ im Jahr 2000 begann. Man sperrt eine Reihe von Personen, die sich vorher persönlich nicht kennen, für eine gewisse Zeit unter bestimmten Bedingungen und Spielregeln zusammen, sei es im „Big-Brother“-Container oder auch in „Dschungel-Camps“, und stellt sie unter Dauerbeobachtung des Fernsehpublikums.

Szenarios und Spielregeln müssen zwar geändert werden, das Publikum will nicht immer das Gleiche sehen, aber seit mittlerweile fünf (… sechs, zehn…) Jahren wird diese Grundidee immer wieder (meist erfolgreich – mit Ausnahme vielleicht einer Gewichtsreduktions-Show mit Margarete Schreinemakers) neu aufgelegt. „Das ist doch sowieso vorbei!“ meinte der Studienleiter im Religionspädagogischen Amt Gießen, als ich im August 2000 nach Material für meinen Konfirmandenkurs: „Big Brother oder guter Vater im Himmel?“ fragte; damit irrte er sich jedenfalls, was das Genre insgesamt anging.

Ich verstehe, dass viele in der Kirche solche Sendungen am liebsten verbieten bzw. ihren Erfolg bei den Zuschauern totschweigen würden. Ich war zunächst auch für ein Verbot, als Anfang 2000 die Idee von „Big Brother“ veröffentlicht wurde, denn wie konnte man den Persönlichkeitsschutz dieser zehn jungen Menschen derartig missachten, die sich 100 Tage in einen Container sperren ließen? Der Ratsvorsitzende der EKD und rheinische Präses, Manfred Kock, nahm in der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“ vom 24. Juni 2000 Stellung zur geplanten Fortsetzung der Big-Brother-Serie und brachte die Kritik auf den Punkt. Jeder Mensch verdiene Schutz vor Ausbeutung, Bloßstellung, Voyeurismus und Selbsterniedrigung: „Wenn Menschen anonym und willkürlich bewertet werden, beschädigt man ihren Ruf und nimmt ihnen ihre Würde. Das ist kein Spiel mehr.“ Kock warf dem Sender RTL II „zynisch inszenierte Unfairness“ vor. Zudem würden den Zuschauern Spontaneität und Natürlichkeit nur vorgegaukelt. Die Zuschauer und die Akteure im Container würden gegeneinander ausgespielt. „Die Programmmacher des Senders werden für ihre Kreativität bezahlt. Sie könnten dafür Besseres bieten“, erklärte Kock. Er appellierte auch an die Kandidaten, den Spieß umzudrehen und die Zuschauer zum Wegzappen aufzufordern, wenn einem von ihnen übel mitgespielt werde.

Aber die öffentliche Empörung und auch die kirchliche Kritik liefen ins Leere. Im Familiengespräch meinte einer unserer Söhne: „Die haben sich das doch selber ausgesucht!“ Und im Linienbus war „Big Brother“ zeitweise das aktuellste Thema. Gesprächsfetzen junger Leute bekam ich mit: „Der Zlatko darf nicht rausgewählt werden!“ „Ich rufe an, damit der Jürgen rauskommt!“

Warum tun sich Teilnehmer so etwas an? Warum schauen so viele Zuschauer zu? Stecken hinter der Beliebtheit solcher Fernsehsendungen wirklich nur niedrigste Motive, krankhafter Voyeurismus und das Motto: „Jeder mobbe, so gut er kann!“?

Nein. Es geht um unbefriedigte Bedürfnisse, durchaus auch religiöse. Da suchen vor allem junge Menschen nach Halt und Orientierung – ohne dass eine Institution wie die Kirche sie bevormundet oder in institutionelle Zwänge hineinpresst.

Wer bin ich? – Ich will gesehen werden!

Woher weiß ein Kind, wer es ist? In einer Therapiestunde meiner Eigentherapie ließ mich mein Therapeut einmal mein Spiegelbild in seinen Augen anschauen, und mir ging auf (nicht ohne dass mir die Augen „über“gingen), dass ich gesehen werde und ich mir meine Identität nicht krampfhaft selber geben muss.

Als ich Gedanken für diese Betrachtungen sammelte, fuhr ich im Sommer 2000 mit dem Zug durch die Mecklenburgische Seenplatte. Was ich da konkret sah, weiß ich nicht mehr, ich schrieb allerdings den Gedanken nieder: „Was beobachtet wird, verändert sich.“ Im gleichen Urlaub las ich in einem Buch über Quantenphysik den Gedanken: „Beobachtet werden = wirklich sein. Unbeobachtet sein = sich verändern können.“ Hm. Sind wir wirklich, indem Gott uns sieht? Erlaubt uns Gott, uns zu ändern, indem er mit den Augen zwinkert? Jedenfalls ist Gott selber nicht beobachtbar außer durch Symbole (analog zur Quantenbeobachtung, wir können ihn nie so wahrnehmen, wie er wirklich ist), in denen er selbst sich uns zu erkennen gibt. Der Feuerbach-Kritik können wir als Christen mit der glaubenden Zuversicht begegnen, dass nicht wir unser eigenes Bild in den Himmel projizieren, sondern dass wir die von Gott Beobachteten sind, denen Gott sich selber offenbart. Nehmen wir Gottes Angesicht im Segen wahr, dann spüren wir, wie wichtig es ist, von Gott gesehen zu werden.

Es gibt seelische Störungen, die darauf beruhen, dass man als Kind von den Bezugspersonen nicht in der Weise „gesehen“ wurde, wie ein Kind das braucht, um sich psychisch gesund entwickeln zu können. Es gibt „übersehene“ Kinder, es gibt vor allem aber auch Kinder, die, sobald sie gesehen werden, gestraft, ausgelacht, bloßgestellt werden, so dass sie es bald lernen, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. In der transaktionsanalytischen Ausbildung lernte ich dieses psychische Erscheinungsbild als „paraphren“ zu bezeichnen, ein Kunstwort aus „hebephren“ und „paranoid“, entwicklungspsychologisch angesiedelt im Säuglingsalter, in dem es nacheinander um Grundängste geht, die im Extremfall, wenn sie nicht bewältigt werden, zu schizophrenen Störungen führen können: Hebephrene haben Angst, ausgesetzt zu werden, Paraphrene haben Angst, ausgelacht zu werden, Paranoiker haben Angst, zurückgewiesen zu werden. Paraphrene Menschen sind diejenigen, an die man sich nicht erinnert, wenn man die Teilnehmer einer Gruppe aufzählen will. Sie brauchen es am nötigsten, gesehen zu werden, haben aber Angst davor, weil für sie jedes Gesehenwerden ein Gefühl hervorruft, als ob sie an den mittelalterlichen Pranger gestellt werden sollten. Ist eine Gesellschaft, die „BigBrother“ hervorbringt, eine Gesellschaft von Paraphrenen, die zu einer hilflosen Form der Therapie greift?

Die Ambivalenz des Wunsches und der Angst, gesehen zu werden, spiegelt sich wider in der Faszination einer Sendung wie BigBrother: Einerseits identifiziert man sich mit den dort Eingesperrten, die sich Tag und Nacht beobachten lassen; andererseits ist man froh, nicht selber so beobachtet zu werden.

Braucht unsere heutige Gesellschaft solche Sendungen, weil nicht nur die Eltern zu wenig Aufmerksamkeit für ihre Kinder übrig haben, sondern auch Gott nicht mehr die Funktion dessen erfüllt, „der alles sieht“? Die Erzählung „Lisa mit dem großen Hut“ von Renate Schupp (Vorlesebuch Religion 3, S. 331) handelt von einem Mädchen, das sich unter ihrem großen Hut versteckt, damit Gott sie nicht sieht. Sicher ist es schrecklich, Gott nur als den strafenden Weltpolizisten zu erfahren, der vor allem auf meine Untaten achtet, aber was ist, wenn Kinder überhaupt keinen Gott mehr über sich wissen, der sie wahrnimmt und auf sie achtet, in irgendeiner Weise wichtig nimmt, was sie tun oder nicht tun? Die verbreitete Haltung, sich nur dann an Regeln zu halten, wenn man sich beobachtet fühlt, und die oberste Regel, dass man alles tun darf, außer sich erwischen zu lassen, bestätigt den Eindruck, dass Gott zumindest nicht als ein Beobachter des Geschehens auf dieser Erde und der eigenen Person erlebt wird, der wirksam eingreifen könnte.

Der strafende Gott, vor dem Lisa Angst hat, ist natürlich nur das Zerrbild des Gottes, der mich sieht, um mich anzunehmen, zu bejahen, und eben damit auch mit dem zu konfrontieren, was an mir nicht in Ordnung ist, damit ich es verändern kann. Indem ich angenommen werde, wie ich bin, kann ich mich verwandeln. Aus der Ermutigung „Nimm dich, wie du bist!“ erwächst die Zumutung: „Werde, der du werden kannst!“, um es mit zwei Buchtiteln von Rüdiger Rogoll zu formulieren.

BigBrother ist eine Anfrage an unsere Kirche und an den gelebten Glauben von uns Christen, ob wir Gott als den erleben und erlebbar vor Augen stellen, der uns sieht, dem die Schicksale der Völker und der Einzelmenschen nahegehen. Die Bibel ist voll von Schilderungen, wie Gott das Leid seines Volkes sieht und eingreift. Wo er zu schlafen scheint, erheben Propheten und Psalmdichter ihre Klage, wo Jesus schläft, wecken ihn die Jünger. Wenn Gott uns sieht, brauchen wir keinen BigBrother.

Mobbing? – Ich will Wertschätzung erfahren!

Viele werfen Sendungen wie BigBrother vor, dass hier das Mobbing salonfähig gemacht wird. Wer gesehen und wertgeschätzt werden will, muss auch in Kauf nehmen, dass er gemobbt, nominiert, verletzt, rausgewählt, verleumdet oder mit seinen wahren negativen Seiten „geoutet“ wird. Verkraftet das jeder Teilnehmer? Darf man Menschen derartig bewerten, wie es in BigBrother der Fall ist? Aber Tatsache ist: negative Bewertungen finden überall statt, selbst in der Kirche, wenn Kirchenvorsteher nicht gewählt werden, wenn über Taufscheinchristen und Fernstehende geredet wird, wenn wegen bestimmter Taten oder fehlender Rechtgläubigkeit ein Mensch sozusagen für die Hölle nominiert wird.

Im Container geschieht im Grunde dasselbe wie draußen, mit der Lupe betrachtet und so, dass „alle“ daran Anteil nehmen können. Für viele Kids scheint darum „Big Brother“ eine Möglichkeit des sozialen Lernens darzustellen, mehr als die eigene Familie. Natürlich sieht man da, wie sich viele durchs Leben im Container mobben. Sie wollen ja nicht rausgewählt werden und handeln nach dem Motto: Was den anderen schadet, nützt mir selber. Aber wenn das alles wäre, würde es bald langweilig, und es entspräche auch nicht den wirklichen Wünschen der meisten Zuschauer. Bei BigBrother oder ähnlichen Sendeformaten wird durchaus auch Gemeinschaftsgefühl und Verantwortung gelebt, und über die „Zicken“ und „Machos“, die sich am meisten über die Gefühle anderer hinwegsetzen, regt man sich als Zuschauer in der Regel am meisten auf.

Offenbar gehört zum Grundbedürfnis, gesehen zu werden, auch der Wunsch, sich seines eigenen Wertes gewisser zu werden: Wie sehen mich die anderen, welche Wertschätzung genieße ich, wie wichtig, wertvoll, liebenswert bin ich wirklich, und wer hat das letzten Endes zu bestimmen? Nach dem christlichen Glauben bin ich wertvoll als von Gott geschaffenes und geliebtes Geschöpf nach seinem Ebenbild; wenn ein solcher Glaube nicht mehr vorgelebt und ein solches Selbstbewusstsein nicht mehr vermittelt wird, suchen Menschen nach Ersatz-Wertschätzungen auch fragwürdiger Art.

Bevormundung? – Lebe echt!

Eine der zentralen Botschaften von BigBrother war die Aufforderung: „Lebe echt, mach dir und anderen nichts vor, denn im Container kannst du nichts vor den anderen verbergen.“ Eine gewisse Verwandtschaft zu biblischen Aufforderungen, sich mit dem eigenen Leben dem „Licht“ zu öffnen, statt es zu scheuen, und sich bewusst zu machen, dass wir dem göttlichen Gericht nicht entgehen können, lässt sich nicht leugnen. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, ob ich im häufig auch gnadenlosen Licht der Öffentlichkeit einer anonymen Zuschauerschaft stehe oder ob mir als Weltenrichter der barmherzige Menschensohn Jesus Christus gegenübersteht. Dass allerdings ausgerechnet kirchliche Moralapostel, die anderen vorschreiben wollen, wie sie ihr Sexual- oder Gebetsleben zu gestalten haben, sich über die Beobachtung des Privatlebens im BigBrother-Container aufregen, hat etwas Paradoxes.

Anonymität? – Suche nach Vertrautheit!

Die wachsende Anonymität, in der vor allem die Bevölkerung der Städte nebeneinander her lebt, bietet den Vorteil weitgehender Freiheit von der Enge und dem sozialen Druck festgefügter dörflicher oder großfamiliärer Strukturen. Man kann sich seine Freunde selber aussuchen, trägt aber auch viel größere Verantwortung für den Aufbau tragfähiger sozialer Netze. So mag ein Überschuss an Vertrautheitsbedarf entstehen; man sehnt sich nach Menschen, deren Bekanntschaft man nicht erst auf Grund eines eigenen Vertrauensvorschusses sozusagen „erwirbt“, sondern über die man ganz selbstverständlich Bescheid weiß, wie im Dorf, wo jeder jeden kannte und man sich sowohl das Maul über andere zerreißen konnte, als auch an ihrem Leben positiv Anteil nehmen konnte. Man braucht gar nicht oft die Sendung zu sehen, schon gehören die Protagonisten fast zur eigenen Familie, mindestens zur guten Bekanntschaft. Kein Wunder, dass BigBrother-Container-Insassen zeitweise bekannter waren als alle evangelischen Bischöfe zusammen; sie boten ein willkommenes gemeinsames Smalltalk-Thema im Bundesdorf Deutschland.

Eine ähnliche Funktion üben die Klatschspalten der Boulevard-Presse aus, dort allerdings sind es Prominente, an deren Privatleben man sozusagen als Zaungast teilnimmt. Neu an BigBrother und ähnlichen Formaten ist sozusagen die Demokratisierung des Prominentseins; man muss nicht mehr zum Adel gehören, um rund um die Uhr für ein neugieriges Publikum interessant zu sein. „Zlatko“ beweist, dass der kleine Mann prominent werden kann, während scheinbar Große in der Publikumsgunst abstürzen.

Kunstfiguren zur Identifikation!

Trotz ihrer Vertrautheit bleiben die neuen Alltags-Fernsehstars in gewisser Weise anonym, als klischeehafte, symbolträchtige „Kunstfiguren“. Man kennt sie nur mit Vornamen, schon darin liegt eine gewisse Anonymität, wie bei den Anonymen Alkoholikern. Man weiß, da ist auch etwas Künstliches dabei, ganz privat wie zu Hause ist man doch nicht, auch wenn die Teilnehmer sagen, dass man bald die Kamera vergisst; es ist eher, wie wenn man Besuch hat oder im Schullandheim übernachtet. Darin liegt auch ein gewisser Persönlichkeitsschutz – wie bei Schauspielern, die zwar immer auch sich selbst spielen, aber niemand weiß, in welchem Maße. Laien, die sich selber spielen, können eigentlich nur klischeehaft rüberkommen, da sie nicht wie gute Schauspieler gelernt haben, ihren Figuren Individualität zu verleihen. Aber vielleicht eignen sie sich gerade so um so besser als Projektionsfläche, als Symbolfigur.

Die Typen in BigBrother bieten uns wie im Märchen oder auch in der biblischen Geschichte Identifikationsmöglichkeiten. Da ist Alex, der Playboy, über den man sich herrlich aufregen kann, wenn man nicht jede Frau vernaschen will und sein Leben ernster nimmt. Da ist Jürgen, der Spaß im Leben will, aber das Geld, das er vom Sieger bekommen hat, an die Kinderkrebshilfe spendet, der auch lieber bei Ford im alten Job weiter arbeiten will, als für Ford einen Werbespot zu drehen. Da ist der gar nicht so dumme, aber einfach gestrickte Zlatko, der mit seinem Leben zufrieden ist (ist schon ok). Da ist die nervige Gruppenmutter Kerstin, die sich verliebt hat und leider an einen Playboy geraten ist, der ihre Liebe nicht erwidert. Da ist die Zicke Manu, die sich darüber aufregt, dass genau das passiert, womit man rechnen muss, wenn man sich einem Millionenpublikum präsentiert. Da ist die als Schlampe verkannte Sabrina, die eigentlich auf der Suche nach ihrem Traumprinzen ist und gerne viel lacht. Da ist die zurückhaltende Andrea, die sehr viel Sympathien bekommt, und das „Weichei“ John, der einen trainierten Körper und eine schwere Heimkindheit hat, öfter weint und sogar gewinnt, was er erst gar nicht fassen kann.

Es gibt Schülergruppen, mit denen ein Unterrichtsgespräch über BigBrother Aufmerksamkeit verspricht, was sonst nicht gelingt, wenn man über Jakob, den Vater-Betrüger-und-vom-Onkel-Überlisteten-und-schließlich-mit-Gott-Kämpfer, oder Kain, den Finster-den-Blick-Senker, oder Jesus, den Die-andere-Wange-Hinhalter, spricht.

Suche nach Überschaubarkeit und Einfachheit!

Je komplexer die Welt, desto größer die Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Einfachheit. Da die Welt immer schon kompliziert war, projizierte man schon in der Bibel die Weltprobleme auf das Bild eines Gartens, einer Arche, eines Turmbaus, um mit Hilfe einer einfachen Erzählung ihrem Sinn auf die Spur zu kommen. Auch der Monotheismus vereinfacht die Welt, auch die Konzentration der christlichen Religion auf den einen einfachen Menschen Jesus. Vielleicht gehört auch das moderne Interesse an der Institution des Papstamts in diese Reihe; wenn ein Mann an der Spitze der Weltkirche steht, weiß man, wer die Richtung der Kirche bestimmt, auf wen man Verantwortung abschieben und an wem man sich reiben kann, der Papst wird sozusagen zum Dorfpfarrer in der globalen Menschengemeinde.

Nicht jede Vereinfachung als solche ist schlecht. Sie kann ein Mittel sein, um sich komplexe Sachverhalte unserem Verstand, den Verstehensmöglichkeiten des Menschen, anzupassen. „Simplify your life“ ist zum Slogan einer christlich inspirierten Reihe von Büchern, Zeitschriften und Internetseiten, die Menschen beratend zur Seite stehen wollen, die sich in einer immer komplizierter gewordenen Welt nicht mehr alleine zurechtfinden. Früher galt Einfachheit im Sinne von heiliger Einfalt als hoher Wert. Könnte Zlatko als ein einfältiger Mensch in diesem Sinne angesehen werden?

Suche nach Zoff und Sex? – Lebensbewältigung ist gefragt!

Wer sucht das Gespräch mit dem Pfarrer, wenn er Sorgen hat, wenn er Erfüllung im Leben sucht? Jugendliche und junge Erwachsene jedenfalls nicht. In Predigten erwartet auch nur eine Minderheit die Klärung von Lebensfragen. BigBrother zeigt, dass die Fragen als solche keineswegs vom Tisch sind. Und gerade die Kids zwischen 12 und 25 sind anscheinend mehr daran interessiert, wie die BigBrother-Stars ihr Alltagsleben auf engstem Raum bewältigen, als daran, möglichst viel Zoff oder Sexszenen mitzuerleben.

Eigenartig – im Container werden Tugenden vorgelebt, die man nicht erwartet: Bastelt euch selber ein Fernsehen, wenn ihr keine Glotze kucken dürft! Gestaltet eure Freizeit selber! Lernt etwas auswendig! Beschäftigt euch mit Kultur! Schule schafft das nicht, was BigBrother hier bei manchen vielleicht anregt. Auch gute Diskussionen über Behinderte konnte man mitbekommen. Und das ganz normale langweilige Leben im Alltag. Oder auch Gesprächsthemen, die nervten. Alles normal – aber wenig empörend.

Zeitvertreib, Spiel, Fest – verbindende Elemente in BigBrother. Die Teilnehmer selbst sehen es als Spiel, nehmen vieles weniger ernst als die Macher, die manche Konflikte hochspielen, oder die alten Voyeure, die BigBrother mit einem Porno verwechseln. Und wenn es Verletzungen gibt, wie es sie auch bei einer Nichtwahl zum Kirchenvorstand geben kann? Dann sind bei RTL II professionelle Berater da, die die Teilnehmer auffangen.

Big Brother als Überwacher? – Nein, als Vaterersatz!

Darf man überhaupt eine Sendung „Big Brother“ nennen, wenn doch dieser Name für unmenschliche Überwachung durch einen totalitären Staatsapparat steht, wie George Orwell ihn in seinem Zukunftsroman „1984“ warnend vor Augen gestellt hat? Offenbar löst der Name in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges keine Ängste mehr aus, wie das in meiner Jugendzeit der Fall gewesen wäre. Totalitarismus ist keine Erfahrung der Jüngeren mehr. Heutige Kinder kennen von Orwell zwar noch „Animal Farm“, aber „1984“ ist ihnen kein Begriff. Sie haben keine Angst vor dem Großen Bruder, der alles sieht, sondern sehnen sich offenbar mehr als frühere Generationen danach, gesehen und nicht übersehen zu werden.

Und bezeichnend für eine „vaterlose Gesellschaft“, in der es immer mehr alleinerziehende Mütter gibt und in der jedenfalls die Mütter die Hauptautorität für Kinder darstellen, ist die Sehnsucht nach dem „Großen Bruder“, der für mich da ist, nicht nach dem Vater, nicht nach den Eltern. Der Gottesdienst als Ritual hat für die meisten Kids keinen Sitz im Leben mehr, außer vielleicht in den Freikirchen. Zeitweise schien BigBrother vielen ein neues Ritual der Selbstvergewisserung, der Wertfindung, der Identität in Übereinstimmung und Abgrenzung, im Austausch mit anderen, anzubieten. BigBrother war Thema auf dem Schulhof und im Bus.

Wenn religiöse Sehnsüchte, die die Kirche nicht mehr befriedigt, in Sendungen wie BigBrother zum Ausdruck kommen, kann es sinnvoll sein, im kirchlichen Unterricht an das, was Kinder und Jugendliche sowieso beschäftigt, anzuknüpfen. Das gelang im Jahr 2000 in einem Konfirmandenkurs „Big Brother oder guter Vater im Himmel“, in dem wir unter anderem die Erfahrung im Psalm 139: „Gott sieht mich, ich kann ihm nicht entfliehen, ich bin bei ihm geborgen“ mit Zlatkos und Jürgens Hit „Großer Bruder, du bist für mich da“ verglichen.

Randbemerkung: Schwesterkirchen

Im drittletzten Abschnitt: eine Randbemerkung. In der ökumenischen Diskussion spielt in den Septembertagen des Jahres 2000 der Begriff der „Schwesterkirchen“ eine große Rolle. Ist Gott unser Vater und Jesus unser Großer Bruder, dann sind alle Menschen Geschwister. Der Große Bruder jedenfalls einer, der uns dient und nicht niedermacht. Die katholische Kirche scheint innerhalb derer, die an Jesus Christus glauben, die Rolle einer Großen Schwester übernommen zu haben, die die anderen Geschwisterkirchen bevormundet – bis dahin, ihnen abzusprechen, Schwesterkirchen zu sein. Das Problem der „Erklärung Dominus Iesus“ der „Kongregation für die Glaubenslehre“ der katholischen Kirche liegt meines Erachtens darin, dass ein spezieller konfessioneller Zugangsweg zu Christus verabsolutiert wird, ohne anzuerkennen, dass es sich lediglich um eins von mehreren möglichen Paradigmen des einen Glaubens an Christus handelt, die Hans Küng in seinem Buch „Geschichte und Wesen des Christentums“ hervorragend herausgearbeitet hat. Von der Unterscheidung und Zuordnung zwischen Dialog und Mission im Blick auf die nichtchristliche Welt, die das Zentrum des gleichen Dokuments bildet, können allerdings auch wir evangelischen (und evangelikalen) Christen und eine große Scheibe abschneiden: Hier kommt eine Geschwisterlichkeit aller Menschen unter dem einen Vater im Himmel in den Blick, die größte Verbindlichkeit im eigenen Glauben mit größtem Respekt vor der Freiheit des Andersglaubenden verbindet.

Und die Gegner? Was haben sie von Big Brother?

Ein Großteil des Bildungsbürgertums war schon immer gegen „triviale“ Unterhaltung – Karl May, TKKG, Mary Scott, Enid Blyton – Talkshows, die ein Bedürfnis nach persönlichem Austausch und Lebenshilfe widerspiegeln, das wir Kirchengemeinden und Seelsorger nicht mehr befriedigen, und Fernsehserien, die manchmal wertvolle erzieherische Hinweise und anrührende Szenen liefern.

In der Kirche und in der Schule rümpften Pfarrer und Lehrer die Nase über Bigbrother. Das könnte auch ein Indiz dafür sein, dass viele die Lebenswelt der Jugendlichen nicht mehr kennen oder so wahrnehmen wollen, wie sie ist. Dabei sind die Jugendlichen in ihren Sehnsüchten uns großenteils wahrscheinlich ähnlicher als wir denken. Vielleicht ist BigBrother sogar ein Versuch, endlich einmal etwas zu haben, was die Generation der Rock-Opas mit Computer, Internet und Jeans nicht auch vereinnahmt.

Wir können uns empören. Auch das gehört dazu und wird die BigBrother-Fans nicht stören, eher erheitern und in ihrer eigenen Identität stärken. Wir outen uns damit als out.

Wir können kritisieren und trotzdem realistisch davon ausgehen: BigBrother spricht Bedürfnisse an – und zwar nicht nur Profitgier und niedere Instinkte, sondern reale Bedürfnisse, auf die wir in der Kirche nicht mehr angemessen reagieren. Nehmen wir die Herausforderung an, indem wir unsere Rituale überprüfen und als Orte der Selbstfindung erneuern.

Im Lehrerzimmer hörte ich von krassen Vorurteilen: BigBrother sei satanistisch – wegen des Titelsongs: „Leb, wie du dich fühlst!“ Und wenn du dich wie ein Killer fühlst? Nein, diese Konnotation ist der Mehrheit der Teilnehmer und Zuschauer völlig fremd, auch Voyeurismus scheint nur einige ältere männliche Zuschauer angelockt (und enttäuscht) zu haben. Ernstnehmen der Gefühle in einer von Aktienkursen und Ellbogen beherrschten Welt – ist das nicht hoffnungsvoll? Natürlich wird dadurch nicht automatisch alles gut – siehe oben: der eine lebt als Playboy auf Kosten anderer und verhält sich auch im Container wie ein „Kotzbrocken“, der andere lebt echte Freundschaft und ist nicht auf die große „Kohle“ fixiert.

„Dem Volk aufs Maul schauen“

Wer heute dem Volk aufs Maul schauen will, muss sich manchmal auch der Mühe unterziehen, sich in „triviale“ Denk- und Vorstellungsformen einzufühlen und die Bedürfnisse zu erspüren, die hinter den verzerrten Formen von Leben ihr eigenes Recht behalten. Ob Paulus uns heute raten würde, bis zu einem gewissen Grad auch den BigBrother-Fans ein BigBrother-Fan zu werden?

„Wie lange die BigBrother-Euphorie anhält – man kann es nicht sagen.“ So formulierte ich im Jahr 2000. „Vielleicht kommt das neue Konzept – mehr Action, mehr Sex – bei den Kids ja überhaupt nicht an“, schrieb ich ein Jahr später, und behielt damit Recht. „Vielleicht ist die zweite Staffel trotz allem eine Enttäuschung, weil erste Erfahrungen immer etwas Uneinholbares haben“, das bewahrheitete sich spätestens mit Staffel 3 und allen folgenden. BigBrother geht vorbei wie die Begeisterung meiner Schüler in der 5. und 6. Klasse für die Teletubbies, kurz bevor BigBrother begann. Kinder und Jugendliche suchen zeitweise eine Einfachheit bis an die Grenze der Verblödung, grenzen sich ab, finden etwas wieder, nuckeln an Schnullern und hören wieder damit auf. Auch Pokemons sind sterblich, stand im „Evangelischen Pressedienst“, sie bieten Struktur, Ritual, Überschaubarkeit, eine Welt, die man auswendig lernen kann, wobei man sich gleichzeitig gegen die abgrenzt, die nicht Bescheid wissen. Eingeweihtsein, Stufen der Erkenntnis – so etwas gab und gibt es auch in der Welt der Erwachsenen. In Trivialitäten können sich geniale Ideen verbergen.

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