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„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“

Das hat einen Doppelsinn: Blut kann über uns kommen im Sinne der blutigen Folgen blutiger Taten. Das geschieht nach Matthäus den Juden, als Jerusalem zerstört wird. Blut kann aber auch über uns kommen im Sinne des Versöhnungs­blutes der Opfertiere. So hat das Blut Jesu, das von Hohepriestern und Pilatus und im über­tragenen Sinne von uns allen vergossen wurde, versöhnende Wirkung.

Passionsrelief - anscheinend mit dem Prozess der Verurteilung Jesu
Wer ist verantwortlich für die Kreuzigung Jesu? (Bild: Tomasz MikołajczykPixabay)

direkt-predigtGottesdienst am Karfreitag, den 14. April 2006, um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen (dieser Gottesdienst wäre ohne die Anregungen und Zielsetzungen des Artikels von Andreas Bedenbender, „Sein Blut komme über uns…“, in der Exegetischen Zeitschrift „Texte & Kontexte“ Nr. 87, Heft 3/2000, S. 32-48, nicht denkbar gewesen)

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße alle herzlich im Gottesdienst am Karfreitag in der Pauluskirche.

Der Tag, an dem Jesus am Kreuz starb, ist er ein Tag, um zu feiern oder zu trauern? Wir suchen Antworten auf diese Frage, indem wir über das Blut nachdenken, das Jesus vergossen hat und das in Texten der Bibel und in Passionsliedern oft vorkommt. Dabei wird uns besonders ein schwieriges Wort aus dem Evangelium nach Matthäus 27, 25 beschäftigen:

„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“

Wir singen aus dem Lied 85 die Strophen 1 und 4:

1. O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßet seist du mir!

4. Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Um Blut geht es in diesem Gottesdienst. Aber nicht um blutrünstige Vorstellungen von Blutvergießen und Gewalt. Im Alten Testament steht das Blut für Leben, für Vergebung und für den Bund zwischen Gott und seinem Volk. Für die Juden ist das Blut Träger des Lebens. Darum sollen sie kein Blut verzehren. Das Blut von Opfertieren spielt eine Rolle, wenn Menschen Gott um Vergebung bitten und wenn Gott seinen Bund mit den Menschen schließt. Wo in der Bibel Gott mit Blut zu tun hat, da will Gott das Leben für die Menschen.

Kommt, lasst uns anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Wer ist verantwortlich dafür, dass das Blut Jesu vergossen wurde? Im Lied haben wir gesungen: „Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Unsere Sünde bringt Jesus ans Kreuz. Das ist wahr, wenn wir uns im Licht des Gleichnisses vom Weltgericht betrachten, wo Jesus sagt: „Was ihr meinen geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Alles, was wir anderen Menschen antun, ist ein Leid, das wir Jesus zufügen. Alles, was wir unterlassen, um Menschen in unserer Welt vor Hunger und Gewalt und Erniedrigung zu bewahren, trifft indirekt Jesus. So werden wir tagtäglich schuldig an vielen, die zum weltweiten Leib der Gemeinde Jesu gehören. Wir bekennen unsere Schuld und rufen zu Gott:

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Wir müssen unsere Schuld nicht selber tragen, sondern in Jesus nimmt Gott selber die Strafe auf sich, die wir verdienen. Er verurteilt nicht seine Mörder, er verurteilt uns nicht, wenn wir am Leib Christi schuldig werden. Er vergibt und bittet für uns um Vergebung: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, hilf uns, die Gefühle auszuhalten, die mit dem Karfreitag verbunden ist, und lass uns nicht in Niedergeschlagenheit versinken. Schenke uns Einsichten im Nachdenken über dein Wort. Mach in uns das Vertrauen zu dir stark. Lass uns deine Liebe erkennen im Sterben Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Schriftlesung zum Karfreitag aus dem Evangelium nach Markus 15, 33-37:

33 Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.

34 Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

35 Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia.

36 Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst sehen, ob Elia komme und ihn herabnehme!

37 Aber Jesus schrie laut und verschied.

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen. „Amen.“

Glaubensbekenntnis

Wir singen aus dem Passionslied 77 die Strophen 1 bis 3 und 8:

1. Christus, der uns selig macht, kein Bös‘ hat begangen, ward für uns zur Mitternacht wie ein Dieb gefangen, eilend zum Verhör gebracht und fälschlich verklaget, verhöhnt, verspeit und verlacht, wie denn die Schrift saget.

2.In der ersten Stund am Tag, da er sollte leiden, bracht man ihn mit harter Klag Pilatus dem Heiden, der ihn unschuldig befand, ohn Ursach des Todes, ihn derhalben von sich sandt zum König Herodes.

3.Um Drei hat der Gottessohn Geißeln fühlen müssen; sein Haupt ward mit einer Kron von Dornen zerrissen; gekleidet zu Hohn und Spott ward er sehr geschlagen, und das Kreuz zu seinem Tod musst er selber tragen.

8.O hilf, Christe, Gottes Sohn, durch dein bitter Leiden, dass wir dir stets untertan Sünd und Unrecht meiden, deinen Tod und sein Ursach fruchtbar nun bedenken, dafür, wiewohl arm und schwach, dir Dankopfer schenken.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde, wer ist verantwortlich dafür, dass Jesu Blut vergossen wurde? In Matthäus 27, 25 steht der Satz:

„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“

Ein Satz mit furchtbaren Folgen. Er ist dort dem Volk der Juden in den Mund gelegt, und die christliche Kirche hat ihn viele Jahrhunderte lang so verstanden, als ob die Juden die Alleinschuld am Tod Jesu getragen hätten. Ich möchte heute darüber nachdenken, ob dieser Satz nicht auch einen anderen Sinn haben kann.

Um uns an die Auslegung langsam heranzutasten, lesen wir Matthäus 27 von Beginn an in mehreren Abschnitten:

1 Am Morgen aber fassten alle Hohenpriester und die Ältesten des Volkes den Beschluss über Jesus, ihn zu töten,

2 und sie banden ihn, führten ihn ab und überantworteten ihn dem Statthalter Pilatus.

Hier hören wir, wie in der Nacht der Verhaftung Jesu in Jerusalem die Macht verteilt war. Der Hohe Rat der Juden, der aus den obersten Priestern und Vertretern der wohlhabendsten Familien besteht, betrachtet Jesus als Gotteslästerer und will seinen Tod. Aber nur der Vertreter der römischen Besatzungsmacht, Pilatus, darf ein Todesurteil aussprechen und vollstrecken.

3 Als Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück

4 und sprach: Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe. Sie aber sprachen: Was geht uns das an? Da sieh du zu!

Zum ersten Mal kommt das Wort „Blut“ vor. Judas gebraucht das Wort, als er seine Schuld bekennt: Er hat „unschuldiges Blut“ verraten. Wir sind so gewohnt, in Judas den unverbesserlichen oder gar teuflischen Schurken zu sehen, dass wir leicht übersehen, was Judas hier tut: Er zeigt echte Reue und bekennt sie vor den Priestern. Als König David seine Schuld bekennt, wird ihm vergeben. Als Petrus bitterlich weinend die Verleugnung Jesu bereut, erfährt er ebenfalls Vergebung. Dem Judas schlägt von denen, die den Tod Jesu aktiv betrieben haben, nur zynische Menschenverachtung entgegen: „Da sieh du zu! Was geht uns das an?“

Diese Haltung steht im Widerspruch zu der Vergebung, die dem Matthäus in seinem Evangelium außerordentlich wichtig ist. Mir scheint, dass Matthäus nicht den Judas verteufeln, sondern uns warnend vor Augen stellen will, wie katastrophal es enden kann, wenn man, blind für eigene Schuld, einen anderen auf seiner Schuld festnagelt:

5 Und er [Judas] warf die Silberlinge in den Tempel, ging fort und erhängte sich.

Da hat einer bereut. Und er erfährt keine Vergebung: „Damit musst du allein fertigwerden.“ So treibt man ihn in die Verzweiflung, in den Selbstmord. Matthäus verurteilt Judas nicht dafür, er beschreibt nur nüchtern seine Verzweiflungstat. Ob Judas für Matthäus sinnbildlich das jüdische Volk verkörpert, soweit es Jesus als Messias ablehnt? Ich denke, Matthäus warnt uns Christen davor, zu denken: „Was geht uns das Schicksal der Juden an?“ Wenn Juden, nicht anders als wir alle, Schuld auf sich laden, gilt ihnen genau wie uns Gottes Ruf zur Umkehr und Jesu Angebot der Vergebung. Wenn wir aber Juden allein die Schuld für den Tod Jesu zuschieben, handeln wir wie die Priester, die den Judas in den Tod treiben.

Viel ausführlicher als vom Schicksal des Judas erzählt Matthäus, was mit dem Geld passiert, das Judas für den Verrat bekommen hat und das er jetzt in den Tempel wirft:

6 Aber die Hohenpriester nahmen die Silberlinge und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir sie in den Gotteskasten legen; denn es ist Blutgeld.

7 Sie beschlossen aber, den Töpferacker davon zu kaufen zum Begräbnis für Fremde.

8 Daher heißt dieser Acker Blutacker bis auf den heutigen Tag.

9 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht: „Sie haben die dreißig Silberlinge genommen, den Preis für den Verkauften, der geschätzt wurde bei den Israeliten,

10 und sie haben das Geld für den Töpferacker gegeben, wie mir der Herr befohlen hat“.

Warum diese ausführliche Schilderung? Offenbar findet sich Matthäus nicht einfach damit ab, dass diejenigen, die den Tod Jesu mit Verrat geplant haben, alle Schuld von sich weisen. In Gestalt der Silberlinge bleibt das Blut Jesu an ihren Händen kleben. Dass für das Blutgeld der Blutacker gekauft wird, trägt für Matthäus einen symbolischen Sinn in sich: Vierzig Jahre nach Jesu Tod wird Jerusalem zerstört, nachdem jüdische Freiheitskämpfer einen gewaltsamen Aufstand gegen Rom versucht haben. Ganz Jerusalem wird sozusagen zu einem einzigen „Blutacker“. Der Tod Jesu wird erkauft um den Preis der Zerstörung Jerusalems.

Szenenwechsel – wir sind nun im Prätorium, im Amtssitz des kaiserlichen Statthalters Pontius Pilatus:

11 Jesus aber stand vor dem Statthalter; und der Statthalter fragte ihn und sprach: Bist du der König der Juden? Jesus aber sprach: Du sagst es.

12 Und als er von den Hohenpriestern und Ältesten verklagt wurde, antwortete er nichts.

13 Da sprach Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, wie hart sie dich verklagen?

14 Und er antwortete ihm nicht auf ein einziges Wort, so dass sich der Statthalter sehr verwunderte.

Es fällt auf, wie wenig Jesus vor Pilatus sagt, und wie respektvoll Pilatus ihm deswegen begegnet. Jesus bestätigt nur, dass er „der König der Juden“ ist, der Gesalbte, der Messias. An sich hätte das für Pilatus für ein Todesurteil ausreichen können, denn es gab damals viele, die sich als Messias verstanden und den Römern mit Gewalt die Macht abnehmen wollten; Judas hatte wahrscheinlich Jesus deswegen verraten, weil er enttäuscht darüber war, dass genau das nicht das Ziel von Jesus war. Der Machtmensch Pilatus, von dem wir aus anderen Quellen wissen, dass er skrupellos und zynisch genug war, um über Leichen zu geben, ist beeindruckt, dass Jesus keine Volksreden schwingt, sich nicht einmal gegen die Vorwürfe verteidigt, die gegen ihn erhoben werden.

15 Zum Fest aber hatte der Statthalter die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.

16 Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus Barabbas.

17 Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?

18 Denn er wusste, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten.

Was ist davon zu halten, dass Pilatus das Volk der Juden vor die Wahl stellt, sich für einen von zwei besonderen Gefangenen zu entscheiden? Es ist keine Geste der Großmut, es ist eine infame Grausamkeit. Im jüdischen Ghetto von Wilna zwingt der deutsche Polizeioffizier Hans Kittel die jüdische Ghettoleitung, Menschen für die Vernichtung auszuwählen: Wenn sie nicht selber 1000 Namen auf die Liste setzen, holen die Deutschen 2000 in die Vernichtungslager ab.

Das Volk hat also nur die Wahl, entweder gar keine Wahl zu treffen, dann werden beide getötet, oder sich für einen auf Kosten des anderen zu entscheiden. Als ob Matthäus andeuten will, wie ausweglos diese Situation ist, heißen in seinem Evangelium beide Gefangenen Jesus. In jedem Fall wird ein Jesus hingerichtet werden, entweder der mit dem Beinamen Bar Abbas, was auf Deutsch „Sohn des Vaters“ heißt, oder der, den man den Gesalbten nennt, „Christus“, den Friedensmessias.

19 Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen.

Wer ist verantwortlich für den Tod Jesu? Diese kleine Szene zeigt, wie klar und deutlich Pilatus die Unschuld Jesu vor Augen stand. Sogar seine eigene Frau warnt ihn vor dem Unrecht, einen Gerechten hinzurichten. Doch wir werden sehen, wie er ihre Warnung in den Wind schlägt.

20 Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten.

21 Da fing der Statthalter an und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen von den beiden soll ich euch losgeben? Sie sprachen: Barabbas!

22 Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Lass ihn kreuzigen!

23 Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Lass ihn kreuzigen!

Wir hatten gesehen, das Volk steht vor der Wahl, einen von zwei Gefangenen, die beide Jesus heißen, auf jeden Fall dem Tode auszuliefern: Christus oder Bar Abbas, den „Friedensmessias“ oder den „Sohn des Vaters“. Matthäus lässt im Dunkeln, wer dieser Bar Abbas überhaupt war. Andere Evangelisten deuten an, dass er dem gewaltsamen Widerstand gegen die Römer angehörte oder im Umfeld aufgegriffen worden war.

Das Volk der Juden, aufgewiegelt durch die Hohenpriester und Ältesten, entscheidet sich für die Freilassung von Bar Abbas. Da scheinen sich zwei Interessen zu vermischen. Die führenden Kräfte in Jerusalem werden mit Jesus Christus einen unbequemen Kritiker los. Und für das Volk, so stelle ich mir vor, ist Bar Abbas der eigentliche Friedensmessias: ein Held des Freiheitskampfes gegen die Römer. Wie soll Jesus die Befreiung erreichen, wenn er sich ohne Gegenwehr gefangennehmen lässt und den gewaltsamen Widerstand ablehnt? Matthäus deutet aber in den Namen der beiden Gefangenen an, dass die Entscheidung des Volkes in jedem Fall für Jesus Christus ausfällt, auch wenn sie ihn ablehnen. Indem sie Bar Abbas wählen, entscheiden sie sich indirekt wirklich für den Sohn des Vaters im Himmel, der Freiheit für die Menschen eben dadurch erreicht, dass er am Kreuz stirbt. Nicht eine Freiheit, die darin besteht, dass die ehemals Unterdrückten nun ihre Unterdrücker beherrschen, sondern die Freiheit, die aus der Liebe kommt, die die Sünde, das Unrecht und die Gewalt besiegt.

24 Als aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu!

Zum zweiten Mal weist hier einer Schuld von sich und sagt: „Seht ihr zu!“ Vorher hatten die Hohenpriester und Ältesten so zu Judas gesprochen, hier redet Pilatus so zum Volk. Adolf Eichmann berief sich ausdrücklich auf Pontius Pilatus, als er behauptete, er habe die Vernichtung der Juden gegen seinen eigenen Wunsch organisieren müssen: „Ich konnte meine Hände wie weiland Pontius Pilatus in Unschuld waschen“. Seine Geste des Händewaschens ist sprichwörtlich geworden, aber auch an seinen Händen bleibt trotz zwanghafter Reinigungsrituale das unschuldige Blut Jesu kleben.

25 Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!

Da ist er nun, dieser Satz, den ich schon am Anfang erwähnt habe. Ähnlich wie vorher Judas seine Schuld am unschuldigen Blut Jesu bekannt hat, so steht hier das ganze Volk der Juden zu seiner Schuld, während sowohl die Priester als auch Pilatus jede Schuld von sich weisen.

Wie verstehen wir diesen Satz richtig? Wir müssen den Zusammenhang beachten. Vier Kapitel zuvor überliefert Matthäus (Kapitel 23) eine harte Anklage Jesu an die Menschen seines eigenen Volkes, die sich in der Bibel auskennen und nach dem Gesetz Gottes zu leben versuchen:

29 Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer…

34… siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und von ihnen werdet ihr einige töten und kreuzigen, und einige werdet ihr geißeln in euren Synagogen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zur andern,

35 damit über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden…

36 Wahrlich, ich sage euch: das alles wird über dieses Geschlecht kommen.

37 Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!

38 Siehe, „euer Haus soll euch wüst gelassen werden“.

Wichtig ist: Das sind Worte, die ein Jude an Juden richtet. Jesus kündigt hier Menschen seines eigenes Volkes ein hartes Gericht an, wie es die Propheten Israels immer getan haben, wenn es nötig war. In den Augen des Matthäus ist dieses Gericht mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus bittere Wirklichkeit geworden. Uns Christen ist nicht erlaubt, so zu tun, als dürften wir in diese Anklage einstimmen, ohne uns auch selbst anzuklagen, sind doch auch Christen immer wieder schuldig geworden an Juden, Ketzern, sogenannten Hexen, Andersgläubigen. So viel Reue, wie sie Judas aufbringt, so viel Selbsterkenntnis wie in dem Satz: „Sein Blut komme über uns“, fällt der Mehrzahl von uns Christen nicht leichter als der Mehrzahl der Juden.

Weiter ist wichtig: Wenn die Propheten, wenn Jesus dem Volk wegen seiner Verfehlungen das Gericht ankündigen, dann bedeutet das nicht die endgültige Verwerfung dieses Volkes durch Gott. Denn nach dem eben gesagten fügt Jesus einen letzten Satz an, der zeigt, dass auch diejenigen, die jetzt gegen Jesus sind, in der Zukunft in den Lobpreis des Messias einstimmen werden:

39 Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!

Und noch etwas ist wichtig. Als Jesus mit den Jüngern das letzte Abendmahl feiert, sagt er nach Matthäus 26, 28:

28 Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.

Dieser Zuspruch gilt gerade auch für die, die das Blut Jesu vergossen haben. Jesus wird sagen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Interessant ist nun, wer im Matthäusevangelium den Satz sagt: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Es ist nicht Pilatus, es sind auch nicht die Hohenpriester und Ältesten. Die weisen jede Schuld von sich. Denn die Drecksarbeit lassen sie von anderen erledigen, von Judas, vom Pöbel, von ausführenden Organen in Polizei und Militär (Matthäus 27, 26):

26 Da gab Pilatus ihnen Barabbas los, aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt werde.

Die Verantwortung dafür übernimmt nach Matthäus jedoch das ganze Volk der Juden. Er benutzt hier ein anderes griechisches Wort für das Volk als bisher. Vorher hat er vom „Ochlos“ geredet, das ist der leicht beeinflussbare Menschenhaufen. Dieser hergelaufene Pöbel hat sich gegen Jesus Christus für Bar Abbas entschieden und das „Kreuzige“ geschrien. Wo es nun darum geht, die Folgen des Todes Jesu auf sich zu nehmen, nennt Matthäus das Volk „Laos“, von dem unser Wort „Laie“ abgeleitet ist. Damit meint Matthäus die Vollversammlung des Gottesvolkes. Sie verkündigt feierlich (Matthäus 27, 25):

„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“

Dieser Satz hat einen doppelten Sinn: Blut kann über uns kommen im Sinne der blutigen Folgen von blutigen Taten. Das ist nach Matthäus den Juden geschehen, als Jerusalem zerstört wurde. Blut kann aber auch über uns kommen im Sinne des Versöhnungsblutes der Opfertiere, wie es im Alten Testament verstanden wurde. In diesem Sinn hat das Blut Jesu, das von Juden und Nichtjuden, von Hohepriestern und Pilatus, und im übertragenen Sinne von uns allen vergossen wurde, versöhnende Wirkung.

Im Brief an die Hebräer 9 wird das so ausgedrückt:

13 Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren … durch Besprengung die Unreinen heiligt, so dass sie äußerlich rein sind,

14 um wieviel mehr wird dann das Blut Christi, der sich selbst als Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gott dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott!

Wenn nun das Volk der Juden sagt: „Jesu Blut komme über uns“, dann heißt das: Jesus ist auch für die Juden gestorben, die ihn ablehnen.

Wer wie Pilatus und die Hohenpriester keine Verantwortung für das vergossene Blut Jesu übernimmt, wird diese Verantwortung nicht los. Wer wie Judas und das Volk der Juden das vergossene Blut Jesus auf die eigene Kappe nimmt, wer zu seiner Schuld steht, sie bereut und bekennt, der erfährt Vergebung und Versöhnung, ganz gleich, ob er Jude ist oder Christ oder vielleicht sogar einer ganz anderen Religion angehört. Jesus ist für alle Menschen gestorben. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Wir singen aus dem Lied 82 die Verse 1, 3 und 7:

1. Wenn meine Sünd‘ mich kränken, o mein Herr Jesu Christ, so lass mich wohl bedenken, wie du gestorben bist und alle meine Schuldenlast am Stamm des heilgen Kreuzes auf dich genommen hast.

3. Was kann mir denn nun schaden der Sünden große Zahl? Ich bin bei Gott in Gnaden, die Schuld ist allzumal bezahlt durch Christi teures Blut, dass ich nicht mehr darf fürchten der Hölle Qual und Glut.

7. Lass mich an andern üben, was du an mir getan; und meinen Nächsten lieben, gern dienen jedermann ohn Eigennutz und Heuchelschein und, wie du mir erwiesen, aus reiner Lieb allein.

Gott wir bitten dich: Sei den Menschen nahe, die wie du am Karfreitag gedemütigt, gequält und getötet werden, auch heute noch, jeden Tag. Lass uns die Augen nicht davor verschließen, wo heute Unrecht geschieht, und lass uns tun, was uns möglich ist, um dem Unrecht entgegenzutreten.

Gott, bewahre uns davor, mit Fingern nur auf andere zu zeigen, wenn es um Schuld geht. Hilf uns, eigene Schuld zu erkennen und getrost aus Vergebung zu leben. Hilf uns zu erkennen, wo wir Verantwortung tragen für Zustände, die nicht so bleiben müssten. Lass uns die Herausforderungen erkennen, die vor uns liegen, und schenke uns Kraft und Mut, die nötigen Schritte zu tun. Amen.

In der Stille bringen wir vor dich, Gott, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser

Zum Schluss eines Gottesdienstes, in denen ich Ihnen sehr viel Gedankenarbeit zugemutet habe und in dem ich viel über Juden geredet habe, möchte ich mit Ihnen ein hoffnungsvolles Lied singen, das ein Jude gedichtet hat: Nr. 613. Schalom ben Chorin, der 1913 als Fritz Rosenthal in München geboren wurde, hat es im Jahr 1942 in Jerusalem gedichtet, mitten im Krieg. Er wollte kein romantisches Lied schreiben; er wusste, dass das gewaltsam vergossene Blut zum Himmel schreit. Der Mandelzweig, um den es da geht, ist nach dem Propheten Jeremia ein Zeichen dafür, dass die Liebe Gottes zu seinem Volk niemals aufhört, nicht einmal im Zweiten Weltkrieg, als die Nazis auf ihre grausame Weise die Endlösung der Judenfrage planten. Und wir, wir Christen, dürfen dankbar sein, durch Jesus Christus gemeinsam mit den Juden zum Volk Gottes zu gehören.

Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt
Abkündigungen und Segen

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