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Harry Potter, Big Brother und die Q-Seite

In einer Andacht zur Pfarrkonferenz, auf der es um die Jugendarbeit im Dekanat gehen soll, werfe ich drei Schlaglichter auf Phänomene, die mit der Jugend zu tun haben: Harry Potter, Big Brother und die Q-Seite im Gießener Anzeiger.

Eine Menge Bücher über Harry Potter liegen übereinander
Überall in der Welt lesen Jugendliche Harry-Potter-Romane (Bild: Katrina_SPixabay)

Andacht zur Pfarrkonferenz am 18. Oktober 2000 in der Paulusgemeinde Gießen

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Jugendarbeit in unserem Dekanat ist heute unser Thema. Im Psalm 71 kommt zweimal das Wort Jugend vor:

5 Du bist meine Zuversicht, HERR, mein Gott, meine Hoffnung von meiner Jugend an.

17 Gott, du hast mich von Jugend auf gelehrt, und noch jetzt verkündige ich deine Wunder.

Ein älterer Mensch blickt in diesem Psalm zurück auf seine eigene Jugend. Er hat Gott erfahren als seine Zuversicht und Hoffnung von Jugend an. Als er jung war, hatte er Zukunft, weil Gott ihn von Jugend auf gelehrt hat; und dieses Lehren war offenbar kein trockenes Schulwissen, sondern die lebendige Erfahrung von Wundern.

Wo erfahren heutige Jugendliche ihr Leben als wunderbar? Wo lernen sie staunen? Wo erfahren sie Liebe? Wo gewinnen sie Mut? Wo erleben sie, dass der Druck aufgehoben wird, mit dem Ansprüche und Schuld und Resignation auf ihnen lasten? Wo erleben sie Orientierung?

Kann die Kirche, kann die Gemeinde, kann unsere Jugendarbeit ein Ort sein, wo heutige Jugendliche Zuversicht und Hoffnung lernen?

Unsere Gottesdienste sind offenbar nicht der Ort, wo sich Jugendliche selbstverständlich mit ihrer Lebensart und ihren Wünschen gut aufgehoben fühlen. Auch in Reli und Konfi macht es Mühe, durch die Unterrichtszwänge hindurch zu dem vorzustoßen, was Jugendliche heute suchen.

Ich möchte einige Beobachtungen mit Ihnen teilen, die ich im Laufe des letzten Jahres gemacht habe. Das Bedürfnis nach Orientierung ist offenbar größer als je, nur richtet es sich nicht mehr ausschließlich an die Adresse von uns Kirchen. Drei Beispiele möchte ich nennen, an denen das besonders deutlich wird.

Erstens – das Phänomen Harry Potter. Wer sich in die zauberhafte Welt der J. K. Rowling entführen lässt, erfährt ein Leseabenteuer, das er mit Millionen anderer Leser aus aller Welt und quer durch die Generationen teilt. Ich vermute, dass hier etwas neu aufkommt, was verloren schien: das gemeinsame Verwurzeltsein in einer Tradition des Märchenerzählens und des sich Verzaubernlassens durch Geschichten, in denen sich jeder wiederfinden kann.

Wenn christliche Gemeinschaften vor Harry Potter warnen, weil hier der Okkultismus verharmlost werde, dann nehmen sie nicht wahr, worum es eigentlich geht: Es geht nicht um die okkulte Kontrolle der Wirklichkeit oder das Sich-Ausliefern an böse Mächte. Es geht wie in allen Märchen darum, dass zur Bewältigung des Lebens mehr gehört als das, was man auswendig lernen kann. Es gibt das Böse in mir und in anderen, es gibt Konflikte, die mich an den Rand der Verzweiflung führen, es gibt Dinge, die nicht zu ändern und nur zu ertragen sind, und andere, die allen Mut erfordern, um bewältigt zu werden. Wie im Märchen, wie auch in der Bibel, dient die Erzählung des Wunderbaren dazu, etwas sonst Unsagbares ausdrücken zu können.

Harry Potter – moderne Märchen mit durchaus vertretbarer Ethik. Okkulte Praktiken wie die Vorhersage des Todes bestimmter Personen werden nicht gutgeheißen; und was letzten Endes gegenüber dunklen Mächten siegreich bleibt, ist die Liebe einer Mutter, die Zuverlässigkeit eines guten Lehrers oder das wachsende Selbstvertrauen eines heranwachsenden Jugendlichen, der so werden will wie sein verstorbener Vater.

Zweites Beispiel: Big Brother. Ich weiß, dass gerade viele Kirchenleute dieses neue Sendeformat nur als Ausgeburt der Hölle betrachten; ich halte es eher für einen Spiegel unserer ganz normalen menschlich-allzumenschlichen Welt im Übergang zum 3. Jahrtausend: Man will möglichst viel Spaß, man sucht auch den Erfolg in Form der Siegprämie, man muss Herausforderungen bewältigen: die Wochenaufgaben. Es gibt Konflikte und Intrigen, aber auch Zuneigung und Hilfe füreinander. Die alten Themen der Bibel, die sich z. B. an Kain und Abel, Lea und Rahel, Pharisäer und Zöllner festmachen, kehren in modernem Gewand wieder.

Und gerade Jugendliche schauen zu, fast alle kennen Big-Brother-Figuren, wie z. B. Sladdi oder Jürgen, Christian oder Steffi, auch wenn sie die Sendung nicht gut finden. Bei einer Umfrage unter Jugendlichen im Frühjahr kam heraus, was die Kids im Container am meisten stört: Streit und Sex. Stattdessen wünschen sie sich, dass die Containerbewohner ihre Konflikte in Harmonie bewältigen. Also das, was zu Hause immer schwerer wird, weil man sich so leicht aus dem Weg gehen kann, statt über Probleme zu reden. Wer von den Erwachsenen in seiner persönlichen Umgebung keine Orientierung erwartet, sucht sie vielleicht in der Distanz bei den sehr rasch vertrauten Figuren im BB-Haus. Vielleicht sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit, als die Welt noch überschaubar war und als im Dorf oder in der Nachbarschaft jeder jeden kannte.

Noch ein drittes Beispiel, etwas lokaler begrenzt – die Q-Seite im Gießener Anzeiger. Da schicken junge Leute Karten oder E-Mails mit Grüßen und Botschaften hin, die dann Tag für Tag auf einer besonderen Seite in der Zeitung veröffentlicht werden. Eine richtige Q-Gemeinde ist da entstanden, die auch auf einen erwachsenen Betreuer hört, der zur Zeit unter dem Pseudonym Qnixgut gewisse Botschaften kommentiert und – wenn es sein muß – auch zensiert. Da haben Zeitungsredakteure eine geniale Idee gehabt, um junge Leute an das Medium Zeitung heranzuführen. Ein Forum ist entstanden, auf dem man locker kommunizieren, aber auch hochphilosophische Gedanken austauschen und Lebenshilfe finden kann. Es kommt sogar vor, daß Qnixgut der „Schwägerin vom Papst“ ernsthaft rät, doch mal ins Buch von ihrem Schwager reinzusehen – Religion ist nicht tabu.

Das waren drei Schlaglichter auf die geistige Welt, in der heutige Jugendliche leben. Noch einmal frage ich: Ist die Kirche ein Ort, wo heutige Jugendliche Zuversicht und Hoffnung lernen? Schauen wir Jugendlichen genug aufs Maul? Sie reagieren auf Angebote unserer Medienwelt, und unser evangelisches Angebot – eins unter vielen – ist kaum attraktiv, wenn es unter religiösen Pflichten und Zwängen abgehakt wird. Aber es besteht ein Bedarf an überzeugenden Persönlichkeiten – auf die man sich verlassen kann, denen man sich anvertrauen kann, die einen so nehmen, wie man ist, und zugleich als Gegenüber sichtbar bleiben. In der Nachfolge Jesu lernen wir, solche Menschen zu sein: verwurzelt in der unerschütterlichen Liebe Gottes und offen für die Sehnsucht jedes Menschen, ist er der Mensch, der den Namen „Großer Bruder“ wirklich verdient.

Lied 584: Meine engen Grenzen

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