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„Gebt Raum dem Zorn, aber rächt euch nicht selbst!“

Wer sich rächt, tut es oft, weil der Täter selber fühlen soll, was er einem anderen angetan hat. Aber menschliche Rachetaten können das nicht erreichen, denn dann müsste der Täter ja erst einmal fühlen können wie ein mitfühlender Mensch. Das schafft nur Gott: einen Übeltäter mit dem konfrontieren, was er wirklich angerichtet hat, ohne dass er sich davor verstecken kann.

Ein Bogen, unter dem eine dämonische Fratze und ein dahineilender Mann dargestellt sind, alle in gelbroten Farben
Eine brennende Rache auszuleben, führt nicht zum Frieden (Bild: Glauco GianoglioPixabay)

#predigtAbendmahlsgottesdienst am 1. Juni 2008 um 10.00 Uhr in der evangelischen Pauluskirche Gießen mit dem Text vom 4. Sonntag nach Trinitatis (nach einer Vorlage vom 28., 29. und 30. Juni 1996 im DRK-Krankenhaus Alzey, im Haus Michael, in der Nikolaikirche Alzey und in der Kapelle der Landesnervenklinik Alzey)

Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Ich begrüße Sie und euch in der Pauluskirche mit dem Bibelwort aus dem Brief des Paulus an die Römer 12, 18:

Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

Um das Thema „Frieden“ geht es heute im Gottesdienst: Kann man als Christ immer friedlich sein? Muss man sich alles gefallen lassen? Darf ein Christ Rachegefühle haben?

Wir stimmen uns auf das Thema ein mit dem Lied 430:

Gib Frieden, Herr, gib Frieden, die Welt nimmt schlimmen Lauf
Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. „Amen.“

Wir beten mit Worten aus Psalm 42:

2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.

4 Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?

10 Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget?

11 Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?

12 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Kommt, lasst uns Gott anbeten! „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Gott des Friedens, wir klagen über streitsüchtige Menschen und über Kriege in der Welt, wir klagen über Menschen, die uns Unrecht tun. Schenke uns Einsicht, wenn wir selber mitverantwortlich sind für Unfrieden.

Herr, erbarme dich! „Herr, erbarme dich, Christe, erbarme dich, Herr, erbarm dich über uns!“

Können wir etwas vom Volk Israel lernen für unsere Wege zum Frieden? Für Israel war es ein Wort der Gnade und Barmherzigkeit, wenn Gott versprach, in diese Welt einzugreifen, um einen Frieden zu schaffen, in dem kein Schwacher unter die Räder kommt und die Gedemütigten aufgerichtet werden (5. Buch Mose – Deuteronomium 32, 35a.36):

35 Die Rache ist mein, ich will vergelten… [spricht Gott, der Herr].

36 Denn der HERR wird seinem Volk Recht schaffen.

Lasst uns Gott lobsingen! „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen. Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmermehr uns rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist gross Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende“.

Der Herr sei mit euch „und mit deinem Geist.“

Gott, wir sind oft ratlos, wenn wir von Krieg und Gewalt hören, wenn wir in Streit geraten und mit bestimmten Menschen beim besten Willen nicht im Frieden leben können.

Gott, wir sind verunsichert, wenn wir von Jesus in der Bibel Friedensworte hören, wenn aber auch so viele harte Worte der Rache in der Bibel zu lesen sind. Gib uns Rat, hilf uns dein Wort zu verstehen. Das erbitten wir von dir im Namen Jesu Christi, unseres Herrn. „Amen.“

Wir hören die Schriftlesung aus dem 1. Buch Mose – Genesis 50, 15-21:

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich; als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.

16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach:

17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zum ihn sagten.

18 Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.

19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt?

20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.

21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Herr, dein Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Halleluja. „Halleluja, Halleluja, Halleluja!“

Glaubensbekenntnis
Lied 428, 1+3+5: Komm in unsre stolze Welt
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Wir hören den Predigttext aus dem Brief des Paulus an die Römer 12, 17-21:

17 Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.

18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln«.

21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Liebe Gemeinde!

Vor 25 Jahren gab es eine starke Friedensbewegung in unserem Land. Tausende von Menschen gingen auf die Straße, weil sie befürchteten, dass aus dem Kalten Krieg der gegenseitigen Bedrohung mit Atomwaffen ein heißer Dritter Weltkrieg werden könnte. Sie sahen damals Möglichkeiten, dass Menschen auf der Straße wirklich etwas für den Frieden bewegen könnten. Inzwischen gibt es keinen Ostblock mehr, und eine Friedensbewegung im damaligen Sinn scheint arbeitslos geworden zu sein. Ich glaube nicht, dass es heute weniger Gewalt und weniger Kriege auf der Welt gibt als damals; es gibt sicher auch eher mehr als weniger gefährliche Waffen auf der Welt, aber man hat einfach nicht mehr das Gefühl, dagegen auch nur in geringem Maße etwas machen zu können. Es ist nicht mehr so leicht zu demonstrieren, weil die Ursachen für die jetzt noch bestehenden Kriege viel zu kompliziert sind.

Aber vielleicht hängt ja der Krieg im Großen durchaus zusammen mit den kleinen Kriegen, die wir mit mehr oder weniger bösen Nachbarn ausfechten, mit Kollegen und Mitschülern, vielleicht sogar mit Familienmitgliedern, mit Menschen, die uns verletzen oder ständig auf die Nerven gehen. Das soll unser Thema sein: Frieden im Kleinen, Frieden, soweit er „an uns liegt“.

Knapp und griffig beginnt Paulus seine Ermahnungen zum Frieden, wie in einem guten Werbeslogan:

17 Vergeltet niemand Böses mit Bösem.

Er meint wohl: Das müsste ein Markenzeichen für Christen sein. Christen setzen auf einen groben Klotz keinen groben Keil. Christen schlagen nicht gleich zurück. Christen lassen sich nicht zur Gewalt provozieren. Egal, was ein Mensch uns angetan hat, wir sollen nicht darauf bedacht sein, ihm nun auch zu schaden. Paulus sagt stattdessen:

Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.

Wir sollen sogar darüber nachdenken, was dem andern gut tun könnte – auch dem, den wir nicht leiden können, der uns schlecht behandelt hat. So etwas fällt nicht leicht. Nur jemand, der gar keine Feinde hat und dem noch nie übel mitgespielt wurde, könnte sagen: Ich wünsche jedem immer nur Gutes. Das ist wohl auch dem Paulus bewusst, und darum hat er auch darüber nachgedacht, wie man das wohl schaffen kann, auch mit Menschen, die Böses tun, im Frieden zu leben. Er schreibt:

18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

„Ist‘s möglich“, das ist eine realistische Einschränkung. Paulus weiß: Nicht immer ist Friede möglich. Er hängt nämlich nicht nur von einer Seite ab. Aber Paulus entlässt uns damit nicht aus der Verantwortung für den Frieden, vielmehr betont er sie: „soviel an euch liegt“. Unseren Anteil an der Verantwortung für den Frieden haben wir zu tragen. Ich sehe meist sehr gut, wie sehr ein anderer im Unrecht ist. Aber wenn ich genau hinsehe, bemerke ich vielleicht auch meinen eigenen Anteil am Unfrieden. Und wenn nicht, dann kann ich trotzdem anfangen, mit dem Streit aufzuhören. Das ist besser als zu schreien: „Der hat aber angefangen!“ wie es die Kinder im Kindergarten tun und genauso oft Politiker im Konfliktfall. Besser ist es, auszusteigen aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt.

Der vor Jahren ermordete israelische Ministerpräsident Rabin hatte solche Ideen, als er begann, mit den früheren Todfeinden, den palästinensichen Arabern zu sprechen. Der Schüleraustausch zwischen Deutschland und England oder Frankreich oder Polen war auch eine solche gute Idee nach zwei schrecklichen Weltkriegen.

Was ist, wenn es um ganz schlimmes Unrecht geht? Da wird eine Frau vergewaltigt, vielleicht in der Ehe, von ihrem eigenen Mann. Da wird ein Gefangener gefoltert in einem der Unrechtsstaaten dieser Welt. Haben diese Menschen nicht Gründe genug, sich rächen zu wollen? Was ist, wenn ein anderer Mensch mir gegenüber den Frieden kaputt gemacht hat?

In der Fernsehserie „Shark“ sagt ein Mordverdächtiger zum Staatsanwalt: „Ich musste diesen brutalen Zuhälter umbringen; jetzt ist ein böser Mensch weniger auf der Welt. Ich musste für Gerechtigkeit sorgen.“ Der Staatsanwalt antwortet ihm: „Das ist Gottes Job.“ Menschen, die mit Gewalt Gerechtigkeit herstellen wollen, machen die Welt noch schlimmer. Paulus sagt das Gleiche mit diesen Worten:

19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes! Denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

Das heißt: Den Zorn über menschliche Bosheit, den Wunsch nach Vergeltung für böse Taten, das alles kehrt die Bibel nicht unter den Teppich. Es soll, ja es muss sogar Recht geschaffen werden, wo Unrecht herrscht. Das ist in der Tat „Gottes Job“, dazu hat Gott sich selbst verpflichtet, indem er sagt: „Mein ist die Rache.“ Damit ist keine Vendetta gemeint, keine Blutrache mit endlosem Blutvergießen, sondern eine Haltung des Vertrauens: Gott vergisst die Opfer von Gewalt nicht. Gott lässt gedemütigte und verletzte Seelen aufatmen. Gott überlässt den Tätern von Gewalt und Unrecht nicht das letzte Wort.

Wie Gott Rache üben wird, das wissen wir nicht. Vielleicht besteht seine Rache darin, dass er Übeltäter doch noch zur Umkehr bringt; wer weiß, ob Menschen dazu auch noch in der Ewigkeit eine Chance haben. Wir Menschen können uns Rache ja nur so vorstellen, dass wir einem Menschen, der Böses getan hat, genau das Gleiche Böse an den Hals wünschen. Aber das nützt ja letzten Endes niemandem. Ich würde mir wünschen, dass ein Übeltäter einsieht, was er andern Menschen antut, dass ihm spürbar bewusst wird, was er anrichtet in Gottes guter Schöpfung, dass er sich nicht mehr herausreden kann aus seiner Verantwortung. Das müsste für ihn die Hölle sein, selber die Gefühle seiner Opfer zu fühlen – eine Hölle, aus der ihn nur die Gnade Gottes herausretten könnte. Wer eine Tat der Rache ausführt, tut es ja oft genau aus diesem Grund: Der soll fühlen, was er unserem Kind angetan hat! Aber menschliche Rachetaten können das gar nicht erreichen, denn dann müsste der Täter ja erst einmal fühlen können wie ein mitfühlender Mensch. Ich glaube, das kann nur Gott erreichen: einen Übeltäter mit dem konfrontieren, was er wirklich angerichtet hat, ohne dass er sich davor verstecken kann. So stelle ich mir das Gericht Gottes vor, wenn wir vor seinem Angesicht stehen und uns vor ihm verantworten müssen – er zeigt uns alle Wunden und Verletzungen, die wir anderen Menschen zugefügt haben.

Ich denke, dass viele Menschen, die sich selbst heillos ins Böse verstrickt haben, zum Beispiel Kinderschänder, selbst einmal ein verletztes kleines Kind auf der vergeblichen Suche nach Liebe waren. Und auch die Gefühle dieses eigenen inneren Kindes haben sie abgetötet. Gott sieht ins Herz der Menschen. Er rechtfertigt keine Tat mit dem Hinweis auf eine schlimme Kindheit. Aber auch den bösesten Übeltäter spricht Gott darauf an, dass er geschaffen ist nach seinem Ebenbild. Und das Ebenbild Gottes, das ist jeder Mensch, das sind wir, wenn wir etwas von Gottes Liebe widerspiegeln in Gedanken und Worten und Taten.

Hat Jesus darum nicht Vergebung selber geübt und von uns gefordert? Warum spricht dann Paulus immer noch von Rache?

Vielleicht weil auch in dem Gedanken der Rache etwas Barmherziges steckt, wenn wir uns einmal an die Stelle eines Opfers von Unrecht versetzen. Eine vergewaltigte Frau, ein missbrauchtes Kind, ein gefolterter Gefangener in einem Unrechtsstaat – haben sie nicht Gründe genug, sich rächen zu wollen? Kann Gott solche Schuld einfach so vergeben, ohne Reue der Täter und ohne die Täter gerecht zu bestrafen? Würde er damit nicht den Opfern von Gewalt erneutes Unrecht antun?

Um darauf eine angemessene Antwort zu geben, möchte ich auf eine feine Unterscheidung in unserem Text aufmerksam machen. Da wird nämlich nicht nur unterschieden zwischen unserer verbotenen und Gottes erlaubter Rache. Da wird auch ein Unterschied gemacht zwischen Rache und Zorn.

Dieser Unterschied ist ganz einfach und dennoch sehr wesentlich. Zorn ist ein Gefühl, Rache ist eine Tat. Zorn als Gefühl muss nicht einfach in die Tat umgesetzt werden, muss niemandem schaden, Rache dagegen zielt auf die Schädigung des anderen, möchte ihn verletzen, vielleicht sogar töten, vernichten.

19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes!

Wörtlich steht da im Urtext: „Gebt Raum dem Zorn“. In der Übersetzung hat Luther aus dem Zorn den Zorn Gottes gemacht, weil es ja danach heißt: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“. Warum steht im Urtext in der ersten Zeile nur: „Gebt Raum dem Zorn“?

Vielleicht will Paulus ja sagen: Es ist wichtig, dass der Zorn seinen Ort hat. Der heilige Zorn über himmelschreiendes Unrecht. Der Zorn, der verhindern hilft, dass Menschen Grenzen übertreten. Wenn aber dieser Zorn in Taten der Rache umgesetzt werden soll, dann ist und bleibt er die alleinige Angelegenheit Gottes. Paulus verbietet uns Menschen die rächende Tat. Aber er erlaubt das zornige Gefühl. Es gibt einen Zorn, der auch in unserem menschlichen Fühlen seinen notwendigen Raum bekommen darf und muss. Er dient dazu, dass wir uns schützen und abgrenzen, wenn jemand uns verletzt oder die Grenzen unserer Person missachtet.

Aber warum sollen wir wütend sein dürfen, aber Wut nicht in Taten umsetzen? Ein Grund könnte sein: Wenn ich aus Wut oder Zorn einem Menschen etwas Böses antue, verringere ich nicht wirklich das Böse in der Welt. Ich täte selber Böses – das Böse hätte in mir und über mich gesiegt.

Es gibt noch einen weiteren Grund, besonders wenn es um einen Zorn geht, den wir auf Menschen haben, die uns sehr nahe stehen: Vater, Mutter, Ehepartner. Man sagt ja, dass man niemanden mehr hassen kann als einen Menschen, den man ursprünglich geliebt hat und der einen auf einmal abgrundtief enttäuscht und verletzt. Wer sich nun an diesem hassgeliebten Menschen für ein bitteres Unrecht rächt, der verleugnet damit die Liebesgefühle, die immer noch in ihm verborgen sind. Ja, wer einen Menschen tötet, der ihn bitter enttäuscht hat, der tötet auch die geheimen Sehnsüchte, die er auf diesen Menschen gerichtet hatte.

Ich lernte in einem Krankenhaus einmal eine Frau kennen, die etwa in meinem jetzigen Alter war. Sie erzählte mir von ihrem furchtbaren Hass auf ihre Mutter, der nicht einmal aufgehört hätte, als die Mutter gestorben war. Die Mutter hatte sie missbraucht, als sie ein Kind war (ja, auch so etwas gibt es) und als sie sich mit ihrem Kummer einem Pfarrer anzuvertrauen wagte, glaubte der ihr nicht, sondern hielt zur Mutter. Zum Hass auf die Mutter kam eine lebenslange Antipathie gegen die Kirche. Trotzdem vertraute sie sich mir an, ich war Krankenhausseelsorger auf ihrer Station und hörte ihr einfach zu. Am Ende fragte sie mich: Warum kann ich meine Mutter einfach nicht vergessen? Warum komme ich über diesen Hass nicht hinweg? Da fragte ich sie zurück: Kann es sein, dass Sie Ihre Mutter vielleicht doch auch lieben? Das stritt sie vehement ab. Nein, eine solche Frau kann ich nicht lieben!

Wir führten dann noch einige Gespräche, und die Frau dachte dann doch darüber nach, was ich gesagt hatte. Schließlich wurde ihr bewusst: Wirklich, sie hatte ihre Mutter geliebt. Ja, sie als kleines Mädchen wollte ihre Mama liebhaben wie jedes andere Kind. Und dann hat ihre Mama sich überhaupt nicht wie eine Mama verhalten, sondern wie ein ekelhaftes Monster. Da hatte sie beschlossen, ihre Liebe zu dieser Mama für alle Zeit aufzugeben. Sie verbot es sich, diese Mama zu lieben. Und die Frau sagte mir: „Wenn ich jetzt zulassen würde, dass ich meine Mutter trotz allem liebe, dann würde ich ihr doch noch im Nachhinein Recht geben.“ Nein, habe ich ihr gesagt, das würden Sie nicht. Es ist normal, dass ein Mädchen die eigene Mutter liebhat, egal was diese Mutter tut und für ein Mensch ist. Diese Gefühle muss sich kein Kind, auch kein erwachsene gewordenes Kind verbieten. Lassen Sie zu, dass Sie Ihre Mutter lieb gehabt haben und dass immer noch etwas von dieser Liebe übrig ist.

Als Sie sich das klarmachte, fing sie an zu weinen und ihr wurde bewusst, wie weh das tat: eine Mama liebzuhaben, die einen selber nicht liebhat. Ich habe sie dann aus den Augen verloren. Ich weiß nicht, ob sie noch viel geweint hat. Ich hoffe aber, dass sie ihre Mutter im Laufe der Zeit endlich loslassen konnte. Wer Hass spüren kann und unter dem Hass auch die Liebe wahrnimmt und zur Liebe Ja sagt, der kann am Ende auch Hass loslassen. Er kann Abschied nehmen von einem Menschen, der einem die immer noch insgeheim ersehnte Liebe niemals geben wird, und sich stattdessen Menschen anvertrauen, von denen er Liebe wirklich erwarten darf.

Wer dem Zorn Raum geben kann, ohne Rachetaten zu tun, hat am Ende auch weiten Raum für Liebe.

Aber, liebe Gemeinde, wenn Zorn ein erlaubtes Gefühl ist und Rache eine verbotene Tat, was soll man dann ganz konkret einem Menschen gegenüber tun, der uns Unrecht getan hat? Paulus nennt Beispiele, die schon in den Sprüchen Salomos geschrieben standen:

20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln«.

Also: auch wenn jemand uns Unrecht getan hat, sollen wir nicht nur darauf verzichten, ihm zu schaden, sondern sogar bereit sein, ihm zu helfen. Man kann das auch mit Jesu Worten Feindesliebe nennen. Dabei sollten wir aber beachten: Feindesliebe ist kein Gefühl der Zuneigung, wie wir sonst Liebe verstehen, sondern Feindesliebe ist die der Rache entgegengesetzte Tat, eine ganz andere Antwort auf Unrecht, die der Mensch, der Böses tut, absolut nicht erwartet.

Feurige Kohlen sammeln wir damit auf sein Haupt, so heißt es da. Wenn er noch ein bisschen menschlich zu fühlen imstande ist, wird er nun rot werden vor Scham, wird er vielleicht anfangen können zu bereuen, was er getan hat, und dann ist irgendwann vielleicht auch Vergebung möglich – denn auch der böseste Mensch darf ganz neu anfangen, wenn er Schmerz empfindet über das, was er andern angetan hat, und wenn er bereit ist, an sich zu arbeiten und sich zu ändern.

Zum Schluss betont Paulus noch einmal, wie wichtig es ist, sich durch Taten der Rache nicht selber auf die Seite des Bösen zu stellen:

21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Wer Böses mit Bösem vergilt, der wird selbst böse und unterliegt. Wer Böses mit Gutem vergilt, der bleibt gut und gewinnt! Jesus hat es uns vorgemacht, wie das geht. Er war ein Mensch, der seine Gefühle ausgelebt hat, ganz echt und ganz wahr, seine Liebe und seinen Zorn. Er hat das Leben nicht weggeworfen, sondern geliebt. Doch als er mit dem Tode bedroht wurde, ist er weder feige geflohen noch hat er sich gewaltsam gewehrt. Seine Liebe zu den Menschen blieb stärker als das Böse, sogar stärker als der Tod. Im Vertrauen auf Jesus können auch wir es wagen, uns nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.
Lied 628: Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen

Und nun feiern wir das heilige Abendmahl miteinander.

Barmherziger Gott, nimm uns an mit unseren gemischten Gefühlen! Vergib uns, womit wir anderen geschadet haben oder schaden wollten, vergib uns auch, wenn wir uns selber schlecht behandelt haben, vergib uns auch unsere rachsüchtigen Impulse. Lass uns gut umgehen mit unserem Zorn, dass wir ihn gut zu unterscheiden wissen von verletzendem Verhalten und Gewalttätigkeit. Hilf uns, dass wir Konflikte untereinander friedlich lösen können. In der Stille bringen wir vor dich, was unsere Seele belastet:

Beichtstille

Wollt Ihr Gottes Vergebung annehmen, so sagt laut oder leise oder auch still im Herzen: Ja!

Auf euer aufrichtiges Bekenntnis spreche ich euch die Vergebung eurer Sünden zu – im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Der Herr sei mit euch. „Und mit deinem Geiste.“

Erhebet eure Herzen! „Wir erheben sie zum Herren.“

Lasset uns Dank sagen dem Herrn, unserem Gott. „Das ist würdig und recht.“

Würdig und recht ist es, Gott ernst zu nehmen in seiner Treue zu uns Menschen. Würdig und recht ist es, uns selber anzunehmen als Menschen, denen Gott eine neue Chance gibt, um unsere Treue zu ihm zu bewähren, jeden Tag neu.

Zu dir rufen wir und preisen dich, Heiliger Gott:

Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll. Hosianna in der Höhe. Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe.

Wir beten mit Jesu Worten:

Vater unser und Abendmahl

Jesus Christus spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Nehmt und gebt weiter, was euch gegeben ist – den lebendigen Leib der ewigen Treue Gottes.

Herumreichen des Korbs

Jesus Christus spricht: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke. Nehmt hin den Kelch der Liebe Gottes, die uns treulose Menschen mit dem treuen Gott versöhnt.

Austeilen der Kelche

Gott Israels, Vater Jesu Christi, bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. Geht hin im Frieden! Amen.

Unser Fürbittengebet ist heute etwas ganz Besonderes. In der letzten Woche haben meine Schüler in der fünften Klasse im Religionsunterricht Gebete formuliert. Einige von ihnen haben mir erlaubt, dass ich ihr Gebet heute im Gottesdienst ins Fürbittengebet aufnehme.

Ein paar waren sich nicht sicher, ob man so überhaupt beten dürfte. Ich habe ihnen gesagt: Ja, so darf man mit Gott reden. Er wird es verstehen. Lasst uns beten mit Worten von Schülerinnen und Schülern:

Das würde ich gerne Gott sagen. Lieber Gott, ich danke dir sehr, dass du die Welt geschaffen hast und ich darauf leben darf. Aber das blödeste, was du auf der Welt gelassen hast, ist das Geld, das viele Leute zum Leiden bringt, die sich vieles Lebensnotwendige nicht leisten können. Trotzdem hüte meine ganze Familie und gib uns Gesundheit und Essen fürs Leben und auch allen Mitmenschen.

Lieber Gott, ich möchte dich gerne fragen, wie es meinem Opa geht [der bei dir ist]. Ich möchte dir danken, dass du uns alle beschützt.

Lieber Gott, bitte beschütze in deinem Totenreich meine Ponys, die gestorben sind. Lieber Gott, warum musstest du dir unbedingt mein Lieblingspony zu dir heraufholen. Ich hasse dich dafür.

Gott, bitte hilf uns, die Religionen zu vereinen und dass die Menschen sich nicht gegenseitig umbringen.

Kannst du bitte auch Krankheiten von den Menschen und Tieren fernhalten?

Lieber Gott, ich möchte dir danken, dass ich in der Schule so viel Erfolg habe. Es macht Spaß, Leute lachen zu sehen. Ich wünsche mir, dass alle Menschen so wie ich Freude haben am Leben.

Ich finde es blöd, dass manche Menschen ihren eigenen Willen ausnutzen um Krieg auszulösen und viele andere schlimme Sachen zu machen. Bitte beschütze alle Menschen, egal was sie machen, denn du liebst alle. Es wäre schön, wenn du allen Kindern hilfst, damit sie eine Zukunft haben, zum Beispiel studieren und einen Job bekommen.

Gott, manchmal bin ich so traurig. Ich weiß auch nicht immer warum. Du hilfst mir wieder fröhlich zu werden. Denn die Welt ist so schön! Danke!

Es ist aber so schrecklich, dass so viele Menschen hungern und leiden müssen. Hilf ihnen und gib ihnen Kraft und neuen Mut! Danke!

Es gibt böse Kinder. Das ist sehr schade. Die schlagen und prügeln und rauchen. Hilf ihnen, einen Schulabschluss zu machen und einen Job zu finden. Schick sie auf den richtigen Weg und hilf ihnen. Amen.

Lieber Gott, mach, dass meine Mutter, meine Geschwister, alle meine Freunde und Bekannten gesund bleiben und dass Frieden auf Erden herrscht und mach die Bettler zu normalen Menschen, die beachtet werden. Amen.

Lied 590: Herr, wir bitten: Komm und segne uns
Abkündigungen

Geht mit Gottes Segen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Ein Kommentar zu „„Gebt Raum dem Zorn, aber rächt euch nicht selbst!““

  1. Es ist nicht immer möglich seinen Feinden Gutes zu tun.
    Es ist aber allemal besser Gott die ganze Sache in die Hände zu legen.
    Menschen die sich komplett gegen Gott verhärten wird er selbst züchtigen.

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