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Mit Gnade beschenkt – als Christen und Muslime

Wir können einladen zum Glauben an Jesus, aber es mag sein, dass Menschen, die zum Beispiel als Muslime einen anderen Zugang zu Jesus haben, auf ihre Art sich ebenfalls von Gott mit Gnade beschenkt wissen und darum bei ihrem Glauben bleiben. Mein Gedankenanstoß für Sie sind ein paar Texte aus der islamischen Tradition, die christlichen Texten erstaunlich nahe sind.

Ein auf der Spitze stehendes Dreieck mit Weisheiten des islamischen Mystikers Rumi: zum Beispiel "die Lampen sind verschieden, aber das Licht ist dasselbe", "öffne die Arme, auch wenn sie dir wegbrennen", "gib alles, was du bist, obwohl du weißt, dass es nichts ist".
Weisheiten des berühmtesten islamischen Mystikers Rumi sind bedenkenswert (Bild: John HainPixabay)

#gedankeTurmgebet am Freitag, 20. Januar 2012, um 18.00 Uhr im Stadtkirchenturm Gießen

Herzlich willkommen beim Turmgebet im Stadtkirchenturm Gießen!

Wir sind versammelt im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Wir hören zu Beginn die biblische Tageslese für den heutigen 20. Januar 2012 aus dem Paulusbrief 1. Korinther 4, 14-21:

14 Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich dies; sondern ich ermahne euch als meine lieben Kinder.

15 Denn wenn ihr auch zehntausend Erzieher hättet in Christus, so habt ihr doch nicht viele Väter; denn ich habe euch gezeugt in Christus Jesus durchs Evangelium.

16 Darum ermahne ich euch: Folgt meinem Beispiel!

17 Aus demselben Grund habe ich Timotheus zu euch gesandt, der mein lieber und getreuer Sohn ist in dem Herrn, damit er euch erinnere an meine Weisungen in Christus Jesus, wie ich sie überall in allen Gemeinden lehre.

18 Es haben sich einige aufgebläht, als würde ich nicht zu euch kommen.

19 Ich werde aber, wenn der Herr will, recht bald zu euch kommen und nicht die Worte der Aufgeblasenen kennenlernen, sondern ihre Kraft.

20 Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft.

21 Was wollt ihr? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und sanftmütigem Geist?

Die Bibellese ruft viele Bilder in mir wach. Bilder von Vätern, die mit Liebe erziehen, aber auch von Vätern, die von Liebe reden, aber mit dem Stock prügeln. An Kinder zärtlich liebender Väter denke ich in Dankbarkeit und an Kinder von Vätern, die ihre Grenzen überschreiten, mit Traurigkeit und Zorn im Herzen. Gott, wir rufen zu dir (178.11):

Herr, erbarme dich, erbarme dich. Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich.

Die Bibellese ruft Bilder des Apostels Paulus in mir wach. Das Bild eines so starken Vorbildes im Glauben, dass es unerreichbar scheint. Das Bild eines Kämpfers für den rechten Glauben, in dessen Augen alle, die anders glauben, Wichtigtuer sind. Aber auch das Bild eines nicht immer starken Menschen, der gerade dann am stärksten war, als er zu seiner Schwachheit stand. Gott, wir denken an unseren schwachen Glauben und an das, was wir nicht meistern. Wir rufen zu dir, Gott:

Herr, erbarme dich, erbarme dich. Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich.

Ich habe Monate hinter mir, in denen ich über die Grenzen unseres christlichen Glaubens hinausgeschaut habe. Dabei bin ich Ansichten begegnet, die darauf beharren: Nur wer so glaubt wie wir, kann gerettet werden. Andere sind davon überzeugt: Gott ist größer als die Gedanken, die sich Menschen über ihn machen. Gott, in unserem Kleinglauben und unserer Intoleranz komme zu uns und stehe an unserer Seite. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich, erbarme dich. Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich.

In der Stille denken wir an dich, Gott, dass deine Macht unsere Schwachheit, Unduldsamkeit und Kleingläubigkeit überwindet. Wir können an dir festhalten, denn du hältst uns fest in deiner Hand. Wir können dich im Herzen tragen, denn wir sind von dir getragen. Wir glauben, hilf unserem Unglauben.

Stille

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! (Psalm 103, 2)

Wir singen das Lied 356:

1. Es ist in keinem andern Heil, kein Name sonst gegeben, in dem uns Gnade wird zuteil und Fried und ewges Leben, als nur der Name Jesus Christ, der selig macht und Retter ist: Ihm sei Lob, Preis und Ehre!

Liebe Turmgemeinde,

das Lied, das wir gesungen haben, scheint ein Musterbeispiel dafür zu sein, dass nur wir Christen die Wahrheit gepachtet haben: „Es ist in keinem andern Heil“.

Aber wenn wir genau hinhören, dann bekennen wir in diesem Lied etwas für uns selbst: uns wird in Jesu Namen Gnade zuteil, also das Geschenk eines Glaubens, den wir nicht in der Hand haben. Mit diesem Glauben ist ein Leben in einem Frieden und in einer Liebe verbunden, die es verbieten, dass wir unsere Art zu glauben, jedem anderen Menschen aufzwingen. Wir können einladen zum Glauben an Jesus, aber es mag sein, dass Menschen, die zum Beispiel als Muslime einen ganz anderen Zugang zu Jesus haben, auf ihre Art sich ebenfalls von Gott mit Gnade beschenkt wissen und darum bei ihrer Art zu glauben bleiben.

Drei Monate lang durfte ich letztes Jahr in einem Studienurlaub Bücher zur Frage lesen, ob und wie es in unserem Kindergarten möglich sein könnte, den christlichen und muslimischen Kindern nicht nur biblische Geschichten, sondern auch welche aus dem Koran zu erzählen. Mein Gedankenanstoß für Sie heute Abend sind ein paar Texte aus der islamischen Tradition, auf die ich bei diesen Studien gestoßen bin und die eine erstaunliche Nähe zu christlichen Texten aufweisen.

Von Rumi, „dem größten mystischen Dichter des Islam“, fand ich folgende Gedanken:

„Wenn du einen Fehler in deinem Bruder siehst, so ist der Fehler, den du in ihm siehst, in dir selber. Die Welt ist ja gleich einem Spiegel, in dem du dein eigenes Bild siehst, denn: ‚Der Gläubige ist der Spiegel des Gläubigen‘. Reinige dich von dem Fehler in dir; denn was dich am anderen schmerzt, schmerzt dich in Wirklichkeit in dir selbst.

Alle schlechten Eigenschaften wie Unterdrückung, Hass, Neid, Gier, Unbarmherzigkeit, Lust, Zorn, Stolz – wenn sie in dir sind, schmerzt es dich nicht. Wenn du sie aber in einem anderen wahrnimmst, dann scheust du davor und es schmerzt und verletzt dich – doch wisse, dass du vor dir selbst scheust. Ein Mensch empfindet keinen Ekel vor seinem eigenen Geruch und seinem Abszess; er taucht seine entzündete Hand in die Brühe und leckt sich die Finger ab, ohne sich im geringsten anzustellen. Aber wenn er einen kleinen Pickel oder einen halben Kratzer bei einem anderen sieht, dann mag er diese Suppe nicht und ekelt sich. Schlechte Eigenschaften sind ebenso wie Pickel und Geschwüre: wenn jemand sie hat, bekümmert ihn das nicht, aber wenn er sie in anderen auch nur in geringem Maße sieht, ist er bekümmert und angeekelt.“

Mich haben diese Worte an ein Gleichnis Jesu erinnert (Lukas 6, 42):

Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Oder woran erinnert Sie folgender Satz von ‘Ali, „dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammad“:

„Eine schlechte Tat, die dir schlecht erscheint, ist in Gottes Sicht besser als eine gute Tat, die dich selbstgefällig macht.“

Mich erinnert diese Weisheit an Jesu Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner und an die Selbstkritik des Paulus, der sich nicht wegen seiner Stärken, sondern wegen seiner Schwachheit rühmen will.

Zum Thema der Sündenvergebung fand ich auch einige Aussprüche, die sich durchaus mit Anliegen der christlichen Rechtfertigungslehre in Übereinstimmung bringen lassen, zum Beispiel die beiden folgenden von Ibn ‘Ata Allah, ein dritter von Muhammad:

„Es gibt keine kleine Sünde, wenn Seine Gerechtigkeit dir gegenübersteht, und keine große Sünde, wenn Seine Gnade dir vor Augen steht.“

„Halte deine Sünde nicht für so gewaltig, dass sie dich absperre davon, Gutes von Gott zu denken, denn wer seinen Herrn kennt, dem erscheint gering seine Schuld, verglichen mit Seiner Huld.“

„Wenn jemand viele Sünden hat und keine Werke, die diese Sünden verhüllen könnten, sucht Gott ihn mit Traurigkeit heim, um seine Sünden zu verhüllen.“

Zum Abschluss noch eine Weisheit von Ibn ‘Ata Allah:

„Der Achtlose fragt sich am Morgen: ‚Was werde ich tun?‘ Der Vernünftige schaut: ‚Was wird nun Gott mit mir tun?‘“

Ich wollte damit nicht sagen, dass die Religionen im Grunde alle gleich sind. Nein, die Unterschiede bleiben groß. Aber wir machen es uns zu einfach, wenn wir zum Beispiel sagen: Der Islam ist nur eine Gesetzesreligion. Nein, er ist auch eine Religion der Vergebung und der Barmherzigkeit.

So viel als Gedankenanstoß. Jetzt möchte ich mit Ihnen noch das Lied 266 singen.

Wenn darin von dem Gebet die Rede ist, das den Erdkreis umspannt, dann ist das auch ein Gedanke, den wir mit dem Islam gemeinsam haben, denn das Ritualgebet, das die Muslime verrichten, wird ja immer zu den gleichen Zeiten gebetet, so dass buchstäblich immer eine Welle von Betenden um die Erde geht.

Sicher ist uns das Beten der Muslime fremd, aber auch sie loben Gott und danken ihm, und so wie sie auf ihre Weise um den Frieden in der Welt bitten, bitten wir auch wir auf unsere Weise darum, dass Gottes Reich des Friedens auf der Erde aufgerichtet wird.

Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen

Gott, wir bitten dich um deinen Frieden, der unsere Vernunft und unseren kleinen Glauben übersteigt. Wir bitten dich um den Mut, Menschen anderen Glaubens und anderer Überzeugungen zu respektieren und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ohne den eigenen Glauben zu verleugnen. Hilf uns unseren Glauben nicht durch Rechthaberei, sondern durch Taten der Liebe und des Friedens zu bezeugen. Und wenn die Hände unseres Glaubens leer sind, fülle sie uns mit den Kräften deines Geistes.

Vater unser

Empfangt Gottes Segen:

Es segne dich Gott, der Vater. Er sei der Raum, in dem du lebst. Es segne dich Jesus Christus. Er sei der Weg, auf dem du gehst. Es segne dich der Heilige Geist. Er sei das Licht, das dich zur Wahrheit führt. Amen.

EG 483: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden

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