Ralph Davidson: „Sprachgeschichte“

Ralph Davidson versucht sprachgeschichtlich zu beweisen, dass die meisten kulturellen Errungenschaften der europäischen Zivilisation von den Juden nach Mitteleuropa gebracht wurden. Leider sind viele seiner Schlussfolgerungen, die ich fachlich beurteilen kann, fehlerhaft. Erfreulich ist, dass er an die fruchtbare Zusammenarbeit des Reformators Paulus Fagius mit dem jüdischen Rabbi und Philologen Elias Levita erinnert – leider eine interreligiöse Ausnahmeerscheinung der Reformationszeit!

Der Reformator Paul Fagius, Kupferstich 17. Jahrhundert
Der Reformator Paul Fagius, Kupferstich 17. Jahrhundert (Bild: Paul-Fagius, als gemeinfrei gekennzeichnet, via Wikimedia Commons)

Inhalt der Buchbesprechung

Sehr geehrter Herr Dr. Davidson

Geht die europäische Zivilisation vorwiegend auf jüdische Einflüsse zurück?

Kamen jüdisch-christliche Ideen in der Spätantike aus dem Orient nach Europa?

Wurde im Römischen Reich gar kein Latein gesprochen?

Ist im frühen Mittelalter noch nicht anerkannt, „dass Christus schon da war“?

Haben die Juden und die Deutschen den gleichen Stammvater?

Hat sich das Althochdeutsche aus dem Aramäischen entwickelt?

Beginnt die deutsche Philologie mit den deutsch-hebräischen Sprachstudien von Levita und Fagius?

Hatten die Juden keine reale Geschichte vor dem 10. Jahrhundert?

War die arabische Übersetzung der Tora durch Rabbi Saadia der Urtext des Alten Testament?

Sehr geehrter Herr Davidson,

in Ihrem 2004 zum 3. Mal aufgelegten Buch „Sprachgeschichte. Eine problemorientierte Einführung“ (UBW-Verlag, Hamburg) aus dem Jahr 1995 [alle farbig hinterlegten Zitate auf dieser Seite stammen aus diesem Buch] versuchen sie mit Hilfe sprachwissenschaftlicher Erwägungen „einen ersten Überblick über die Probleme“ (S. 10) zu vermitteln, die mit Ihrer These zusammenhängen, dass die europäische Zivilisation auf jüdische und urchristliche Einflüsse zurückzuführen ist.

Dieses Buch war das zweite, das ich von Ihnen gelesen habe, und ich war besonders gespannt darauf, wie Sie Ihre im Buch über den Kapitalismus nur angedeutete These begründen würden, dass die europäische Moderne auf „einen Kampf zwischen jüdischem Liberalismus und christlichem Fundamentalismus“ zurückgeht (Kapitalismus, Marx und der ganze Rest, S. 54).

 

Geht die europäische Zivilisation vorwiegend auf jüdische Einflüsse zurück?

Auf S. 8f. fassen Sie zusammen, worauf Sie hauptsächlich hinauswollen:

Möglicherweise sind die technischen Erfindungen, ebenso wie die meisten anderen kulturellen Innovationen von den Juden nach Mitteleuropa gebracht worden. (Und möglicherweise sind bei den antijüdischen Pogromen des 14. Jahrhunderts alle die Dokumente untergegangen, die diesen Kultur- und Technologietransfer belegen könnten.)

Vielleicht hängt andererseits die große europäische Wirtschaftskrise des 14. Jahrhundert, die völlig unbestritten ist, mit der Vernichtung der jüdischen (und der urchristlichen) Gemeinden zusammen. Die Pogrome sind unbestritten, die Krise ist unbestritten, aber noch niemand hat einen Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen gesehen. Dabei wäre der Begründungszusammenhang doch viel sinnvoller, als eine Klimaverschlechterung oder eine Epidemie zu vermuten.

Ob diese Vermutungen bewiesen werden können, wenn – wie Sie annehmen – alle diesbezüglichen Dokumente vernichtet worden sind, das ist eben die große Frage. Es ist immer schwierig, etwas aus  dem Stillschweigen von Quellen (e silentio) zu belegen, zumal wenn es derart von der traditionellen fachwissenschaftlichen Sichtweise abweicht.

Ihr verstehe die Absicht Ihres Buches so, dass Sie versuchen, viele Indizien zusammenzutragen, die Ihre alternative Sicht der Dinge letztendlich unausweichlich erscheinen lassen.

Obwohl sie in Anlehnung an Argumente von Max Planck annehmen (S. 9), dass sich

die Wissenschaftler prinzipiell von neuen Argumenten nicht mehr überzeugen lassen, nachdem sie erstmal einen festen Satz von Überzeugungen erworben haben,

lassen Sie sich davon nicht entmutigen und beharren auf Ihrer kühnen Hypothese (S. 10),

daß die mittelalterliche Geschichte in wesentlichen Punkten neu geschrieben werden muß:

Wir gehen davon aus, daß die Konstituierung der großen Religionen Judentum, Christentum, Islam erst im Mittelalter stattfand. Vermutlich erst im 13. Jahrhundert. Islam und Christentum haben sich erst zu diesem Zeitpunkt (nach heftigen Bürgerkriegen), dogmatisiert und fundamentalisiert, während das Judentum den kritischen Rationalismus bewahrte und so den Keim der offenen Gesellschaft in sich trug.

Da ich auf dem Gebiet der Sprachgeschichte kein Fachmann bin, kann ich zwar die Argumentationen Ihres Buches nicht alle im einzelnen beurteilen. Ich möchte aber meine Fragezeichen doch an den Stellen anbringen, an denen mir begründete Zweifel kommen.

Ersten Widerspruch melde ich sofort bei Ihrer Behauptung an, dass sich Judentum, Christentum und Islam erst im Mittelalter konstituiert haben sollen. Gab es also keine jüdische Geschichte, die bis mindestens in die Perserzeit (6. Jahrhundert v. Chr.) zurückreicht, keine Geschichte der israelitischen Staatsgebilde Israel und Juda, die weitere Jahrhunderte früher aus Stammeszusammenschlüssen entstanden sind? Gab es kein Christentum, das auf Jesus zurückgeht, der zur Zeit der römischen Kaiser Augustus und Tiberius lebte?

Eine zweite grundsätzliche Skepsis bezieht sich auf Ihre pauschale Schwarzweißmalerei: Hier die dogmatisierten bzw. fundamentalisierten Religionen Christentum und Islam, dort das kritisch rationale und gesellschaftlich offene Judentum. Das ist mir zu undifferenziert und vor allem viel zu wenig mit konkreten Argumenten belegt.

Im Folgenden werde ich mich kritisch mit den Stellen in Ihrem Buch befassen, die mir besonders fragwürdig erscheinen.

Kamen jüdisch-christliche Ideen in der Spätantike aus dem Orient nach Europa?

Es scheint plausibel zu sein, daß die Ideen des Christentums/Judentums schon in der Spätantike mit Händlern und Siedlern aus dem Orient nach Europa gekommen sind und hier in vielen Regionen relativ unabhängig voneinander tradiert wurden. Dann dürfte es aber nach einer friedlichen Phase im Hochmittelalter zu Bürgerkriegen gekommen sein, die wir als Kreuzzüge, Ketzerkriege und Judenpogrome in den Geschichtsbüchern finden. Am Ende dieser Bürgerkriegsphase, im Spätmittelalter, erfolgt dann eine nachträgliche Ideologisierung dieser Kriege. (Das wäre eine Hypothese, die erklären könnte, warum unsere Dokumente erst im Spätmittelalter zahlreicher werden.) Diese Bürgerkriegsphase hat dann möglicherweise alle die liberalen Urchristentümer Europas vernichtet, die neben dem Judentum für die Tradierung der antiken Kultur verantwortlich gewesen sind. (S. 14f.)

Sie halten es also für plausibel, dass christlich-jüdische Ideen bereits in der Spätantike aus dem Orient nach Europa gekommen sind. Ich bin verwirrt. Haben Sie nicht wenige Seiten zuvor behauptet, das Judentum und das Christentum seien erst im Mittelalter, vermutlich im 13. Jahrhundert entstanden? Ihre Erwähnung der „liberalen Urchristentümer“ scheint aber darauf hinzuweisen, dass es offenbar trotz der „Konstituierung der großen Religionen Judentum, Christentum, Islam erst im Mittelalter“ vorher schon sowohl das Judentum als auch Vorformen des Christentums gab. Dann müssten Sie aber klarer begründen, ab wann eine Religion „groß“ ist, bzw. genauer darlegen, wie die Entwicklung etwa des Urchristentums zum dogmatischen Christentum vor sich gegangen sein soll.

Sicher wäre Geschichtswissenschaft spannender, wenn man sich mehr mit Quellen und Fakten und weniger mit Lehrmeinungen beschäftigen würde. (S. 15)

Es ist sicher richtig, dass sich die Geschichtswissenschaft mit Quellen und Fakten beschäftigen sollte. Meiner bescheidenen Meinung nach gehen die meisten Historiker auch tatsächlich verantwortungsbewusst ihrer Aufgabe nach, alle Lehrmeinungen an Hand von Quellen auf Ihre Stichhaltigkeit zu prüfen.

Meine Frage an Sie ist nun, ob Sie wirklich genug belegbare Fakten und beweiskräftige Quellen beibringen können, um Ihre weitreichenden Vermutungen und Hypothesen zu untermauern. Die Fragen, mit denen ich die folgenden Abschnitte überschrieben habe und die Sie mit Ja beantwortet haben, konnten von Ihnen jedenfalls nicht ausreichend begründet und belegt werden.

Wurde im Römischen Reich gar kein Latein gesprochen?

Die neuesten Erkenntnisse jüdischer Sprachgeschichte belegen, daß sich in Spanien in Inschriften aus dem 3. Jahrhundert vor Christi ein jüdisches Latein nachweisen läßt (Paul Wexler). Mit anderen Worten, Juden in Spanien haben schon Latein geschrieben, als es von Rom noch gar nicht erobert war. Dazu kommt, daß in Rom selbst ja bis zum Jahr 250 n. Chr. von gebildeten Römern Griechisch gesprochen worden sein soll. Wie sollen wir das verstehen, daß die Eroberten schon eine Sprache sprechen, die sich im Land der Eroberer selbst noch gar nicht durchgesetzt hat?! (S. 23)

Ihre hier geäußerten Fragen beweisen nicht, dass im Römischen Reich kein Latein gesprochen wurde. Denn im 3. Jahrhundert v. Chr. war Spanien ein zwischen Karthago und Rom umkämpftes Land, in dem durchaus die lateinische Sprache schon eine Rolle gespielt haben kann.

Und dass gebildete Römer noch bis 250 n. Chr. Griechisch gesprochen haben, ist erst recht nicht einmal ein Indiz dafür, dass es kein Latein als Sprache im Römischen Reich gab; ähnlich wie später in Mitteleuropa das Lateinische oder Französische als Sprache der Bildungsbürger und Gelehrten neben den Landessprachen genutzt wurde, gab es im Rom neben dem Griechisch der hellenistischen Bildung das Latein als Sprache vor allem des Militärs. Beide Sprachen waren Amtssprachen im Römischen Reich.

Ist im frühen Mittelalter noch nicht anerkannt, „dass Christus schon da war“?

Ein wichtiger altdeutscher Text, der erhalten blieb, ist die (altdeutsche) Übersetzung des lsidor von Sevilla „De fide catholica contra Judaeos“. Was frei übersetzt heißt: Der reine Glaube gegen den Jüdischen. Er fragt darin nach dem Zeitpunkt von Christi Geburt, ob er schon erschienen ist oder ob wir auf sein Kommen noch warten müssen. Oder wie es in Althochdeutsch heißt: „Suohhemes auur uuir nu ziidh dhera Christes chiburdi, huuedhar ir iu quhami odho uuir noa sculim quhemandes biidan“.

Interessant, daß man im frühen Mittelalter noch zu beweisen sucht, daß Christus schon da war. Noch interessanter, daß man dazu nicht das Neue Testament benutzt, sondern nur mit dem Alten argumentiert, und zwar mit dem Propheten Daniel, (der den Messias und den Untergang Jerusalems prophezeit für den Fall, daß sich die Juden nicht moralisch bessern.) (S. 31f.)

Die Übersetzung des altdeutschen Isidor-Textes ist wirklich sehr frei ausgefallen, denn „catholica“ heißt nicht „rein“, sondern „allumfassend“ oder eben „katholisch“. Und „contra Judaeos“ heißt „gegen die Juden“, nicht „gegen den jüdischen Glauben“.

Ganz sicher bin ich mir nicht, was Sie mit diesem Text überhaupt belegen wollen. Etwa, dass das Christentum erst jetzt entstanden ist? Dass die Christen selber noch nicht recht wussten, ob „Christus schon da war“? Aber die Beweisführung dieses altdeutschen Textes richtet sich doch, wie der Titel schon sagt, gegen die Juden, die Jesus von Anfang an eben nicht als Messias anerkannt hatten.

Und dass die mittelalterlichen Christen im religiösen Streit mit den Juden auf das Alte Testament zurückgreifen, um nachzuweisen, dass Jesus der von den Juden erwartete Messias ist, ist nicht überraschend, wenn man weiß, dass das Neue Testament ja eben nur zur Bibel der Christen und nicht der Juden gehört.

Warum übernehmen die Gelehrten der Germanen des Abendlandes das komplette Alte Testament der Juden, ergänzen es lediglich irgendwann mit dem Neuen Testament? (S. 37)

Ich kann nicht die Frage beantworten, wann genau die Germanen das Christentum übernommen haben und warum sie nicht die hergebrachte germanische Religion auf Dauer durchgesetzt haben. Aber sicher ist, dass die Germanen nicht das Alte Testament der Juden erst irgendwann mit dem Neuen Testament ergänzt haben. Stattdessen war das Alte Testament von Anfang an auch die Bibel Jesu und der Urchristen und wurde bereits in den ersten Jahrhunderten n. Chr. durch die nach und nach entstehenden Schriften des Neuen Testaments ergänzt. Als die Germanen christianisiert wurden, bestand die christliche Bibel schon Jahrhunderte lang aus beiden Testamenten.

Haben die Juden und die Deutschen den gleichen Stammvater?

Auf S. 47 zitieren Sie den Philologen Justo-Georgio Schottelio, der in seinem Buch „Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubtsprache“ 1663 an seinen Landesherrn schreibt:

„Durchleuchtigster Hertzog/ gnädigster Fürst und Herr/ diejenige Sprache/ welche ihren Anfang durch wunderbare Göttliche Vermittlung mit bey dem Babilonischen Thurmbau und erfolgender Verwirrung genommen/ und von des Ascenas Geschlechte und Nachkommen in Europen gebracht/ wird nicht unrecht mit allgemeinem Nahmen genant die Celtische Sprache: die sich auch durch gantz Europam fast ausgebreitet.“

Nun nennen sich die deutschen Juden heute noch aschkenasische Juden, was bedeuten würde, daß die Juden in den Augen der Gelehrten des 17. Jahrhunderts den gleichen Stammvater wie die Deutschen haben.

Diese letzte Schlussfolgerung trifft nicht zu, da nach der Völkertafel im 1. Buch Mose – Genesis 10 Aschkenas ein Enkel Japhets ist, die Juden aber Abkömmlinge der Nachfahren Sems sind. Aschkenasische Juden sind nach dieser Logik nicht ethnische Nachkommen der aus Palästina stammenden semitischen Juden, sondern Angehörige der europäischen Völker, die als Proselyten den jüdischen Glauben annahmen und sich beschneiden ließen. Schottelios Satz beweist also nichts über einen ethnischen oder sprachlichen Zusammenhang zwischen den Juden und den Deutschen.

Hat sich das Althochdeutsche aus dem Aramäischen entwickelt?

Das Aramäische war die weit verbreitete Verkehrssprache der alten orientalischen Welt. Das Arabische hat sich daraus entwickelt, aber möglicherweise auch das Althochdeutsche. Wie sonst ist zu erklären, daß Jesus seinen Gott aramäisch als „Eli“ bezeichnete, die Araber ihn heute noch „Ala“ nennen und daß auch das Althochdeutsche den Begriff „Ala“ für Gott/Tempel kannte?!!! Und auch das Jiddische hat die Gottesbezeichung „Eil“, während im gelehrten Hebräischen Gott doch „Jahwe“ heißt. (S. 76)

Auf Grund der Ähnlichkeit eines einzelnen Wortes die Entwicklung einer Sprache aus einer anderen zu folgern, halte ich für kaum beweiskräftig.

Im „gelehrten Hebräisch“ ist der Begriff für Gott oder Gottheit, das heißt, alles dessen, was Menschen als Gott oder Götter bezeichnen, übrigens auch „El“ oder „Elohim“ (Letzteres wörtlich = „Götter“). „Jahwe“ dagegen ist die vokalisierte Form des NAMENS für den besonderen EINEN und einzigen Gott, der für die Juden anbetungswürdig war und der von den Ansprüchen aller anderen Mächte und Götter befreite. Da dieser heilige Name, das sogenannte Tetragramm JHWH, für Juden unaussprechlich war, wurde er tatsächlich meist mit anderen Wörtern umschrieben, z. B. mit „Adonaj“ = „mein Herr“ oder eben auch einfach mit der allgemeinen Bezeichnung für die Gottheit „El“ oder „Elohim“.

Beginnt die deutsche Philologie mit den deutsch-hebräischen Sprachstudien von Levita und Fagius?

Dankbar bin ich Ihnen dafür, dass ich durch Sie auf Elias Levita aufmerksam geworden bin, der ein „deutscher Philologe, Rabbi, jüdischer Humanist und jiddischer Dichter“ war und von dem Wikipedia sogar zu erzählen weiß: „In Rom wurde er zum Freund Martin Luthers, der die Vorlesungen Levitas besuchte und Hebräisch bei ihm lernte.“

Geradezu begeistert bin ich, durch Sie außerdem von dem evangelischen Reformator, Lehrer und Pfarrer Paulus Fagius erfahren zu haben, der 1540-42 in Isny im Allgäu mit Elias Levita eng zusammenarbeitete und eine hebräische Druckerei aufbaute. Mit seiner Leidenschaft für die hebräische und jiddische Sprache war er eine mich sehr beeindruckende Gestalt der Reformationszeit.

Dass er plante, „mehrere Bücher in solcher jüdischen Schrift herauszugeben und wolle die Leser daran gewöhnen“, beweist aber nicht ganz allgemein,

„daß im 16. Jahrhundert noch kein sonderlich tiefer Graben zwischen Juden und Christen bestanden hat, was die Verwendung der hebräischen und der deutsch-hebräischen Schrift betrifft“,

auch nicht, dass „das Jiddische vom Deutschen noch nicht richtig zu trennen gewesen zu sein“ scheint (S. 78f.). Ich vermute, dass Fagius mit seiner Begeisterung für das Hebräische eher eine Ausnahmeerscheinung unter den Reformatoren gewesen ist. Sie selber erwähnen ja auch, dass man ihn nicht gerade mit öffentlichen Ehren überschüttet hat.

Mit dem viersprachigen Wörterbuch „Nomenclatura Hebraica“ von Elias Levita versuchen Sie offenbar zu belegen, dass es im 16. Jahrhundert noch keinen Unterschied zwischen dem Jiddischen und dem Deutschen gab:

In der ersten Spalte finden wir die deutsche Vokabel, mit den hebräischen Typen geschrieben, die die deutschen Juden verwenden, in der zweiten finden wir das reine Hebräisch, in der dritten das Latein und in der vierten das Deutsche. Herausgegeben wird dieses Glossar von Paulus Fagius, der von Levita in Hebräisch unterrichtet worden ist. Aber nicht ganz klar ist, ob die erste Spalte von Fagius nun als Deutsch mit deutsch-hebräischen Buchstaben oder als Deutsch-Jüdisch betrachtet wird. Sieht der Herausgeber überhaupt einen Unterschied zwischen Deutsch und Deutsch-Jüdisch, der über die unterschiedlichen Typen hinausgeht? Wir sind der Meinung, daß Fagius diesen Unterschied nicht sieht und daß er das Deutsch der Juden nur durch die andere Schreibweise unterscheiden kann. (S. 76)

Levita unterscheidet, wie man an seiner lateinisch geschriebenen und hier in der Abbildung gezeigten Auflistung der vier Spalten erkennen kann, zwischen den deutschen Vokabeln in der ersten Spalte von rechts, die die „jüdischen Deutschen“ („Iudaei Germani“) in hebräischen Buchstaben schreiben, und „unserem Deutsch“ („nostra germanica“) in der vierten Spalte.

Lateinisches Zitat aus dem viersprachigen Wörterbuch von Elias Levita: "Primus ordo continet germanica uocabula, hebraicis tamen typis, quibus Iudaei Germani cum germanica scribunt, utuntur. Secundus ordo purè hebraica. Tertius latina. Quartus ordo nostra germanica."
Aus der lateinischen Erläuterung zum Wörterbuch von Elias Levita (alle folgenden Abbildungen sind verlinkt mit der Online-Version bei Google Play)

In den meisten Fällen entspricht das hebräisch geschriebene jüdisch-deutsche Wort dem deutsch geschriebenen Wort, wie ich bei einer (allerdings nicht vollständigen) Nachprüfung feststellen konnte; nur hin und wieder weichen die jiddischen Wörter geringfügig ab. Das beweist aber nicht, dass es nicht auch eine vom Deutschen abweichende jiddische Sprache gegeben hat, zumal doch gerade Elias Levita auch jiddische Bücher gedruckt hat.

Aus der hier gezeigten Zeile des Wörterbuchs ziehen Sie nun meines Erachtens allzu weitreichende Schlüsse (S. 76f.):

Was wir an diesem Werk nun ausgesprochen interessant finden, ist, daß das hochdeutsche Wort „Schule“ dort im deutsch-hebräischen mit „Schuil“ angegeben wird. In der deutschen Spalte steht „Schul“, in der hebräischen Spalte steht „Benesch“ und in der lateinischen steht „Synagoga“. Nun sprechen die letzten polnischen Juden in der Tat von der „Schil“, wenn sie die Synagoge meinen. Aber das heißt doch, daß Anfang des 16. Jahrhunderts das jüdische oder deutsche Wort Schule im Lateinischen nur als Synagoge bekannt war? Nicht aber als „Schola“, wie man denken sollte.

Nun steht erstens in der hebräischen Spalte nicht das hebräische Wort „Benesch“, denn das dort abgedruckte Wort  Das hebräische Wort Knesset in hebräischen Buchstaben aus dem Wörterbuch von Helia Levita  enthält weder die hebräischen Buchstaben „B“ noch „SCH“, sondern „K“ und „Th“. Es wird also mit der enthaltenen Vokalisierung „KNeSeTh“ gelesen, was wörtlich „Versammlung“ heißt (noch heute heißt das israelische Parlament „Knesseth“).

Dass Levita für das deutsche Wort „Schul“ nicht das lateinische Wort „schola“ verwendet, muss nicht heißen, dass er es nicht kannte, oder gar, dass es im Lateinischen zu seiner Zeit gar nicht das Wort „schola“ gab. Immerhin verwendet er in der hebräischen Spalte auch das Wort KNeSeTh für „Versammlung“ und nicht das zum Beispiel in der Bibel ausschließlich verwendete gleichbedeutende Wort QaHaL, das in der griechischen Septuaginta immer mit „synagogä“ übersetzt wird. Levita hat also durchaus zwischen verschiedenen existierenden Wörtern eine Wahl treffen können. Vielleicht benutzte er von der Septuaginta-Übersetzung für „Versammlung“ her auch das entsprechende lateinische Wort „synagoga“, weil die Synagoge als Versammlungsort der Juden tatsächlich immer auch dem Schulunterricht diente. Bis in unsere Tage hinein hieß die Synagoge ja im Volksmund die „Judenschule“.

Aber Sie treiben Ihr Ansinnen, mit der Herleitung der Wortbedeutung eines einziges Wortes „das ganze lateinisch-christliche Kartenhaus“ zum Einsturz zu bringen, noch weiter (S. 77):

Schließlich ist mir in meinem Lateinunterricht beigebracht worden, unser Wort „Schule“ komme vom Lateinischen „Schola“ für Tisch, Tafel. Und blicken wir jetzt noch mal in das Lexikon des Levita, dann stellen wir fest, daß das deutsche und jüdische Wort „Tisch“ im Lateinischen mit „Mensa“ übersetzt wird. Und daß andererseits das deutsche Wort „Tisch“ mit dem hebräischen „Schulechem“ übersetzt wird.
Mit anderen Worten, es stimmt, daß das deutsche Wort „Schule“ von dem Wort „Tafel/Tisch“ abgeleitet worden ist, aber nicht, wie man allgemein annimmt, aus dem Lateinischen, sondern aus dem Hebräischen.

Wieder übertragen Sie das hebräische Wort nicht exakt in die deutsche Umschrift; zu lesen ist dort nämlich SCHuLCHaN und nicht SCHuLeCHeM. Recht haben sie damit, dass dieses Wort „Tisch“ bedeutet. Ob aber das deutsche Wort „Schule“ auf das hebräische Wort „SCHuLCHaN“ zurückgeht oder auf das lateinische Wort „schola“ bzw. das griechische Wort „scholä“, das ursprünglich „Muße“ bedeutet, wie es etwa in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen war, das müsste eingehender bewiesen werden als mit der bloßen Wortähnlichkeit. Im Neuen Testament kommt jedenfalls das griechische Wort σχολῇ („scholä“) bereits in der Bedeutung von „Schule“ vor; in der Apostelgeschichte (19, 9) nutzt Paulus einmal die Räume einer Philosophenschule, um zu predigen: er „redete täglich in der Schule des Tyrannus“.

Weiter schreiben Sie (S. 77):

Damit bricht aber eigentlich schon das ganze lateinisch-christliche Kartenhaus zusammen, und es wird offensichtlich, daß die moderne Bildungstradition nicht abendländisch, sondern jüdisch ist. Bei genauerem Nachdenken ist es auch plausibel, daß Deutschland die Idee der Schule von den Juden übernommen hat und nicht von den Italienern. Schließlich gibt es bei den Juden die allgemeine Schulpflicht seit es das Judentum gibt, die allgemeine Schulpflicht bei den Italienern dürfte aber erst knappe 100 Jahre alt sein.

Ich bestreite nicht, dass die Juden von jeher großen Wert auf die Bildung zumindest ihrer jungen Männer gelegt haben. Aber Ihre Ausführungen beweisen keineswegs, dass die europäische Bildungstradition ausschließlich jüdisch geprägt ist.

Titelblatt des viersprachigen Wörterbuchs von Helia Levita (bitte anklicken, um es kostenlos bei Google Play zu lesen)
Titelblatt des viersprachigen Wörterbuchs von Elias Levita

Stattdessen beweist das hier abgebildete Titelblatt des Wörterbuchs von Elias Levita, dass der Autor sich offenbar auch als Jude selbstverständlich der in der Reformationszeit üblichen lateinischen Gelehrtensprache bedient.

Außerdem legt es eher einen engen Zusammenhang des Hebräischen mit dem Lateinischen als mit dem Deutschen nahe, da der Titel in großen Buchstaben sowohl auf Hebräisch („Schemoth Dewarim“ = „Namen der Dinge“) als auch auf Lateinisch („Nomenclatura Hebraica“ = „Hebräische Namensbenennung“) angegeben ist und eine deutsche Titelangabe fehlt.

Aber solche einfachen Zusammenstellungen beweisen natürlich sowieso keine Abhängigkeiten der einen von der anderen Sprache.

Auch Ihre weiteren Schlussfolgerungen, die Sie auf der Zusammenarbeit von Elias Levita mit Paul Fagius aufbauen, halte ich für letztlich nicht überzeugend (S. 79):

Wir stellen jedenfalls fest, daß im 16. Jahrhundert die deutsche Philologie mit Übersetzungen aus dem Hebräischen beginnt und dabei die deutsch-hebräische Schrift verwendet.

Etwa zur gleichen Zeit dürfte die Bibelübersetzung von Luther veröffentlicht worden sein, die im Gegensatz zu der von Fagius von der offiziösen Geschichtsschreibung als der Beginn der modernen deutschen Sprache betrachtet wird. Luther wurde auch, anders als Fagius, nicht öffentlich verbrannt.

Der Reformator Martin Luther hat das Neue Testament zum ersten Mal 1522 übersetzt, das Alte Testament 1534; auch er bediente sich bei der Übersetzung des AT eines hebräischen Urtextes und liebte die hebräische Sprache. Gegenüber den Juden bewahrte er allerdings seine tiefsitzende Ablehnung, weil diese nicht bereit waren, sich von seiner evangelischen Auslegung der Heiligen Schrift zum Glauben an das Heil in Jesus Christus überzeugen zu lassen.

Der ebenfalls evangelische Reformator Paulus Fagius hat vermutlich in seiner Zeit in Konstanz 1543-44 seine hebräisch-deutsche Übersetzung verfasst. Er scheint im Gegensatz zu Luther keine Berührungsängste im Umgang mit Juden gehabt zu haben.

Größeren Einfluss auf die deutsche Philologie hat zweifellos dennoch die Lutherbibel ausgeübt, die nicht in hebräisch-deutscher Schrift gedruckt wurde und bei der Luther sich bemühte, „dem Volk aufs Maul zu schauen“, womit er das deutsche Volk meinte und nicht speziell die Juden. Denn einerseits trug die wortschöpferische Kraft Luthers maßgeblich zur Entwicklung einer einheitlichen deutschen Sprache bei, vor allem aber gelangte die Lutherbibel praktisch in jeden evangelischen Haushalt und prägte die Sprache der protestantischen Deutschen viele Jahrhunderte lang.

Hatten die Juden keine reale Geschichte vor dem 10. Jahrhundert?

Im Nachtrag Ihres Buches von 2004 stellen Sie die abenteuerliche Behauptung auf (S. 103),

daß auch die Juden keine reale Geschichte zu haben scheinen, die über das 10. Jhd hinausreicht. Saadia ben Joseph al-Fayyumi begründet nämlich, auch nach Meinung der konventionellen Historiker, zu dieser Zeit die hebräische Philologie. Er schreibt demnach eine arabische Version des Alten Testaments und ein aramäisches Wörterbuch des Hebräischen. Bei Mendelsohn liest sich das so:

„Anfang des 8ten Jahrhunderts im 5ten Jahrtausend (10. Jahrhundert n. Chr.) erschien Rabbi Saadia Gaon aus Fayum in Ägypten und übersetzte die fünf Bücher Mose ins Arabische. Manche schrieben ihm auch die arabische Übersetzung der Propheten und Hagiographen zu. Diese arabische Übersetzung wurde, mit … der persischen Übersetzung des Rabbi Jakob ben Jospeh Tawus zusammen im Jahr 306 (1546 n. Chr.) zu Constantine (Constantinopel) in Quadratschrift gedruckt.“

Es bleibt mir absolut schleierhaft, wie Sie aus der Tatsache, dass der jüdische Gelehrte Saadia Gaon ein hebräisches Wörterbuch verfasste und die hebräische Tora ins Arabische übersetzte, schließen können, dass es vor ihm keine jüdische Geschichte gab!

Dadurch erzeugen Sie im Übrigen auch weitere Widersprüche in der Entfaltung Ihrer eigenen Argumentation, denn einerseits sollten doch „die Ideen des Christentums/Judentums schon in der Spätantike mit Händlern und Siedlern aus dem Orient nach Europa gekommen“ sein (S. 14), andererseits gehen Sie „davon aus, daß die Konstituierung der großen Religionen Judentum, Christentum, Islam erst im Mittelalter stattfand. Vermutlich erst im 13. Jahrhundert.“ (S. 10) Welche der drei Versionen stimmt denn nun? Ist das Judentum im 13. oder im 10. Jahrhundert entstanden oder noch viel früher?

War die arabische Übersetzung der Tora durch Rabbi Saadia der Urtext des Alten Testament?

Nicht genug, dass Sie unter Berufung auf Rabbi Saadia die alte Geschichte des Judentums für nicht-existent erklärt haben, im nächsten Abschnitt behaupten Sie auch noch, dass die Übersetzung eines Textes der Urtext dieses Textes sein soll:

So einfach ist das. Da gibt es keine „Masoreten“, von denen die christlichen Theologen behaupten, sie hätten zwischen 750 und 1000 n. Chr. den damaligen hebräischen Text für immer fixiert. Saadia, der Sohn Josephs, schreibt eine arabische Version, die in hebräischen Buchstaben zusammen mit der persischen gedruckt wird. Da Mendelsohn keine andere Version erwähnt, wird man annehmen können, daß Elias Levita die arabische als Vorlage hatte. Und ist damit nicht die Version des Saadia der Urtext des Alten Testaments?

Aber wie kann die Übersetzung eines Buches zugleich dessen Urtext sein? Zumal, wenn noch erschwerend hinzukommt, diese Übersetzung gar nicht die gesamte hebräische Bibel umfasst, sondern nur die Tora, also die fünf Bücher Mose? Meinen Sie allen Ernstes, Rabbi Saadia hätte, indem er die erste hebräische Grammatik verfasst hat, zugleich auch die gesamte hebräische Sprache erst erfunden?

Übrigens: Ihrer Behauptung dass es keine „Masoreten“ gäbe, widerspricht sogar der Hauptkronzeuge Ihrer Argumentation, Elias Levita. Denn genau der taucht in folgendem Eintrag bei Wikipedia als Bearbeiter des masoretischen Bibeltextes auf:

„Die Textbeobachtung der Masoratradition wurde in den folgenden Jahrhunderten ständig fortentwickelt, so dass Anmerkungen, Punktationen und Listen zum Bibeltext bald in eigenen Handbüchern gesammelt erschienen.

Elijah Levita beschrieb 1538 in Massoret ha-Massoret besonders die Rechtschreibung des Masoretentextes.“

Wenn Levita also die masoretische hebräische Bibel so gut kannte, dass er ein ganzes Buch über sie schreiben konnte, wird er wohl kaum nur die arabische Übersetzung der Tora durch Rabbi Saadia für seine biblischen Studien benutzt haben.

Helmut Schütz

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