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Kapitel 11: Schuld und Frieden

Im elften Kapitel seines Buches geht es Helmut Schütz um noch ein schwieriges Thema, das mit Gefühlen zusammenhängt: Schuld an sexueller Gewalt empfindet das Opfer, nicht der Täter. Was ist mit Scham, Sünde, Erbsünde? Was ist der Gegenpol: Vergebung, Versöhnung, Frieden?

Zum Gesamt-Inhaltsverzeichnis des Buches „Missbrauchtes Vertrauen“

Pfarrer Helmut Schütz
Pfarrer Helmut Schütz (Foto: Franz Möller)

Inhalt dieses Kapitels

Allerhand Vorklärungen

Was steht der Schuld und der Scham als Gefühl gegenüber?

Vom Unterschied zwischen Schuld und Scham

Echte Schuld und neurotische Schuldgefühle

Vom Sinn der Begriffe Sünde und Erbsünde

Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?

Das Elterngebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“

Opfer von sexueller Gewalt: Schuldlos und schuldig zugleich!

Das missbrauchte Elterngebot

Glaube an die magische Kraft der eigenen Gedanken, Wünsche und Gefühle

Identifikation und Treuebündnis mit dem Täter

Schuld durch sexuelle Gefühle beim Inzest

Schuldgefühle auf Grund von Gefühlsverwirrung

„Komplizenschaft mit der Gewalt“ als echte Schuld

Schuldgefühle sind leichter auszuhalten als Ohnmachtsgefühle

Umgang mit Schuldgefühlen der Opfer von sexueller Gewalt

Dem missbrauchten Kind glauben!

Analyse und Befreiung von irrationalen Schuldgefühlen

Umgang mit dem Bewusstsein realer Schuld

Psychotherapie und Seelsorge als geschützter Raum für neue Erfahrungen

Fähigkeit zu echter Verantwortung

Ein Seitenblick auf die Täter: Schuldig ohne Schuldgefühl

Viele Wege, um sich realer Schuld nicht stellen zu müssen

Sind Missbrauchstäter von Grund auf böse und einsichtsunfähig?

Mangelnde Schuldeinsicht auf Grund seelischer Unreife?

Therapeutische Hilfe für Täter

Frieden finden

Keine Einklagbarkeit der Vergebung

Vergebung zur Versöhnung mit dem Täter?

Feindesliebe und die unvergebbare Sünde gegen den Heiligen Geist

Loslassen eines zerstörerischen Treuebündnisses

Sich selbst verzeihen und Frieden finden mit sich selbst

Annas Vergebungslehre

Wiederherstellung der Beziehung zwischen Opfer und Täter

Friedensschluss mit sich selber

Anmerkungen zu diesem Kapitel

Allerhand Vorklärungen

Wo Angst sein darf, wächst Vertrauen, wo Zorn erlaubt ist, blüht Liebe, wo getrauert wird, kann man sich auch wieder freuen. Soviel zu den menschlichen Grundgefühlen. Doch einen wichtigen Bereich von Gefühlen habe ich noch nicht abgehandelt, die erstens im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch eine sehr wichtige Rolle spielen und zweitens häufig sogar als die besondere Spezialität der Kirche und des Christentums angesehen werden: Ich denke an die Gefühle von Schuld und Scham.

Mit keinem anderen Gefühl habe ich mich so schwer getan, meine Gedanken dazu zu ordnen und einigermaßen klar zu formulieren. Dabei ist es so wichtig, im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch auch diese belastenden Empfindungen offen anzusprechen zu können, um sie zu überwinden (1).

Was steht der Schuld und der Scham als Gefühl gegenüber?

In eine gewisse Verlegenheit komme ich sofort, wenn ich diesen beiden negativ besetzten Gefühlen positive Gefühle gegenüberstellen möchte. Sind Vergebung oder Versöhnung ein Gefühl? Sind das nicht vielmehr Handlungen, die etwas wieder in Ordnung zu bringen suchen, das durch Schuld und Scham in Unordnung geraten ist?

Dorothee Sölle sagt: „Umkehr ist vielleicht ein klareres Wort für Vergebung. … Umkehr ist mehr als Vergebung, weil sie die Zukunft einbezieht. … Umkehr ist, ein neues Herz bekommen und noch einmal probieren dürfen.“ (2) Nicht umsonst ist „Umkehr“ ja der Zentralbegriff der Verkündigung Jesu – sozusagen wirklich als das echte, auch gefühlsmäßig erlebbare Pendant zum echten Schuldgefühl. Das griechische Wort „metanoia“ (3) drückt es womöglich noch deutlicher aus, dass es nicht nur um ein neues Verhalten, sondern auch um eine neue Haltung des Fühlens und Denkens geht, die sich dann auch im Verhalten bewährt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (4)

Mitten in diesen Überlegungen machten mir die TeilnehmerInnen unseres Klinik-Bibelkreises einen noch besseren Vorschlag: die gefühlmäßige Entsprechung zum Schuldgefühl ist der seelische Frieden, der innere Frieden, die innere Ruhe, griechisch „eirene“, hebräisch „schalom“, und zwar kamen wir auf diesen Gedanken durch die Interpretation der Geschichte von der blutflüssigen Frau, die erwartet, bestraft zu werden, und Jesus lässt sie „im Frieden gehen“ (5).

Dieser Komplementärbegriff ist auch insofern umfassender und angemessener, als er von vornherein dem Missverständnis entgegenwirkt, alles, was sich wie Schuld anfühlt, könne durch Vergebung überwunden, und schwerwiegende Schuld, die nicht einmal empfunden wird, durch Vergebung aufgehoben werden. Komplex ist das Thema vor allem dadurch, dass Täter im Vollzug des Missbrauchs alle Vorstellungen von Schuld durcheinanderbringen, um dem Opfer die eigene Schuld mindestens als Mitschuld aufzuerlegen, um sie selbst nicht empfinden zu müssen.

Letztlich geht es also um die Fragen: Wie können Menschen ihren inneren Frieden finden, die sich durch Missbrauch schuldig fühlen, obwohl sie unschuldige Opfer sind? Wie können sie den Frieden mit Menschen und mit Gott (wieder)finden, die den Missbrauch ihres Vertrauens aktiv betrieben oder zugelassen haben? Und auf der anderen Seite: Gibt es angesichts der Schwere der Schuld von Missbrauchstätern und ihrer in der Regel nicht vorhandenen Schuldeinsicht überhaupt die Möglichkeit, dass ihre Seele, die kaum noch in ihrer Gottebenbildlichkeit zu erkennen ist, ihre Frieden findet, bzw. dass man mit ihnen im Frieden leben kann?

Vom Unterschied zwischen Schuld und Scham

Schuld und Scham selbst verstehe ich als Gefühle, die sich aus anderen Gefühlen zusammensetzen: sie haben zu tun mit einer Trauer über den Verlust des eigenen positiven Bildes von sich selbst, mit dem Zorn auf eigene Handlungen und mit der Angst vor einer Bestrafung entweder wegen eigener Handlungen oder einfach aufgrund dessen, dass man so, wie man ist, nicht in Ordnung ist. Dabei ist die Schuld auf Handlungen bezogen, die man selber verantwortet; demgegenüber meint die Scham eher ein Leiden am bloßen Dasein und Sosein, wie man ist.

Wer schuldig wird, hat zumindest theoretisch eine Wahlfähigkeit, er könnte auch anders handeln. „Schuldgefühl heißt nicht, dass wir etwas nicht tun können, sondern dass das, was wir getan haben oder zu tun gedenken, etwas ist, was (obschon im Bereich unserer Möglichkeit) verboten ist.“ (6) Wir werden im Lauf dieses Kapitel ausführlicher betrachten, wie Schuldgefühle entstehen und welche Wege zur Überwindung es gibt.

Scham dagegen entsteht nicht durch etwas, das ich tun oder auch lassen kann, sondern „Schamgefühl tritt auf, wenn wir etwas nicht können, was wir oder unsere Zuschauer von uns erwarten: Wir können ein bestimmtes Gewicht nicht heben, einen Ball nicht erwischen, wir behaupten, dass wir jemanden zu Boden schlagen werden und statt dessen liegen wir selbst auf der Nase. Es bedeutet Erniedrigung (belittlement) und Verlust von Respekt.“ (7) Nach Till Bastian entsteht der Scham­affekt im „Zusammenstoß des Kindes mit der Übermacht der Eltern“ (8), konkret durch „Zurückweisungserlebnisse“, die „schon sehr früh das Gefühl bewirken, ‚verkehrt‛, ‚unrichtig‛, ‚missliebig‛ etc. zu sein, ohne dies irgendwie ändern zu können.“ (9) Als biblische Parallele dazu nennt Bastian die grundlose Ablehnung Kains durch den Gott Jahwe, die er als Akt der Unbarmherzigkeit deutet („Er ist ein beschämender Gott“) (10), woraufhin Kain aus Scham „finster seinen Blick senkt“ (11): „Nur einen Ausweg findet Kain, um in seiner Ohnmacht das Gesetz des Handelns wieder an sich zu reißen: die Verwandlung von Scham in Schuld, die böse Tat, der Brudermord.“ (12) Bastian übersieht allerdings auf Grund von Vorurteilen gegenüber dem Gottesbild des Alten Testaments, dass Gott dem Kain durchaus einen Ausweg aus der Scham eröffnet: „Der HERR aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begier, du aber sollst Herr werden über sie.“ (13) Kain entscheidet sich jedoch dagegen, vertrauensvoll zu Gott aufzublicken, und geht seinen verhängnisvollen Weg allein weiter, einen Weg, auf dem Gott ihn aber auch dann noch heimsucht und schützend begleitet, nachdem er schuldig geworden ist (14).

Scham kann überwunden werden durch Vertrauen, und vertrauen kann ich auf Grund einer grundsätzlichen Wertschätzung meiner Person, so wie ich bin, einer wohlwollenden Annahme meiner Existenz. Nur wo Vertrauen möglich ist, muss ich mich nicht schämen, darf man mich sehen, wie ich bin. Nur im Spiegel der Wertschätzung eines mich liebenden Gegenübers weiß ich überhaupt, wer ich bin, darf ich mich nehmen, wie ich bin, und darf ich werden, der ich werden kann. Die seit einigen Jahren in den öffentlichen Medien grassierende Flut von Selbstbloßstellungen im Big-Brother-Container oder in Nachmittags-Talkshows deutet auf eine Sehnsucht hin, wirklich wahrgenommen zu werden und Wertschätzung zu erfahren (15).

Echte Schuld und neurotische Schuldgefühle

Nun kann man aber auch innerhalb der Schuld noch einmal Unterscheidungen treffen. Und da finden wir neben den Schuldformen, für die wir unseren Mitmenschen oder Gott um Vergebung bitten können, auch noch das Schuldgefühl, das hartnäckig jeder Beichte und jeder Absolution widersteht, das neurotische Schuldgefühl, wie es die Psychoanalytiker nennen, das Schuldgefühl als „Racket“ oder Ersatzgefühl oder Gefühlsmasche, wie es die Transaktionsanalyse zu bezeichnen versucht hat. Was den seelsorgerlichen Umgang mit Schuld erschwert, ist die Tatsache, dass wir viel häufiger mit den letztgenannten „unechten“ als mit „echten“ Schuldgefühlen zu tun haben.

Petruska Clarkson unterscheidet „drei Arten von Schuld: a) Schuld als Ersatzgefühl, b) echte Schuld, c) existentielle Schuld“ (16).

a) „Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Schuld als Ersatzgefühl sind ihr ausbeuterisches Design, ihre Wiederholbarkeit und die Tatsache, dass die schuldbeladene Person keine wirksamen Anstrengungen unternimmt, um das Problem zu lösen, für das sie sich schuldig fühlen. Auch leisten sie keinerlei Wiedergutmachung. Das ist Schuld um der Schuld willen. Schuld als Ersatzgefühl übermittelt die psychologische Botschaft, dass jemand anders etwas damit tun sollte, zum Beispiel, dir zu vergeben, dass du nichts tust, verstehen, dass es nicht deine Schuld ist, usw.“ (17) Das Problem bei unechter oder neurotischer Schuld ist, dass Beichte und Vergebung keinen Erfolg bringen. Das Schuldgefühl bleibt hartnäckig bestehen, eben weil es nicht auf einer echten Schuld beruht.

b) „Echte Schuld ergibt sich aus einer realen Aggression gegen oder eine unterlassene Hilfeleistung für einen anderen. Die ursprüngliche soziale Funktion von Schuld kann verstanden werden als ein Hilfsmittel für Kinder, um zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden und Maßnahmen zu ergreifen, um impulsiv begangene fehlerhafte Taten zu korrigieren, bevor man selbständig auf erwachsene Weise funktioniert. Therapeutisch kann man mit Schuld durch reale oder symbolische Wiedergutmachungshandlungen umgehen.“ (18)

Dass diese Psychotherapeutin in der Reihe der Bewältigungsmechanismen für Schuld ausgerechnet die für Christen so wichtige Vergebung völlig „vergisst“, scheint kein Zufall zu sein, sondern damit zusammenzuhängen, dass der Umgang mit Schuld sehr stark vom Menschenbild des mit ihr Umgehenden geprägt ist. Das scheint auch einer der Gründe zu sein, warum manche psychisch kranke Klinikpatienten mit einer Schuldproblematik lieber die Krankenhausseelsorge aufsuchen, als sich ihrem behandelnden Arzt oder Psychologen anzuvertrauen. Wenn eine Stationspsychologin mich darum bat, mich doch einmal besonders um einen bestimmten Patienten zu kümmern, handelte es sich meistens um ein schuldbesetztes Thema, für das die psychologische Fachkraft oder der Patient selbst dem Pfarrer eine höhere Kompetenz zuschrieb.

Später – nämlich im Zusammenhang der Überlegungen zur Schuldfrage bei Opfern und Tätern – wird deutlich werden, warum gerade die von Clarkson angeregte Unterscheidung zwischen der Schuld als Ersatzgefühl und der echten Schuld so außerordentlich wichtig sind.

c) „Existentielle Schuld, ebenfalls Teil unseres menschlichen Erbes, hängt eng mit dem zusammen, was Eric Berne den Teilaspekt des ‚Pathos‛ innerhalb des Erwachsenen-Ich-Zustands nennt. Existentielle Schuld kann als tiefe, persönliche Wahrnehmung der Leiden anderer (zum Beispiel von Menschen, die unter Hunger oder Folter leiden) beschrieben werden, wenn man sich dafür entscheidet, sein Leben und was einem geschenkt ist anders einzusetzen… Existentielle Schuld schließt ein, echte Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen und nicht andere anzuklagen, die Regierung oder Gott! … Existentielle Schuld lässt das Individuum sich demütig und verantwortlich fühlen, oft auch in sehr innigem und tiefgreifendem Einklang mit unseren kollektiven Identitäten. So kann es ein Gegenmittel sein, das uns hilft, nicht nur Zuschauer zu bleiben, sondern uns verantwortlich einzumischen.“ (19)

Vom Sinn der Begriffe Sünde und Erbsünde

Ein weiteres Problem ist die Abgrenzung dieser Begriffe vom dem Begriff der Sünde und der Erbsünde.

Sünde ist als Beziehungsbegriff der Gegenbegriff zum Glauben; und mir macht es sehr viel Sinn, dass Eugen Drewermann dem Glauben als Vertrauen zu Gott die Sünde als Ausgeburt unbewältigter Angst und Verzweiflung gegenüberstellt. Auf diese Weise hat Drewermann in seinem großen Erstlingswerk „Strukturen des Bösen“, in dem er die Urgeschichte der Bibel in den ersten 11 Kapiteln des 1. Buchs Mose psychologisch, philosophisch und theologisch auslegt, zu erklären versucht, woher die menschliche Neigung zum Bösen kommt (20). Der Mensch als einziges Lebewesen, das sich seiner Sterblichkeit bewusst ist, sieht sich einer existentiellen Angst vor dem Nichtsein ausgeliefert, die er letzten Endes nur im Vertrauen auf Gott überwinden kann. Bleibt er einer solchen vertrauensvollen Lebenshaltung gegenüber verschlossen, muss er sich zur Selbsterhaltung seiner Existenz notwendig in das verstricken, was die Bibel „Sünde“ nennt, wobei dieser Begriff die „Ab-sonderung“ vom Ursprung des Lebens in Gott bereits definitionsgemäß enthält. Was ich mir nicht schenken lasse, muss ich mir nehmen; wer nicht dankbar leben kann, meint andere Strategien der Selbstbehauptung entwickeln zu müssen, nimmt zum Beispiel mit, was er meint, nicht anders kriegen zu können, auch auf Kosten anderer. Auf diesen Punkt kann man schon die Urgeschichte vom verbotenen Baum im Paradies bringen.

Schuld entsteht also aus Sünde; schuldhafte Handlungen und Verhaltensweisen sind (selbstver-antwortete) Antworten auf Angst, Vertrauensverlust, Verfehlung des Ziels des ungeteilten Einsseins mit Gott, den Menschen und sich selbst. Der Zustand, in dem – paradiesisch – alle Bedürfnisse gestillt sind („Mir wird nichts mangeln“ (21)), geht verloren, indem grundsätzlich die Güte des Schöpfers oder die Existenz eines Schöpfers oder einer sinnvoll geordneten Welt angezweifelt wird.

Insoweit Schuld die verhaltensmäßige Außenseite der inneren Haltung der Sünde darstellt, kann Schuld nur zusammen mit der verursachenden Haltung bewältigt werden, also nicht durch Entschuldigung, die einem Versuch des Ungeschehenmachenwollens gleichkäme, sondern durch Vergebung der Sünde, also der Aufhebung des Beziehungsabbruchs trotz der begangenen Schuld. Wenn Vergebung aber die Beziehung wiederherstellt, dann setzt sie auch voraus, dass der Schuldige sich ändert, bereut, Schaden beseitigt, so weit das möglich ist, um Verzeihung bittet und nicht fordert und „fortan nicht mehr sündigt“. Sonst liegt möglicherweise die „Sünde wider den Heiligen Geist“ vor, die darin besteht, sich jedem Gottvertrauen und jeder Barmherzigkeit zu verschließen, und darum nicht vergebbar ist. Meine Überzeugung ist aber, dass Menschen, die sich Sorgen machen, ob sie gegen den Heiligen Geist gesündigt haben, gerade nicht in dieser Gefahr schweben, da sie sich ja nach Vergebung sehnen.

Das heißt: Für jeden Menschen besteht immer die Chance, neu von Gott ergriffen zu werden und sich auf ein vertrauensvolles, dankbares Leben einzulassen, in dem die menschliche Urangst beruhigt und ein Leben in Verantwortung vor Gott und den Menschen möglich wird.

Sünde im Sinne Drewermanns kann man auch Erbsünde nennen, insofern jeder Mensch, der der existentiellen Urangst des Nichtseins ausgesetzt ist und sich einer dankbaren Lebenshaltung im Vertrauen auf die Liebe Gottes verschließt, der Verstrickung in Sünde nicht entkommen kann. Dieser Begriff der Erbsünde hat natürlich nichts mehr mit der traditionellen Deutung zu tun, dass die Sünde nach dem Sündenfall Adams und Evas auf dem Weg des sexuellen Verkehrs allen Menschen vererbt worden sei. Diese Deutung ist schon deswegen abzulehnen, weil die Bibel keine derartige Abwertung der Sexualität als solcher kennt.

Dorothee Sölle hat in ihrem Buch „Das Recht, ein anderer zu werden“ – für mich sehr überzeugend – auf den Punkt gebracht, worauf es ankommt, wenn man denn von Erbsünde reden will: „Die christliche Tradition sieht den Menschen als schuldfähig an, ja sie erkennt seine Würde darin, dass er schuldig werden kann. Weil er schuldig werden kann, ist er ein Mensch, und nur solange er schuldig werden kann, ist er im vollen Sinne des Wortes ein erwachsener Mensch. … Es liegt schon eine ungeheure Verachtung darin, von jemandem zu sagen: »Lass ihn, er kann nicht anders.«“ (22) Sölle fragt sich nun, ob diese Betonung der Schuldfähigkeit des Menschen nicht eine christliche Übertreibung der „Ansprüche des Menschen an sich selber, seine Hoffnungen ebenso wie seine Klagen, Schmerzen und Ängste“ darstellt (23), und steht dann allerdings zu dieser Übertreibung: „Die allergrößte Übertreibung aber, die sich das Christentum erlaubt hat, liegt im Begriff der Sünde, weil es hier die einigermaßen verrückte Behauptung aufstellt, dass wir auch an den Dingen schuldig sind, an denen wir uns nicht beteiligt haben, an dem Leiden anderer Menschen, das wir nicht verursacht haben. Immerhin, so meint der christliche Glaube, haben wir es nicht verhindert, dass es dem anderen so ergeht, und immerhin gibt es eine Solidarität, in der jeder für jeden verantwortlich ist. … Was Schuld sei, oder Sünde … muss im Rahmen dieser Übertreibung gedacht werden. Es gibt einen Maßstab für Schuld, der ebenso übertrieben ist, nämlich die Liebe. Dieser Maßstab ist unbedingt und unendlich; wer immer sich auf ihn einlässt, der findet sich als Schuldigen vor. Wir haben nie genug geliebt.“ (24) Was Dorothee Sölle hier anspricht, hatte Petruska Clarkson mit dem Begriff der existentiellen Schuld bezeichnet; Sölle bezieht es ausdrücklich auf die soziale Verantwortung füreinander in einer global vernetzten Welt: „Sünde, das hat er [Christus] uns beigebracht, auch wenn wir es gern vergessen, das ist der Zustand unserer Welt, der uns anklagt, es sind schon unsere Toten in den Slums von Brasilien, weil wir an ihnen verdient haben und es uns auf ihre Kosten so gut geht. Das sind nicht Naturkatastrophen oder rätselhafte Wirtschaftsgesetze, sondern das ist genau das, was die christliche Tradition meint mit dem Wort Erbsünde. Das heißt, wir stehen in einem Zusammenhang von Unfähigkeit und Schwäche, von Hoffnungslosigkeit und Bosheit, den wir nicht selbst gemacht haben, aber mittragen und miterhalten. Wir sind Kollaborateure der Sünde. Wenn wir also fragen, was kann ich dafür? Was geht es mich an?, dann gibt es für einen Christen, wie theistisch oder atheistisch er auch sei, nur eine einzige Antwort, die heißt: Ja, ich bin das, das ist meine Sache, unsere Sache. Das ist unsere Welt, an der wir mitbauen.“ (25)

Die Grenzen zwischen einem existentiellen Schuldbewusstsein im Sinne Clarksons oder Sölles und einem neurotischen Schuldgefühl können allerdings durchaus fließend sein. Wer auf Grund der globalen Verstrickung in vielfältige Schuld daran verzweifelt, dass er nicht die ganze Welt ändern kann, benutzt die Verantwortlichkeit, die uns mit allen Menschen verbindet, in neurotischer Weise dazu, um in seiner eigene Unzulänglichkeit zu verharren. Ich formuliere das deswegen ziemlich hart, weil ich genau diesen inneren Mechanismus sehr gut von mir selber kenne. Eine reifende erwachsene Persönlichkeit kann dagegen lernen, sich realistische Ziele zu setzen, die im konkreten Alltag gemeinsam mit anderen Menschen auch umsetzbar sind.

Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?

Der Begriff der Sünde oder Erbsünde ist auch hilfreich, um eine weitere Frage zu beantworten: Von welchem Menschenbild her betrachten wir das Thema Schuld? Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Ist ein Kind „böse von Jugend auf“ oder von seinen Anlagen her gut und wird nur durch äußere Einflüsse verdorben?

Die biblische Geschichte von der Sintflut scheint tatsächlich ein derart pessimistisches Menschenbild zu vertreten. Da „die Bosheit des Menschen auf der Erde groß war und alles Sinnen der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag“ (26), bereut Gott, ihn erschaffen zu haben und vernichtet die Menschheit. Das ist aber weniger als die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit kommt es der Erzählung darauf an, einen Ausweg aus diesem scheinbar ausweglosen Böse-Sein des Menschen aufzuzeigen. Dieser Ausweg besteht im Gottvertrauen eines einzelnen Menschen, der mitten auf dem Trockenen eine rettende Arche baut, so dass Menschen und Tiere doch noch eine Zukunft auf der Erde haben. Bezeichnend ist, dass Gott den Menschen aus Gnade diese Zukunft eröffnet, obwohl sie sich nicht entscheidend geändert haben, denn am Ende der Sintflutgeschichte heißt es immer noch: „das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“, und Gott will trotzdem „hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe“ (27). Die biblische Tradition sieht den Menschen im Licht eines doppelten Realismus: Er ist nicht nur zum Bösen fähig, in Sünde verstrickt, sondern er ist durch die Einwirkung von Gottes Geist, also im Vertrauen auf Gott, auch dazu fähig, das Böse in sich zu überwinden.

Von daher steht das christliche Menschenbild letzten Endes doch der Psychoanalytikerin Alice Miller näher als dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Sie wehrte sich vehement gegen ein Menschenbild, das einer „Schwarzen Pädagogik“ verpflichtet ist: „Da wir alle die Denkkategorien der Schwarzen Pädagogik verinnerlicht haben, geistert in der Psychoanalyse, von allem Fortschritt unbehindert, die Vorstellung des bösen Kindes herum, das lernen muss, seine wilden und bösen Triebe (Libido- und Todestrieb) zu beherrschen bzw. zu sublimieren.“ (28)

Sicher hat Liebe immer auch mit Grenzsetzung zu tun (29). „Schwarze Pädagogik“ beginnt dort, wo innerhalb eines psychologischen Modells der menschlichen Seele ein Menschenbild an Raum gewinnt, das der Liebe zu wenig zutraut und liebevolle Zuwendung als „Verzärtelung“ denunziert. Sigmund Freud ist der exemplarische Vertreter eines Menschenbildes, das aus dem enttäuschten Optimismus psychotherapeutischer Allmachtsvorstellungen heraus zur pessimistischen Annahme der letzten Endes tragisch zwischen Liebes- und Todestrieb eingesperrten menschlichen Natur überging. Sein Blick auf die Wirklichkeit menschlicher Aggression unterstellt eine „Aggressionsneigung“, die in der Natur des Menschen angelegt ist (30). Demgegenüber geht die biblische Tradition zwar realistisch von der menschlichen Fähigkeit aus, sein Lebensziel – des Lebens im Einklang mit Gott und dem Nächsten und sich selbst – zu verfehlen („Sünde“ heißt im neutestamentlichen Griechisch wörtlich „Zielverfehlung“), aber die Macht des Bösen bleibt letzten Endes der Allmacht der befreienden Liebe Gottes unterlegen. Das hat Konsequenzen auch für die Pädagogik, denn dann geht es nicht um einen Gegensatz zwischen angeblicher Verzärtelung und notwendiger pädagogischer Härte, wie ihn die „schwarze Pädagogik“ konstruiert, sondern das konsequente Setzen guter Grenzen ist Teil der liebevollen Zuwendung zum Kind.

In einem kleinen inneren Dialog mit dem Philosophen Odo Marquard (31) habe ich meine Einsicht auszudrücken versucht, dass die Psychoanalyse Sigmund Freuds vielleicht deshalb den Menschen als seinen Trieben hilflos ausgeliefert denken muss, weil sie die menschliche Vernunft an die Stelle Gottes setzt und dadurch den Menschen hoffnungslos überfordert. Wo der Mensch sich selber rechtfertigen muss und auf keine rechtfertigende Gnade Gottes hoffen darf, scheint der Schluss nahezuliegen, dass der Mensch, dem zunächst optimistisch nur Gutes zugetraut und zugemutet wird, am Ende doch seiner „Wolfsnatur“ erliegt. Biblisch gesehen muss der Mensch dem Menschen aber dann nicht zum Wolf werden, wenn er in einer heilenden Beziehung echte Annahme, Solidarität, ja Liebe erfährt, annimmt und in seine Lebenshaltung integriert. Der Mensch, als Ebenbild Gottes gut geschaffen, kann zwar durch Verstrickung in Sünde seinem eigentlichen Wesen untreu werden, aber die ihm von Gott verliehene Würde nie vollkommen verlieren, da Gott ihn auf seine Gottebenbildlichkeit anspricht und ihm zeitlebens die Umkehr zu einem menschlichen Leben zumutet. Das Konzept der Erbsünde legt den Menschen also gerade nicht auf seine Sündhaftigkeit fest, sondern eröffnet die Möglichkeit, dass der Mensch sich im Vertrauen auf Vergebung ändert.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Auseinandersetzung während meiner Schulzeit mit einem meiner Mitschüler. Er warf der christlichen Kirche vor, sozusagen in die Sünde verliebt zu sein und mit Lust in eigenen und fremden Sünden zu wühlen. Mir war bereits damals klar, dass die Sünde nicht aus solchen Gründen für Christen ein Thema sein darf, sondern weil sie ein reales Problem darstellt und durch Vergebung und Neuanfang überwindbar ist.

Das Elterngebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“

Noch eine Vorklärung halte ich für sinnvoll, bevor ich mich mit dem Thema Schuld bei Gewaltopfern und -tätern auseinandersetze. Wenn wir von Schuld reden, messen wir unser Verhalten in der Regel an bestimmten Maßstäben. Im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch durch Bezugspersonen innerhalb der Familie spielt dabei das biblische Gebot, die Eltern zu ehren, eine besondere Rolle.

Zunächst ist festzustellen, dass im Sinne der Bibel Gott die Menschen mit seiner Wegweisung keineswegs zu willenlosen Untertanen erziehen will. „Gottes Gebote sind nicht dazu da, dass wir uns unter andere Menschen ducken müssen… Sie sollen uns vielmehr aufmerksam machen auf das, was wir brauchen, damit wir leben können.“ (32) Was ist demzufolge der eigentliche Sinn des Fünftes Gebots: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“? (33) „Erwachsenen Leuten wird als Grundgebot für ein gelingendes Leben gesagt: »Ehre deinen Vater und deine Mutter!« Schreibe sie nicht ab, wenn du das Leben voll im Griff zu haben meinst und die Alten nicht mehr recht mitkommen mit den Veränderungen der Zeit. Nimm ihnen nicht ihre Würde, sichere ihren Lebensabend! Lass nicht zu, dass sie sozial verelenden!«“ Im 5. Gebot wird „der damalige Generationenvertrag“ geordnet, „ein entschiedenes Nein zum Recht des Stärkeren gesagt und ein entschiedenes Ja zum Recht des Schwächeren“ (34). Damit ist klar, dass die Eltern umgekehrt, so lange ihnen ihre Kinder im Lauf ihrer Kindheit und Jugend anvertraut sind, ebenfalls die Verpflichtung haben, ihre größere Erfahrung und Macht fürsorglich und Grenzen setzend für ihre Kinder einzusetzen. „An die Eltern richtet das Fünfte Gebot nämlich die Frage, ob sie denn wirkliche Eltern sind, ob ihre Kinder den Segen auch erfahren können, der in dieser Beziehung liegt, und erkennen können: Wir haben Grund, unsere Eltern zu ehren, uns nicht von ihnen abzuwenden, wenn wir einmal selbständig sind.“ (35)

Bemerkenswert ist, dass die Bibel auch Gebote für Eltern enthält, in denen sie ausdrücklich dazu angehalten werden, ihre größere Macht über die Kinder nicht auszunutzen und zur Unterdrückung der Kinder zu missbrauchen. So legt der Epheserbrief zwar das Elterngebot als Gehorsamspflicht der Kinder gegenüber den Eltern aus: „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist recht. »Ehre Vater und Mutter«, das ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat: »auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden«.“ (36) Aber es ergänzt das Gebot für die Väter in Vers 4: „Und ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern lasst sie aufwachsen in der Erziehung und Zurechtweisung des Herrn“ (37). In ähnlicher Weise stellt der Kolosserbrief dem Elterngebot „Ihr Kinder, seid gehorsam den Eltern in allen Dingen; denn das ist wohlgefällig in dem Herrn“ folgendes Vätergebot an die Seite: „Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, damit sie nicht scheu werden.“ (38)

In unserem Zusammenhang ist interessant, was Jochen Kuhn zum Thema Schuld sagt: „Zu einer wirklichen Gemeinschaft gehört letztendlich auch, dass gegenseitig Schuld eingestanden und vergeben werden kann… Wo wir das auch im Umgang mit unseren Kindern praktizieren, da lernen Kinder ihre Eltern zu schätzen und zu ehren als die, die ihnen zu einem wahrhaftigen Leben verholfen haben. Dann vermögen sie auch mit den Fehlern und Schwächen ihrer Eltern Geduld zu haben und sie ein Leben lang zu ehren als die unverzichtbaren, ersten Begleiter ihres Daseins.“ (39) Ich weiß noch, dass ich es selber als Kind meinen Eltern hoch angerechnet habe, dass sie in der Lage waren, mich um Entschuldigung zu bitten, wenn sie mich einmal (was selten vorkam) ungerecht behandelt oder bestraft hatten.

Opfer von sexueller Gewalt: Schuldlos und schuldig zugleich!

Die Beschäftigung mit dem Elterngebot führt nun nahtlos zu einer ersten Antwort auf die Frage, warum sich Opfer sexuellen Missbrauchs immer selber schuldig für den Missbrauch fühlen, obwohl sie objektiv unschuldig sind (40).

Das missbrauchte Elterngebot

Das an sich gute und wertvolle Gebot, die Eltern zu ehren, wird nämlich, wie Jochen Kuhn sagt, von missbrauchenden Eltern ebenfalls in schändlicher Weise missbraucht, um die Schuld für ihre eigenen Schandtaten dem missbrauchten Kind zuzuschieben. Sie müssen das noch nicht einmal ausdrücklich tun. Denn: „Das Kind weiß sich schuldig, dem Vater – »und allen, die mir vorgesetzt sind« – willig und gern zu gehorchen. Da es dies im Fall sexueller Misshandlung jedoch nicht vermag, fühlt es sich schuldig.“ (41) Wenn also das Elterngebot dazu herhalten muss, dass Eltern von ihren Kindern absoluten Gehorsam einfordern, ganz gleich, ob die Eltern ihrer Verantwortung den Kindern gegenüber gerecht werden, kann man es nur das „missbrauchte Gebot“ nennen (42).

Wie stark Kinder die unerbittlichen Forderungen eines derart missbrauchten Gebotes verinnerlichen können, zeigt der herzzerreißende Bericht der fünfjährigen Melanie, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befindet: „Ich betete zu Gott und weinte, als ich betete. Ich bekannte, dass ich Dornen ins Fleisch von Jesus getrieben hatte. Ich sah, wie schwarz mein Herz war und schämte mich so sehr, dass ich sterben wollte. Ich bekannte, dass ich meine Mutter nicht geehrt hatte, dass ich mich wehrte, als sie mich mit Zigaretten verbrannte, und meine Gedanken und meine Zunge waren ganz böse gewesen.“ Petruska Clarkson merkt dazu an: „Religionen und Kulturen, die die Schuld des Kindes unterstützen, schaffen besonders zerstörerische Situationen, in denen die Not des Kindes nur schwer oder unmöglich zu behandeln ist.“ (43)

Glaube an die magische Kraft der eigenen Gedanken, Wünsche und Gefühle

Hinzu kommt, dass sich im Erleben von Kindern nicht genau trennen lässt zwischen Phantasien, Wünschen und der Realität. Es mag normal sein, dass kleine Mädchen sich in einer bestimmten Entwicklungsphase wünschen, dass die Mama weg ist und sie den Papa heiraten können. Wenn dann aber wirklich die Mutter stirbt, fühlen sie sich schuldig, weil sie denken, dass ihre Gedanken magische Kraft entwickelt haben (44). Petruska Clarkson berichtet von Kindern, die panische Angst davor haben, ihre Eltern mit ihrem grausamen Verhalten zu konfrontieren, weil sie befürchten, dass ihre Gedanken, Wünsche und Gefühle auf magische Weise den Eltern Schaden zufügen könnten (45). Statt als Kind Schutz und Fürsorge durch die Erwachsenen zu erfahren und sich mit solcher Besorgnis den Eltern anvertrauen zu können, steckt es in der umgekehrten Rolle fest, die Erwachsenen vor der Konfrontation mit ihren eigenen Untaten schützen zu müssen. Für alles, was in der Familie geschieht, fühlt sich das Kind verantwortlich und schuldig (46).

Identifikation und Treuebündnis mit dem Täter

Was vielen schwerfällt, zu begreifen, ist, dass Kinder, die von ihren Eltern missbraucht wurden oder werden, in der Regel eine sehr enge Bindung an diese Eltern aufrechterhalten. Das geschieht unbewusst oft auch dann, wenn sie auf der bewussten Ebene nur Ablehnung oder Hassgefühle gegenüber den Eltern empfinden. Diese „Identifikation mit dem Täter“ hat nach der Erfahrung des Psychoanalytikers Sándor Ferenczi einen einleuchtenden Grund, nämlich maßlose Angst, die alle anderen Gefühle wie Ekel oder Hass und Reaktionsweisen wie Ablehnung oder Abwehr lähmt und nicht zum Ausbruch kommen lässt (47).

Was diese Angst so maßlos macht, liegt nicht allein in der Gewalt selbst begründet, sondern darin, dass jede Gegenwehr gegen den Aggressor, der doch eine vertraute Bezugsperson ist, zum Verlust dieser Bezugsperson und des vertrauten Bezugsrahmens für das eigene Leben und die eigene Identität führen könnte (48).

So nimmt das Gewaltopfer „die Schuld auf sich, um sich die Illusion zu erhalten, einen liebevollen Vater zu haben.“ (49) Der Verlust der Bezugspersonen, auf deren Fürsorge und liebevolle Zuwendung sie angewiesen sind, wäre für sie noch schwerer zu ertragen als die Gewalt, denn er würde die Erhaltung ihrer „Lebenslinie“ gefährden (50). Das gilt, obwohl das Kind keine wirkliche Fürsorge und Liebe zu erwarten hat, sondern stattdessen umgekehrt die Verpflichtung aufgebürdet bekommt, für die Eltern da zu sein und sich für sie aufzuopfern.In diesem Zusammenhang nennt Hirsch als weitere „starke Quelle der Schuldgefühle das seit frühester Kindheit bestehende Verbot…, sich von der Mutter (und später vom Vater) altersentsprechend zu trennen, weil das Kind für die Eltern sorgen muss.“ (51)

Man darf nicht unterschätzen, wie stark das „Gummiband“ ist, das viele Missbrauchsbetroffene an ihre Missbraucher bindet. Ich kannte eine Frau, die von ihrem Vater seit ihrer Kindheit missbraucht worden war, und sie hatte eine große Angst davor, dass ihr Vater in die Hölle kommt; auch dafür fühlte sie sich schuldig. Wäre sie nicht gewesen – davon ließ sie sich nur sehr schwer abbringen – hätte ihr Vater nicht diese Dinge getan, durch die Gott ihn in die Hölle schicken müsse.

Sigmund Freud hatte das Konzept des „Wiederholungszwanges“ entwickelt, um zu erklären, warum psychisch Kranke in scheinbar unvernünftiger Weise an neurotischen Verhaltensweisen festhalten. Führen Missbrauchsopfer in einer „erotisierten oder sexualisierten Übertragungsbeziehung“, unbewusst erneut eine Situation herbei, in der alte Traumata wiederholt werden, geschieht dies möglicherweise „als Ausdruck der unbewussten Phantasie, der Vater werde sich eines Tages doch kindgerecht, nicht ausbeuterisch verhalten“ (52), und es ist äußerst schmerzhaft, von einer derart starken, über viele Jahre genährten Illusion Abschied zu nehmen.

Es ist ein komplizierter seelischer Prozess, in dem das Kind, ihm selber unbewusst, den äußeren Täter sozusagen zu einem Teil seines eigenen Ichs macht. Das verschafft dem Kind in gewisser Weise einen Vorteil, nämlich dass ihm in dieser traumhaften inneren Realität eine gewisse Macht zur Verfügung steht, das Bild des Täters nicht nur als furchterregend wahrzunehmen, so dass es dem Kind gelingen kann, „die frühere Zärtlichkeitssituation aufrechtzuerhalten“ (53).

Auf der anderen Seite ist es unausweichlich, dass das Kind auch die Schuldgefühle des Täters „schluckt“ (54). Einerseits lässt es sich mit dem Missbraucher auf scheinbar harmlose Spiele ein, andererseits empfindet es, dass es für sein Mitspielen Strafe verdient. So kommt es zu einer Verwirrung oder Spaltung des Empfindens, das Kind fühlt sich „schuldlos und schuldig zugleich“ (55) und hat Schwierigkeiten, auf die eigene Wahrnehmung zu vertrauen. Mir erzählte ein Missbrauchs­opfer einmal von ihrem Zwiespalt zwischen der „wahren Lüge“ und der „gelogenen Wahrheit“. Erstes war die Wirklichkeit, wie sie sich ihr durch die Augen des Missbrauchers darstellte, letzteres die Wahrheit, die ihr ihre eigenen Sinne mitteilten.

Aus der Aufrechterhaltung der Bindung eines kindlichen Opfers an die Bezugsperson, die zum Täter geworden ist, ergibt sich ein weiteres Problem. Wenn Kinder erkennen, dass das, was sie in ihrer Familie erleben, nicht „normal“ ist, fangen sie an, sich insgesamt für die eigene Familie schämen. „Das Mädchen kann mit niemandem über sein Verhältnis zum Vater reden, und es glaubt oft, dass alle Familien so sind. Wenn es in der Pubertät begreift, dass Sexualbeziehungen mit Familienangehörigen tabuisiert sind, wird es von Scham- und Schuldgefühlen überwältigt.“ (56)

Weiter wird das Schuldgefühl von Kindern, die von ihren Eltern missbraucht werden, dadurch verstärkt, dass sie vergeblich versuchen, sich zu erklären, warum diese ihnen das antun und/oder sie nicht davor beschützen. Können die Eltern wirklich so böse sein? Irgendeinen Grund muss es doch geben, dass sie etwas so Schlimmes tun! Wahrscheinlich ist es eine Strafe. Stockburger bringt diesen „Schuldkomplex“ folgendermaßen auf den Punkt: „Das liebende Kind, das die Erwachsenen zu seinem Schutz braucht, kann den feindlichen Umgang mit ihm nur folgendermaßen kausalattribuieren: ‚Wenn xy (Täter/in) so schlimm mit mir umgeht, muss ich es irgendwie verdient haben‛“ (57) Ähnliche Gedanken hegen Opfer von Gewalt oft auch gegenüber Gott; statt ihn anzuklagen und sich gegen ihn aufzulehnen, weil er sie schutzlos der Gewalt ausliefert, fragen sie sich, ob sie nicht wegen ihrer Schlechtigkeit und Sündhaftigkeit von Gott bestraft werden (58).

Schuld durch sexuelle Gefühle beim Inzest

Schließlich meint Hirsch außerdem: „Schuldgefühle des Inzest-Opfers sind wegen der eigenen Lustgefühle beim sexuellen Kontakt beschrieben worden“ (59). Wer bei Gewalterfahrungen Erregung oder Lustgefühle spürt, ohne etwas dagegen tun zu können, schämt sich des eigenen Körpers, der einen im Stich lässt, zumal er dem Missbraucher Recht zu geben scheint, wenn er sagt: „»Du magst es ja auch gern.« Dieser letzte Vorwurf trifft besonders hart, wenn der Körper des Mädchens bei den sexuellen Berührungen des Vaters automatisch mit Orgasmus oder mit einer feuchten Scheide reagiert hat.“ (60) Diesbezügliche Schuld- und Schamgefühle können aber auch auftreten, wenn das Opfer gar keine Erregung im eigenen Körper gespürt hat, aber auf Grund der Introjektion des Täters nicht umhin konnte, seine Erregung und seine Phantasien mitzuspüren. „Die Frage, ob das Kind durch die Missbrauchshandlung genital erregt wird (was in vielen, wahrscheinlich den meisten Fällen sicher auszuschließen ist), ist für die Miterregung, die einen unbewussten und vor allem nachträglichen Prozess darstellt, völlig ohne Belang. Man könnte sagen, das Ich verwechsele später unbewusst diese Miterregung mit der – verbotenen – direkten sexuellen Erregung. Dieser Umstand mag erklären, dass die Schuldgefühle der Opfer, die aus dem (bewussten, vor allem aber unbewussten) Selbstvorwurf einer eigenen Beteiligung an dem Missbrauchsgeschehen entstehen, von der tatsächlichen sexuellen Empfindung während der Tat vollkommen unabhängig sind. Ich denke, dies meint auch Ferenczi, wenn er von der ‚Introjektion des Schuldgefühls‛ spricht: Das Opfer fühlt sich immer schuldig, weil es sexuelle Erregung (beim Täter) ausgelöst hat, aber nicht notwendigerweise, weil es selbst eine solche empfunden hat.“ (61)

Auf jeden Fall ist zu betonen: Wenn ein Kind sexuell wie Erwachsene zu empfinden scheint, ist stets davon auszugehen, dass es zuvor bereits von Erwachsenen in unangemessener Weise sexuell stimuliert wurde. Die Verantwortung dafür liegt in keinem Fall bei dem Kind.

Schuldgefühle auf Grund von Gefühlsverwirrung

Weitere Schuldgefühle können dadurch entstehen, dass eine Frau, die den Missbrauch überlebt hat, Schwierigkeiten damit hat, sich „normalem“ sexuellem Erleben zu öffnen, weil sich traumatische Erinnerungen mit den gegenwärtigen Wahrnehmungen und Empfindungen vermischen. Bereits im Kapitel über die Liebe wurde angedeutet (62), dass es vielen unmöglich ist, Liebe unverzerrt als positives Gefühl zu empfinden, da sexuelle Übergriffe mit durchaus zärtlichen Berührungen eingeleitet wurden und einhergingen, so dass eine totale Gefühlsverwirrung entstehen musste. So kann es dazu kommen, dass eine Frau sich nicht als „normale Frau“ fühlt, und sich dafür schämt. Wenn sie Angst vor jeder Berührung hat, erlebt sie sich zugleich als ein Mensch, der andern zu wenig gibt (63).

„Komplizenschaft mit der Gewalt“ als echte Schuld

Die Vielzahl der genannten Ursachen, die in Missbrauchsopfern trotz objektiver Schuldlosigkeit Schuldgefühle erzeugen, macht es verständlich, wie hartnäckig sich diese Schuldgefühle der Auflösung in einer Therapie widersetzen. Hinzu kommt ein Aspekt, auf den in der von mir überblickten Literatur nur der Psychoanalytiker Mathias Hirsch aufmerksam macht, nämlich den – sei es noch so geringen – Anteil von realer Schuld, den ein Gewaltopfer sich mit Recht durch niemanden ausreden lässt. Es geht hier keinesfalls um die Entlassung von Missbrauchstätern aus ihrer Alleinverantwortung für das Verbrechen, das sie begehen. Aber man würde Gewaltopfer zu bloßen willenlosen Objekten ihrer Peiniger machen, die lebenslang keine Chance hätten, sich – ihrer unverlierbaren menschlichen Würde entsprechend – verantwortlich zu verhalten, wenn man nicht berücksichtigen würde, dass auch sie – entsprechend der Unterscheidung verschiedener Arten von Schuldgefühlen, wie wir sie von Petruska Clarkson gelernt haben – fähig sind, reale Schuld auf sich zu laden.

Auch Hirsch unterstreicht, dass die meisten Schuldgefühle von Opfern ihre Ursache in nicht von ihnen verantworteten psychischen oder sozialen Mechanismen und Strukturen haben: sie ergeben sich vor allem aus der „Identifikation mit dem Aggressor“ und aus der „Bindung an den Täter bzw. an das traumatische System“, woraus ausweglose Double-Bind-Situationen entstehen: „Sowohl Partizipation am Inzest als auch der Wunsch nach Befreiung von ihm machen Schuldgefühle“; außerdem entstehen Schuldgefühle „aus der ödipalen Konstellation und der Unfähigkeit, die Verantwortung aus der aufgebürdeten, aber auch angenommenen Rollenumkehr zu erfüllen“, sowie aus dem Empfinden der „eigenen sexuellen Lust des Inzestopfers während des Missbrauchs“, was alles bereits erwähnt wurde.

Aber da ein Gewaltopfer nach Hirsch auch zur „inneren und auch aktiven Komplizenschaft mit der Gewalt“ fähig ist, kann es sich eines Anteils „an realer Schuld“ bewusst sein, der sich nicht wegtherapieren lässt und der als solcher ernstgenommen werden sollte, zumal er sich, wie Hirsch sagt, in einer „Realisierung der eigenen aktiven Traumatisierungen Schwächeren gegenüber“ äußern kann.

Hirsch unterscheidet in diesem Zusammenhang „Ferenczi (1933) erweiternd, zwischen der Introjektion der Gewalt und des Schuldgefühls des Täters und der Identifikation mit diesem Introjekt“. Mit anderen Worten: ein Opfer muss sich nicht zwingend, jedenfalls nicht auf Dauer mit dem „geschluckten Täter“, seinen Werten, Denk- und Handlungsweisen, identifizieren, es kann sich – ggf. mit therapeutischer Hilfe – einen Spielraum erkämpfen, um sich aus der Komplizenschaft mit dem introjizierten Täter zu lösen (64).

Schuldgefühle sind leichter auszuhalten als Ohnmachtsgefühle

Trotz der eben dargelegten Erwägungen über ein reales Schuldbewusstsein von Inzestopfern darf man ihre Ausgeliefertheit und Machtlosigkeit gegenüber ihren Missbrauchern nicht unterschätzen. In aller Regel fällt Missbrauchsopfern die Flucht in irrationale Schuldgefühle viel leichter, als sich einzugestehen, dass sie in der Tat machtlos gegenüber dem Täter waren.

Das heißt, es ist zwar sinnvoll, aber es reicht nicht aus, in der Therapie gemeinsam mit einem Missbrauchsopfer ein Schuldgefühl im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch auf seine Situationsangemessenheit zu überprüfen: „Wenn bei Schuldgefühlen während des sexuellen Missbrauchs nicht genügend Widerstand geleistet wurde, wende ich folgende Interventionen an: Ich bitte die Frau, sich Situationen vorzustellen, wobei sie glaubt, sich nicht genügend gewehrt zu haben. Wir gehen miteinander auf jede Situation mit einer begleitenden Meditation ein, zurück zur Atmosphäre, den Umständen und den Ereignissen. Anschließend frage ich sie, eine Form des Widerstandes zu wählen, die sie damals unterlassen hat und hätte anwenden können. Immer wieder entdeckt sie, dass sie den größtmöglichen Widerstand geleistet hat.“ (65)

Zugleich mit solchen Interventionen muss die Frau darin unterstützt werden, mit der hinter den Schuldgefühlen verborgenen Gefühlen der Machtlosigkeit und des hilflosen Ausgeliefertseins umzugehen. Dazu schreibt Marion Reinhold: Die „gleichzeitig erlebten Schuld- und Ohnmachtsgefühle in bezug auf die sexuellen Gewalterfahrungen scheinen typisch zu sein… Dabei sind diese beiden Gefühle logisch nicht zu vereinbaren: entweder ich habe Einfluss darauf, was mit mir geschieht, dann bin ich nicht ohnmächtig; oder ich habe keinen Einfluss, dann bin ich nicht mitschuldig. Möglicherweise wandeln Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen ihre Ohnmachtsgefühle in Schuldgefühle um, weil diese leichter zu ertragen sind.“ (66) Darum kann es gefährlich sein, einem traumatisierten Menschen die eigenen Schuldgefühle allzuschnell ausreden zu wollen; er muss dazu fähig sein bzw. darin begleitet und gestützt werden, die dann zu Tage tretenden außerordentlich starken Gefühle von Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein an Gewalt auszuhalten.

Eine solche Erfahrung trifft übrigens nicht nur auf Gewaltopfer zu. Ich kannte eine Frau, die sich die Schuld dafür gab, dass ihr Vater nicht vom Alkohol los kam und schließlich an den Folgen seiner Sucht starb. Sie hatte als kleines Mädchen oft versucht, den Vater aus der Gastwirtschaft heimzuholen, natürlich ohne Erfolg. Erst als sie sich eingestand, dass sie gegenüber der Sucht des Vaters machtlos gewesen war, und den Schmerz darüber sowie die Trauer um den Vater zulassen und aushalten konnte, ließen ihre starken Schuldgefühle nach.

Umgang mit Schuldgefühlen der Opfer von sexueller Gewalt

Wie begegnet man nun angemessen therapeutisch oder seelsorgerlich den Schuldgefühlen eines Gewaltopfers? Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen von Schuld zu, wie wir sie bei Petruska Clarkson und Mathias Hirsch kennengelernt haben.

Dem missbrauchten Kind glauben!

Doch lange bevor die Unterscheidung zwischen neurotischem Schuldgefühl und wirklichkeits-angemessenem Schuldbewusstsein im Kontakt zu einem Gewaltopfer konkret zum Tragen kommen kann, spielt etwas viel Grundlegenderes eine Rolle. Es ist schlicht notwendig, dem Opfer einfach zu glauben, dass es wahr ist, was es erzählt. So grauenvoll, unglaublich und unfassbar uns als Außenstehendem die Schilderung des Missbrauchs erscheinen mag, unerlässlich ist die „‚Unschuldsvermutung‛, mit der der Patient ohne Reserve angenommen und angehört werden muss. Dabei werden eine erste Wut auf den Täter, aber auch auf die Mutter, die das Kind nicht hatte schützen können, sowie eine erste Milderung des Schuldgefühls möglich sein. Die Anerkennung der Realität des Traumas ist als Ich-stützende Maßnahme unbedingt notwendig…; das trifft für den Inzest auch dann zu, wenn seine Realität nicht gesichert ist… Auch die nicht agierten inzestuösen Phantasien der Eltern im Sinne eines latenten Inzests sind eine Realität, der das Kind ausgesetzt ist… Der umgekehrte Fall – es stellt sich während der weiteren Arbeit heraus, dass die zuerst angenommene Realität des Inzests doch der ödipalen Phantasie entstammt – kann nicht traumatisch wirken, da der Analytiker dem Patienten jeweils folgte und ihm nichts Fremdes überstülpte“ (67).

Im Lauf der Therapie oder Seelsorgebeziehung zeigt Hirsch zwei unterschiedliche Wege auf, um unechte Schuldgefühle aufzulösen und mit echten auf angemessene Weise umzugehen.

Analyse und Befreiung von irrationalen Schuldgefühlen

„]Irrationale Schuldgefühle, die ihre „Grundlage in der »Schuld« an der bloßen Existenz durch nicht genügendes Angenommensein“ haben und durch die Vielfalt der oben angeführten Ursachen verstärkt werden, müssen auf ihre „Ursprünge, auf die dahinterliegenden Defizite und Konflikte, die das Opfer nicht zu verantworten hat, zurückgeführt werden, mit dem Ziel, dass es von ihnen befreit wird.“ (68)

Umgang mit dem Bewusstsein realer Schuld

Anders müssen Schuldgefühle bearbeitet werden, die einem Bewusstsein realer Schuld entsprechen. „Sorgfältig zu trennen sind die Schuldgefühle, | die der realen Schuld aufgrund der Identifikation mit dem Introjekt und der daraus entstehenden Komplizenschaft entsprechen. Diese sollen nicht »weganalysiert«, sondern im Gegenteil benannt und anerkannt werden, damit eine Trennung durch Scham, Reue und Trauer möglich wird“ (69). Ähnlich wie Clarkson erwähnt auch Hirsch in diesem Zusammenhang nicht das Konzept der Vergebung, auf das ich selber später zurückkommen werde.

Psychotherapie und Seelsorge als geschützter Raum für neue Erfahrungen

Wichtig erscheint mir, dass die Psychotherapie- oder Seelsorgebeziehung einen geschützten Raum darstellt, innerhalb dessen das Gewaltopfer zwischen irrationaler und realer Schuld zu unterscheiden lernen und mit beiden in jeweils angemessener Form umzugehen lernen kann.

Wenn ein Gewaltopfer auf Grund des „Wiederholungszwangs“ die Beziehung zum Therapeuten oder Seelsorger entsprechend früheren traumatischen Erfahrungen in sexualisierter oder selbstzerstörerischer Weise neu in Szene zu setzen versucht (70), liegt es in der Verantwortung des Therapeuten bzw. Seelsorgers, den erotisierten Signalen anders zu begegnen, als dies der Missbraucher getan hatte. Er kann die Person des Klienten wertschätzen, seinen Wunsch nach Nähe, der früher nur in sexualisierter Form realisierbar war, akzeptieren und ihm auf warmherzige Weise vermitteln, dass er ein liebenswerter Mensch ist, ohne seine persönlichen Grenzen zu überschreiten. So kann das ehemalige Opfer lernen, dass es, um Nähe zu erfahren, nicht notwendigerweise immer wieder unangemessene Signale aussenden muss, die zu rasch aufgebauten „Beziehungen“ führen, in denen sich die alte traumatische Erfahrung wiederholt.

Und was ist mit Impulsen der Aggression gegen den eigenen Körper? Sie können zunächst durchaus sinnvoll sein, um einerseits mit einer unerträglichen Macht- und Gefühllosigkeit, andererseits mit Selbstbestrafungsimpulsen bis hin zum Suizid auf Grund von bis ins Unermessliche gesteigerter Schuldgefühle umzugehen (71). Darum sollte man sie nicht vorschnell zu unterbinden versuchen, sondern als Signale einer bewundernswerten „Überlebensfähigkeit“ wertschätzen, als zeitweise „die beste Möglichkeit, die destruktive Situation zu meistern, in der sie hoffnungslos unterlegen waren.“ (72) Trotzdem ist es natürlich wünschenswert, dass Opfer von Gewalt es im Lauf der Zeit nicht mehr nötig haben, nur mit Hilfe dieser selbstquälerischen Aktionen zu überleben. Der Weg dahin kann ein sehr langer sein. Zu ihm kann gehören: Die Unterscheidung und Aufarbeitung der unerträglichen Last von Schuldgefühlen, der Abschied von „geschluckten“ Tätern und die Aufkündigung des Treuebündnisses mit ihnen, der Aufbau der Fähigkeit zu neuem Vertrauen im Rahmen der Therapie, der auch dabei hilft, die weitgehend verdrängten Gefühle von Schmerz und Machtlosigkeit auszuhalten und hinter sich zu lassen.

Fähigkeit zu echter Verantwortung

Meine Erfahrung zeigt: Erst wenn jemand, der zum Opfer wurde, sich von eingeimpften Schuldgefühlen lösen kann, die ihn als durch und durch bösen Menschen abstempeln, wird er fähig, sich seiner echten Verantwortung für die eigenen Taten, für das eigene Leben zu stellen. Wer „sowieso böse“ ist, kann ja letzten Endes für nichts zur Rechenschaft gezogen werden, er kann ja nichts dafür. Vielleicht ist das der Grund, weshalb manche Opfer am Ende selber zu Tätern werden, hauptsächlich männliche. Frauen werden wohl deshalb seltener zu Täterinnen, weil sie ihre Aggressionen eher gegen sich selbst richten, womit sie – wie eben ausgeführt – auf Dauer auch nicht ausgesprochen verantwortungsvoll mit der eigenen Person umgehen. Noch einmal im Klartext: Missbrauchsopfer fühlen sich zwar objektiv zu Unrecht für den ihnen angetanen Missbrauch schuldig, erwerben damit aber nicht das Recht, jede Schuld, die sie als erwachsen gewordene Täter später selber auf sich laden, auf ihre Eltern abzuschieben und selber nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden (73).

Abschließend weise ich nochmals auf die dringende Mahnung des niederländischen Therapeuten Ruud Bullens hin, der mir in einem persönlichen Gespräch sagte: „In der Therapie von Inzestopfern darf man das Schuldgefühl nicht übergehen, sonst vergewaltigt man wieder ihre Gefühle, und zwar gerade die Gefühle, die einen Menschen zum Menschen machen: sich verantwortlich fühlen zu können.“

Noch einmal anders geht es um die „Fähigkeit zu echter Verantwortung“, wenn Anne Veltins sich fragt, ob Missbrauchstäter vor ihrem Kind zu ihren Taten stehen können. „Das Kind braucht für seine eigene Realitätskonstruktion und Selbstwahrnehmung dringend das Verständnis und das Eingeständnis der Erwachsenen (der Eltern). Es zweifelt immer wieder, was wirklich geschehen ist, ob es selbst ‚böse‛ war oder der Erwachsene. Da sexuelle Übergriffe häufig auch nachts geschehen, wenn das Kind schläft, kann es manchmal nicht zwischen Realität und Traum unterscheiden. Der Täter müsste vor dem Kind zu seiner Tat stehen, die Mutter (bei ‚klassischer‛ Konstellation) zu ihrem Wegsehen. Welche Ausdrucksmöglichkeiten stehen uns dafür aber zur Verfügung? Wie geübt sind wir, vor unseren Kindern Verantwortung zu übernehmen? Und wie kann ein Täter das leisten, wenn er dann in einem juristischen Kontext von Schuld steht, oder wenn er sich dann in einem therapeutischen Kontext plötzlich nur noch selbst als Opfer seiner eigenen Geschichte erlebt? Wie kann er sich selbst in seinem Handeln begreifen und trotzdem Verantwortung übernehmen, also sein früheres Opfersein und seine heutige Täterschaft akzeptieren und dafür geradestehen?“ (74) Ich habe bisher noch in keinem einzigen Fall erlebt, dass ein Täter dazu wirklich in der Lage war und seinem Opfer wirklich helfen konnte, sich selbst nicht mehr als „böse“ zu erfahren. Auf diesen Weg des Umgangs mit ihren Schuldgefühlen sollten Opfer von sexueller Gewalt lieber nicht zu viel Hoffnung setzen. Ich habe diesen Abschnitt trotzdem an den Schluss dieses Kapitels gesetzt, weil er elegant zum nächsten Kapitel überleitet.

Ein Seitenblick auf die Täter: Schuldig ohne Schuldgefühl

Ganz anders müsste das Thema Schuld von der Täterseite her durchbuchstabiert werden. Die wenigen Gespräche, die ich mit Tätern und dem Tätertherapeuten Ruud Bullens geführt habe, geben dafür nur bruchstückhafte Ansätze her.

Viele Wege, um sich realer Schuld nicht stellen zu müssen

Ein Alhoholiker fragt mich auf der Suchtstation, ob Gott alles vergeben könne. Ich meine, grundsätzlich ja, aber es komme doch auf den Einzelfall an. Er erzählt, dass er vor Jahren seine Stieftochter missbraucht hat, deswegen hätte er ein schlechtes Gewissen. Aber ganz so schlimm sei es auch wieder nicht gewesen, er wisse genau, dass sie ihn immer noch liebt. Als ich ihm sage: Bevor wir über die Bitte um Vergebung reden, möchte ich, dass Sie sich erst einmal wirklich klar machen, was sie ihr wirklich angetan haben. Er verabschiedet sich, und ich sehe ihn nie wieder.

Irgendwann ruft mich ein Psychotherapeut an, der mir auf Grund meines Buches über das „Missbrauchte Vertrauen“ die Kompetenz zutraut, ihm Ratschläge zu geben. Sein Problem ist, dass er sich wundert, warum eine Patientin, der er in der Therapie zu nahe getreten ist, die Beziehung zu ihm nicht mit ihm selber klären will. Ich gebe ihm zu bedenken, ob nicht seine Versuche, gegen ihren Willen Kontakt zu ihr aufnehmen, den Tatbestand des Stalking erfüllen, und dass sie gut daran tut, sich nicht erneut von ihm missbrauchen zu lassen, um ihn auf billig Weise von seinen Schuldgefühlen zu befreien.

Per Email fragen Eltern anonym bei mir an, ob ich in der Lage und bereit sei, mich als Mediator in den Konflikt mit ihrem Sohn einzuschalten, der ihnen vorwirft, sie hätten ihn als Baby mit unangemessenen Zärtlichkeiten missbraucht. Sie erwarten von mir, ihrem Sohn klarzumachen, dass es sich dabei nach einschlägigen Definitionen von sexuellem Missbrauch um keinen solchen gehandelt hat. Ich mache ihnen folgendes Angebot: „Was ich für Sie tun kann: Wenn Sie möchten, schreiben Sie mir, welche konkreten Anschuldigungen Ihr Sohn gegen Sie vorbringt. Ich kann daraufhin natürlich keine rechtlich verbindliche Aussage treffen, ob die Vorwürfe berechtigt oder unberechtigt sind. Aber ich würde auf Grund meiner Erfahrung eine Einschätzung versuchen, die Ihnen vielleicht weiterhilft – in welcher Richtung auch immer. Ob diese Einschätzung dazu beitragen kann, die Beziehung zu Ihrem Sohn wiederherzustellen, kann ich natürlich nicht voraussagen.“ Darauf erfolgt keine weitere Rückmeldung.

Mein Eindruck ist, dass Missbrauchstäter sich in der Regel dem Ausmaß ihrer realen Verantwortung nicht zu stellen bereit sind. Während sie den Missbrauch begehen, gehört es zu ihrer perfide durchgeplanten Strategie, das Opfer für sich zu gewinnen, in „unser kleines Geheimnis“ einzubeziehen und die Schuld ihm voll und ganz zuzuschieben. Viele verneinen oder vermindern ihre eigene Schuld dadurch, dass sie ihre Taten religiös verbrämen oder begründen, zum Beispiel: „Die Bibel sagt, du sollst nicht ehebrechen, also kann ich nicht zu einer Prostituierten gehen“ (75), oder: „In der Bibel steht, dass der Samen des Mannes nicht verloren gehen darf.“ (76) Fortune erwähnt Geistliche, die den Missbrauch an Schutzbefohlenen folgendermaßen rechtfertigten: „‚Aber er sagte, dass Liebe niemals falsch sein könne; dass Gott uns zusammengeführt habe;‛ oder ‚Er sagte, wir sollten so schwer sündigen, damit ein Übermaß an Gnade auf uns käme.‛“ (77)

Auch wenn sich Missbrauchstäter ansatzweise ihrer Schuld bewusst werden, sei es, weil sie selbst ihr Gewissen plagt, oder sei es, weil sie ihrer Taten überführt oder mit Vorwürfen von außen konfrontiert werden, bedeutet das nicht unbedingt eine umfassende Selbsterkenntnis und Übernahme der vollen Verantwortung. Selbstmitleid, Rationalisierungen, Abschieben einer Mitverantwortung an das Opfer, vorschnelles Erheischen einer billigen Vergebung mischen sich oft als verzweifelte und zugleich perfide Formen der Aufrechterhaltung des eigenen Selbstwertgefühls, und zwar letzten Endes wieder auf Kosten des Opfers, das in der Regel nur zu bereit ist, eine Mitschuld auf sich zu nehmen.

Sind Missbrauchstäter von Grund auf böse und einsichtsunfähig?

Man kann Missbrauchstäter auf viele Arten aus ihrer Verantwortung entlassen, nicht nur indem man sich zum Komplizen ihrer Versuche macht, die Schuld von sich wegzuschieben. Ein anderer Weg ist der, dass man ihnen grundsätzlich jede Einsichts- und Schuldfähigkeit abspricht, als seien sie von Grund auf böse, sozusagen geborene Monster oder unrettbar vom Teufel besessen. Vom Menschenbild der Bibel her ist auch der Mensch mit dem teuflischsten Verhalten noch darauf anzusprechen, dass er nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist und dass er dieses Ebenbild in sich ebenso mit Füßen tritt wie die Würde seiner Opfer. Auch von Jesus heißt es, dass er zwar die Sünde hasst, aber trotzdem nicht aufhört, den Sünder zu lieben.

In diesem Sinne heißt es in einer Veröffentlichung des Deutschen Kinderschutzbunds: „Wichtig ist, eher das Verhalten zu verurteilen, nicht die Person, vor allem dann, wenn Ihr Kind ihn/sie mag. – Das ist eine sehr hohe Anforderung an Sie. Wenn Sie in der Lage sind zu vermitteln, dass das Verhalten eines Menschen falsch oder schlecht sein kann, ohne dass die ganze Person schlecht ist, wird es Ihrem Kind helfen, seine positiven und negativen Gefühle zu verstehen. Sehr häufig wird beobachtet, dass Kinder umso stärker Schuld übernehmen, je näher sie dem Menschen stehen, der sie sexuell missbraucht hat. Oft fühlen sie sich dann umso schuldiger, je stärker die (ganze) Person des Erwachsenen verurteilt wird.“ (78)

Der russische Systemkritiker Solschenizyn hat böses Handeln von Menschen in seinen entsetzlichsten Formen beschrieben und warnt trotzdem davor, zwischen guten und absolut bösen Menschen zu unterscheiden. „Wenn es nur so einfach wäre! Wenn es nur irgendwo böse Menschen gäbe, die heimtückisch böse Taten begehen, und man müsste sie nur von uns anderen trennen und vernichten. Aber der Schnitt, der das Gute und das Böse voneinander trennt, geht durch das Herz jedes menschlichen Wesens. Und wer ist bereit, ein Stück des eigenen Herzens zu zerstören?“ (79) Sein Aufruf zielt also auf Selbstprüfung, mit dem Ziel, zerstörerische Impulse in sich selbst nicht zu verdrängen, sondern aufzuspüren, um sie zu überwinden.

Auf etwas Ähnliches scheint Anne Veltins hinauszuwollen, wenn sie schreibt: „was vielen Menschen in dieser Gesellschaft widerfährt, was sie zu Tätern, Opfern, schweigenden Mitwissern macht und durch Herrschaftsstrukturen gesellschaftlich vermittelt ist, die in allen Familien dieser Gesellschaft wirksam sind, kann mir nicht prinzipiell fremd sein. Für mich war dieses Herangehen nützlich, um mir annähernd vorstellbar zu machen, warum ein Täter sexuelle Gewalt ausüben kann, und warum ein Kind dies aushalten und oft nicht darüber sprechen kann. Es ist für mich nötig, um nicht einerseits beim Erschrecken und der Abwehr dieser Handlungsweisen stehenzubleiben und um mich andererseits nicht so leicht von Schönreden oder Schweigen beruhigen zu lassen. Ich muss verstehen, um helfen zu können, d. h. ich muss die Handlungen soweit nachvollziehen können, dass sie mir ‚machbar‛ scheinen; das heißt nicht, dass ich den Täter entschuldige oder aus seiner Verantwortung entlasse. Denn jeder Mensch muss als Erwachsener auch Verantwortung für seine eigene Lebensgeschichte und -lage übernehmen.“ (80)

Aber wie weit tragen solche Überlegungen, wenn man mit missbrauchenden Menschen konfrontiert ist, die sich jeder Einsicht sperren? Im Grunde kann man ihnen nur mit den Mitteln der Justiz begegnen, um einerseits weitere Straftaten möglichst zu verhindern und andererseits sie mit der Realität zu konfrontieren, dass die Gesellschaft ihre Taten nicht zu dulden bereit ist. Für die rechtlichen Fragen, die damit zusammenhängen, fühle ich mich nicht kompetent, so dass ich es bei diesen Andeutungen belasse.

Mangelnde Schuldeinsicht auf Grund seelischer Unreife?

Eine dritte Form, Missbrauchstäter von ihrer Schuld zu entlasten, könnte darin bestehen, dass man sie selber als „arme Opfer“ ansieht, die nichts dafür können, dass sie so geworden sind. Hier muss man differenzieren. Ich erinnere daran, bereits im Kapitel über die Schuldgefühle der Opfer darauf hingewiesen zu haben, dass auch Opfer zu Täter werden können und dass sie reale Schuld auf sich laden, wenn sie das tun. Vermutlich waren sehr viele Täter in irgendeiner Weise einmal Opfer von Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch gewesen, aber das bedeutet in keiner Weise, dass sie „nichts dafür können“. Die Entscheidung, sich mit ihrem „geschluckten inneren Täter“ so weit zu identifizieren, dass sie Schwächeren gegenüber genau so handeln, wie sie behandelt worden sind, treffen sie selbst; sie ist ihnen nicht aufgezwungen, sie könnten auch anders handeln, wie die Beispiele vieler anderer Überlebender von sexuellem Missbrauch zeigen, die sich dazu entschieden haben, trotz aller Schwierigkeiten eine Familie zu gründen und ihren Kindern all die Liebe zu geben, die sie selbst entbehren mussten.

Petruska Clarkson weist darauf hin, wie wichtig es ist, sich bewusst zu machen, welche „geschluckten Eltern“ wir in unserer Psyche mit uns herumtragen, und erinnert an die „prügelnden Eltern, die die verprügelten Kinder ihrer prügelnden Eltern waren, die so oft in der Literatur zitiert werden“, sowie an die „Leute, die ihre Kinder sexuell missbrauchen, indem sie in tragischer Weise den sexuellen Missbrauch wiederholen, den sie selbst als Kind erlitten haben.“ (81)

Klaus-Jürgen Bruder versucht zu erklären, warum Erwachsene zu Missbrauchern werden. Er sieht Missbraucher als Menschen, denen Liebe und Anerkennung fehlt. Weder wurden ihre kindlichen Bedürfnisse gestillt, noch gelang es ihnen, ein Selbstbewusstsein im Sinne einer reifen Männlichkeit aufzubauen. Sexuell und partnerschaftlich fühlen sie sich ihrer Partnerin, die sie eher als strafende Mutter erleben, nicht gewachsen; daher versuchen sie im sexuellen Missbrauch eine Ersatz-Männlichkeit auszuleben und sich dem Kind gegenüber „groß, stark, väterlich, partnerschaftlich, frei und mächtig“ zu fühlen (82).

Therapeutische Hilfe für Täter

Wie gesagt: Niemand kann sich mit seiner eigenen Unreife dafür rechtfertigen, dass er sich an Kindern vergreift. Jeder hat die Möglichkeit, sich therapeutische oder seelsorgerliche Hilfe zu suchen, um besser mit seinen Problemen umzugehen. Wäre es selbstverständlicher, dass Opfer von Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch rechtzeitig therapeutische Hilfe angeboten bekommen und annehmen würden, müsste es zu vielen Folgetaten dieser ehemaligen Opfer gar nicht erst kommen.

Wie viele Täter es gibt, die unter ihrer realen Schuld so sehr leiden, dass sie von sich aus therapeutische Hilfe suchen, weiß ich nicht. Nur am Rande erfuhr ich bei einem Besuch bei Ruud Bullens in den Niederlanden von Therapieprojekten für Täter, die ihrer Taten überführt worden waren und sich einer Therapie als Ersatz für eine Gefängnisstrafe unterziehen. Grundsätzlich sehe ich darin einen Sinn, da man nicht jeden Täter lebenslang wegsperren kann und jede Möglichkeit genutzt werden sollte, künftige Missbrauchstaten zu verhindern. Ruud Bullens schreibt: „In meiner Praxis fällt mir auf, dass es gerade die Opfer sexuellen Missbrauchs sind, die sagen, dass sie nicht wollen, dass der Vater, der Bruder oder irgendein anderer Täter ins Gefängnis kommt. Sie wollen vielmehr, dass der Missbrauch aufhört, und zwar für immer (!).“ (83)

Nach Ruud Bullens erfordert es aber sehr viel Klarheit und Erfahrung auf Seiten der Therapeuten, um sich nicht vor den Karren der Rationalisierung, Verharmlosung und billigen Resozialisierung ohne wirkliche Schuldeinsicht des Täterpatienten spannen zu lassen. Sie sind oft Meister darin, sich dem anzupassen, was ihre Psychologen hören wollen, nur um wieder rehabilitiert zu werden, wovon mir auch Krankenschwestern einer forensischen Klinikabteilung zornige Lieder mit vielen Strophen singen konnten. Problematisch finde ich es auch, wenn mehr Geld in eine Tätertherapie mit zweifelhaftem Erfolg investiert wird als in eine ausreichende Betreuung der Opfer (84).

Was ist das Ziel einer Therapie mit Tätern? Nach Ruud Bullens vor allem „die erwachsene Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen einfühlen zu können, die ein Inzesttäter erst Schritt für Schritt lernen muss.“ (85) Erst wenn ein Täter dazu fähig wird, ist er auch in der Lage, sich seiner Schuld im Sinne der vollen Verantwortung für seine Taten bewusst zu werden und sein Verhalten zu ändern.

Auch das Nachdenken über die eigenen Gefühle ist wichtig. Das Missverständnis muss ausgeräumt werden, als ob Gefühle dem Denken widersprächen. Menschen können denken und zugleich auch fühlen, können fühlen und über ihre Gefühle nachdenken. Man muss sein Denken nicht ausschalten beim Fühlen. Und darum müssen bestimmte Gefühle nicht automatisch zu bestimmten Handlungen führen. Der Vater mag sich erregt fühlen durch den Anblick seiner Tochter – und er weiß genau: „Ich bin Vater für meine Tochter, sie ist mir anvertraut, sie vertraut mir, und ich werde mich nicht zu sexuellen Handlungen mit ihr hinreißen lassen. Ich habe es auch nicht nötig, ihre Person abzuwerten, um mich vor meinen eigenen Reaktionen zu schützen, ich kann sie wertschätzen, meinen Stolz auf sie äußern, vielleicht sogar väterlich in den Arm nehmen. Ich bin dafür verantwortlich, mich wie ein Vater und nicht wie ein Sexbesessener zu verhalten.“

Die Übernahme von Verantwortung ist das Ziel! Eine Publikation des Deutschen Kinderschutzbunds plädiert in diesem Zusammenhang dafür, auf den Begriff der Schuld weitgehend zu verzichten. Einerseits sei nämlich Schuld oft zu eng mit dem Begriff der Sühne gekoppelt, der wiederum oft diffuse Vorstellungen von Vergeltung oder gar Rache mit sich bringt, mit denen niemandem geholfen ist. Andererseits können Schuldgefühle auch bei Tätern durchaus in neurotischer, unechter Form auftreten und den Zugang zur Auseinandersetzung mit ihrer realen Schuld verstellen (86). Sich der eigenen Schuld zu stellen, zielt auf jeden Fall auf verantwortliches Handeln, nicht auf das selbstbemitleidende Wühlen in Schuldgefühlen.

Frieden finden

Am Anfang wurde bereits gesagt: Als Gegenbegriff zu Schuld drängt sich der Begriff der Vergebung auf. Allerdings ist Vergebung kein Gefühl. Wo Vergebung zu ihrem Ziel gelangt, wo sie beim Täter „ankommt“ und auch beim Vergebenden einen heilsamen Prozess auslöst, da kann das Ergebnis am besten mit dem Wort „Frieden“ umschrieben werden. Und zwar im doppelten Sinn. Einmal im Sinne der Wiederherstellung einer Beziehung, die nicht von Ausnutzung und Dauerkonflikt, sondern von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Und zum andern im Sinne einer inneren Ruhe, die sich einstellt, wenn das zerstörerische Treuebündnis zu einem Missbrauchstäter oder einer Elternfigur, die ihrer Aufgabe alles andere als gerecht zu werden vermochte, aufgekündigt werden konnte und eine Person Frieden mit sich selbst schließen konnte.

Frieden zu finden, ist sicherlich nicht dadurch zu erreichen, dass man auch hinter dem furchtbaren Erleben des Missbrauchs einen Sinn zu entdecken vermag, was viele Frauen, „fast wie unter einem Zwang“ jedoch trotzdem auch Jahre später immer noch tun, „ohne je zu einer befriedigenden Antwort zu gelangen“ (87). „Zweifellos stellt das Bedürfnis, Klarheit über das Wie und Warum des Inzests zu erhalten, einen wichtigen Schritt dar, das Geschehen in den Griff zu bekommen. Aber dann muss ich noch einen Schritt weitergehen, das Unverständliche loslassen als etwas nicht zu Begreifendes und lernen, dass der Sinn oder die Wahrheit jenseits | rationalen Verstehens liegt.“ (88)

Wünschenswert ist es aber, dass ein Missbrauchsopfer trotz des ihm widerfahrenen schrecklichen und sinnlosen Geschehens die Frage nach dem Sinn des Lebens irgendwann wieder positiv beantworten kann. Wer den Inzest als „Seelenmord“ empfunden hat, fühlt sich „nicht nur vom Vater betrogen, sondern auch von jenem Gott, der das zugelassen hat“, und läuft Gefahr, sich lebenslang „leer und lebensunfähig“ zu fühlen. Ursula Wirtz erblickt im „Bedürfnis nach Sinn ein spezifisch menschliches Bedürfnis… Auch die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung gehört zum menschlichen Leben. Jung hat dieses Selbst auch als den ‚Gott in uns‛ bezeichnet und von der natürlichen religiösen Funktion der Psyche gesprochen… Ähnlich hat Einstein unter Religiös-Sein verstanden, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen. … Inzestbetroffene fühlen sich gerade in diesem Bereich der Spiritualität zutiefst verletzt und behindert. Der Verrat an der Liebe, den sie als Kind erfahren haben, ist auch als Verrat am Glauben erlebt worden. Für das Mädchen verschmolz der persönliche Vater noch mit Gottvater. Das überwältigende Verlassenheitsgefühl, das diese Kinder gezeichnet hat, ist ein Gefühl des von Gott und der Welt Verlassenseins. Sie fühlen sich nicht nur vom Vater betrogen, sondern auch von jenem Gott, der das zugelassen hat. Für viele Inzestopfer ist Gott tot…. Sie leiden unter einem Seelenverlust… Das zentrale Anliegen dieser Frauen ist darum die Suche nach der verlorenen Seele, ohne die sie sich leer und lebensunfähig fühlen.“ (89) Im Kapitel 12: „Das Vertrauen zu Gott wiederfinden“ gehe ich auf dieses Thema ausführlich ein.

Keine Einklagbarkeit der Vergebung

Es ist nun aber doch sinnvoll, auch auf den Begriff Vergebung ausführlich einzugehen, und zwar vor allem deswegen, weil auch er im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch häufig missbraucht und sein Sinn ins Gegenteil verkehrt wird. Schon vom zentralen christlichen Gebet her spielt die Vergebung in der christlichen Glaubenspraxis eine große Rolle, heißt es doch im Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Aber: Vergebung kann niemals gefordert und erzwungen werden, sie ist ein Geschenk, um das man bitten kann, auf das aber niemand einen Anspruch hat. Es gibt keine „Einklagbarkeit der Vergebung“, und wenn die Vergebung ein Gebot Jesu ist, dann ist es mit ihr „wie mit allen Geboten Gottes: Sie sind uns nicht gegeben, dass wir damit andere beherrschen.“ (90) Renate Klemmayer warnt Menschen in christlichen Kreisen davor, Missbrauchsopfern „eine Vergebungspflicht“ aufzubürden: „Ich halte die Aufforderung zu vergeben, für eine große Herausforderung in einer Welt, wo die Tendenz dahin geht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Doch ist dies im Alltag häufig so erlebt worden, dass die Täter von den Opfern Vergebung verlangen… Häufig geht dieser Forderung um Vergebung nicht einmal das Bekenntnis der Schuld voraus. Diese Situation ist für die Opfer eine oft große Belastung. Können sie nicht vergeben, so fühlen sie sich schuldig, diesem ‚Gebot‛ nicht nachzukommen. Vergeben sie aber, ohne für sich wirklich an diesem Punkt angelangt zu sein, so empfinden sie das häufig als Verrat an sich selbst. Bedeutet es doch, dass sie ihren Schmerz, ihre Wut und oft den Hass einfach übergehen und sich so ein weiteres Stück Selbstachtung zerstören. M. E. wird in christlichen Kreisen meist viel zu schnell von Vergebung geredet und dieselbe erwartet. – Vergebung aber ist etwas, was kein Mensch erwarten, viel weniger erzwingen kann. In diesem Falle geschieht Vergebung immer auf Kosten der Opfer. Selbst wenn von seiten der Täter ein deutliches Schuldbekenntnis kommt, steht der Betroffenen offen, ob sie darauf mit Vergebung reagieren kann. An dieser Stelle gibt es keinen Automatismus. Vergebung ist ein Geschenk, vielleicht vor allem an die, die vergeben können, denn auch sie werden dadurch ein Stück weit er-löst. Und doch kann es sein, dass es für einzelne bis an ihr Lebensende nicht möglich ist zu vergeben. – Das widerspricht, darüber bin ich mir im Klaren, weitgehend dem, was als christliche Vergebung gepredigt wird. Doch ich halte es für dringend nötig, diesen Begriff mit den Augen der Opfer neu zu sehen und zu untersuchen und dabei den theologischen – und wenn nötig, auch biblischen – Konsens zu überprüfen bzw. zu verändern.“ (91)

Vergebung zur Versöhnung mit dem Täter?

Eigentlich zielt der biblische Begriff der Vergebung auf Versöhnung, also auf die Wiederherstellung einer durch Schuld zerstörten Beziehung. Felisa Elizondo sieht das „kostbare Geschenk“ der Vergebung in diesem Sinne als einen selbstbewussten Akt der wiedergewonnenen Stärke von Missbrauchsbetroffenen, das nicht aus „Nachgiebigkeit gegenüber dem Bösen“ oder aus „Resignation angesichts dessen, was unerträglich scheinen muss“, gewährt wird, sondern angesichts der „Schwachheit der Gewalttätigen“ als ein „Weg, von Gewalt zu befreien, indem man sie mit dem Wunsch nach Gemeinschaft überwindet.“ (92) Als heilender Schritt muss der Versöhnungswille vom Opfer ausgehen und darf nicht vom Täter gefordert werden.

Die Frage ist aber, ob das Ziel der Wiederherstellung der Beziehung zwischen Opfer und Täter nicht in den meisten Fällen illusorisch bleiben muss. Bestehen Therapeuten auf der Versöhnung mit den Eltern als unabdingbarem letztem Ziel der Therapie, laufen sie nach Alice Miller Gefahr, „gegen das Opfer Partei zu ergreifen“ (93).

In der Regel sehen Therapeuten aber die Vergebung mit dem Ziel der Wiederherstellung einer abgebrochenen Beziehung nur als möglichen Baustein im Therapieprozess, dem viele andere Schritte der Verarbeitung vorangehen müssen: „Durch diese Phase der Verarbeitung ziehen sich viele Themen, die bearbeitet werden müssen: Angst, Schuld, unterdrückte Wut (A. tötet die Mutterpuppe, malt gleich darauf ein Bild mit Herzen), Geheimnis, gestörte Grenzen usw.“ (94)

Wenn Eva Hildebrand schreibt: Wer „Kummer und Schmerz über ihre verlorene Kindheit zu empfinden“ vermag, „kann dabei gleichzeitig begreifen, dass ihre Eltern letztlich alles taten, was sie vermochten, auch wenn sie ihre Liebe mit Missbrauch verbanden“ (95), entlastet sie allerdings die Eltern zu sehr aus ihrer Verantwortung, als ob sie nicht anders gekonnt hätten und als ob man jedem Missbraucher doch ein Gefühl der Liebe zu seinen Kindern unterstellen müsste. In vielen Fällen mag das, was Hildebrand anschließend beschreibt, trotzdem ein sinnvoller Weg der Arbeit an der Beziehung eines Missbrauchsopfers zu ihren missbrauchenden Eltern sein: „Sie kann selbst etwaige Zuneigung den Eltern gegenüber zeigen, wohl wissend, dass ihren Gefühlen auch hier natürliche Grenzen gesetzt sind. Das bedeutet nicht, dass sie ihren Zorn und Schmerz vergisst, sondern vielmehr, dass dieser sie heute nicht mehr daran hindert, ihre selbstgesetzten emotionalen und praktischen Ziele zu erreichen. – Es ist wiederum wichtig zu betonen, dass die Klientin nicht zu früh versuchen soll, diesen Moment im Heilungsprozess zu erreichen. Wenn der Therapeut es einer Frau nicht ermöglicht und gestattet, ihren eigenen Weg zu finden, wird sie sich wieder missraten und schlecht vorkommen, weil sie ihrem Vater noch nicht verziehen hat.“ (96)

Auf jeden Fall ist im Blick auf die Vergebung das biblische Gebet zu beachten: „Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“ (97) Vergebung darf niemals dazu missbraucht werden, um reale Schuld zu verleugnen, zu verharmlosen oder zu verdrängen. „Vergebung ohne Schuldbekenntnis ist unmöglich, auch theologisch. Geistliche, die dies fordern, wissen nicht, was sie tun.“ (98) Darum wendet sich Annegret Böhmer ausdrücklich gegen ein Verständnis von Vergebung, das darin besteht, Verständnis aufzubringen für Missbraucher, die angeblich nichts für ihre Taten konnten: „Bei der Vergebung handelt es sich um einen Prozess, der aus der Sicht der psychotherapeutischen Fachwelt und im Alltagsverständnis christlicher Ethik sehr verschieden interpretiert wird. – In vielen Psychotherapieformen ist das offene Sich-Eingestehen von Wut, Hass und Rachegefühlen auf diejenigen, die uns etwas angetan haben, als wir klein waren, eine notwendige Stufe der seelischen Heilung. Erst wenn die Verursacher des Unglücks klar ausgemacht sind und auch, zumindest symbolisch, ihre Strafe erhalten haben (zum Beispiel durch die Konfrontation mit den Problemen des Kindes und der damit verbundenen Notwendigkeit, eigene Lebenslügen aufzugeben), ist die Realität wieder zurechtgerückt und ein umfassendes Persönlichkeitswachstum möglich. Die Fähigkeit zur Vergebung und tief empfundenen Versöhnung kann – muss aber nicht – Resultat eines solchen Prozesses sein. – Viele Menschen, darunter auch einige Fachleute, halten dagegen jede Form des offenen ‚Abrechnens‛ mit Menschen, die uns verletzt haben, für sinnlose Destruktion. Hier wird vielmehr an die kognitive Fähigkeit des Opfers appelliert, es möge doch verstehen, dass zum Beispiel seine Eltern es nicht besser wussten und nicht besser konnten. Dieser Haltung zufolge hat es überhaupt keinen Zweck, den Eltern Vorwürfe zu machen. Vielmehr gilt die bewusst gewollte Versöhnung mit den Eltern schon als ein heilender Schritt. – Diese verbreitete und durch das Alltagsverständnis christlicher Ethik gestützte Haltung, sozusagen an die Überlegenheit und Größe des Opfers zu appellieren, halte ich in diesem Zusammenhang für falsch. Sollte sich im Laufe eines seelischen Heilungsprozesses Verzeihenwollen einstellen, so ist das eine begrüßenswerte Entwicklung. Zu einer Heilung bedarf es aber zunächst einmal der Erlaubnis, endlich die eigene innere Realität für real nehmen zu dürfen und in dieser Weise auszudrücken. Zu der inneren Realität von Mädchen und Jungen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, gehören in aller Regel Wut und Trauer über die verpatzten Lebensmöglichkeiten, auch Hass- und Rachephantasien in bezug auf die Täter und Mittäter. Hier müssen wir uns fragen, inwieweit eine Interpretation christlicher Ethik, die rät, dem Aggressor keinen Widerstand entgegenzusetzen, die ‚andere Backe‛ hinzuhalten, die rät, ‚die zu lieben, die Euch hassen‛, sich im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch täterfreundlich und opferfeindlich auswirken kann.“ (99)

Feindesliebe und die unvergebbare Sünde gegen den Heiligen Geist

An dieser Stelle schiebe ich eine Betrachtung der von Jesus geforderten Feindesliebe ein. Elisabeth Schüssler Fiorenza beklagt zu Recht: „Einige biblische Texte errichten, auch wenn sie ursprünglich eine ganz andere Absicht verfolgt haben mögen, einen heiligen Baldachin, der Opfer zwingt, ihr Leiden widerstandslos zu ertragen… Weisungen Jesu … oder Paulus‛ Hymne auf die Liebe … erzeugen Schuldgefühle bei denjenigen, die sich nicht langmütig und gütig häuslicher Gewalt, dem sexuellen Missbrauch oder der kirchlichen Autorität beugen, und vermitteln das Gefühl, seiner christlichen Berufung nicht gerecht geworden zu sein. … Kein Wunder, dass die Frauen und Kinder, die ihren Glauben ernst nehmen, Widerstand gegen Gewalt für unchristlich und ihr Leiden für gottgewollt halten.“ (100)

Aber ich mir absolut sicher, dass Jesu Feindesliebe eine andere Stoßrichtung hat. Er hat mit Sicherheit keine täterfreundliche Ethik vertreten. Ich erinnere an sein hartes Wort: „Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.“ (101). Wer einwendet, es gehe hier doch um den Abfall von Glauben und nicht um sexuelle Verführung, der übersieht, dass der sexuelle Übergriff eines Erwachsenen auf ein ihm anvertrautes Kind zugleich einen massiven Vertrauensbruch darstellt – und ebenso einen Totalangriff auf das Vertrauen dieses Kindes zu einem liebenden Vater im Himmel. Wenn dieses Wort nicht auf einen sexuellen Missbraucher passt, dann weiß ich nicht, auf wen Jesus es sonst mit Recht angewendet haben sollte.

Könnte Jesus mit der unvergebbaren Sünde „gegen den heiligen Geist“ (102), die ja den Christen von jeher große Schwierigkeiten gemacht hat, auch auf Menschen zielen, die Vergebung nicht anzunehmen bereit sind, die auch angesichts des ewigen Gerichts weder mit sich selber noch mit anderen barmherzig sein können, die für jede Schuldeinsicht und Vergebung unerreichbar sind?

Trotzdem kann auch ein Missbrauchsopfer das Gebot der Feindesliebe beherzigen, auch unabhängig von einer Schuldeinsicht des Täters. Gefordert ist nämlich keinesfalls eine Zuneigung zum Feind, auch nicht eine Zustimmung zu seinen Taten. Vielmehr geht es darum, sich in seiner menschenverachtenden Haltung nicht dem Feind gleichzumachen, sich nicht zu wünschen, ihm oder ersatzweise einem anderen Menschen, der schwächer ist, etwas ähnlich Schlimmes anzutun. In diesen Zusammenhang passt vielleicht auch der Gedanke, dass sich ein Kind nicht dafür schämen muss, dass es den Papa ja doch auch lieb hat; er ist ja sein Papa, auch wenn er sich nicht wie ein liebender Papa verhält.

Loslassen eines zerstörerischen Treuebündnisses

Vergebung hat also nicht als einziges und unbedingt zu erreichendes Ziel die Wiederherstellung der Beziehung zum Täter (103), zumal es sich um eine Beziehung gehandelt hat, die durch ungesunde Abhängigkeitsstrukturen vergiftet war.

Für Ursula Wirtz kann Vergebung im Sinne eines Weggebens und Verzeihen im Sinne eines Verzichts ein wichtiger Baustein für die Lösung vom Täter sein, ganz unabhängig davon, ob der Täter Reue zeigt. Sie zitiert zustimmend Alice Miller: „Die echte Vergebung führt nicht am Zorn vorbei, sondern durch ihn hindurch. Erst wenn ich mich über das Unrecht, das mir angetan wurde, empören kann, die Verfolgung als solche erkenne, den Verfolger als solchen erleben und hassen kann, erst dann steht mir der Weg offen, ihm zu verzeihen“ (104), und schreibt dann weiter: „Erst wenn mir die Möglichkeit aufscheint, dass ich entscheiden kann, ob ich bis ans Ende meines Lebens in der Verzweiflung verharren oder bewusst mein Leben in die eigene Verantwortung nehmen will, erst dann ist ‚Vergebung‛, was ja auch Weggeben bedeutet, möglich. – Sinnvoll von ‚Vergebung‛ zu sprechen ist nur dort möglich, wo ich ‚loslassen‛ meine. Verzeihen hat ja sprachlich mit verzichten zu tun. Wenn ich darauf verzichten kann, vom Täter noch irgend etwas zu erwarten, wenn ich die meist illusionäre Hoffnung aufgebe, dass er eines Tages doch noch kommen und seine Schuld eingestehen wird, dass er mir endlich doch noch einmal gerecht werden und mich bitten wird, Frieden mit ihm zu machen, nur dann kann Vergebung zu einem Schritt in meinem Heilungsprozess werden. Solange ich darauf beharre, dass mir der Täter noch etwas schuldig ist, so lange bleibe ich an ihn gebunden. Erst wenn ich meinen Anspruch aufgebe, dass der Täter seine Schuld zu sühnen hat, erst dann wird es mir möglich, mich zu versöhnen.“ (105)

Bei diesem Verständnis von Vergebung wird nicht (jedenfalls nicht als unbedingt zu erreichendes Ziel) die Versöhnung mit dem realen Täter auf der Beziehungsebene angestrebt, sondern im Grunde ein Friedensschluss mit sich selbst. Der Vorgang der Vergebung spielt sich in diesem Fall sozusagen im inneren Dialog mit dem „geschluckten inneren Täter“ ab. Während eines schwierigen und oft auch schmerzhaften Ablösungsprozesses kann das Opfer lernen, sein „Gummiband“ des „Treuebündnisses“, das ihn an den Missbrauchstäter kettet, durchzuschneiden und sich aus der Identifikation mit dem Täter zu verabschieden.

Zum Beispiel: Eine missbrauchte Frau fühlt Rachegedanken gegen ihren missbrauchenden Vater, und sie weiß genau: ein Ausagieren dieser Rache würde niemandem nützen, am wenigsten ihr selbst, und sie tut dem Vater nichts an. Sie überlegt es sich auch sehr gründlich, ob sie ihn in der Realität mit dem Vorwurf konfrontieren wird, dass sie von ihm sexuell missbraucht wurde. Aber da der Zweck dieser Konfrontation meist nicht erreicht wird, verzichtet sie darauf. Im Rahmen ihrer Therapie lässt sich sich aber darauf ein, ihrem „inneren Vater“ zu begegnen, den sie als Kind auf dem Wege der Identifikation mit dem Täter „geschluckt“ hat. Die Transaktionsanalyse kennt zu diesem Zweck das sog. „parent interview“, das dazu dient, sozusagen live Therapie mit dem vom Klienten „gespielten“ Elternteil zu machen. Dabei geht es nicht um die Therapie und Veränderung des realen Elternteils, sondern um eine Änderung des Bildes vom Elternteil, das einen Teil der Ich-Zusammensetzung des Klienten ausmacht, und das dahin geführt werden soll, dem Klienten neue Erlaubnisse zu geben oder alte Verbote zu widerrufen, oder einfach zur Klärung beitragen: „Was bin ich selbst, was sind meine Erfahrungen, Haltungen und Gefühle und was gehört gar nicht zu mir?“

Ich persönlich kam einmal in einem parent interview mit dem „inneren Vater“ einer Frau in Kontakt, die von diesem Vater über Jahrzehnte hin bis zu seinem Tod missbraucht worden war. Dabei erzählte „er“ mir (vermittelt durch die Erinnerungen seiner Tochter), wie er als kleiner Junge von seiner Mutter im Ehebett des zu früh verstorbenen Vaters ebenfalls Missbrauch erfahren hatte. Wichtig für die Tochter waren in diesem Gespräch mehrere Dinge: erstens, dass ich diesem inneren Vater klar machte, wie abscheulich es war, dass er seiner Tochter das Gleiche antat, das ihm widerfahren war, zweitens, wie großartig und wichtig es war, dass sie es nicht machen musste wie ihr Vater, sondern verantwortlich mit sich und anderen Menschen umgehen konnte, bis dahin, dass sie ihre Rachegedanken nicht in zerstörerischen Handlungen gegen sich oder andere ausleben musste, und drittens, dass sie wusste, auf wen sie ihre doch immer noch vorhandenen Gefühle der Liebe zu ihrem Vater richten konnte: leider nicht auf einen schützenden, fürsorglichen Vater, der sich in einen ekelhaften Missbraucher verwandelt hatte, aber vielleicht doch auf das verletzte innere Kind des Vaters, in dem noch zu ahnen ist, dass auch er als Ebenbild der Liebe Gottes geschaffen und geboren war, obwohl er dieses Bild in sich bis zur Unkenntlichkeit verzerrt hat.

Sich selbst verzeihen und Frieden finden mit sich selbst

Das wichtigste Ziel von Vergebung ist für ein Missbrauchsopfer, sich selbst verzeihen und mit sich selber Frieden schließen zu können. Den Weg zu diesem Ziel beschreibt Keith Sherwood folgendermaßen: „Ich habe bei meiner Arbeit mit erwachsenen Inzest-Opfern sechs Schritte entwickelt, die dazu führen, die verheerenden, tief im Innern verborgenen Gefühle loszulassen: Bewusstsein, Akzeptanz, Trauer, Sich-Selbst-Verzeihen, Dankbarkeit und Freude“. Im 1. Schritt Bewusstsein geht es darum, „das unbehagliche Gefühl richtig zu benennen“, im 2. Schritt Akzeptanz darum, dass man „aufhört, sich diesem ‚schlechten Gefühl‛ entgegenzustellen, und es integriert“. Der 3. Schritt Trauer „ist die natürliche und gesunde Reaktion auf die Verletzungen und Verluste in der Kindheit“. Aber obwohl die Missbrauchsbetroffene ein „unschuldiges Kind“ war, fühlt sie sich trotzdem „schmutzig, böse und schlecht“. Darum ist der 4. Schritt Sich-Selbst-Verzeihen so wichtig: „Wenn jemand schlecht ist und zum Leiden verdammt, wie viele das von sich annehmen, dann können diese Menschen nur frei werden, wenn sie Verzeihung finden. Sobald das Opfer aber sich selbst verziehen hat, befreit es das Kind in sich, das so schwer verletzt wurde“. Dadurch werden der 5. Schritt Dankbarkeit und der 6. Schritt Freude möglich; das ehemalige Opfer ist „dankbar, weil es kein Opfer mehr ist, sondern mit der Befreiung des verletzten Kindes nun wieder die ganze Skala seiner Gefühle ausdrücken kann. Dadurch wird auch der Körper wieder als gesund empfunden. Die Lebensfreude, die verloren gegangen war, kann zurückkehren.“ (106)

Was ich mich bei diesem Ziel des sich selbst Verzeihens frage: Ist es tatsächlich möglich, sich selbst zu vergeben? Oder ist nicht vielmehr gemeint, dass man in der Lage ist, Vergebung von einem verständnis- und liebevollen Gegenüber anzunehmen? Es gibt Erfahrungen, die man sich nicht im Alleingang verschaffen kann. Wer zu wenig Liebe erfahren hat, kann sich nur schwer selber annehmen und lieben. Und wenn jemand im Kontakt zu seinen Eltern gelernt hat, dass er sich bereits für die eigene Existenz rechtfertigen muss und dass der Missbrauch eine Strafe ist, die er irgendwie verdient hat, weil er eben so ist, wie er ist, wird er sich nur schwerlich aus eigener Kraft diese tief in seiner Seele eingewurzelte „Schuld“ selber vergeben können. Erforderlich ist, dass er entweder im therapeutischen oder seelsorgerlichen Kontakt oder im Kontakt zu Freunden oder Familienmitgliedern, liebevoll angenommen wird, so wie er ist.

Für mich als Pfarrer und Christ ist wichtig zu betonen, dass in den Augen Gottes jeder Mensch nach dem Ebenbild der Liebe Gottes geschaffen ist. Niemand muss sich selber für seine bloße Existenz rechtfertigen, denn er existiert nach Gottes Willen und Plan. Und ebenso liegt es im Willen Gottes, dass ein Kind, das in diese Welt hineingeboren wird, von den ersten Bezugspersonen, denen es anvertraut ist, die notwendige Liebe, Fürsorge und auch Grenzen setzende Begleitung erwarten darf. Vielleicht kann das eine oder andere Opfer sexueller Gewalt sich leichter selber verzeihen, wenn wir ihm im Namen Gottes sagen: „Du bist ein von Gott gewollter Mensch. Du hast ein Recht zu leben, da zu sein, so zu sein, wie du bist. Du bist nicht schuld daran, was man dir angetan hat. Und wenn du bei genauer Selbstprüfung den Eindruck hast, dass du Dingen zugestimmt hast, denen du nicht hättest zustimmen dürfen, dass du Gedanken hattest, die du nicht hättest haben dürfen, dann übernimm dafür die Verantwortung und bitte Gott um Vergebung. Er wird dir vergeben und gibt dir zugleich die Erlaubnis, dich von denen zu trennen und zu lösen, die dich missbraucht haben. Sie haben kein Recht, sich auf Gottes Willen zu berufen, denn wenn sie das tun, missbrauchen sie nicht nur dich, sondern außerdem den heiligen Namen Gottes. Gott möchte, dass du Frieden findest für deine Seele.“

Annas Vergebungslehre

Zum Abschluss darf ich unter dem Titel „Annas Vergebungslehre“ einen letzten Abschnitt in diesem langen Kapitel veröffentlichen, der nicht von mir formuliert worden ist. Als eine von jahrelangem Missbrauch innerhalb einer „christlichen“ Familie betroffene Frau unter dem Namen „Anna“ am 17. Oktober 2009 in der Fernsehreihe des Hessischen Rundfunks „Horizonte“ zum 2. Gebot („Du sollst Gottes Namen nicht missbrauchen“) ihre Geschichte veröffentlichte, wurde sie im Internetforum www.jesus.de gefragt, wie sie sich eine „saubere“ Vergebungslehre vorstellen würde, die Opfern nicht Druck macht, sondern sie durch Hilfs- und Begleitungsmaßnahmen unterstützt.

Der erste Teil bezieht sich auf die Vergebung als Wiederherstellung der Beziehung zwischen Opfer und Täter. Für den (häufiger vorkommenden) Fall, dass bei einem Täter keine Schuldeinsicht und Reue vorhanden oder zu erwarten ist, ergänzt Anna ihre Vergebungslehre im zweiten Teil um Überlegungen, die den Friedensschluss mit sich selber betreffen.

Wiederherstellung der Beziehung zwischen Opfer und Täter

Vergebung ist erst mal ein Akt, indem der Mensch, der an einem anderen schuldig wurde, Schuldeinsicht zeigt und um Vergebung bittet. Dieser Aspekt wird häufig sehr unterbelichtet, wärend dem „Opfer“ zur schnellen, oft einseitigen Vergebung hin Druck gemacht wird. Wobei man dabei nicht übersehen darf, dass eine einseitige Vergebung ja nichts an der Schuld des Täters ändert. Vor Gott bleibt sie so lange bestehen, bis der „Täter“ Buße tut und Wiedergutmachung leistet. Menschliche Vergebung ist kein Ersatz für Gottesvergebung.

Vergebung (lat.: amnestia) ist ein vollständig oder zu Teilen erfolgter Straferlass. Eine Amnestie beseitigt weder das Urteil noch die Schuld des Straftäters. Im Griechischen bedeutet Vergebung „verschicken“.

Menschen, die Vergebung üben, sind nicht dazu geneigt, Rache gegenüber einem anderen Menschen zu äußern. Jemanden vergeben heißt, verstanden zu haben, wie es zu einer Situation gekommen ist und dem Gegenüber einen friedlichen Lernprozess zuzustehen. Aus religiöser Sicht wird Vergebung auch als Tür zu Frieden und Glück bezeichnet.

Man muss nicht immer aktiv agieren, um Vergebung zu äußern. Menschen, die anderen vergeben können, oder das Bitten nach Vergebung annehmen, befreien sich von negativen Gefühlen und zeigen menschliche Stärke.

Der Vergebung geht eine Kränkung voraus. Eine Verletzung in einem Bereich, der unsere Identität ausmacht. In der Regel sind dies die Bereiche, die narzisstisch besetzt sind. Kränkungen geschehen also auf subjektiver Ebene und weniger auf der objektiven Ebene. Das heißt, Vergebung muss auch auf der subjektiven Ebene geschehen, sonst verfehlt sie ihre Wirkung. Dr. Martin Grabe beschreibt diesen Prozess sehr schön in seinem Buch „Lebenskunst Vergebung“, ein Buch, das ich sehr empfehlen kann, weil darin auch differenziert verschiedene Arten der Vergebung erklärt. Als Traumatologe wird er gerade auch mit dem Thema Missbrauch immer wieder konfrontiert und seine Antworten für missbrauchte Frauen zur Vergebung finde ich sehr heilsam und auch anwendbar.

Ich erlebe es sehr oft, dass man betroffenen Frauen erzählt, sie müssten vergeben, dann heilen ihre Wunden, und das ist falsch! Vergebung kann nur am Ende einer Aufarbeitung und Verarbeitung stehen, und wer sie an den Anfang eines solchen Prozesses stellt, überfordert zerbrochene Seelen. Vergebung kann am Anfang nicht ihre heilende Wirkung entfalten, im Gegenteil! Sie stößt Opfer in die Dunkelheit ihrer Verzweiflung zurück, nimmt ihr Anliegen nicht ernst und lässt sie in ihrem Leid allein.

So auf die Schnelle lässt sich das in fünf Schritten erklären.

  1. Schmerz zulassen, ernst nehmen.
  2. Wut zulassen, den, der mich verletzt hat, aus mir herauswerfen. Man kann nicht vergeben, wenn das Messer noch in der Wunde steckt. Es muss erst herausgezogen werden. Der Versuch zu vergeben, bevor es gezogen wurde ist Masochismus.
  3. Objektiv wahrnehmen, was abgelaufen ist. Mich selbst und den anderen verstehen.
  4. Vergebung. Beim anderen belassen. Mich befreien von der destruktiven Macht des anderen, denn ohne Vergebung bleibt eine Bindung bestehen.
  5. Wunden zu Perlen verwandeln. Aussöhnen mit der Geschichte. Da, wo ich verwundet bin, bin ich aufgebrochen für Gott. In der Wunde komme ich mit Gott in Berührung, mit mir selbst und anderen.

Vergebung bedeutet an der Stelle für mich viel mehr, mich mit meiner eigenen Geschichte auszusöhnen, mich mit mir selbst, meinem Gewordensein und auch den Leiderfahrungen, die das mit sich gebracht hat, zu versöhnen. Meine Lebensgeschichte ist das Kapital, das ich mitbekommen habe und es liegt an mir selbst, was ich aus diesem Material schnitze……….

Anna

Friedensschluss mit sich selber

Ich denke, dass auch einseitige Vergebung möglich ist. Das geschieht in den Fällen, wenn der/die Betroffene ganz persönlich für sich selbst die Sache geklärt hat und dann abgibt.

Klar ist auch das möglich. Hat für mich sehr viel mit Loslassen zu tun, sich innerlich von der Bindung und Tat befreien und sich damit versöhnen. Doch der „eigentliche“ Akt Vergebung, an dem ja zwei beteiligt sein sollten, der findet so nicht statt. Es bleibt einseitig, nicht vollständig, was aber den Wert dessen und die Befreiung für das Opfer nicht schmälert. Ein solcher Akt hat sicherlich auch eine innerseelische Lenkungsfunktion für ein Opfer, unabhängig davon, ob der Täter sich entschuldigt. Es ist das Ablegen der Opferrolle, ein aktives Handeln…………

Ich denke darüber hinaus, dass man mit dem Thema Vergebung auch sehr kreativ umgehen kann. Mit Ritualen z. B., die der Seele gut tun. Es ist wichtig hinzuschauen, als Opfer, was brauche ich, damit ich innerlich loslassen kann. Was tut meiner Seele gut. Für den einen mag es ein seelsorgerliches Gespräch sein, eben auch die Hilfe durch einen anderen Menschen. Ein anderer schreibt einen Brief an den Täter und verbrennt ihn. Nur mal so als Beispiel. Heilende Rituale sind sehr hilfreich und machen auch noch mal auf einer körperlichen Ebene das Heraustreten aus der Opferrolle in ein aktives Handeln, deutlich.

Wenn ich z. B. einen Dorn, oder einen Splitter im Finger habe, dann tut das ziemlich weh. Es ist eine kleine Wunde, bei der ich mir ziemlich gut selbst helfen kann. Ich ziehe den Splitter, der Heilungsprozess setzt ein.

Anders sieht es aus, wenn ich ein Messer in mir stecken habe. Es zu ziehen, kann tödlich sein, wenn es Gefäße verletzt hat. Eine solche Wunde braucht fachärztliche Behandlung. Ein Arzt zieht das Messer, der die Wunde gleich und fachmännisch versorgen kann. Eine OP, sterile Maßnahmen, das Nähen der Wunde usw. Der Heilungsprozess ist sicherlich auch von dem Grad der Beschädigung abhängig.

Im seelischen Bereich ist das nicht anders.

Es braucht also erst einmal die richtigen angemessenen Maßnahmen. Die Wunde muss versorgt werden, dann kann sie heilen. Dazu braucht es den geschützten Rahmen, Sicherheit, Zeit und optimale Versorgung, damit die Seele wieder heilen kann. Das kann Seelsorge und Therapie leisten. Je tiefer die seelische Verwundung ist, um so wahrscheinlicher ist es, dass man darin Hilfe braucht, dass nicht alleine schafft.

Erst wenn das geschehen ist, kann der Verwundete darüber nachdenken, welchen Platz er diesen Erfahrungen in seinem Leben zuweisen kann und will. Ist dieser Platz gefunden, fällt das Loslassen leichter. Es ist ein Schritt in die Freiheit, es ist vergeben, es ist Versöhnung………..

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“

Ich glaube, dass dies ein ganz wichtiger Satz ist und ich habe mich ganz oft gefragt, warum Christus ihn in der äußersten Zuspitzung seiner Not schrie. Vielleicht delegierte er in diesem Moment das an Gott, wozu er selbst nicht in der Lage war. Er schrie nicht, Vater, ich vergebe ihnen, nein er schrie, Vater vergib ihnen………….

Er ließ los und überließ in diesem Moment Gott diesen Akt, und darin steckt für mich das Geheimnis. Wir müssen nichts tun, wozu wir nicht in der Lage sind. Wir dürfen loslassen.

Anna

Anmerkungen

(1) Vgl. Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 67f.: „sowohl das Opfer wie der Täter leben in unserer Gesellschaft wie unsichtbare Aussätzige voller Scham und Leid und ohne genügend Möglichkeiten, über ihre Probleme offen zu reden.“

(2) Dorothee Sölle, Das Recht ein anderer zu werden. Theologische Texte, Neuwied und Berlin 1971, S. 143f.

(3) Vgl. Petruska Clarkson, Metanoia: A Process of Transformation. In: Transactional Analysis Journal, Volume 19, No. 4, 1989, S. 224-234.

(4) Lukasevangelium 10, 27 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(5) Markusevangelium 5, 34 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart): „Er [Jesus] aber sprach zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage!“

(6) So der amerikanische Psychoanalytiker Robert White, zitiert nach J. Foudraine: Wer ist aus Holz? Neue Wege der Psychiatrie, München 1971, S. 271. Ich fand dieses Zitat wiederum in dem Artikel von Till Bastian, Archaisch und verdrängt. Der Affekt Scham. In: Universitas, 49. Jahrgang, Heft 10, 1994, S. 996.

(7) So ebenfalls Robert White, zitiert ebenda.

(8) Till Bastian, Archaisch und verdrängt. Der Affekt Scham. In: Universitas, 49. Jahrgang, Heft 10, 1994, S. 995.

(9) Ebenda, S. 997.

(10) Ebenda, S. 995.

(11) 1. Mose 4, 5 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart): „Aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.“

(12) Till Bastian, Archaisch und verdrängt. Der Affekt Scham. In: Universitas, 49. Jahrgang, Heft 10, 1994, S. 993.

(13) 1. Mose 4, 6-7 (nach der Zürcher Bibel 2008).

(14) Siehe 1. Mose 4, 8-15.

(15) Vgl. meinen Artikel Sehnsucht nach dem großen Bruder.

(16) Petruska Clarkson, The Bystander Role. In: Transactional Analysis Journal, Volume 17, No. 3, 1987, S. 85: „three types of guilt: a) racket guilt, b) genuine guilt, c) existential guilt.“

(17) Ebenda, S. 86: „The most distinguishing characteristics of racket guilt are exploitative design, repetitiveness, and the fact that the guilt-ridden person does nothing effective about solving the problem for which they feel guilty. Neither do they make reparation. This ist guilt for guilt’s sake. Racket guilt carries the psychological message that someone else should do something about it (e. g., forgive you for doing nothing, understand that it is not your fault, etc.)“

(18) Ebenda: „Authentic (genuine) guilt results from actual aggression against another or a lack of action on behalf of another. The original social function of guilt can be understood as a means of helping children to distinguish between right and wrong and to take action to correct wrongful acts committed impulsively, before autonomous adult functioning is well-established. Therapeutically, genuine guilt is dealt with by actual or symbolically appropriate reparative acts.“

(19) Ebenda: „Existential guilt, also part of our human inheritance, corresponds closely with what Berne (1961, p. 51) calls pathos in the Adult. Existential guilt can be described as deep, personal awareness of the sufferings of others (e. g., famine and torture victims) at the same time as one chooses to use one’s life and resources differently… Existential guilt involves genuinely taking responsibility for choices and not blaming others, the government, or God!… Existential guilt leaves the individual feeling humble, responsible, and often deeply and profoundly in touch with our collective identities. Thus it can be an antidote for and a spur to move us away from bystanding toward responsible involvement.“

(20) Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Paderborn 1985. Die Lektüre ist empfehlenswert, wenn auch ausgesprochen anstrengend, und setzt einiges an entsprechendem Fachwissen voraus.

(21) Psalm 23, 1 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(22) Dorothee Sölle, Das Recht ein anderer zu werden. Theologische Texte, Neuwied und Berlin 1971, S. 26.

(23) Ebenda.

(24) Ebenda, S. 27.

(25) Ebenda, S. 142.

(26) 1. Mose 6, 5 (nach der deutschen Elberfelder Bibel, revidierte Fassung 1993).

(27) 1. Mose 8, 21 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(28) Alice Miller, Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema. Frankfurt am Main 1981, s. 77.

(29) Siehe Liebe und Pädagogik: Grenzen setzen.

(30) Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort, Frankfurt am Main, 1953, S. 102: „Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zu martern und zu töten.“

(31) Siehe Zu-fällige Zugänge zur Analyse der Psyche.

(32) Jochen Kuhn, Das missbrauchte Gebot. In: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 5, 1995, S. 195.

(33) Nach der Zählung der Reformierten Kirche. Die Katholische und Lutherische Kirche zählen das Elterngebot als Viertes Gebot, weil sie das biblische Gebot „Du sollst dir kein Götterbild machen“ (2. Mose 20, 4 – nach der deutschen Elberfelder Bibel, revidierte Fassung 1993)“ nicht als gesondertes Zweites Gebot zählen, sondern mit dem Ersten Gebot zusammenfassen. Das führt übrigens zur merkwürdigen Notlösung, dass das letzte der Zehn Gebote nach Reformierter Zählung, in dem es um das Verbot des Begehrens geht, von den Schwesterkirchen auf die Gebote 9 und 10 aufgeteilt werden muss.

(34) Jochen Kuhn, Das missbrauchte Gebot. In: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 5, 1995, S. 196.

(35) Ebenda, S. 197. Weiter schreibt er an dieser Stelle (S. 197f.): „Kinder brauchen Eltern, deren persönliches Leben für ihre Kinder wegweisend werden kann… die sich als Gesprächspartner und Spielgefährten eignen… die ihre Kinder in ein verbindliches Leben einführen,… in dem auch andere Menschen ihr Lebensrecht haben, vorab eben die Kinder. Ist es eine gemeinsame Lebenswelt, die Eltern und Kinder umschließt, oder sind das im Grunde zwei Welten?“ Und dann weiter auf S. 198: „Es wäre übrigens ein Trugschluss, jetzt darüber zu jubeln, dass heute viele Kinder so gut wie alles dürfen. Das ist nämlich auch eine Art Abschiebung der Kinder, nun allerdings in eine Welt, in der sie sich völlig selbst überlassen sind.“

(36) Epheserbrief 6, 1-3 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(37) Epheserbrief 6, 4 (nach der Zürcher Bibel 2008). In der Lutherbibel steht als Übersetzung des griechischen Wortes „paideia“ an Stelle von „Erziehung“ das Wort „Zucht“. Gemeint ist eine Anleitung zur Selbstdisziplin im Geist „des Herrn“, also der christlichen Liebe, damit die Kinder mit guten Grenzen aufwachsen.

(38) Kolosserbrief 3, 20-21 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(39) Jochen Kuhn, Das missbrauchte Gebot. In: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 5, 1995, S. 198.

(40) Rolf Katterfeldt, Inzest: Eine traumatische Beziehung. In: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 38. Jahrgang, Heft 5, 1993, S. 279: „Erstaunlicherweise ist häufig zu finden, dass das verführte Kind die meisten Schuldgefühle hat, während die Schuldgefühle der Erwachsenen ihrer Pathologie entsprechend oft verdrängt sind.“

(41) Jochen Kuhn, Der missbrauchte Gott. Zur sexuellen Kindesmisshandlung in christlichen Familien. In: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 5, 1995, S. 227.

(42) Jochen Kuhn, Das missbrauchte Gebot. In: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 5, 1995, S. 194: „Das Fünfte Gebot sagt kein Wort vom Gehorchen. Trotzdem hat es dazu herhalten müssen, die Eltern zu Herren, ja geradezu zu Halbgöttern zu machen. Darum nenne ich das Elterngebot: Das missbrauchte Gebot.“

(43) Petruska Clarkson, Ego State Dilemmas of Abused Children. In: Transactional Analysis Journal, Volume 18, No. 2, 1988, S. 92: „Religions and cultures which support the guilt of the child create particularly destructive situations where the child’s distress may be difficult or impossible to treat. Five-year-old Melanie, who is currently in psychotherapy, reports: »I prayed to God, and I cried as I prayed. I confessed that I had driven thorns into the flesh of Jesus. I saw the blackness of my own heart, and I was so ashamed I wanted to die. I confessed how I did not honor my mother, that I was rebellious when she burnt me with cigarettes, and my thoughts and my tongue had been full of evil.“

(44) Ulrich Sachsse, Selbstschädigung als Selbstfürsorge. Zur intrapersonalen und interpersonellen Psychodynamik schwerer Selbstbeschädigungen der Haut. In: Forum der Psychoanalyse, Jahrgang 3, Heft 1, 1987, S. 59: „Diese Patienten sind zu früh schuldlos schuldig geworden. Ihre ödipalen Phantasien sind in traumatisierender Form Realität geworden: Sie haben entweder die Rivalin besiegt oder gar getötet und sich damit schuldig gemacht.“

(45) Petruska Clarkson, Ego State Dilemmas of Abused Children. In: Transactional Analysis Journal, Volume 18, No. 2, 1988, S. 88: „She is terrified not only by her own rage but also by the potentially tragic consequences of confronting her parents with their cruel behavior. »With his concept of the magical nature of his thoughts, wishes and feelings, he may also assume responsibility for an extraordinary range of unhappy events. Is there a death in the family? – he is a murderer. An accident? – he is the secret perpetrator. An illness? – he is the agent.«“ Sie zitiert an dieser Stelle D. Bloch, So the witch won‛t eat me, London 1979, S. 5.

(46) Mathias Hirsch, Zur Psychodynamik und Familiendynamik realen Inzests. In: Forum der Psychoanalyse, Jahrgang 1, Heft 1, 1985, S. 229: „Bezogen auf die Familiendynamik treten Schuldgefühle … eher wegen des Unvermögens auf, die Familie zusammenzuhalten…, in einem… Fall, weil das Kind den Selbstmord des Vaters nicht hatte verhindern können“.

(47) Sándor Ferenczi, Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (1933). In: Sándor Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse II, Frankfurt am Main 1972, S. 308: „Schwer zu erraten ist das Benehmen und das Fühlen von Kindern nach solcher Gewalttätigkeit. Ihr erster Impuls wäre: Ablehnung, Hass, Ekel, kraftvolle Abwehr. »Nein, nein, das will ich nicht, das ist mir zu stark, das tut mir weh. Lass mich«, dies oder ähnliches wäre die unmittelbare Reaktion, wäre sie nicht durch eine ungeheure Angst paralysiert… (diese) Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren.“)

(48) Vgl. Mathias Hirsch, Psychoanalytische Therapie mit Opfern inzestuöser Gewalt. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis, Band 31, 1993, der auf S. 144 zunächst L. Shengold, Soul murder. The effects of childhood abuse and deprivation, New Haven, London 1989, S. 321, zitiert: „Im Bedürfnis nach der Bindung an die Eltern liegt der Kern des Widerstands gegen Veränderung“, denn das Opfer hat sich mit dem Seelenmörder identifiziert und kann jetzt nicht mehr „ohne die innere Anwesenheit des Aggressors“ existieren. Dann schreibt Hirsch selber auf S. 144f.: „Meines Erachtens ist die Trennungsangst eine Identitätsangst, d. h. die Angst vor der neuen Identität, der unbekannten Nicht-Opfer-Identität.“

(49) Rolf Katterfeldt, Inzest: Eine traumatische Beziehung. In: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 38. Jahrgang, Heft 5, 1993, S. 279.

(50) Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 57: „Aus der Sicht des Kindes wird seine Lebenslinie von dem Verhältnis zu den Eltern bestimmt. Diese darf nicht gefährdet werden, d. h. das Kind wird seine Eltern immer entschuldigen und verteidigen, unabhängig davon, was auch geschehen ist. In seinem Denken und Verhalten wird sich das Kind immer um die Erhaltung dieser Lebenslinie bemühen. Sie beinhaltet das Gefühl von Geborgenheit und Fürsorge, unabhängig davon, ob Fürsorge und Geborgenheit von den Eltern auch wirklich geboten werden.“

(51) Mathias Hirsch, Zur Psychodynamik und Familiendynamik realen Inzests. In: Forum der Psychoanalyse, Jahrgang 1, Heft 1, 1985, S. 235.

(52) Mathias Hirsch, Psychoanalytische Therapie mit Opfern inzestuöser Gewalt. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis, Band 31, 1993, S. 139f.

(53) Sándor Ferenczi, Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (1933). In: Sándor Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse II, Frankfurt am Main 1972, S. 308f: „Durch diese Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapsychisch, statt extra; das Intrapsychische aber unterliegt in einem traumhaften Zustand, wie die traumatische Trance einer ist, dem Primärvorgang, d. h. es kann, entsprechend dem Lustprinzip, gemodelt, positiv- und negativ-halluzinatorisch verwandelt werden. Jedenfalls hört der Angriff als starre äußere Realität zu existieren auf, und in der traumatischen Trance gelingt es dem Kind, die frühere Zärtlichkeitssituation aufrechtzuerhalten.“

(54) Petruska Clarkson, Ego State Dilemmas of Abused Children. In: Transactional Analysis Journal, Volume 18, No. 2, 1988, zitiert auf S. 89 zunächst Ferenczi, den wiederum J. M. Masson, The assault on truth, Freud‛s suppression of the seduction theory, Harmondsworth 1985, auf S. 298 zitiert: „The child introjects not only the abusive internal object, but also »the guilt feeling of the adult«“. Dann schreibt sie weiter: „Idealization may be a defense against the realization of the profundity of their betrayal“ und stellt die Frage: „Why does the child internalize an abusing parent?“, worauf sie als Antwort W. R. D Fairbairn, Psychoanalytic studies of the personality, London 1944/1984, S. 156, zitiert: „The answer to this question seemed to me to be that the child internalized bad objects party with a view to controlling them (an aggressive motive) but chiefly because he experienced a libidinal need of them“.

(55) Sándor Ferenczi, Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (1933). In: Sándor Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse II, Frankfurt am Main 1972, S. 309: „Doch die bedeutsamste Wandlung, die die ängstliche Identifizierung mit dem erwachsenen Partner im Seelenleben des Kindes hervorruft, ist die Introjektion des Schuldgefühls des Erwachsenen, das ein bisher harmloses Spiel als strafwürdige Handlung erscheinen lässt. – Erholt sich das Kind nach solcher Attacke, so fühlt es sich ungeheuer konfus, eigentlich schon gespalten, schuldlos und schuldig zugleich, ja mit gebrochenem Vertrauen zur Aussage der eigenen Sinne.“

(56) Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 58.

(57) Cornelie Stockburger, Auf der Suche nach sexualtherapeutischen Methoden für Missbrauchsopfer – Ein feministischer Ansatz. In: Gabriele Ramin (Hg.), Inzest und sexueller Missbrauch. Beratung u. Therapie. Ein Handbuch, Paderborn 1993, S. 207.

(58) Joanne Carlson Brown, „Mit Rücksicht auf die Engel“. Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch. In: Concilium, 30. Jahrgang, Heft 2, 1994. Themenheft: Gewalt gegen Frauen, erwähnt auf S. 113 „Frauen und Kinder, bereits überwältigt von Gefühlen der Scham und Schuld, die zu der Überzeugung gelangen, dass die Kirche – und folglich auch Gott – auf der Seite von Leiden und Gewalt steht; Opfer, die sich fragen: Womit habe ich das verdient? Ich muss schlecht und sündhaft sein, wenn Gott mich so bestraft.“ Ähnlich weist Petruska Clarkson, Ego State Dilemmas of Abused Children. In: Transactional Analysis Journal, Volume 18, No. 2, 1988, auf S. 89, indem sie D. Bloch, So the witch won‛t eat me, London 1979, zitiert: „According to Bloch (1979), the child’s major need to maintain an idealized image of the parent is central, and abused children quickly convince themselves that their parents could love them, but that their own badness provoked the parental violence. »I cried a lot because of my sin and my wickedness.«“

(59) Mathias Hirsch, Zur Psychodynamik und Familiendynamik realen Inzests. In: Forum der Psychoanalyse, Jahrgang 1, Heft 1, 1985, S. 229.

(60) Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 58.

(61) Martin Ehlert, Verführungstheorie, infantile Sexualität und „Inzest“. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis, Band 27, 1991, S. 62.

(62) Siehe Zerrbilder der Liebe.

(63) Cornelie Stockburger, Auf der Suche nach sexualtherapeutischen Methoden für Missbrauchsopfer – Ein feministischer Ansatz. In: Gabriele Ramin (Hg.), Inzest und sexueller Missbrauch. Beratung u. Therapie. Ein Handbuch, Paderborn 1993, S. 204ff.): „Innerhalb dieses Überlebensselbst halten sie sich an überstrenge Moralsysteme und an hochverantwortlichem sozialen Verhalten fest… Die Opfer leben mit ihren Schutzsystemen in einem Regelkreis der Angst… Das sexuelle Erleben führt zu vorübergehender Auflösung der Ich-Grenzen als größter Lustempfindung. All diese Faktoren machen die Sexualität zu einer Quelle der Gefahr sondersgleichen für die Gewaltopfer… Sobald die sexuelle Lust im Körper der betroffenen Frauen wach wird, können sie ihren schützenden Abstraktionsprozess nicht mehr vollziehen. Statt dessen wird ihre eigene, traumatische Körpergeschichte wach… In der aktuellen sexuellen Interaktion erleben sie störende Übertragungsbilder, die den Partner mit dem Bild des Täters überdecken. Mindestens genauso bedrohlich kann die Wahrnehmung der eigenen Lust werden, wenn das Opfer der Inhalte seiner Traumasexualität gewahr wird, was bei seiner Öffnung für Lustempfindengen nicht ausbleiben kann. Wenn das Opfer nicht weiß, dass sein Körper diese Phantasien zur Entlastung von Angst braucht, muss es denken, die Phantasie seien seine sexuellen Wünsche. Mit diesen Gedanken müsste sich das Opfer wieder als Mittäterin sehen oder auch als schuldig an dem quälenden Geschehen… Bevor der sexuelle Missbrauch erstmalig am Kind vollzogen wurde, wurde es häufig mit Hilfe zärtlicher Interaktion verführt zu vertrauen. Viele derart beschädigte Frauen empfinden auch zärtliche Berührung nicht mehr als angenehm. Viele mögen nicht einmal zärtlichen Kontakt mit den eigenen Kindern. Die Frauen, die sich immer weniger bis gar nicht mehr berühren lassen, leiden dann aber sehr unter der Scham, keine ‚richtige‛ Frau mehr zu sein. Die negative Selbstwahrnehmung wird von den enttäuschten Partnern vorwurfsvoll verstärkt. In ihrer hohen sozialen Verantwortlichkeit und Sensibilität leiden die Frauen auch daran, nicht mehr Geben zu können, was sie selbst und andere von ihnen erwarten. Sie erleben sich als tief versagend, schuldig und lebensunwert.“

(64) Mathias Hirsch, Psychoanalytische Therapie mit Opfern inzestuöser Gewalt. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis, Band 31, 1993, S. 142f.: „Ferenczi (1933) hat den Mechanismus der Introjektion der Schuldgefühle des Täters, die dieser so los wird und dem Opfer aufbürdet, beschrieben, auch die Identifikation mit dem Aggressor, also der zustimmenden Übernahme der Gewalt und der Ausbeutung als lebensnotwendigen Abwehrmechanismus des Kindes. Das Thema der Gewalt bestimmt mit Hilfe der Introjektion Erleben und Verhalten des Opfers, Sexualisierung und Selbstzerstörung werden im Wiederholungszwang agiert, ohne dass es zu einer Befreiung kommt. Schuldgefühle sind wiederum ein Moment starker Bindung an den Täter bzw. das traumatische System, gerade Inzestopfer sind vielfältig in Schuldgefühle verstrickt (vgl. Hirsch, im Druck), häufig auch im Sinne eines Dilemmas: Sowohl Partizipation am Inzest als auch der Wunsch nach Befreiung von ihm machen Schuldgefühle, dazu kommen solche aus der ödipalen Konstellation und der Unfähigkeit, die Verantwortung aus der aufgebürdeten, aber auch angenommenen Rollenumkehr zu erfüllen. Das größte Schuldgefühl entsteht im Zusammenhang mit der eigenen sexuellen Lust des Inzestopfers während des Missbrauchs und bei der Realisierung der eigenen aktiven Traumatisierungen Schwächeren gegenüber, z. B. aggressiven und gerade auch sexuellen Handlungen an jüngeren Geschwistern oder den eigenen Kindern. Beide Bereiche sind auch mit extremem Schamgefühl verbunden, was es schwer macht, sie in der Therapie zu bearbeiten. Dabei geht es nicht nur um irrationale Schuldgefühle, sondern um eine realistisches Schuldgefühl wegen der inneren und auch aktiven Komplizenschaft mit der Gewalt, die einen Anteil an realer Schuld bedeutet. Ich habe, Ferenczi (1933) erweiternd, zwischen der Introjektion der Gewalt und des Schuldgefühls des Täters und der Identifikation mit diesem Introjekt (Hirsch, im Druck) unterschieden. Ersteres würde irrationales ‚neurotisches‛ Schuldgefühl, letzteres aber reale Schuld und ihre Anerkennung durch ein realistisches Schuldgefühl, das mit Freud (1930) auch Schuldbewusstsein genannt werden kann, bedeuten.“ Hirsch zitiert hier aus dem bereits erwähnten Werk von Sándor Ferenczi, Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (1933). In: Sándor Ferenczi, Schriften zur Psychoanalyse II, Frankfurt am Main 1972, S. 303-313, außerdem aus seinem eigenen, damals noch im Druck befindlichen Aufsatz: Mathias Hirsch, Schuld und Schuldgefühl des weiblichen Inzestopfers – Introjektions- und Identifikationsschicksale traumatischer Gewalt (Zeitschrift psychoanal. Theorie Praxis), sowie aus Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, 1930.

(65) Judith Rothen, Die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse nach sexuellem Missbrauch. In: Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen, Villigster Forum: „Therapie, Interventionen u. Prävention bei sexuellem Missbrauch von Mädchen u. Jungen“, 24.-25.3.1990 in Haus Villigst, Schwerte 1991, S. 44.

(66) Marion Reinhold, Verhaltenstherapie bei sexuellen Gewalterfahrungen – eine Falldarstellung und ihr konzeptioneller Hintergrund. In: Praxis der Klinischen Verhaltensmedizin und Rehabilitation, Heft 14, 1991, S. 97-104.

(67) Mathias Hirsch, Psychoanalytische Therapie mit Opfern inzestuöser Gewalt. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie und Praxis, Band 31, 1993, S. 134f. Den Begriff der „Unschuldsvermutung“ übernimmt er von S. Amati, Die Rückgewinnung des Schamgefühls, Psyche 31, 1990, S. 731.

(68) Ebenda, S. 143: „Für die Therapie hat diese Unterscheidung eine große Bedeutung. Denn das irrationale Schuldgefühl, das seine Grundlage in der ‚Schuld‛ an der bloßen Existenz durch nicht genügendes Angenommensein hat, das sich verstärkt durch die Implantation und Introjektion des späteren Traumas und seine Folgen, das auch einem tief liegenden Strafbedürfnis entgegenkommt, ist Gegenstand der Analyse. D. h. es muss auf seine Ursprünge, auf die dahinterliegenden Defizite und Konflikte, die das Opfer nicht zu verantworten hat, zurückgeführt werden, mit dem Ziel, dass es von ihnen befreit wird.“

(69) Ebenda, S. 143f.: „Sorgfältig zu trennen sind die Schuldgefühle, die der realen Schuld aufgrund der Identifikation mit dem Introjekt und der daraus entstehenden Komplizenschaft entsprechen. Diese sollen nicht ‚weganalysiert‛, sondern im Gegenteil benannt und anerkannt werden, damit eine Trennung durch Scham, Reue und Trauer möglich wird… Bearbeitung der Schuldgefühle sowie die Anerkennung der eigenen Schuld… bedeutet nichts weniger als die Trennung vom – inzwischen internalisierten – traumatischen Objekt und System, was aber gleichbedeutend ist mit dem Gefühl des Verlusts der als lebensnotwendig empfundenen Bindung des Kleinkindes an die Familie.“

(70) Ebenda, S. 139: „In der erotisierten oder sexualisierten Übertragungsbeziehung kann das sexuelle Trauma der späteren Kindheit externalisiert erlebt werden; man kann die Reinszenierung der inzestuösen Beziehung, die ja auch in promiskuösen Kontakten und sado-masochistischen Beziehungen im Wiederholungszwang immer wieder hergestellt wird, einerseits als Reparationsversuch (vgl. Shengold 1989, 314), als Ausdruck der unbewussten Phantasie, der Vater werde sich eines Tages doch kindgerecht, nicht ausbeuterisch verhalten, dadurch auch ein alternatives mütterliches Objekt sein können, verstehen, andererseits ist sie das Ergebnis der Introjektion des sexuellen Traumas und des damit verbundenen Verschmolzen-Seins mit dem traumatischen Objekt“ (das Zitat von Shengold stammt aus dessen Buch Soul murder. The effects of childhood abuse and deprivation, New Haven, London 1989).

(71) Siehe Schwäche und Machtlosigkeit akzeptieren.

(72) Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 56: „ich schöpfte wieder Mut, als ich erkannte, welche große Überlebensfähigkeit und welche fundamentale Gesundheit hinter dem selbstzerstörerischen Verhalten der Frauen vorhanden war. Ich betrachte daher die Opfer als ‚Überlebende‛ und das destruktive Verhalten als Überlebensmechanismen. Diese Frauen haben mich in meiner grundlegenden Philosophie bestärkt, dass alle Kinder mit der gesunden Fähigkeit geboren werden, jedes traumatische Erlebnis mit möglichst geringem Schaden zu überstehen. Das, was sich mir als Krankheitsbild meiner Klientinnen darstellte, war für sie die beste Möglichkeit, die destruktive Situation zu meistern, in der sie hoffnungslos unterlegen waren.“ Vgl. auch Ursula Wirtz, Seelenmord. Inzest und Therapie, Zürich 1989, S. 147: „Akte der Selbstzerstörung können… die Funktion haben, sich endlich wieder zu spüren“, oder (S. 146) „sich selbst einen anderen Schmerz zuzufügen, der vom Genitalbereich ablenkt“.

(73) Udo Rauchfleisch, Psychoanalyse und theologische Ethik. Neue Impulse zum Dialog, Freiburg im Breisgau 1986, S. 113f., betont die Wichtigkeit der „Einsicht, dass ein Mensch, der zwar „durch das Verhalten der Eltern wesentlich geprägt worden ist… , …sich heute, als Erwachsener, nicht mehr auf eine, wie auch immer geartete, ‚Schuld‛ seiner Eltern berufen kann, sondern nun selbst dafür verantwortlich ist, wie er mit sich und seiner Umwelt umgeht. Die psychoanalytische Haltung entspricht insofern völlig der biblischen Forderung nach dem ‚Wuchern mit den anvertrauten Pfunden‛.“

(74) Anne Veltins, Helfen oder Beweisen? Über die Widersprüche im Umgang mit sexueller Gewalt an Kindern. In: Klaus Holzkamp u. a. (Hg.), Sexueller Missbrauch: Widersprüche eines öffentlichen Skandals, Forum Kritische Psychologie, Hamburg 1994, S. 75f.

(75) Joanne Carlson Brown, „Mit Rücksicht auf die Engel“. Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch. In: Concilium, 30. Jahrgang, Heft 2, 1994. Themenheft: Gewalt gegen Frauen, S. 112: „Verbrecher benutzen für ihre Handlungen oft religiöse Rechtfertigungen: Die Bibel sagt, du sollst nicht ehebrechen, also kann ich nicht zu einer Prostituierten gehen.“

(76) Ruud Bullens, Behandlungs von Inzesttätern. In: Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen, Villigster Forum: „Therapie, Interventionen u. Prävention bei sexuellem Missbrauch von Mädchen u. Jungen“, 24.-25.3.1990 in Haus Villigst, Schwerte 1991, S. 61: „Sexueller Missbrauch wird also vom Pfarrer sanktioniert, weil in der Auffassung des Pfarrers der Samenerguss besser in der Tochter stattfinden kann, als dass der Samen – wie bei Onan – verschwendet wird, so behauptet der Täter.“

(77) Marie M. Fortune, Fehltritte von Seelsorgern. Sexueller Missbrauch in der seelsorglichen Beziehung. In: Concilium, 30. Jahrgang, Heft 2, 1994. Themenheft: Gewalt gegen Frauen, S. 180. Auf eine besonders üble Argumentation, die innerhalb der christlichen Gruppierung der Katharer aufgekommen sei, stieß ich bei Le Roy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324, Frankfurt 1989: Jeder Sexualakt ist eine Sünde, also ist es egal, ob ich innerhalb der Ehe oder außerhalb sündige, mit einer erwachsenen Frau oder mit einem Kind.

(78) Monika Weber-Hornig, Was Sie tun können, wenn Ihr Kind sexuell missbraucht wurde. Informationen für Eltern, Sternschnuppe 1-90, Kinderschutzzentrum Mainz 1990, S. 8f.

(79) Rückübersetzung eines Zitats von Solschenizyn, das ich bei Petruska Clarkson, The Bystander Role. In: Transactional Analysis Journal, Volume 17, No. 3, 1987, S. 86, fand: „If only it were all so simple! If only there were evil people somewhere insidiously committing evil deeds, and it were necessary only to separate them from the rest of us and destroy them. But the line dividing good and evil cuts through the heart of every human being. And who is willing to destroy a piece of his own heart?“ Clarkson zitiert aus: A. Solzhenitsyn, The gulag archipelago, Glasgow 1974.

(80) Anne Veltins, Helfen oder Beweisen? Über die Widersprüche im Umgang mit sexueller Gewalt an Kindern. In: Klaus Holzkamp u. a. (Hg.), Sexueller Missbrauch: Widersprüche eines öffentlichen Skandals, Forum Kritische Psychologie, Hamburg 1994, S. 64.

(81) Petruska Clarkson, Ego State Dilemmas of Abused Children. In: Transactional Analysis Journal, Volume 18, No. 2, 1988, S. 89: „»As long as the introjects active within us remain unconscious, we will duplicate the same old pedagogical patterns, only in a different form« (Miller, 1981/1985, p. 152). These are the children who pass on the injurious or lethal parenting, apparently compelled by their script »to do unto others as had been done unto them.« These are the battering parents who were the battered children of their battering parents so frequently cited in the literature. These are the people who sexually abuse their children in a tragic repetition of the sexual abuse they suffered as children (Miller, 1980/1987).“ Clarkson zitiert hier aus zwei Büchern von Alice Miller: Thou shalt not be aware, London 1981/1985, und For your own good, London, 1980/1987.

(82) Klaus-Jürgen Bruder, Sexueller Missbrauch in der Familie. In: Ulrike Lehmkuhl (Hg.), Familie und Gesellschaftsstruktur, München 1994, S. 172: „der missbrauchende Erwachsene will nichts anderes als Anerkennung. Die Wünsche, die im sexuellen Missbrauch befriedigt werden sollen, sind nicht nur, nicht einmal primär sexuelle. Es ist zunächst und in erster Linie die Suche nach Zärtlichkeit, psychischer und körperlicher Nähe, nach Selbstbestätigung, Anerkennung und Macht (‚narzisstisches Defizit‛ [Hirsch 1987, 50]). Diese Wünsche werden im sexuellen Missbrauch auf das Kind gerichtet und zugleich in ein (genital)-sexuelles Gewand gekleidet. Im Erleben dieser Menschen bilden Sexualität und Zuneigung eine Einheit. Sexualität ist für sie die einzige Möglichkeit, jemandem nahe zu sein, der Ausdruck von Zuneigung ist ‚sexualisiert‛ (Justice u. Justice 1979, 63, 78; Hirsch 1987, 111). Dabei wird gerade dieses ‚genital-sexuelle Gewand‛ deshalb benützt, weil es zum (Selbst-)Bild von Männlichkeit gehört, und weil gleichzeitig dieser Mann diesem Selbstbild nicht entsprechen kann, nicht entsprechen zu können glaubt (Finkelhor 1986, 108f.; Hirsch 1987, 113, 115).“ 172f: „Sexueller Missbrauch ist deshalb auf seiten des missbrauchenden Mannes im Kern als der Versuch der kompensatorischen (Rück-)Gewinnung fehlender ‚Männlichkeit‛ zu verstehen. Er phantasiert das Kind als Partnerin, die Partnerin selbst aber als Mutter, als strafende Instanz, als sich Verweigernde, Demütigende, sich selbst dagegen dem Kind gegenüber als groß, stark, väterlich, partnerschaftlich, frei und mächtig. Auf diese Weise verleugnet er seine eigene tatsächliche Schwäche, er verleugnet seine Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Akzeptierung, nach ‚Kleinsein‛.“

(83) Ruud Bullens, Behandlungs von Inzesttätern. In: Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen, Villigster Forum: „Therapie, Interventionen u. Prävention bei sexuellem Missbrauch von Mädchen u. Jungen“, 24.-25.3.1990 in Haus Villigst, Schwerte 1991, S. 54f.

(84) Ebenda, S. 54: „Eine Gefahr, vor der man zu Recht warnt, ist, dass die Täter mehr Hilfe erhalten, auf Kosten der Hilfe für die Opfer. Wie bis heute festzustellen ist, geschieht dies in der Praxis noch nicht, und es stellt sich eher heraus, dass sich in den Niederlanden eine wichtige Spur von Hilfe an Tätern neben der Behandlung von Opfern und der des nicht betroffenen Partners entwickelt.“

(85) Äußerung im persönlichen Gespräch im Oktober 1995 in Leiden, wo er eine forensische Jugendwohlfahrtsstelle leitet und gemeinsam mit ca. siebzig anderen Therapeuten mit Opfern und Tätern sexuellen Missbrauchs arbeitet.

(86) Wilhelm Brinkmann, Sexuelle Gewalt gegen Kinder und wie der Deutsche Kinderschutzbund damit umgehen kann. In: Deutscher Kinderschutzbund, Bundesverband e. V., Sexuelle Gewalt gegen Kinder. Ursachen, Vorurteile, Sichtweisen, Hilfsangebote. Hannover 1987, S. 20: „es geht … nicht um die (falsch formulierte) Alternative, den Täter entweder zu bestrafen oder ihn laufen zu lassen, sondern um eine dritte Art des Bezugs, um einen verstehenden und den anderen trotz seiner gewaltsamen, auch trotz seiner sexuell ausbeutenden Handlungsweisen ernst nehmenden Zugang nämlich, um eine – in unterstützender Absicht unabdingbare – Entkoppelung von Schuld und Verantwortung und von Schuld und Sühne.“ Im gleichen Heft steht im Artikel von Katharina Abelmann-Vollmer, Gewalt in Familien: Eine Studie zur Inzestproblematik. Theoretische und praktische Überlegungen aus dem Kinderschutzzentrum Bremen, S. 40: „Es geht uns überhaupt nicht um Schuld (als einer juristisch-moralischen Kategorie), die zwar als ‚Gefühl‛ für die Betroffenen immer ein zentrales Merkmal des Problems ist, ansonsten aber keinen Erkenntniswert hat und allen Überlegungen zur Hilfe eher hinderlich ist.“

(87) Ursula Wirtz, Seelenmord. Inzest und Therapie, Zürich 1989, S. 152: „Ich glaube, dass es ein Trugschluss ist, anzunehmen, dass die Erfahrung der sexuellen Ausbeutung Sinn macht. Eine gewisse Skepsis scheint mir jener Auffassung gegenüber angebracht, nach der sich hinter allem Bestehenden ein Sinn verbirgt, den es nur zu finden gilt.“

(88) Ebenda, S. 153f.

(89) Ebenda, S. 155.

(90) Jochen Kuhn, Der missbrauchte Gott. Zur sexuellen Kindesmisshandlung in christlichen Familien. In: Reformierte Kirchenzeitung, Nr. 5, 1995, S. 227f.

(91) Rita Klemmayer, Wer schützt die Missbrauchten vor dem missbrauchten Gott derer, die sie missbrauchen? oder: Sexueller Missbrauch an Mädchen in christlichen Familien. In: Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen, Villigster Forum: „Therapie, Interventionen u. Prävention bei sexuellem Missbrauch von Mädchen u. Jungen“, 24.-25.3.1990 in Haus Villigst, Schwerte 1991, S. 156f.

(92) Felisa Elizondo, Strategien des Widerstands und Quellen der Heilung aus dem Christentum. In: Concilium, 30. Jahrgang, Heft 2, 1994. Themenheft: Gewalt gegen Frauen, S. 177: „Aber die Weisheit des Christentums leitet auch dazu an, die Schwachheit der Gewalttätigen zu begreifen, und dies ist weder Nachgiebigkeit gegenüber dem Bösen noch eine Missachtung der Opfer, sondern eine Einstellung, die sich aus jenem Realitätssinn ergibt, der sich den immer zu erwartenden Spannungen nicht entzieht und der die Erscheinung dieses Bösen in der Gegenwart nicht ausschließt. Für Klarsicht und Stärke hat es unter Frauen hervorragende Beispiele gegeben, wenn sie sich in einer großen Entscheidung dazu durchgerungen haben, das ‚kostbare Geschenk‛ der Vergebung zu machen. Dies ist keine Resignation angesichts dessen, was unerträglich scheinen muss, sondern die ‚Kraft der Schwachheit‛ und ein Weg, von Gewalt zu befreien, indem man sie mit dem Wunsch nach Gemeinschaft überwindet.“

(93) Petruska Clarkson, Ego State Dilemmas of Abused Children. In: Transactional Analysis Journal, Volume 18, No. 2, 1988, S. 92: „On a more subtle level, there is even in humanistic psychotherapies a tendency to side against the victim. As Alice Miller states: ‚Unfortunately, all the new and creative attempts, be they transactional analysis or Gestalt therapy, insist on making reconciliation with the parents the ultimate goal of therapy‛ “ (Clarkson zitiert hier aus Alice Miller: Thou shalt not be aware, London 1981/1985, S. 206). Auf die transaktionsanalytischen Therapiegruppen, die ich selber erlebt habe, trafen diese Vorwürfe allerdings nicht zu.

(94) Irene Johns, Gruppentherapie mit sexuell missbrauchten Mädchen. Eine Langzeitgruppe für sexuell misshandelte Kinder – auf dem Wege, wieder Kind zu sein. In: Gabriele Ramin (Hg.), Inzest und sexueller Missbrauch. Beratung u. Therapie. Ein Handbuch, Paderborn 1993, S. 229.

(95) Eva Hildebrand, Therapie erwachsener Frauen, die in ihrer Kindheit inzestuösen Vergehen ausgesetzt waren. In: Lone Backe, Nini Leick, Joav Merrick und Niels Michelsen (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern in Familien, Köln 1986, S. 65.

(96) Ebenda.

(97) Psalm 130, 4 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(98) Jenny Schneider-van Egten, Religion und Inzest. In: Das Baugerüst. Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der evangelischen Jugendarbeit und außerschulischen Bildung, Heft 4, 1992. Themenheft: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, S. 323.

(99) Annegret Böhmer, Prävention von sexuellem Missbrauch im Religionsunterricht. Bericht von einem Projekt Berliner Religionslehrerinnen. In: Der evangelische Erzieher, 45. Jahrgang, Heft 4, 1993, S. 445f.

(100) Elisabeth Schüssler Fiorenza, Gewalt gegen Frauen. In: Concilium, S. 102.

(101) Matthäusevangelium 18, 6 (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(102) Markusevangelium 3, 28-29: „Wahrlich, ich sage euch: Alle Sünden werden den Menschenkindern vergeben, auch die Lästerungen, wieviel sie auch lästern mögen; wer aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung in Ewigkeit, sondern ist ewiger Sünde schuldig.“ (Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart).

(103) Wenn zum Beispiel Wolfgang Lenk, Sexueller Missbrauch und Rheuma. Ein Therapiebericht. In: Hypnose und Kognition, Band 11, Heft 1 und 2, 1994, biblische Metaphern bemüht, um zu beschreiben, wie er in der Therapie von einer Haltung der „alttestamentarischen Vergeltung“ ausgeht, damit die von ihrem Vater missbrauchten Frau irgendwann auch lernen kann, „auf neutestamentarische Weise auch ihrem Vater vergeben“ (S. 130f.) und „Frieden mit ihrer Mutter [zu] schließen“, dann zielt diese Vergebung nicht unbedingt auf Versöhnung mit den realen Eltern, sondern darauf, „auf respektvolle Weise Abschied zu nehmen und zu vergeben“ (S. 137).

(104) Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt 1983, S. 286.

(105) Ursula Wirtz, Seelenmord. Inzest und Therapie, Zürich 1989, S. 213f.

(106) Keith Sherwood, Das „Geheimnis“ völlig verdrängt? Erwachsene, die als Kind missbraucht wurden. In: Psychologie heute, Jahrgang 18, Heft 4, 1991, S. 58.

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