Bild: Helmut Schütz

Versehrte Engel

Versehrte Engel – sind sie in der Lage, ihre himmlische Weihnachtsmusik zu spielen und sich schützend für Menschen einzusetzen, die von entsetzlichen Gefahren und vom Tod bedroht sind? Vielleicht können gerade sie am überzeugendsten das Lied vom Frieden auf Erden singen und sogar Menschen verschiedenen Glaubens dazu anleiten, ihre Vorurteile zu überprüfen und ernsthaft miteinander zu reden.

Ein ausgehöhlter Baumstamm auf dem Krippenweg Oberbessingen mit einem kleinen weihnachtlichen Krippenbild
Fast könnte man die Krippenfiguren im ausgehöhlten Baumstamm übersehen
Ein abgebrochener Baum, neben dem links unten Krippenfiguren zu erkennen sind, und im Hintergrund ein Baumstumpf mit weiteren Krippenfiguren darauf
Weihnachtliche Figuren auf dem Krippenweg Oberbessingen – eingebettet in die Natur

Im Wald bei Oberbessingen gibt es in der Adventszeit einen Krippenweg, der von vielen Menschen, groß und klein, liebevoll mit weihnachtlichen Figuren mitten in der Natur ausgestaltet wird. Bei einer gemeinsamen Wanderung mit einigen Männern aus unserem Gießener Fünfziger-Jahrgang habe ich dort viele schöne Eindrücke sammeln können. Am ansprechendsten fand ich dabei mehr als die weihnachtlichen Krippenfiguren selbst ihre Einbettung in die gewachsene Umgebung der Natur, zum Beispiel in ausgehöhlten Baumstämmen oder auf Baumstümpfen.

Und dann war da noch die Präsentation des Kindergartens Nieder- und Oberbessingen, die unter völligem Verzicht auf eine Darstellung der Heiligen Familie lediglich aus zwei Engelfiguren zusammen mit sieben bunten Sternen auf einem Holzbrett bestand. Und bei genauerer Betrachtung war festzustellen, dass es sich um schwer versehrte Engel handelte: dem Engel auf der rechten Seite fehlt der linke Unterschenkel, und beim linken Engel ist nicht nur der rechte Unterschenkel, sondern der ganze rechte Arm abgebrochen. Ist das Werk der Kindergartengruppe einem Akt von Vandalismus zum Opfer gefallen? Oder waren die Figuren bereits kaputt gewesen und wurden von den Kindern oder den sie anleitenden Erwachsenen bewusst zur Gestaltung des weihnachtlichen Bildes eingesetzt?

Zwei versehrte Engelfiguren mit fehlenden Armen und Beinen an einer Holzplatte, wie im Text beschrieben
Zwei Engel mit fehlenden Gliedmaßen in einer Darstellung des Kindergartens Nieder- und Oberbessingen

Dieses Bild ist mir noch einige Tage nachgegangen. Versehrte Engel – sind sie in der Lage, ihre himmlische Weihnachtsmusik zu spielen und sich schützend für Menschen einzusetzen, die von entsetzlichen Gefahren und vom Tod bedroht sind?

Menschen, die bei einem Unfall gerade noch mit dem Leben davongekommen sind, mögen ihrem Schutzengel danken. Aber wie viele Schutzengel sind völlig machtlos angesichts der Abgründe menschlicher Gefühllosigkeit oder Grausamkeit! Autokraten lassen soldatisches Menschenmaterial verheizen und scheuen nicht vor Kriegsverbrechen zurück. Fanatische Terroristen missbrauchen Kinder und Frauen als menschliche Schutzschilde für ihre Kommandozentralen, um zugleich ihre Feinde des Völkermords zu bezichtigen. Hinter verschlossenen Türen, bestens verborgen vor der Öffentlichkeit, geschehen entsetzliche Verbrechen an Kindern, die von Geburt an unsäglichen körperlichen Qualen und sexueller Gewalt ausgesetzt werden, weil es Menschen gibt, die auf diese abscheuliche Weise ihr sadistisches Vergnügen zu befriedigen suchen.

Kann man Weihnachten nur feiern, wenn man solche Gedanken total verdrängt? Ist das Lied, das die Engel in Bethlehem vom Frieden auf Erden singen, mehr als ein frommer Wunsch?
Beides stimmt nur dann, wenn man übersieht, dass die biblischen Bilder von der Geburt Jesu keineswegs die brutale Realität dieser Welt ausklammern. Der Evangelist Lukas weiß durchaus, wie der absolute Herrscher der römischen Weltordnung, der Gottkaiser Augustus, seine Untertanen mit einer Steuerschätzung auf der Landkarte seiner Eroberungen umherschob und dass unter Kaiser Tiberius der in Bethlehem geborene Befreier der Welt gekreuzigt wurde. Er wird auch von den Massenkreuzigungen jüdischer Menschen durch den römischen Feldherrn und späteren Kaiser Titus im Jüdischen Krieg gewusst haben, die im Jahr 70 stattfanden. Der Evangelist Matthäus wiederum traut dem von Rom eingesetzten König Herodes dem Großen einen Massenmord an Bethlehems Kindern zu, um das Jesuskind, kaum dass es geboren ist, zu beseitigen.

Wer wahrhaft christliche Weihnachten feiert, glaubt an einen seltsamen Gott. Wie die von den Kindern dargestellten Engel ist auch der Mensch, in dem sich seine Liebe verkörpert, kein äußerlich starker und siegreicher Kriegsheld, sondern er stirbt, schwer versehrt durch Dornen und Nägel, einen frühen Tod als zu Unrecht verurteilter Terrorist an einem der brutalsten Hinrichtungsinstrumente, das sich Menschen ausdenken konnten.

Gerade diese harte Wahrheit enthält auch die einzige Hoffnung für unsere von Hass und Gewalt gebeutelte Menschheit. Gott selbst steht niemals und nirgends auf der Seite der Sadisten und Gewalttäter. Er steht solidarisch an der Seite jedes Opfers von Gewalt. Er selbst leidet mit, wo Millionen von Menschen grausame Qualen angetan werden. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich mir das vorstellen soll: In seiner Liebe behalten die geopferten Kinder, Frauen und Männer ihre Würde, in seinem Gedächtnis bleiben sie aufbewahrt, gehen sie nicht verloren.

Zwei Engelfiguren unter einem liegenden Baumstamm
Menschen können einander zu Engeln werden

Diese Liebe kann niemand töten. Der von Gott gesandte Mensch, dessen Leben in einem Viehfuttertrog beginnt und am Kreuz endet, steht für eine Liebe, die stärker ist als jede menschliche Abscheulichkeit. Darum können vielleicht gerade die versehrten Engel am überzeugendsten das Lied vom Frieden auf Erden singen und sogar Menschen verschiedenen Glaubens dazu anleiten, ihre Vorurteile zu überprüfen und ernsthaft miteinander zu reden. Und wo einem Engel Arme oder Beine fehlen, da mag der eine oder die andere unter uns mit eigenen Armen und Beinen einspringen, um Menschen zur Seite zu stehen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind oder Begleitung brauchen, um schlimme Erfahrungen zu verarbeiten.

In diesem Sinne wünsche ich allen, die dies bis hierhin gelesen haben, einen besinnlichen Ausklang des alten Jahres mit gesegneten Feiertagen und getrosten Mut zum Übergang in das Neue Jahr!

Ihr und Euer Pfarrer i. R. Helmut Schütz

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