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Gott ruft „DEM Menschen“

In einer Andacht zur Tageslosung geht es darum, dass der Mensch sich fürchtet, als Gott IHM ruft – was ruft Gott ihm zu? Warum fürchtet er sich? Muss, ja kann er sich vor Gott verstecken, weil er ein Sünder ist?

Gott ruft DEM Menschen - Zeichnung von Adam und Eva, die sich vor Gott hinter einem Gebüsch verstecken
Adam und Eva verstecken sich vor Gott, als er IHNEN ruft (Bild: CCXpistiavosPixabay)

Andacht zur Sitzung des Kirchenvorstands der Evangelischen Paulusgemeinde Gießen am 12. Juni 2012

Liebe Kirchenvorstands-Mitglieder, liebe Frau Cölinski als Leiterin des Kindergartens,

zur Andacht beziehe ich mich auf die Losungstexte des heutigen Tages. Die Herrnhuter Brüdergemeine hat für heute ein Wort aus dem 1. Buch Mose – Genesis 3, 9-10, ausgelost:

Gott der HERR rief dem Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Er sprach: Ich hörte dich im Garten; da fürchtete ich mich.

Ich denke, Sie alle kennen die Geschichte um diesen Vers herum. Der Garten ist das Paradies, wir können auch sagen, die von Gott gut gewollte Schöpfung, in der der Mensch im Einklang mit seinem Schöpfer und mit seinem Mitmenschen leben sollte. Sichtbar wird dieses Gottvertrauen und diese urtümliche Vertrautheit der Menschen untereinander ursprünglich darin, dass die beiden füreinander geschaffenen Menschen nackt sind und weder Anlass haben, sich voreinander zu schämen, noch sich vor Gott zu fürchten. Jetzt aber verstecken sich die beiden, sie schämen sich nicht nur voreinander, sie fürchten sich auch vor Gott.

Das Besondere an diesem Bibelvers ist nun dreierlei. Er­stens: Gott ruft „DEM Menschen“. Diese Übersetzung findet sich nur in der Schlachter-Bibel von 1951, in allen gängigen Übersetzungen heißt es: Gott ruft „DEN Menschen“. Normalerweise rufen wir jemanden, mit „n“, Akkusativ. „Komm her!“, rufen wir, „du hast was ausgefressen!“ Akkusativ kann im Deutschen wörtlich auch mit „Anklagefall“ übersetzt werden. Wenn Gott „dem“ Menschen, mit „m“, also Dativ, ruft, dann würden wir normalerweise erwarten, dass noch etwas anderes folgt, nämlich eine Botschaft, die er dem Menschen zuruft. Unausgesprochen soll das vielleicht die Tageslosung ausdrücken: Gott zitiert den Menschen nicht nur auf die Anklagebank, er bleibt weiterhin der, der den Menschen geschaffen hat und ihn liebt, sich für ihn interessiert und ihn nicht fallen lässt. „Wo bist du?“, fragt Gott, als ob er das nicht genau wüsste; er interessiert sich für unsere Befindlichkeit, damit wir uns über uns selber klar werden.

Das zweite Besondere ist, dass der Mensch wirklich Gott hört. Das ist nicht selbstverständlich. Meistens klagen wir modernen Menschen, dass wir zwar hin und wieder beten, aber Gott hört uns ja doch nicht. Zumindest erhört er nicht alle Gebete, in denen wir unsere Wünsche äußern, so scheint es uns jedenfalls. Hier hört ein Mensch die Stimme Gottes, wir würden heute vielleicht sagen, die Stimme seines Gewissens meldet sich, und sogleich kriegt er es mit der Angst zu tun. Er versteckt sich, obwohl das vor Gott nichts nützt, und weil er sich ertappt fühlt, sagt er: „Ich fürchtete mich.“

Das ist nun das dritte Besondere an unserem Bibelvers. Sieht so wahre Ehrfurcht vor Gott aus? Dass wir spüren, Gott hat etwas von uns zu erwarten, und wir sind dem nicht gerecht geworden? Wir müssen uns in Grund und Boden schämen, weil wir nicht so sind, wie Gott es gerne von uns hätte? Wir Menschen heute haben es weitgehend verlernt, so zu denken. Wir klagen eher Gott an, dass er sich nicht bei uns meldet. Oder dass er zulässt, was andere Menschen Böses tun. Oder dass er uns angeblich alles verbieten will, was Spaß macht.

Dabei will Gott gar nicht, dass man sich vor ihm fürchtet. Er wünscht sich, dass wir ihm vertrauen und auf seine Worte hören. Er meint es ja gut mit uns und will uns nicht mit seinen Geboten schikanieren, sondern auf gute Wege führen. Frei sollen wir leben, Gerechtigkeit üben, Frieden halten miteinander. Darum ruft er uns und fragt uns: „Wo bist du? Wo versteckst du dich vor mir?“

Die christliche Kirche hat die Geschichte im 3. Kapitel des 1. Buchs Mose den Sündenfall genannt. Damit ist das gemeint, was jeder Mensch erfährt, wenn er sich in einem Misstrauensverhältnis zu Gott erlebt. Die Losung aus dem Neuen Testament nimmt die Botschaft aus dem Alten Te­stament auf; sie steht im Evangelium nach Markus 2, 17:

Jesus sprach: Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Jesus ist das Sprachrohr Gottes, besser gesagt, der Mund Gottes, das lebendige Wort von Gott. Er ruft uns an wie den ersten Menschen, geht ganz realistisch davon aus, dass wir Sünder sind, dass wir also unsere Schwierigkeiten mit dem Gottvertrauen und manchmal auch mit den Geboten Gottes haben, dass uns oft die eigenen Interessen wichtiger sind als die Notlagen der anderen. Und auch er will nicht, dass wir uns vor ihm und vor Gott fürchten, sondern dass wir auf Gott vertrauen, uns von ihm leiten lassen. Er traut uns zu, dass wir uns an unserem Platz für Gerechtigkeit einsetzen, dafür, dass Menschen miteinander im Einklang leben können zum Beispiel in unserem Stadtteil, in unserem Kinder- und Familienzentrum. Auf unserer Tagesordnung stehen heute wieder einige Punkte, wo es darum geht, dass unsere Kita personell gut ausgestattet ist, dass das Jugendzentrum Holzwurm seine Arbeit tun kann, und wie wir es mit der interreligiösen Arbeit in Gießen halten.

Großer Gott, hilf uns, dass wir unsere Beratungen heute Abend in deinem Geist führen. Mach uns bewusst, dass wir oft so leben, als würdest du uns gar nicht wahrnehmen, und hilf uns, auf deine Stimme zu hören, die uns ruft, damit wir auf Wegen der Gerechtigkeit und des Friedens gehen.

Lied 640: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn

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