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Kain und Abel im Koran

Der Koran lässt im Gegensatz zur Bibel nicht nur den Totschläger Kain, sondern auch sein Opfer Abel zu Wort kommen, und zwar nicht als einen Verfechter gerechter Vergeltung, sondern der Feindesliebe.

Abel kündigt seinem Bruder Kain gegenüber den Verzicht auf Rache an - das Bild zeigt den Schattenriss zweier streitender Männer
Abel ist im Koran der Verfechter einer Streitkultur der Feindesliebe (Bild: OpenClipart-VectorsPixabay)

Andacht zur Sitzung des Kirchenvorstands der Evangelischen Paulusgemeinde Gießen am 11. September 2012

Liebe KV-Mitglieder,

heute vor elf Jahren war auch ein Dienstag, und ich hatte gerade ein paar Tage Urlaub. Im Fernsehen waren auf einmal die unfassbaren Bilder von den Attentaten auf das World Trade Center zu sehen. Ich glaube, jeden von uns haben diese Bilder erschüttert. Wir haben gespürt, dass es Bedrohungen durch fanatisch geprägte Menschen gibt, denen auch starke Nationen nicht in jedem Fall etwas entgegensetzen können.

Aber was kann dem Terror der Fanatiker wirklich entgegenwirken? Der damalige Bundespräsident Rau bezog sich auf die Bibel, als er sagte: „Der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg ist eine gerechte internationale Ordnung. Die Frucht der Gerechtigkeit wird der Friede sein“. Wir in der Paulusgemeinde haben vor allem in unserem Kinder- und Familienzentrum längst gemerkt, dass wir eine multikulturelle und multireligiöse Einrichtung sind, in der wir große Chancen haben, das gemeinsame Leben trotz unterschiedlicher Wurzeln, unterschiedlicher Herkunftskulturen und unterschiedlich praktizierten Glaubens einzuüben. Die wichtigste Einsicht aus meinem Studienurlaub war, dass Menschen verschiedener Religion einander durchaus mit Respekt begegnen können, auch wenn sie vieles von der Religion des anderen als fremd empfinden. Nur wo mit Rechthaberei und Fanatismus behauptet wird, dass ausschließlich die eigene Religion zum Heil führt und Andersgläubige unter Druck gesetzt werden, stößt man an die Grenzen des Dialogs mit Menschen anderer Religion.

In meiner Andacht möchte ich auf einen Gedanken aus meiner Predigt vom vorletzten Sonntag zurückkommen. Da habe ich über Kain und Abel gepredigt, und ich habe mir erlaubt, einmal im Koran nachzulesen, was er über Kain und Abel zu sagen weiß. Da heißt es in Sure 5, 27-28:

Trag ihnen die Geschichte der zwei Söhne Adams wahrheitsgemäß vor! Als sie ein Opfer darbrachten, da wurde es von dem einen angenommen, von dem anderen nicht. Der sagte: „Ich töte dich gewiss.“ Der andere sagte: „Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an. Selbst wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, ich strecke meine Hand nicht nach dir aus, um dich zu töten. Ich fürchte Gott, den Herrn aller Welt.

Interessant sind drei Punkte:

Erstens: Der Koran setzt voraus, dass die Zuhörer die biblische Geschichte von Kain und Abel kennen. Es ist, als ob der Koran lediglich noch einen besonderen Aspekt hervorheben wollte. Und dieser Aspekt besteht darin, dass der Koran etwas nachholt, was die Bibel nicht tut. Er lässt Abel zu Wort kommen. In der Bibel ist es nur Abels Blut, das zum Himmel schreit. Im Neuen Testament wird ergänzt, dass Gott die stumme Stimme Abels mit seinem Gottvertrauen hört und würdigt. Der Koran führt aus, wie Abel mit seinem Bruder redet.

Zweitens ist interessant, dass Abel seinem Bruder zu erklären versucht, warum Gott sein Opfer nicht angenommen hat. Die Situation ist ja die, dass Kain von Gott enttäuscht ist. Der hat sein Opfer nicht angenommen. Und nun hat er vor, seine Rachegefühle an seinem Bruder auszulassen. Abel entgegnet mit der Klarstellung, dass Kain weder gegen Gott noch gegen Abel irgendein Recht hat, Rache auszuüben. Genau diese ungezügelten Rachegefühle zeigen ja, dass Kain nicht im Gottvertrauen lebt und nicht wirklich aus Dankbarkeit ein Opfer für Gott dargebracht hat, und Abel redet seinem Bruder ins Gewissen: Wieso wunderst du dich eigentlich, dass Gott dein Opfer nicht angenommen hat, wenn du so mit Gott umgehst?

Und drittens finde ich besonders interessant, was Abel im Koran dann zu seinem Bruder sagt: „Selbst wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, ich strecke meine Hand nicht nach dir aus, um dich zu töten.“ Diesen Satz hätte auch Jesus sagen können. Er erinnert an die christliche Feindesliebe.

Von diesen Worten Abels her entwickelt der Erlanger islamische Theologe Harry Harun Behr theologische Gedanken, die in folgende Richtung gehen: „Verzicht auf Vergeltung“, „Absage an die Todesstrafe“, „Ächtung häuslicher Gewalt“. Das erscheint ungewöhnlich für traditionelles islamisches Denken, ist aber sehr bedeutsam für den Dialog zwischen Christen und Muslimen.

Im Zusammenhang mit der Erinnerung an Kain und Abel zitiert der Koran in Sure 5, 32 noch einen Satz, den manche vielleicht aus der jüdischen Überlieferung kennen. Da heißt es:

Deshalb haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben: Wer einer jemanden tötet, ohne dass es Vergeltung wäre für einen anderen oder für Unheil auf der Erde, dann ist das, als ob er die Menschen allesamt getötet hätte. Wenn aber einer jemandem Leben schenkt, dann ist das, als ob er den Menschen allesamt Leben geschenkt hätte.

Diese Wahrheit gilt für Juden, Christen, Muslime gleichermaßen: Wenn wir einem Menschen so beistehen, dass wir sein Leben schützen, ihn vor Gefahren und Rufmord bewahren, da retten wir die ganze Menschheit. Wo wir Menschen abschreiben, niedermachen, ihnen Entwicklungschancen vorenthalten, die wir ihnen geben könnten, da töten wir die ganze Menschheit. Das erinnert auch an Jesu Wort: „Wer den geringsten unter meinen Geschwistern hilft, der hilft mir.“

Zum Schluss möchte ich noch ein Lied von Kain und Abel singen, nach der Melodie „I Shot The Sheriff“ von Bob Marley:

1) „Wo ist dein Bruder?“ „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ „Kain, wo ist Abel?“ „Kann ein Mensch für mich so wichtig sein?“ Wenn er dir ganz egal ist, und er ist für dich wie tot, verletzt ihn in Gedanken und Taten, bringst du dich und ihn in große Not, du wirst schuldig an seinem Tod.

2) „Wo ist dein Bruder?“ So spricht Gott und schaut bekümmert drein. „Kain, wo ist Abel?“ „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Abel schafft einfach alles, ist glücklich und lebt nicht schlecht. Doch deine Mühe, Kain, scheint, vergeblich, so als ob dich Gott nicht akzeptiert. Warum ist Gott so ungerecht?

3) Finster ergrimmst du. Und die Sünde lauert vor der Tür. Hast kein Vertrauen. Voll Verzweiflung bist du und voll Gier. Tötest Abel, den Bruder, und hast keine Ruhe mehr. Das Blut des Bruders schreit, und du hörst es. Doch zum Leben bist verurteilt du. Die Verantwortung drückt dich schwer.

4) Wo ist mein Bruder? Will ich meines Bruders Hüter sein? Alle sind Abel. Und auch alle sind ein bißchen Kain. Kann ich streiten mit Worten und sagen, was mich verletzt? Ich glaube und ich kenne den Zweifel. Und ich wünsche, Gott nimmt mich so an. Ja, mein Gott, halte du mich fest!

5) Gott ist der Vater, liebt uns Menschen alle, groß und klein. Wir sind Geschwister, sollen füreinander Hüter sein.

6) Alle sind Abel. Und auch alle sind ein bißchen Kain. Wo ist mein Bruder? Ich will meines Bruders Hüter sein.

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