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Christi Blut schreit: „Barmherzigkeit!“

Weder andere Menschen noch wir selbst haben ein Recht, uns zu verdammen, weil Gott selber auf dieses Recht verzichtet. Denn er hört auf seinen Sohn, dessen Blut zum Himmel schreit, wie vor Urzeiten Abels Blut zum Himmel schrie, als sein Bruder Kain ihn getötet hatte. Damals sollte die Untat des Kain nicht verborgen bleiben, aber nicht mit Blut gerächt werden.

Jesu ans Kreuz genagelte Hand, aus der Blut austritt, anscheinend aus einer Wunde in Form eines Dreiecks.
Schreit Christi Blut zum Himmel wie Abels Blut? (Bild: José Manuel de LaáPixabay)

#gedankeTurmgebet am Mittwoch, 3. September 2014, um 18.00 Uhr im Stadtkirchenturm Gießen

Herzlich willkommen beim Turmgebet im Stadtkirchenturm Gießen!

Wir sind versammelt im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Wir hören die fortlaufende Bibellese für den heutigen Tag aus dem Buch der Weisheit 12, 11b-22. Es ist ein Gebet zu dem gerechten Gott Israels:

11 So hast du auch nicht darum, weil du jemand gescheut hättest, ihre Sünden unbestraft gelassen.

12 Denn wer darf zu dir sagen: »Was tust du?« Oder wer kann deinem Gericht widerstehen? Oder wer darf dich beschuldigen wegen des Untergangs von Völkern, die du geschaffen hast? Oder wer darf kommen und vor dich hintreten als Verteidiger für ungerechte Menschen?

13 Denn es gibt außer dir keinen Gott, der für alle sorgte, so dass du beweisen müsstest, dass du nicht ungerecht richtest.

14 Es kann dir auch weder ein König noch ein Tyrann die Stirn bieten um derer willen, die du bestrafst.

15 Weil du aber gerecht bist, so regierst du alle Dinge gerecht und siehst es als deiner Majestät nicht würdig an, jemand zu verdammen, der die Strafe nicht verdient hat.

16 Denn deine Stärke ist der Ursprung der Gerechtigkeit, und weil du über alle Herr bist, so verschonst du auch alle.

17 Denn an denen, die an die Vollkommenheit deiner Macht nicht glauben, beweist du deine Stärke, und an denen, die davon wissen, bestrafst du ihren Übermut.

18 Du aber, der du Herr bist über die Stärke, richtest mit Milde und regierst uns mit viel Verschonen; denn du vermagst alles, wenn du willst.

19 Dein Volk aber lehrst du durch solche Werke, dass der Gerechte menschenfreundlich sein soll, und deine Söhne lässt du voll guter Zuversicht sein, dass du ihnen für die Sünden Gelegenheit zur Buße gibst.

20 Denn wenn du die Feinde deiner Kinder und die, die des Todes schuldig waren, mit solcher Vorsicht und Schonung bestraft und ihnen Zeit und Gelegenheit gegeben hast, von ihrer Schlechtigkeit zu lassen:

21 mit wieviel größerer Sorgfalt richtest du deine Söhne, deren Vätern du Eid und Bund voll guter Verheißungen gegeben hast!

22 Während du also uns erziehst, plagst du unsre Feinde tausendfach, damit wir deine Güte bedenken, wenn wir richten, und auf deine Barmherzigkeit trauen, wenn wir gerichtet werden.

Gerechter Gott, mach uns bewusst, dass du jeden Menschen nach dem Bild deiner eigenen Liebe und Gerechtigkeit geschaffen hast. Uns allen hast du die Menschenwürde gegeben, die wir nicht verlieren können, was auch immer wir tun oder lassen. Wir rufen zu dir (EG 178.11):

Herr, erbarme dich, erbarme dich. Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich.

Du Gott der Barmherzigkeit, wir könnten dankbar leben. Doch oft sind wir unzufrieden: mit anderen Menschen, mit den Umständen, unter den wir leben, mit uns selbst. Hilf uns, dass wir uns von deiner Barmherzigkeit eine Scheibe abschneiden. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich, erbarme dich. Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich.

Du Gott der Gerechtigkeit, manchmal sind wir zufrieden, weil es uns gut geht, aber wir vergessen andere, die es schwer haben. Hilf uns, auf Wegen der Gerechtigkeit zu gehen. Wir rufen zu dir:

Herr, erbarme dich, erbarme dich. Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich.

In der Stille besinnen wir uns auf das, womit Gott uns beschenkt.

Stille

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! (Psalm 103, 2)

Gute Gedanken möchte ich Ihnen heute aus einem Lied im Evangelischen Gesangbuch mitgeben. Es ist das Lied 354, das in überschwänglichen Worten die Barmherzigkeit Gottes preist. Ich lese die Strophen und sage meine Gedanken dazu, und dann singen wir die einzelnen Verse.

1. Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker ewig hält;
wo anders als in Jesu Wunden? Da lag er vor der Zeit der Welt,
der Grund, der unbeweglich steht, wenn Erd und Himmel untergeht.

Diese Liedstrophe klingt verrückt. Jesu Wunden sollen ein fester Grund sein, in dem sich unser Lebensanker festmachen kann? Diese Wunden soll es schon gegeben haben, als noch keine Schöpfung war, und sie sollen in alle Ewigkeit bestehen bleiben?

Das ist natürlich bildliche Rede. Gemeint ist Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen. Die ist so groß, dass sich der Sohn Gottes, der diese Liebe auf der Erde verkörpert, sich sogar Wunden schlagen lässt, ohne sich dafür blutig zu rächen. Diese Feindesliebe Gottes zu seinen Geschöpfen besteht ewig, weil sie mit dem ewigen Wesen Gottes selber untrennbar verbunden ist.

2. Es ist das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt;
es sind die offnen Liebesarme des, der sich zu den Sündern neigt,
dem allemal das Herze bricht, wir kommen oder kommen nicht.

Gottes ewiges Erbarmen ist für unseren Verstand unfassbar. Mit seinen Liebesarmen nimmt er uns fehlerhafte Menschen trotzdem in den Arm, tröstet und ermutigt uns. Gott bricht das Herz, er hat Liebeskummer mit uns Menschen, aber er gibt uns nicht auf. Er wünscht sich, dass wir zu ihm, zu seiner Liebe, umkehren und auf sie mit Liebe antworten; aber er lässt uns nicht einfach fallen, wenn wir nicht zu ihm kommen. Er wartet weiter mit unendlicher Geduld auf uns, er hört nicht auf, uns zuzutrauen, ein Leben im Vertrauen zu leben.

3. Wir sollen nicht verloren werden, Gott will, uns soll geholfen sein;
deswegen kam der Sohn auf Erden und nahm hernach den Himmel ein,
deswegen klopft er für und für so stark an unsers Herzens Tür.

Gott will nicht unser Verderben, er will uns helfen. Darum wählt er den Menschen Jesus aus, um selber unter den Menschen seine eigene Liebe zu leben, um sozusagen auszuprobieren, ob das überhaupt geht.

Scheinbar scheitert er, scheinbar ermordet man die Liebe Gottes am Kreuz, aber sie lässt sich nicht töten, sie überwindet den Tod, sie steht auf aus dem Grab. Indem Jesus auferweckt und in den Himmel Gottes aufgenommen wird, erobert Jesus mit seiner Liebe für uns Menschen sogar den Himmel und errettet uns aus jeder Hölle, die wir Menschen verdienen oder einander bereiten.

4. O Abgrund, welcher alle Sünden durch Christi Tod verschlungen hat!
Das heißt die Wunde recht verbinden, da findet kein Verdammen statt,
weil Christi Blut beständig schreit: Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!

Die Liebe Gottes, die vollkommen in Jesus gelebt hat, ist wie ein Abgrund. Aber er ist nicht dunkel, sondern voller Licht, so dass er alle Sünden, alle Schlechtigkeit der Menschen, all unsere Trennung von Gott in sich aufnehmen und überwinden kann. So werden die Wunden unserer Seele verbunden, die wir uns selber schlagen, indem wir nicht auf Liebe vertrauen, indem wir uns selber oder anderen Menschen schaden.

Weder andere Menschen noch wir selbst haben ein Recht, uns zu verdammen, weil Gott selber auf dieses Recht verzichtet. Denn er hört auf seinen Sohn, dessen Blut zum Himmel schreit, wie vor Urzeiten Abels Blut zum Himmel schrie, als sein Bruder Kain ihn getötet hatte. Damals sollte die Untat des Kain nicht verborgen bleiben, und schon damals musste Kain nicht mit Blut gerächt werden, nicht die Todesstrafe erleiden, Gott verurteilte ihn zu einem Leben mit seiner Schuld.

Und mit dem kleinen Bruder von Kain und Abel, mit Seth, dem Setzling, setzte er ein Zeichen, dass die Welt doch eine Chance hat, im Gottvertrauen, in der Liebe, im Frieden zu leben. Mit Jesus setzt Gott diese Geschichte fort, er hört auf das himmelschreiende Blut Christi, das nicht um Rache, sondern um sein Erbarmen bittet.

5. Darein will ich mich gläubig senken, dem will ich mich getrost vertraun
und, wenn mich meine Sünden kränken, nur bald nach Gottes Herzen schaun;
da findet sich zu aller Zeit unendliche Barmherzigkeit.

In dieser Strophe werden Handlungsanweisungen gegeben. Zunächst wirken sie sehr passiv: Wir sollen uns in die Liebe Gottes versenken, mit der wir beschenkt werden, wir dürfen getrost auf Gott vertrauen, wir sollen hinschauen, welche unendliche Barmherzigkeit im Herzen Gottes zu finden ist.

Aber nur scheinbar ist diese Haltung passiv. Denn Barmherzigkeit ist ja eine Haltung, die das ganze Leben verändert, auch den Umgang mit sich selbst und anderen Menschen. Wer selber nicht verdammt ist, muss auch andere nicht verdammen. Wer mit seinen Fehlern geliebt ist, der kann die Fehler überwinden und neu anfangen, und wenn ihm dazu Kräfte fehlen, kann er um die notwendige Hilfe bitten.

6. Wird alles andre weggerissen, was Seel und Leib erquicken kann,
darf ich von keinem Troste wissen und scheine völlig ausgetan,
ist die Errettung noch so weit: mir bleibet doch Barmherzigkeit.

Soll das wirklich wahr sein? Selbst in absoluter Verzweiflung, Trostlosigkeit und Hilflosigkeit bleibt uns doch Gottes Barmherzigkeit als Rettungsanker erhalten?

Eine Formulierung spricht mich gerade in ihrer Fremdheit sehr an: wenn es mir vorkommt, als sei ich „völlig ausgetan“, bleibe ich trotzdem in Gottes Liebe getragen und geborgen. „Ausgetan“, das erinnert an das moderne „Burn-out“, an ein Ausbrennen aller Kräfte bis zu den letzten Reserven. Wer „ausgetan“ ist, kann nichts mehr tun, weil er sich vollkommen ver-aus-gabt hat. Wir können „völlig ausgetan“ sein, zu keinen Taten mehr fähig, auf die wir so gerne stolz sein würden. Doch durch Gottes Barmherzigkeit gehen wir trotzdem nicht verloren, auch wenn wir völlig kraftlos geworden sind.

Die Lösung ist: anzuerkennen, dass unsere alten Kräfte, unser alter Stolz versagt haben. Das tut weh. Aber wir können es wagen, weil wir auf Barmherzigkeit hoffen dürfen. Neue Kräfte werden frei, wenn wir nicht mehr so stolz sein müssen, alles ohne Hilfe ganz allein schaffen zu wollen. Es mögen nur kleine Kräfte sein, aber sie sind wie Diamanten, die auch klein, aber viel wertvoller sind als andere Bausteine oder als Holz oder Stroh.

7. Bei diesem Grunde will ich bleiben, solange mich die Erde trägt;
das will ich denken, tun und treiben, solange sich ein Glied bewegt;
so sing ich einstens höchst erfreut: o Abgrund der Barmherzigkeit!

Unser Lied endet mit der Beschreibung eines sehr aktiven Lebens, das sich auf Gottes Liebe gründet: unser Denken und Danken, unser Tun und Treiben finden ihren Grund und ihr Ziel im wundervollen Abgrund der Barmherzigkeit. Amen.

Barmherziger Gott, du weißt, was wir denken, du kriegst mit, wenn wir verzweifeln und keinen Ausweg mehr wissen. Du wirst uns erhören, du hörst auch unsere stummen, unausgesprochenen Gebete, sie sind wie Schreie in deinen Ohren. Barmherziger Gott, lass uns wieder Halt finden, wenn wir die Orientierung im Leben verloren haben. Lass uns Hilfe suchen und finden, wenn wir resigniert oder zu stolz waren, um Hilfe zu bitten. Barmherziger Gott, lass uns neue Kräfte finden, wenn wir alle Kräfte verausgabt haben und wir uns völlig ausgetan fühlen. Schenke uns eine gesunde Selbstliebe, damit wir uns zutrauen, was du mit uns vorhast.

In der Stille bringen wir vor dich, was uns persönlich bewegt:

Stille und Vater unser

Es segne dich Gott, der Vater. Er sei der Raum, in dem du lebst. Es segne dich Jesus Christus. Er sei der Weg, auf dem du gehst. Es segne dich der Heilige Geist. Er sei das Licht, das dich zur Wahrheit führt. Amen.

EG 483: Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden

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