Bild: Pixabay

Erlösung der Gefangenen zur Liebe

Trauerfeier für eine junge Frau, die von Kindheit an wegen einer Behinderung dauerhafte Betreuung von ihrer Mutter bzw. in einer Heimeinrichtung brauchte. Sie wusste, worauf es ankam: wer‘s gut mit ihr gemeint hat, wer sie lieb gehabt hat.

Erlösung der Gefangenen zur Liebe: Eine Gestalt im Gegenlicht mit nach oben zur Sonne hin ausgestreckten Händen, zwischen denen eine Kette zerbrochen worden ist.
Wie werden Menschen erlöst aus den Gefangenschaften ihrer Behinderung oder ihres Egoismus? (Bild: Elias Sch.Pixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35, 10)

Wir beten mit Worten aus Psalm 126:

1 Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.

2 Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan!

3 Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich.

4 HERR, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland.

5 Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.

6 Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

Wir hören das Wort der Schrift aus dem Evangelium nach Lukas 4:

16 Und [Jesus] kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen.

17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,

19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«

20 Und als er das Buch zutat, gab er‘s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.

21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Liebe Familie S., liebe Trauergemeinde!

Wir sind hier versammelt, um von Frau S. Abschied zu nehmen, die plötzlich und unerwartet im Alter von [über 40] Jahren gestorben ist. Seit dem Tod ihrer Mutter lebte sie woanders in einem Heim, so dass ich sie nicht persönlich kannte; aber viele bei uns im Ort erinnern sich an sie, Verwandte von ihr haben auch in den letzten Jahren Kontakt zu ihr gehalten.

Fraus S. war anders als andere, weil sie, wie wir es nennen, behindert war. Sie erkrankte als Kleinkind, mitten im Weltkrieg, und konnte keine Schul- oder Berufsausbildung aufnehmen. So blieb sie bei der Mutter, bis diese starb, die am vertrautesten mit ihr war und mit ihr umzugehen verstand, wenn sie Anfälle bekam. Dann fand sie eine zweite Heimat in der Gemeinschaft des Heimes, nach der sie sich bei Verwandtenbesuchen bald zurücksehnte. Das Heim und die Arbeit in einer beschützenden Werkstätte füllten sie aus, wurden ihr Lebensinhalt.

Während meines Studiums in Bethel lebte und arbeitete ich bei Menschen, die zum Teil die gleiche Krankheit wie Frau S. hatten. Dort steht der erste Vers aus dem Psalmgebet von vorhin über dem Triumphbogen der Zionskirche (Psalm 126, 1):

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.

Jedem, der dort sitzt, gilt dieser Vers, den Theologiestudenten und dem Arzt, dem seelisch Kranken und dem Pfleger, dem Krampfkranken und jedem anderen Besucher des Gottesdienstes. Das Wort, des ursprünglich auf die Gefangenschaft der Israeliten in der babylonischen Verbannung gemünzt war, wird durch Jesus auf die Erlösung von jeder Art von Gefangenschaft ausgeweitet. Von ihm hören wir (Lukas 4, 18):

[Gott] hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, … und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen.

Diese Worte der Bibel haben einen Zukunftsaspekt: sie verweisen auf eine Wirklichkeit, die uns jetzt nicht zugänglich ist und vielen unvorstellbar – auf die Zukunft des Reiches Gottes, eine völlig andere Welt, in der wir sein werden „wie die Träumenden.“ Wir können uns jetzt schon davon Träume machen, aber da wir an die menschliche Vorstellungskraft gebunden bleiben, ermessen wir nie vollkommen, so lange wir in diesem Leben leben, was AUCH noch sein kann.

Die Worte der Bibel von der Erlösung aus Gefangenschaft meinen eher noch mehr, sprechen auch schon von der Gegenwart. Durch Hoffnung auf Gottes Zukunft verwandelt sich nämlich auch schon die Gegenwart. Wer nur auf des Äußere sieht, wird das nicht erkennen. Wer Menschen einschätzt nach ihrer Stärke, nach ihrem Einfluss, nach ihrer Intelligenz, nach ihrem Nutzen für die Gesellschaft, der wird nicht begreifen, dass für Jesus die Schwachen wichtiger sind als die Starken.

Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Das sagt Gott zu Paulus (2. Korinther 12, 9), so haben wir es am vergangenen Sonntag in der Predigt gehört. Das bedeutet: Kranke, Behinderte, Arme und Schwache gehören nicht nur auch zu Gott und zur Gemeinde, sie gehören vielmehr ganz besonders dazu und können sogar zum Vorbild für die Gesunden, scheinbar Nicht-Behinderten, Reichen und Starken werden.

Vorbild im Wesentlichen, worauf es ankommt. Frau S. hat das gelebt. Wenn sie etwas geschenkt bekam: sie hat es von Herzen gern weitergeschenkt, um jemandem anderen eine Freude zu machen. Sie wusste, wer‘s gut mit ihr gemeint hat, wer sie lieb gehabt hat. Wenn wir alle darauf mehr achten würden: wer uns wirklich lieb hat, wer es gut mit uns meint, dann sähe unser Leben vielleicht auch anders aus. Denn diese Liebe können wir uns nicht erkaufen, nicht verdienen, nicht erwerben, indem wir Leistung bringen oder es irgendjemandem recht zu machen versuchen. Diese Zuwendung ist ein echtes Geschenk, das uns erst wirklich innerlich reich macht – nicht reicher und nicht weniger reich, als es in anderer Weise Frau S. auch war.

Als der Leiter der Betheler Anstalten, Pastor Fritz von Bodelschwingh, in der Zeit des Dritten Reichs sich gegen die Tötung ven Behinderten einsetzte, wurde ihm gesagt: Was ist, wenn es nicht mehr möglich ist, eine menschliche Gemeinschaft mit einem Kranken herzustellen? Seine Antwort lautete: „Gemeinschaftsfähigkeit ist zweiseitig bedingt: Es kommt darauf an, ob ICH auch gemeinschaftsfähig für den anderen bin. Mir ist noch niemand begegnet, der nicht gemeinschaftsfähig wäre.“ Er hat an die vielen Erfahrungen gedacht, wie gerade schwer kranke Patienten ihre Freude und ihren Dank ausdrücken können, manchmal nur durch einen Blick oder ein Heben der Arme, oft auch durch dem Außenstehenden unverständlich erscheinende Laute oder durch ein offenes Lachen. Umgekehrt hat er daran gedacht: Wie können die gesunden Menschen, die immer mehr nur mit dem Kopf und immer weniger mit dem Herzen denken, davor bewahrt werden, ins Unmenschliche abzusinken? Es gibt weitverbreitete Behinderungen, die man nur deshalb nicht so nennt, weil sie ZU weit verbreitet sind und zum Teil in einen Bereich gehören, den man als normal ansieht: Zum Beispiel die Unfähigkeit, mit einem Leidenden mitzuleiden, ihm die Hilfe zu geben, die er braucht. Zum Beispiel die Unfähigkeit, eigenen Problemen, eigenem Schmerz, eine heilsam schlaflose Nacht auszuhalten, statt sie durch Tabletten oder andere vermeintliche Auswege wegzuschieben. Zum Beispiel die steigende Unfähigkeit, die natürlichsten und menschlichsten Dinge zu meistern, wie ein rechtes Familienleben oder eine rechte Gestaltung der Freizeit.

Gefangen sind nicht nur manche, denen wir ansehen und anmerken, dass sie in ihren Lebensäußerungen behindert sind, sondern gefangen sind wir alle in Stricken des Egoismus, der Trägheit, des Hochmuts oder der Vorurteile. Glücklich können wir sein, wenn wir das erkennen; denn wir erkennen es in dem gleichen Augenblick, wenn uns klar wird, dass „der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.“ Erlöst zur Gemeinschaftsfähigkeit und zur Liebe, erlöst zum Vertrauen auf Gott und zur Hoffnung sollen wir nicht erst in einer fernen, unvorstellbaren Zukunft werden, dazu können wir schon in diesem Leben erlöst werden.

Was davon am Leben von Frau S. sichtbar wurde, kann uns dankbar machen und kann inmitten der Trauer in unsere Träume eingehen – Träume von einem Miteinanderleben, in dem der Starke mit dem Schwachen geht, in dem Liebe mehr zählt als Einfluss und in dem niemand von sich oder einem anderen sagt, sein Leben habe keinen Sinn mehr. Amen.

Herr, unser Gott, unsere Traurigkeit und alls, was uns heute beschäftigt, was uns mit Frau S. verband und an sie erinnert, all das bringen wir vor dich und bitten dich für sie und ihre Angehörigen und für uns alle. Wir beten mit einer Liedstrophe von Paul Gerhardt (EG 449):

8 Alles vergehet, Gott aber stehet ohn alles Wanken; seine Gedanken, sein Wort und Wille hat ewigen Grund. Sein Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden, heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen, halten uns zeitlich und ewig gesund.

Amen.

Hinweise zur Veröffentlichung anonymisierter Texte von Trauerfeiern auf dieser Homepage

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.