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Vom „Spiel des Lebens“ und der „Lebensmitte“

„Der große Weg“ von Hundertwasser ist wie ein Spielplan für das „Spiel des Lebens“. Wir haben alle unsere eigenen Wege, und sie gehen nicht immer gerade. Beruhigend ist: Sie haben einen Anfang und ein Ziel. Lebensmitte – das ist kein Zeitpunkt, sondern die Mitte, an der ich mein Leben ausrichte und zu der hin ich zeitlebens auf dem Weg bin.

Sommerbild mit Hundertwasserkugel
Der Künstler Friedensreich Hundertwasser liebte die ungeraden Linien (Bild: noiramPixabay)
direkt-predigtGottesdienst mit Barbara Görich-Reinel, Klaus Weißgerber und Helmut Schütz am Sonntag nach Weihnachten, 29. Dezember 2002, um 10.00 Uhr in der Michaelskirche Gießen-Wieseck
Orgelmusik
Begrüßung (Klaus Weißgerber)
Lied 36, 1 + 8 – 10:

1) Fröhlich soll mein Herze springen dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen. Hört, hört, wie mit vollen Chören alle Luft laute ruft: Christus ist geboren!

8) Wer sich fühlt beschwert im Herzen, wer empfind’t seine Sünd und Gewissensschmerzen, sei getrost: hier wird gefunden, der in Eil machet heil die vergift’ten Wunden.

9) Die ihr arm seid und elende, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände. Hier sind alle guten Gaben und das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben.

10) Süßes Heil, laß dich umfangen, laß mich dir, meine Zier, unverrückt anhangen. Du bist meines Lebens Leben; nun kann ich mich durch dich wohl zufrieden geben.

Votum (Barbara Görich-Reinel)
Eingangsspruch: Psalm 90
Kyriegebet
Gnadenverkündigung
Eingangsgebet
Lesung (Klaus Weißgerber) aus dem 1. Johannesbrief 1, 1-4:

1 Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens –

2 und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist -,

3 was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.

4 Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.

Glaubensbekenntnis
Lied 10, 1 + 2 + 4:

1) Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt, bald wird das Heil der Sünder, der wunderstarke Held, den Gott aus Gnad allein der Welt zum Licht und Leben versprochen hat zu geben, bei allen kehren ein.

2) Bereitet doch fein tüchtig den Weg dem großen Gast; macht seine Steige richtig, laßt alles, was er haßt; macht alle Bahnen recht, die Tal laßt sein erhöhet, macht niedrig, was hoch stehet, was krumm ist, gleich und schlicht.

4) Ach mache du mich Armen zu dieser heilgen Zeit aus Güte und Erbarmen, Herr Jesu, selbst bereit. Zieh in mein Herz hinein vom Stall und von der Krippen, so werden Herz und Lippen dir allzeit dankbar sein.

Klaus Weißgerber: „Spiel des Lebens“

Am Sonntag „zwischen den Jahren“ wollen wir wieder ein wenig nachdenken über das „Unterwegs-Sein“ im Leben. Diese Tage „zwischen den Jahren“ haben ihren eigenen Reiz: Das Alte ist noch nicht recht zu Ende gegangen, und das Neue hat noch nicht angefangen.

Ein Bild soll uns als Vorlage und Anregung dienen heute. Es ist von Friedensreich Hundertwasser und trägt den Titel „Der große Weg“.

Wir drei haben uns Gedanken gemacht, was das Bild in uns auslöst und haben gemerkt, das es auf ganz verschiedene Weise zu jedem / jeder von uns spricht. Das wollen wir euch / Ihnen weitersagen zum eigenen Nachdenken und Vorwärtskommen.

Ich sehe in dem Bild einen großen Spielplan, der vor uns ausgebreitet ist. Ich nenne es: „Das Spiel des Lebens“.

Es ist ein Weg zu sehen, der in einer großen Spirale geht, die sich links herum dreht. Links unten könnte der Anfang sein, es fehlen nur die Spielfiguren. In der Mitte ist das Ziel.

Anfang und Ende sind blau markiert. BLAU – das ist das Wasser und das endlose Meer. BLAU – das ist auch die Luft, das ist die Weite des Himmels. BLAU – das ist Endlosigkeit, ist die Ewigkeit. Anfang und Ende des „Spiels des Lebens“ liegen in der blauen Ewigkeit.

Es zieht sich ein deutlicher roter Faden durch das Spiel. ROT – das ist die Signalfarbe, hier geht’s lang! Rot ist das Blut in unseren Adern. Rot – das ist das Leben.

Da gibt es ein Ereignisfeld – stellvertretend sicher für viele. Links oben ein gelber Kasten. GELB – das ist Bewegung, das ist Energie, da tut sich was.

Und es gibt eine Menge Farben dazwischen. Dadurch wird das ganze lebendig und vielfältig:

Da gibt es GRÜN – Ein Faden der Hoffnung, des Werdens und Wachsens durchzieht alles, was vor mir liegt.

Da gibt es BRAUN – Die Farbe der Erde, die alles Leben hervorbringt und auch alles, was stirbt, wieder in sich aufnimmt.

Da gibt es immer wieder GELB – es ereignet sich vieles unterwegs.

Da gibt es BLAU – Die Ewigkeit durchdringt die Geschichte.

Und da gibt es WEISS – zur Mitte hin, nahe am Ziel. Die Farben verschmelzen zum Weiß – ein Ausgleich der Extreme, das Abklingen von Leid und Leidenschaft. Vielleicht der Beginn von Weisheit.

„Der große Weg“, den Hundertwasser gemalt hat, ist für mich der große Weg des Lebens, den jede/r ganz individuell für sich geht. Wir haben alle unsere eigenen Wege, und sie gehen nicht immer gerade.

Ich bin es, der den Würfel schüttelt und wirft. Doch wo und wie er liegen bleibt, das habe ich nicht in der Hand. Wie weit wird der nächste Schritt mich bringen? Was erwartet mich dort? Wer erwartet mich dort?

Beruhigend finde ich: Sie haben einen Anfang und ein Ziel, unsere Wege. Für mich beruhigend und Hoffnung machend: Sie haben Anfang und Ziel in Gottes Ewigkeit (dem Blau), sind auch durchdrungen davon. Und hinter oder unter allem sehe ich das Kreuz angedeutet.

Ich denke an die Lesung aus dem 1. Johannesbrief: Das Wort, das das Leben bringt, war von Anfang an da! Wir können es hören, können es in Jesus sehen, können etwas damit anfangen und darauf reagieren.

Gott steht hinter jedem Lebensweg, so kann kein Leben sinnlos sein.

Kanon 175:
Ausgang und Eingang, Anfang und Ende liegen bei dir, Herr, füll du uns die Hände.
Barbara Görich-Reinel: „Brunnen und Turm – Tiefe und Höhe“
Kanon 175
Ausgang und Eingang, Anfang und Ende liegen bei dir, Herr, füll du uns die Hände.
Helmut Schütz: „Lebensmitte und Aufbruch“

Lebensmitte – wo ist die Mitte eines Lebens?

Ist es der Mittelpunkt der Zeitachse unserer biographischen Lebenslinie? Hier das Jahr der Geburt – dort das Jahr des Todes – die Lebensmitte auf der Hälfte dazwischen? Wann bin ich dann in der Lebensmitte? Bin ich es jetzt mit 50, weil ich gerne 100 werden möchte? Der junge Mann, den ich mit 20 beerdigen musste, hatte in diesem Sinn seine Lebensmitte allerdings bereits mit 10 Jahren erreicht, das Kind, das im Alter von 2 Jahren starb, bereits als Baby mit nur einem Lebensjahr. Nur wenige werden 100 Jahre alt und die meisten wünschen es sich nicht einmal.

Lebensmitte – als ich das Bild von Hundertwasser anschaute, wusste ich sofort, wo für mich in dieser Spirale des Lebens die Lebensmitte liegt. Ziemlich weit innen ist ein Bereich zu erkennen, in dem die roten Linien weiter auseinander treten. Dazwischen ist es hell – grün, blau – jedenfalls nicht eng, sondern weit.

Als ich etwa halb so alt war wie jetzt, ungefähr so alt wie Hundertwasser war, als er dieses Bild 1955 im Alter von 27 Jahren gestaltete, da sah ich auf diesem Bild die roten Linien als Lebenslinie an – wie Straßen durch unwegsames Gelände, die man sich mühsam bahnen muss. Heute sehe ich eher das als das eigentliche Leben an, was dazwischen liegt und wie von roten Mauern umschlossen ist. Eingeengt in Konventionen, gebahnte Lebenswege, in Dinge, die „man“ macht oder die „sich“ nicht gehören, verbringen wir große Teile unseres Lebens. In dem Bereich, in dem ich mich gegenwärtig wiederfinde, ist mein Leben innerhalb seiner Begrenzungen erfreulich weit geworden…

So ist Lebensmitte ein Ort der Ruhe, der Gelassenheit, des Zu-Mir-Selbst-Findens. Einsichten ergeben sich weniger aus angestrengtem Suchen, mehr aus einem suchenden Hören, dem Einsichten geschenkt werden. Allmählich weiß ich, was ich will, schätze mich nicht zu hoch ein, stapele aber auch nicht unnötig tief – andere, nicht nur ich, kochen auch nur mit Wasser.

Eigentümlich ist: Ich weiß nicht, wie herum auf dem Bild das Leben nun genau läuft. Die Spirale der roten Linien verläuft gegen den Uhrzeigersinn nach innen, wenn ich sie genau mit dem Finger verfolge. Aber mein Auge will lieber vom Ausgangspunkt der Blase links unten, die mir wie ein Sinnbild für Geburt erscheint im Uhrzeigersinn in Richtung Mitte wandern. Ist das ein Leben gegen den Strich? Gibt es ein Querfeldein-Leben – sind die roten Linien doch wie Straßen, sozusagen festgefahrene Lebensmuster, die es immer wieder in Richtung Mitte zu verlassen, zu überqueren gilt, um sich nicht rückwärts zu bewegen? Midlife crisis – Krise der Lebensmitte – besteht sie darin, die Jugend krampfhaft festhalten zu wollen, nicht bereit zu sein für die wahre Lebensmitte?

Ziel des Weges ist die Mitte des Bildes, das tiefblaue oder schwarze Viereck im Bildmittelpunkt. Auf den Tod läuft das Leben unausweichlich zu, gar nicht mehr so weit entfernt, wenn ich mir vorstelle, dass schon 50 Jahre meines Lebens vorüber sind. Und doch ist der Tod nicht einfach ein schwarzes Loch, das alles verschlingt. Er ist zugleich Ende und Ziel, blaues Tor der Hoffnung, Durchgang zu neuem Leben. Denn hinter dem dunklen Viereck des Todes schneiden sich – unauffällig und doch leuchtend – gelbe Linien, die im Hintergrund des Bildes ein Kreuz bilden.

Ich erkenne: Lebensmitte – das ist kein Zeitpunkt in meinem Leben, sondern die Mitte, an der ich mein Leben ausrichte und zu der hin ich zeitlebens auf dem Weg bin. Die Mitte, das ist der Gott, der Mensch wurde, von ihm weiß ich mich getragen auf allen Wegen, immer wieder befreit von Altlasten meiner Irrwege, geführt auf neue Wege. „Zur Lebensmitte aufbrechen“ bedeutet das Gleiche wie „Jesus nachfolgen“. Er zählte nicht mehr als dreißig biographisch fassbare Lebensjahre und ist doch „der Weg und die Wahrheit und das Leben“. Amen.

Lied 395, 1 – 3: Vertraut den neuen Wegen
Schlussgebet Helmut Schütz):

Gott, Vater und Schöpfer unseres Lebens, schenke uns festen Boden unter den Füßen für die Wege, die wir gehen. Lass uns die Unterschiede der Wege unseres Denkens und Glaubens nicht so wichtig nehmen wie den gemeinsamen Ursprung, von dem wir herkommen, den gemeinsamen Grund, auf dem wir stehen, das gemeinsame Ziel, auf das wir zusteuern.

Gott, unser Bruder in Jesus Christus, hilf uns dir nachfolgen auf deinem Weg der Liebe und des Friedens. Bewahre uns davor, immer Recht haben zu müssen, und lass uns mit Demut und Reue und auch ein wenig Humor eigene Schwächen wahrnehmen. Wo Konfrontation notwendig ist, hilf uns die Wahrheit sagen, ohne zu verletzen. In allen Konflikten, auch im Konflikt der Kulturen und Religionen mach uns fähig, einfache Schemata von Freund und Feind aufzugeben und dich überall in den Geringsten deiner Geschwister zu erkennen – denn du stehst nicht nur auf einer Seite.

Gott, Heiliger Geist, mütterlicher Tröster, lass uns spüren, dass du die tragende Mitte unseres Lebens bist. In den Zumutungen des Schicksals leite uns auf guten Wegen und gib uns neuen Lebensmut. Wenn wir auch in Ängsten sind, lass uns dennoch zuversichtlich leben.

Insbesondere beten wir für Frau …, die du in ihrem Tod in deine ewige Liebe aufgenommen hast. Begleite die Angehörigen in ihrer Trauer mit deinem Trost und lass uns alle angesichts des Todes erkennen, dass du das Ziel auch unseres Lebens bist. Amen.

In der Stille bringen wir vor Gott, was wir außerdem auf dem Herzen haben:

Gebetsstille und Vater unser
Lied 616, 1 – 3: Auf der Spur des Hirten führt der Weg durch weites Land
Abkündigungen
Segen (Klaus Weißgerber)
Orgelmusik

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