Bild: Helmut Schütz

Ruhe und Frieden für einen Philosophen

Die Trauerfeier und Urnenbeisetzung für Odo Marquard wurde am Samstag, 16. Mai 2015, 10 Uhr, in Celle durch Pfarrer Gabriel Alexander Reschke gehalten. Die Traueransprache hatte Pfarrer Helmut Schütz aus Gießen verfasst, auch die folgenden Gebets-, Lieder- und Bibeltexte ausgewählt.

Toccata und Fuge C-Dur, Adagio, von Johann Sebastian Bach (BWV 564)
Begrüßung
Psalm 4:

2 Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit, der du mich tröstest in Angst; sei mir gnädig und erhöre mein Gebet!

4 Erkennet doch, dass der HERR seine Heiligen wunderbar führt; der HERR hört, wenn ich ihn anrufe.

5 Zürnet ihr, so sündiget nicht; redet in eurem Herzen auf eurem Lager und seid stille.

6 Opfert, was recht ist, und hoffet auf den HERRN.

7 Viele sagen: »Wer wird uns Gutes sehen lassen?« HERR, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!

8 Du erfreust mein Herz, ob jene auch viel Wein und Korn haben.

9 Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne.

Eingangsgebet
Lied 450, 1-3:

1. Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffnen Lichte, schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte und vertreib durch deine Macht unsre Nacht.

2. Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt Gewissen; lass die dürre Lebens-Au lauter süßen Trost genießen und erquick uns, deine Schar, immerdar.

3. Gib, dass deiner Liebe Glut unsre kalten Werke töte, und erweck uns Herz und Mut bei entstandner Morgenröte, dass wir, eh wir gar vergehn, recht aufstehn.

Schriftlesung aus dem Hebräerbrief 4, 9-16:

9 Es ist … noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes.

10 Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen.

11 So lasst uns nun bemüht sein, zu dieser Ruhe zu kommen, damit nicht jemand zu Fall komme durch … Ungehorsam.

12 Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.

13 Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.

14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.

15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.

16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Liebe Frau Marquard, liebe Trauerfamilie, liebe Gemeinde,

dafür dass ich durch den Mund meines Kollegen, Pfarrer Reschke, zu Ihnen sprechen darf, danke ich ihm persönlich sehr herzlich. Ich selber kann wegen einer kirchlichen Trauung in der Gießener Paulusgemeinde, die viele Jahre lang auch die Heimatgemeinde des Verstorbenen war, nicht hier anwesend sein.

Dafür, dass Sie mich gebeten haben, diese Traueransprache zu halten, bin ich Ihnen sehr dankbar, liebe Frau Marquard, denn ich fühle mich Ihrem Mann und seiner Gedankenwelt sehr verbunden. Als ich vor einigen Jahren einen längeren Studienurlaub plante und ich Herrn Marquard wie so oft im Stadtbus traf, äußerte er die Bitte an mich oder vielmehr an sich selber, dass er nicht sterben wolle, während ich abwesend sei, er wolle doch gern von mir beerdigt werden. Ich habe seine Bitte damals weiter nach oben geleitet, und ER, der die Zufälle lenkt, hat offenbar gewollt, dass Herrn Marquards Wunsch nun auf diese Weise erfüllt wird.

Als ich mich an die Arbeit machte, mich auf diese Trauerfeier vorzubereiten, stieß ich auf den Satz des Denkers und Schriftstellers Odo Marquard, den er im Alter von 67 Jahren schrieb: „Und immer noch fallen mir Denken und Schreiben schwer“. Mir geht es, ein Jahr vor meinem Ruhestand als Pfarrer manchmal nicht anders mit Predigten und Vorträgen, und das vor allem dann, wenn es gilt, aus einer Fülle von Gedanken nur wenige auszuwählen und so knapp und verständlich zu formulieren, dass Sie sich als Zuhörer davon nicht über Gebühr „belästigt“ fühlen. Wer Odo Marquard kannte, merkt, dass ich mit dieser Absicht ihm nachzueifern versuche. Ein Antiquar, bei dem ich sein Büchlein „Glück im Unglück“ kaufte, erwähnte anerkennend, als Student der Anglistik einen Aufsatz des Autors gelesen zu haben, der verständlich war und Hand und Fuß hatte. Wie der Zufall gefügt wurde, traf ich unmittelbar danach Herrn Marquard im Bus und gab das eben gehörte Lob an ihn weiter. Er meinte schlicht: „Ich schreibe so lange an einem Artikel, bis ich ihn selbst verstehe.“ Ich habe mich bemüht, diesen Vorsatz auch für diese meine Ansprache zu beherzigen.

Zwei Mal schon habe ich Zufälle erwähnt, nicht ohne Grund, denn eine der wichtigsten Einsichten Odo Marquards lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Wir sind mehr unsere Zufälle als unsere Entscheidungen“. Diese Wertschätzung des Zufalls schließt eine Einbettung des Zufalls in göttliche Fügung und Vorsehung nicht aus und setzt Gott auch nicht selbst mit dem Schicksal gleich; wer den Zufall zu-fallen lässt, stand jedenfalls für den Philosophen Marquard auf einem anderen, dem theologischen Blatt. Und er vertrat auch keinen dogmatischen Glauben an ein grundsätzlich unabwendbares Fatum. Auch seiner Überzeugung nach sind Menschen nicht einfach „Gefangene ihres Schicksals und nicht Treibgut des Zufalls. Zwar gilt: die menschliche Wirklichkeit ist überwiegend das Zufällige, das, was auch anders sein kann. Aber wenn es anders sein ‚kann‘, dann … ‚ist‘ es häufig auch anders: die zufällige Wirklichkeit … ist vielgestaltig, bunt. Diese Buntheit der Wirklichkeit – gerade sie – ist die menschliche Freiheitschance.“ In dieser Liebe zur Buntheit der Wirklichkeit habe ich mich mit dem Verstorbenen besonders eng verbunden gefühlt. Auch sein philosophisches „Lob des Polytheismus“ war ja kein Aufruf zum Götzendienst, sondern ein Lob der Vielfalt in Kultur und Religion, eine Warnung vor ideologischen Engführungen. Und ich erinnere mich immer noch gern an seinen Kurzvortrag über „Gott in vielen Geschichten“, den er vor 11 Jahren anlässlich meines 25. Ordinationsjubiläums im Saal unserer Paulusgemeinde gehalten hat.

Wäre Prof. Dr. Odo Marquard nicht durch einen von Gott gewollten Zufall Mitglied „meiner“ Evangelischen Paulusgemeinde gewesen, hätte ich ihm nicht Geburtstags- oder Krankenbesuche abgestattet, dann wäre ich vermutlich nie mit seiner Philosophie in Berührung gekommen. Denn aus den Zu-Fällen meiner persönlichen Entwicklung heraus interessierte ich mich als eher links orientierter Theologiestudent aus eigenem Antrieb eher nicht für einen Philosophen, der sich bewusst als bürgerlich und konservativ verstand. Aber als mir Herr Marquard bei einem Besuch nach seinem Schlaganfall im Jahr 2001 einige Reclam-Heftchen mit kleinen Essays und Vorträgen schenkte, verschlang ich sie geradezu. Ich war fasziniert von dieser prägnant, witzig, tiefsinnig und verständlich formulierten Philosophie, die ein gestresster Gemeindepfarrer auch gern mal zwischendurch lesen konnte.

Und da Prof. Marquard nicht selber Auto fuhr, sondern häufig in der Buslinie 3 anzutreffen war, kam es denn auch immer wieder zu philosophisch-theologischen Kurzdialogen auf der acht Minuten dauernden Strecke zwischen der Gießener Nordstadt und dem Marktplatz Gießen. Mal sprachen wir über Karl Barth oder Dorothee Sölle, dann über die Frage, welches Alibi der allmächtige Gott für die Zulassung des Bösen brauchen und nutzen könnte. Und wichtig wurde mir Herrn Marquards Überzeugung, dass manche Fragen, wie zum Beispiel die nach dem Ursprung des Bösen, durch möglichst viele verschiedene Antworten nicht beantwortet, sondern offengehalten werden müssen.

Ich verdanke dem Austausch mit Odo Marquard und seiner Philosophie sehr viel. So verstand ich auf einmal mehr von der Dynamik, in der politische Sandkastenspiele meiner Studentenzeit zuweilen abgelaufen waren, als man meinte, jeden Tag „mal eben kurz die Welt retten“ zu müssen und dabei möglicherweise die Errungenschaften bürgerlicher Freiheit aufs Spiel zu setzen. Waren wir nicht zeitweise einer „Romantik des Ausnahmezustands“ verfallen, statt das Mögliche und Machbare in einer weitgehend von „Üblichkeiten“ bestimmten Welt anzustreben? Es kam allerdings auch vor, dass Herr Marquard sich von mir eines Besseren belehren ließ, wenn ich etwa seinen Vorbehalten gegenüber Psychoanalyse und Gruppendynamik andere, positive Erfahrungen gegenüberstellte, die ich persönlich mit psychologischen Methoden gemacht hatte.

Dankbar war ich ihm auch für die Erlaubnis, eine Sammlung seiner Zitate auf meine Homepage zu stellen. Mir lag daran, auch andere Menschen auf ihn und seine Art zu denken, aufmerksam und neugierig zu machen. Das gelang offenbar auch, denn mehrfach erhielt ich Anfragen von Schülern oder Studenten, ob ich einen Kontakt zu ihm herstellen könne.

Auf die Biographie des Verstorbenen möchte ich in dieser Ansprache nur wenig eingehen, denn Sie alle kennen seinen Lebenslauf besser als ich. Sein Vater muss ihn sehr geprägt haben, der als Zoologe in Münster am gleichen Institut gewesen war, an dem der Sohn später Philosophie lehrte, und der in Kolberg Fischereidirektor wurde. Von ihm erzählte er oft. Entbehrungsreiche Jahre im Volkssturm und dann in französischer Gefangenschaft in Diez, draußen im Lager bei extremem Hunger, belasteten ihn sehr. In guter Erinnerung behielt er die erste Lebensmittelkarte nach dem Krieg, die er in Gießen erhielt, bevor er sich auf abenteuerlichen Wegen nach Norderney durchschlug, wo seine Eltern inzwischen wohnten. Gerne erzählte er auch, wie er später Sie, liebe Frau Marquard, kennenlernte, als er schon in Münster war und es Sie ins Sauerland verschlagen hatte. In seinen Augen war es – wieder zu-fällig – die Philosophiegeschichte, die Sie zueinanderbrachte, denn um diese aufzuarbeiten, wurden Sie als Mitarbeiterin empfohlen und kamen so an die Uni Münster. Als Prof. Marquard sich 1963 in Münster habilitierte, hatte er eigentlich sein Lebensziel erreicht, nämlich „Privatdozent zu sein“, wie er sich selbst ausdrückte. „Zwei Jahre später ging es schief mit diesem Lebensziel; denn da war ich nicht mehr Privatdozent, sondern ordentlicher Professor für Philosophie in Gießen.“ In Gießen ist er dann bis zu seiner Emeritierung geblieben und auch noch lange darüber hinaus.

War der Philosoph Odo Marquard auch ein religiöser Mensch? Ja, ohne Zweifel. Er selbst bezeichnete sich als jemanden, der „die glückliche Mischehe eines halbgekippten Heiden mit einer protestantischen Pfarrerstochter“ führte. Da er als Absolvent einer Adolf-Hitler-Schule antikirchlich beeinflusst worden war, wurde er erst 1960 kurz vor seiner Heirat konfirmiert; als Konfirmandenunterricht ließ er sich dafür ein „als Promotionsnebenfach absolviertes Theologiestudium“ anerkennen. Zu seiner Art der Skepsis, die aus der Einsicht in die furchtbaren Folgen jedweden totalitären Denkens erwuchs, gehörte auch die Zustimmung zu den segensreichen Wirkungen einer Religion, die sich nicht im Besitz der alleinigen Wahrheit wähnt. Er begann mit einem „Hörsaalchristentum“ und empfand ein „immer stärkeres Bedürfnis nach der Kirche“ und insbesondere „nach dem Konservativen in der Kirche“. Dem entsprach es, dass er gemeinsam mit seiner Frau durchaus in unsere Pauluskirche ging und meine Art zu predigen offenbar auch schätzte.

Nach seinem Schlaganfall mit 73 Jahren war Herr Marquard froh, dass sein abstraktes Denkvermögen kaum Beeinträchtigungen erlitten hatte; er konnte weiterhin Vorträge halten und sich an der philosophischen Diskussion beteiligen. Aber im Lauf der Jahre fiel ihm das immer schwerer, zumal er auch immer schlechter sehen und hören konnte. Dass Sie, liebe Frau Marquard, Ende 2012 sich gemeinsam mit Ihrem Mann im Krankenhaus aufhielten, hat Sie selbst vor Schlimmerem bewahrt, denn nur dort konnten Sie so rasch die notwendige notfallmedizinische Versorgung bekommen. Ihr Mann ist dann nach Celle ins Sophienstift umgezogen, und ein Jahr später sind Sie ihm gefolgt. Vieles war schwer zu bewältigen, und ein noch schwererer Schlag traf die Familie, als im vorigen Jahr Ihr Sohn bei einem Unglück in Australien starb.

Trotz aller gesundheitlichen Einschränkungen, trotz aller Schicksalsschläge, gab Herr Marquard sich nicht selber auf. Er ließ sich umsorgen, teils vom Pflegedienst, teils von seiner Frau. Es gab ein Pensum an Lektüre, das Sie ihm regelmäßig vorlasen; Sie zeichneten auf, was er Ihnen beim Mittagessen aus seinen Erinnerungen von früher erzählte. Beides ist nun Fragment geblieben, denn er ist gestorben, bevor Sie es zu Ende bringen konnten.

In gewisser Hinsicht war Odo Marquard auf sein Lebensende gut vorbereitet, denn auch die Endlichkeit war eins der ihm wichtigen Themen, auch über den Tod und das Schlafen hat er viel nachgedacht. So schrieb er in einem Aufsatz über das Altern bereits im Jahr 1999: „Unsere gewisseste Zukunft ist unser Tod. Im Alter wird diese Zukunft immer aufdringlicher. Aber der Tod ist jene Zukunft, die besiegelt, daß wir keine Zukunft mehr haben.“ Vor neun Jahren stellte er in einem Vortrag außerdem die Frage: „Was kommt eigentlich, … nachdem die Zukunft schwindet? Was kommt nach dem Verlust der Zukunft, die der Tod ist? Die Auferstehungsmythologie des Christentums – dem ich sonst anhänge – spricht allenthalben von Auferweckung und Erwachen. Ich aber schlafe gern. Meine Weltabwehr absolviere ich nicht durch philosophische Kritik, sondern durch Schlafen. Meine Leidenschaft – abgesehen vom Verfassen solcher Texte (denn streng genommen habe ich im Leben ja nichts anderes gelernt) – meine Leidenschaft ist das Schlafen in all seinen Formen: als Mitternachtsschlaf, als möglichst früher Abendschlaf, als lang dauernder Morgenschlaf, und vor allem und ausgedehnt als Mittagsschlaf. Ich hoffe und vertraue auf einen Gott, der mich nach meinem Tode nicht auferweckt, sondern schlafen läßt.“ In Klammern setzte Herr Marquard allerdings hinzu: „Meine Frau ist für etwas mehr Auferstehung, und meistens setzt sie sich ja durch.“

Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum am Anfang Verse aus dem Psalm 4 gebetet wurden. Da vertraut sich der Psalmbeter in seinem Schlaf vertrauensvoll dem Gott an, der ihm Geborgenheit schenkt:

9 Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne.

Diesen Schlaf gönne ich dem Verstorbenen in seinem Tode, diese Ruhe, die er sich von Herzen gewünscht hat. Als Sie Ihren Mann noch einmal gesehen haben, liebe Frau Marquard, da haben Sie allerdings nur gespürt: „Da ist was weg.“ Mit diesem Körper, der da im Sarg lag, war das, was Ihr Mann gewesen war, nicht mehr verbunden. Was nach dem Tode von ihm bleibt, ist menschlichem Zugriff entzogen, unverfügbar wie der unsichtbare Gott. Doch im Vertrauen auf Gott dürfen wir dessen gewiss sein, dass Odo Marquard als diese unverwechselbare Person, die er war, mit all der Liebe, die er empfangen und geben konnte, in Ewigkeit nicht verloren geht. Im Frieden schlafen zu können, ist ein Geschenk Gottes.

Von Gottes Ruhe ist auch im Hebräerbrief die Rede, in den Worten, die wir vor der Ansprache bereits gehört haben. In diesem Wort schwingt in der Bibel noch mehr mit als ein friedlicher Schlaf eines Menschen, der von einem langen, vielleicht mühevollen Leben ausruhen möchte. Gottes Ruhe ist ein Geschenk an Menschen, die darauf vertrauen, dass Gott unter ihrer Mitwirkung selbst seine Schöpfung vollendet:

10 Wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen.

In diesem Vers ist auch eine Antwort auf die Frage der Theodizee enthalten, die Herrn Marquard immer wieder umgetrieben hat. Indem die Philosophie und auch die Theologie die Antwort auf die Frage offen lassen müssen, warum Gott das Böse in seiner Schöpfung zulässt, bleibt Raum für einen Glauben an Gott, den wir uns nur von Gott selbst schenken lassen können. Der siebte Schöpfungstag ist noch nicht an seinem Ende angelangt, sehr gut ist die Welt jedoch insofern erschaffen, als sie offen ist für ein gutes Ende. Wer nicht auf Gott vertraut, sondern der Welt mit einem Grundmisstrauen begegnet, der mag versuchen, den Himmel auf Erden aus menschlichen Kräften zu erschaffen, und schafft oft genug stattdessen die Hölle auf Erden. Aber wer auf Gnade vertraut, auf einen Gott, der uns beschenkt und annimmt, in unserer Vielfalt und mit unseren Fehlern, da stellen Menschen zwar nicht den perfekten Himmel auf Erden her, aber sie bauen eine Erde unter Gottes Himmel, eine „Erde auf Erden“, wie Herr Marquard es genannt hat, in der ein „angstfreies Andersseindürfen für alle“ möglich ist und in der diejenigen zur Ruhe Gottes kommen, die auf die Gnade Gottes vertrauen können:

16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Was der Philosophieprofessor Marquard am Christentum am meisten schätzte, war die Gnade. Er hatte ein sehr feines Gespür dafür, dass Menschen, die Gott für tot erklären, weil sie ihn davon entlasten wollen, für eine unvollkommene Welt verantwortlich zu sein, am Ende dort landen, wo Menschen einander gnadenlos anklagen. Gibt man den christlichen Glauben auf, dann gibt man die Gnade auf, und jeder muss sich fragen lassen: „Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt und nicht vielmehr nicht, und mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders?“

Als „halbgekippter Heide“, also vielleicht als ein Mensch, der wie Jairus in der Bibel sagen könnte: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben“, war Odo Marquard jedenfalls religiös genug, um nicht leichtfertig auf den Trost von Gott zu verzichten. Er wusste: Wenn Gott der Herr über Leben und Tod ist, dann kann er auch dann noch helfen, wenn alle anderen Hilfsmöglichkeiten versagen. In seinem Aufsatz über die Einsamkeitsfähigkeit hat er das sehr schön formuliert: „Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört – auch und vielleicht unvermeidlicherweise – Religion: Gott ist – für den Religiösen – der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Der Nichtreligiöse glaubt, daß das nicht ausreicht: kommunikativ scheint ihm der profane Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den Heiligen Geist symbolisiert. Aber Menschen – sterblichkeitsbedingt einsame Lebewesen – sind seinsmäßig nicht so gestellt, daß sie es sich leisten könnten, auf solchen Trost leichtfertig zu verzichten: denn zweifellos gibt es Einsamkeitssituationen, in denen die Taube auf dem Dach – sozusagen – der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat.“

In diesem Sinne dürfen wir auch Herrn Odo Marquard in seinem Tode Gott anvertrauen und ihm die Ruhe von seinen Werken gönnen, die Gott sich nach der Heiligen Schrift auch selber am Ende gönnt.

Für Sie, für die Familie, die zurückbleibt, die Ehefrau, die Schwiegertochter, die Enkel, Freunde und andere Verwandte, bleibt der Schmerz des Abschieds, der Trauer. Auch die Wunden vom Unglück im letzten Jahr sind noch lange nicht verheilt. Wenn der Abschied von Odo Marquard in hohem Alter unserer natürlichen Erwartung im Blick auf die menschliche Endlichkeit zu entsprechen scheint, war der Abschied von seinem Sohn im letzten Jahr ein unerwartetes und nur schwer zu bewältigendes Unheil, das uns immer wieder fragen und grübeln lässt: „Warum…?“ Ich habe im Nachdenken über die Theodizee bereits gesagt: Darauf gibt es keine endgültige Antwort – es gibt nur viele Versuche, Antworten zu geben, die für Hoffnung offen sind. Gott trägt uns, wenn wir Schmerz und Trauer tragen – auch wenn seine Macht zeitweise nicht spürbar ist. Gott fordert uns heraus, die Endlichkeit des Lebens auch dann zu akzeptieren, wenn wir uns eine Garantie auf eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren wünschen: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Das fordert uns nicht ab, unsere traurigen, verzweifelten oder vielleicht auch zornigen Gefühle herunterzuschlucken, sondern wir dürfen, wie Hiob in der Bibel, durchaus Gott mit Anklagen, Zorn und Ratlosigkeit behelligen und konfrontieren. Wunderbarerweise bekam Hiob damals Recht, von Gott selbst – er durfte Gott anklagen und ihn darauf festnageln, dass er doch ein Gott der Gerechtigkeit und der Liebe ist, von dem wir Menschen Gutes erwarten dürfen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihre Weise im Gespräch mit Gott bleiben und offen bleiben für den Trost und die Hilfe, den er Ihnen schenken kann – vielleicht und vor allem zunächst einmal dadurch, dass Sie im Weinen und im Lachen füreinander da sind. Amen.

Lied 530, 1:

1. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Hin geht die Zeit, her kommt der Tod;
ach wie geschwinde und behende
kann kommen meine Todesnot.
Mein Gott, mein Gott, ich bitt durch Christi Blut:
mach’s nur mit meinem Ende gut.

Gebet
Liedstrophe nach der Melodie „Wie lieblich ist der Maien“ von Edeltraut Marquard:

Lass auch die Sonne dringen in meines Nächsten Herz,
dass er dir möge singen und danken himmelwärts
für allen Trost auf Erden, der uns hier wird zuteil,
und lass uns selig werden in einem ewgen Heil.

Orgelnachspiel
Gang zum Grab
Beisetzungsritual

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.