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Hagar erlebt Ostern: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Am Tag zwischen Karfreitag und Ostern teile ich mit Freunden und Bekannten per Mail und jetzt auch hier mit allen Interessierten ein paar Gedanken über eine Frau, die in der Bibel eher am Rande steht. Sie heißt Hagar, und ihr Sohn Ismael hat in der islamischen Tradition eine viel größere Bedeutung als bei Juden oder Christen. Neugierig geworden?

Ein Grasbüschel in der Wüste - zur Illustration der Hagar, die in der Wüste eine Ostererfahrung macht
Mitten in der Wüste keimt neue Hoffnung auf (Bild: Chris WolfPixabay)

Diese Woche vor Ostern ist so anders als jemals in meinem Leben. Gestern läuteten bei uns gegenüber in der Johanneskirche die Glocken zur Todesstunde Jesu. Sonst am Karfreitag blieben sie still in den letzten Jahren – wenn die Heiden nicht Party feiern dürfen am kirchlichen Feiertag, sollten auch unsere christlichen Kirchtürme verstummen. Und auch das Osterfest wird anders sein. Meine Kolleginnen und Kollegen im Pfarrdienst haben alle frei, gezwungenermaßen, wann wäre das je vorstellbar gewesen für ein kirchliches Hochfest?

Mehrmals stieß ich in den letzten Tagen auf eine Gestalt der Bibel, die ich bisher nicht mit Karfreitag oder Ostern in Verbindung gebracht hätte. Ich denke an Hagar, eine ägyptische Sklavin, die zwei Mal in die Wüste geht. Das eine Mal flieht sie, ganz alleine, vor ihrer harten Herrin, deren Demütigungen sie nicht ausgehalten hat (1. Mose 16). Das andere Mal wird sie verstoßen, gemeinsam mit ihrem Sohn, ausgesetzt in der Wüste, zwangsweise in Quarantäne, isoliert von allen Menschen (1. Mose 21).

Hagar wehrt sich nicht, sie sagt nichts, sie betet nicht. Beim ersten Mal erreicht sie mitten in der Wüste eine Wasserquelle, so kann sie wenigstens überleben. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges. Ein Engel findet sie. DER Engel Gottes spricht zu ihr. Er fragt sie: „Hagar, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Sie antwortet: „Ich bin vor meiner Herrin geflohen.“ Wohin sie will, das sagt sie nicht. Das weiß sie selber nicht.

Daraufhin bekommt Hagar von dem Engel eine deutliche Ansage zu hören. „Kehr um!“ sagt er. „Halt es aus bei deiner Herrin, auch wenn sie dich demütigt.“ Das klingt nicht nett. Das klingt sogar empörend. Ist Gott nicht auf der Seite der Versklavten? Gönnt er Hagar die Freiheit nicht, weil sie eine Ägypterin ist?

Oder ist es ganz anders? Rät er ihr, durchzuhalten, weil sie in der Wüste, so allein, keine Chance hat? Der Engel hat noch eine Botschaft für sie: „Du bist schwanger, Hagar! Du bekommst einen Sohn, der soll Ismael heißen. Er soll zu einem großen Volk heranwachsen. Denn der HERR hat dein Elend erhört.“

In diesem Augenblick wird Hagar zur Prophetin. Sie erkennt, dass Gott mit ihr redet, und spricht zu ihm: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Sie spürt: Der Gott, den man nicht sehen kann, den sie nicht einmal wahrgenommen hat in ihrer Einsamkeit, der hat sie gesehen, sie wahrgenommen, sie nicht allein gelassen. Und sie sagt: „Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“

Der Brunnen, wo das passiert ist, hat deshalb den Namen bekommen: „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.“ Gott ist der Lebendige. Von ihm gesehen zu werden, bedeutet Leben, neu geschenktes Leben, Auferweckung. Hagar erfährt Ostern – schon ganz am Anfang des Alten Testaments.

Wird also alles gut? Hagar kehrt um, ihr Sohn wird geboren und wächst heran. Doch eines Tages bekommt sie üblen Stress mit ihrer Herrin; sie wird verstoßen, mit ihrem Kind. Einen Schlauch Wasser gibt man ihr mit, wieder irrt sie in der Wüste umher. Dann hat sie kein Wasser mehr, dieses Mal findet sie auch keinen Brunnen. Am Ende wirft sie verzweifelt ihren Jungen unter einen Strauch; einen Bogenschuss entfernt setzt sie sich hin; sie sagt: „Ich kann doch nicht ansehen, wie er stirbt.“ Sie steht auf und setzt sich hin, ihm gegenüber, mit lauter Stimme weint sie.

Und wieder geschieht etwas Merkwürdiges. Der nächste Satz unserer Geschichte beginnt mit den Worten: Da erhörte Gott … Aber hat denn jemand ein Gebet gesprochen? Hagar jedenfalls nicht, nicht einmal ein Gebet wie Psalm 22: „Warum hast du mich verlassen?“ Hat Gott auf Hagars Unruhe reagiert, auf ihre Unfähigkeit, in der Nähe ihres Jungen zu bleiben, auf ihre Verzweiflung?

Da erhörte Gott … die Stimme des Knaben. Aber davon war gar nicht die Rede gewesen. Hatte der Junge gebetet, geweint, geschrieen? Wie dem auch sei: Wieder meldet sich Gottes Engel vom Himmel her und fragt: „Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat die Stimme des Jungen gehört – dort, wo er liegt.“

Gebete müssen nicht immer ausgesprochen sein, um erhört zu werden. Tränen, ob geweint oder ungeweint, stumme Verzweiflung, rastlose Unruhe… Gott bleibt der Gott, der mich sieht, auch wenn ich das vergesse, nicht mehr wahrnehme, kaum noch glauben kann.

Aber jetzt hört Hagar wieder die Stimme des Engels: „Steh auf, nimm den Jungen und führe ihn an deiner Hand; ich will ihn zum großen Volk machen.“ Und wieder tut Gott der Hagar die Augen auf. Dieses Mal nicht, damit sie Gott erkennt, sondern viel naheliegender: Sie sieht einen Wasserbrunnen! Da geht sie hin und füllt den Schlauch mit Wasser und gibt ihrem Kind zu trinken.

Dieses Mal öffnet sich die Geschichte sogar noch weit hinein in die Zukunft. Denn Hagar geht mit Ismael nicht wieder zurück zu ihrer Herrin. Beide überleben und wohnen in der Wüste, der Junge wird ein Bogenschütze und vermag es offenbar, seine Mutter und sich zu ernähren. Als Happy End wird sogar erzählt, dass Ismael in Ägypten eine Frau bekommt.

Hat das Ganze etwas mit uns, mit Ostern, mit der jetzigen Corona-Krise zu tun? Es ist eine Hoffnungsgeschichte am Rande der biblischen Haupterzählung, eine Ostergeschichte, in der es nicht um Jesus geht, nicht einmal um die Stammeltern des Volkes Israel. Viel später einmal werden sich die Muslime in den arabischen Nachkommen dieses Ismael wiedererkennen.

Mich hat heute gerade diese Geschichte angesprochen, und ich möchte sie euch und Ihnen weitergeben, am Tag zwischen Karfreitag und Ostern.

Mir selbst geht es gut, meine Tage als Ruheständler verbringe ich nicht viel anders als vor Corona-Zeiten. Und doch berühren mich die Sorgen und Ängste, die uns alle umtreiben, und ich empfinde die gegenwärtige Zeit fast so, als seien wir aus der Zeit, wie sie immer war, herausgefallen, und als müssten wir wieder – ganz neu – hineinfinden.

Vielleicht kann uns dabei diese Geschichte helfen – dass wir auch – ganz neu – zu Gott sagen können: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Ich wünsche euch und Ihnen allen gesegnete Feiertage!

Helmut Schütz

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