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Kein Kindergrab, um die Tochter zu betrauern

Trauerfeier für eine alte Frau, die ihre erste Tochter im Krieg verlor und über diesen Verlust ihr Leben lang nicht ganz hinweggekommen ist.

Kein Kindergrab für ihre Tochter: die Figur eines kleinen Engels mit dem Kopf auf den verschränkten Armen, von Schnee bedeckt
Ein Friedhofsengel im Schnee (Bild: TanteTatiPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Liebe Gemeinde, wir sind hier versammelt, um von Frau F. Abschied zu nehmen, die im Alter von [über 70] Jahren gestorben ist.

Wir trauern um Frau F., und zugleich sind wir dankbar, dass sie unter uns gelebt hat. Wir wissen um das Schwere, das sie in ihrem Leben durchzustehen hatte, und zugleich sind wir dankbar für alles, was ihr geschenkt war, vor allem für die Kraft, mit der sie ihre Lasten bewältigen konnte.

Gedanken der Trauer und der Dankbarkeit, gemischte Gefühle, vieles, was uns auf der Seele liegt und wofür wir keine Worte oder keinen Ansprechpartner finden – manchmal hilft es, wenn wir es ausdrücken mit alten geprägten Worten. Wir beten mit Worten aus einem alten Lied der Bibel – dem Psalm 103:

2 Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:

3 der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen,

4 der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit,

5 der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler.

6 Der HERR schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden.

8 Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.

13 Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten.

14 Denn er weiß, was für ein Gebilde wir sind; er gedenkt daran, dass wir Staub sind.

15 Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde;

16 wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.

17 Die Gnade aber des HERRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind.

Liebe Trauergemeinde!

Weit spannt sich der Bogen des Lebens von Frau F.

Erinnerungen an das Leben der Verstorbenen

Sie hat Höhen und Tiefen durchlebt, doch niemals sich unterkriegen lassen. Nicht in der Zeit der Bomben und beim Verlust der Heimat. Nicht einmal, als ihr kleines Baby im kalten Winter auf der Flucht im Schnee erfror und sie es zurücklassen musste. Sie hatte all die Jahre hindurch nicht einmal ein Kindergrab, das sie hätte besuchen können. Als junge Frau unter diesen Umständen ein Kind zu verlieren, das war etwas, von dem sie mir immer wieder erzählt hat, worüber sie bis zum Ende ihres Lebens im Grunde nicht völlig hinweggekommen ist.

Trotzdem musste das Leben weitergehen. Neues Familienglück wurde dem immer noch jungen Ehepaar beschert. Inzwischen ist die Familie bis hin zu Urenkelkindern gewachsen.

Traurig war die schwere Krankheit ihres Mannes und sein Tod kurz vor der Goldenen Hochzeit. „Man fällt in ein tiefes Loch“, so erzählte sie von dieser Zeit.

Auch sie selber hatte im Lauf der Jahre gesundheitlich viel zu leiden. Sie verlor allerdings ihren Humor nicht, trotz aller Beschwerden. Und sie freute sich immer über Besuch und war stolz auf ihre Enkel- und Urenkelkinder.

Zur Kirchengemeinde hatte Frau F. guten Kontakt, unter anderem durch den Gemeindebesuchsdienstkreis und über die Zivildienstleistenden. Gerne ließ sie sich vom Gemeindezivi im Rollstuhl spazierenfahren oder Einkäufe erledigen, einmal traf ich sie dabei unterwegs und merkte, wie ihre zuvor niedergedrückten Lebensgeister neu erwachten; überhaupt war ihr dieser Kontakt zu den jungen Männern sehr wertvoll.

Auch ich lernte sie im Lauf der Zeit gut kennen, denn sie hatte keine Scheu, im Gemeindebüro anzurufen, wenn sie sich einmal aussprechen wollte. Als sie dann doch ins Altenheim umziehen musste, war es ihr wichtig, weiterhin Mitglied unserer Kirchengemeinde zu bleiben, und wir haben weiter den Kontakt zu ihr halten können.

Auch in einem der letzten Gespräche kam sie noch einmal auf ihre erste Tochter zu sprechen, die sie tot zurücklassen musste. Immerhin hatte sie das tote Kind wohl damals einem Pfarrer übergeben können; der wollte sich um die Bestattung kümmern.

Nun hat sich der Kreis geschlossen, auch ihr Leben kehrt zu Gott zurück. Wir werden heute die Asche ihres Leibes beisetzen, wenig bleibt übrig von der Behausung unserer lebendigen Seele hier auf Erden.

Und doch bleibt so viel an Erinnerungen, an Prägungen, an Gefühlen, die uns mit der Verstorbenen verbinden. Wer auf Gott vertrauen kann, weiß noch mehr: Wir hauchen unser Leben aus – und es kehrt zurück zu Gott, der uns unser Leben geschenkt hat, der es uns allen einmal eingehaucht hat, wie es die Bibel ganz am Anfang auf wundervoll bildhafte Weise in der Geschichte von Adam, dem von Erde genommenen Menschen, erzählt. Bei Gott ist unser Leben nicht verloren, auch wenn sich die Spuren unseres Lebens auf dieser Erde verwischen.

Ein Vers aus der Bibel ist mir dazu eingefallen, in dem es um das Erinnern geht. Der Prophet Jesaja 49, 15 schreibt ein Wort nieder, das er in seinem Innern von Gott gehört hat (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 by Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart):

Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter [die Frucht ihres Leibes]? Und selbst wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht.

Wir sehen es an Frau F.: Sie konnte ihr Leben lang ihr verstorbenes Töchterchen nicht vergessen. Ebenso hat sie auch ihre anderen Kinder geliebt und an ihnen gehangen und sich immer gefreut, sie zu sehen. Nicht leicht war es für die jüngeren Kinder, mit der Trauer der Mutter zu leben; das konnte, ohne dass es die Mutter wollte, zur Eifersucht auf die tote Schwester führen, aber sie wusste es nicht zu ändern.

Wir Menschen sind nun einmal Menschen, wir sind nicht Gott. Wir geben einander Liebe, so gut wir können, und wir bewegen uns dabei immer in den Grenzen, die uns gesetzt sind und die wir uns selber setzen. Gut ist es, wenn wir zu Gott Vertrauen fassen können, denn er ist der allmächtige Gott der Liebe. Oft wird Gottes Allmacht missverstanden. Er macht nicht einfach alles, er will nicht einfach alles machen können. Aber er liebt uns mit vollkommener Liebe.

Gott vergisst keinen Menschen, weder die Toten noch die Lebenden, nicht das kleine Mädchen, das sterben musste, und nicht die Kinder, die leben durften. Gott vergisst auch Frau F. nicht. Wir sehen sie nicht mehr, aber sie lebt unsichtbar bei Gott, den wir ja auch nicht sehen können. Ein Ort, wo wir an sie denken können, ist das Grab, in dem die Urne mit ihrer Asche begraben wird. Aber auch an anderen Orten werden wir immer wieder an sie erinnert werden. Das kann traurig sein, aber es kann uns auch dankbar stimmen, wenn wir an das Gute denken, was wir mit ihr erlebt haben, und wenn wir an die Kraft denken, mit der sie ihre schweren Zeiten durchgestanden hat, vor allem aber an die Liebe, die wir einander geben konnten.

Gott ist die Liebe und ermutigt uns zur Liebe. Es gibt nichts Wichtigeres im Leben, als Liebe zu schenken und zu empfangen. Nichts anderes bleibt bestehen, wenn wir sterben müssen. Amen.

Barmherziger Gott, wir vertrauen dir Frau F. an, die gestorben ist. Wir vertrauen darauf, dass du sie mit offenen Armen aufnimmst in deinem Himmel, in dem du alle Tränen von unserem Gesicht abwischen wirst und uns die ewige Erfüllung unseres Lebens schenkst.

Bleibe bei uns und begleite uns auf dem Weg unseres Lebens. Zeige uns die Hilfe, die wir brauchen. Gib uns den Mut, von unseren Sorgen zu reden, damit wir sie nicht in uns hineinfressen. Schenke uns Menschen, die Verständnis für uns haben und es nicht einfach abtun, wenn wir uns Gedanken machen. Lass uns ein offenes Ohr auch für unsere Kinder haben. Schenk uns so feine Ohren, dass wir auch das hören, was unausgesprochen gesagt wird.

Wir bitten dich um Glauben. Um den Glauben, dass diese Welt einen Sinn hat, weil du sie liebst. Dass wir wertvolle Menschen sind, weil du uns liebst. Dass Probleme gelöst werden können, wenn wir den Mut haben, darüber zu sprechen. Herr, bleibe bei uns, lass uns nicht verloren gehen. Amen.

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