Bild: Rudi Schütz

Zwei Teller für vier Personen

Zehntausende Zivilisten fliehen nach Zypern, denn im Libanon herrschen kriegerische Zustände. Begreifen wir Nachkriegskinder, was in den Flüchtlingen vorgeht? Meine Mutter, die jetzt 90 Jahre alt geworden wäre, hätte es nachfühlen können. Sie verlor ihre schlesische Heimat vor 60 Jahren.

Familie mit Kopftüchern und Pelzmützen auf der Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg
Ein Bild von der Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg – gemalt von Rudi Schütz

30 Jahre später schrieb sie Erinnerungen an das Jahr 1946 auf: „Es war wohl den 16. August, da mussten wir raus. Einen Tag vorher wurde es gesagt. Was wir auf einen Handwagen tun konnten, nahmen wir mit. Für jeden ein Federbett in einen Sack gesteckt. Ein paar Töpfe, auch Teller und Tassen und so, was wir grad noch hatten, denn das meiste war uns ja schon genommen worden. Wir haben nachts noch Brot gebacken für unterwegs, zwei Säckchen Mehl hatten wir auch noch.“ Bei der Kontrolle des Gepäcks musste der Handwagen da bleiben. „Dann musste alles schnell gehen, alles zogen sie aus den Säcken und Taschen, dann wieder schnell einpacken und schon schoben sie uns auf der andern Seite raus. Ein Säckchen Mehl haben sie uns genommen, die Teller haben wir in der Eile vergessen einzupacken. Nachher hatten wir noch zwei Teller, die wir in der Tasche hatten, zwei Teller für vier Personen, und es gab nichts zu kaufen.“

Nur zwei Teller für zwei alte Eltern und ihre beiden Töchter: sie mussten nacheinander, konnten nicht gemeinsam essen. Das war Vertreibung, das war eins von Millionen Schicksalen 1946.

Gab es Hoffnung? „Nach dem Gottesdienst standen wir meistens noch etwas zusammen. Der Zusammenhalt war damals noch größer als es heute ist. Dadurch dass alle vor dem Nichts standen, ließ es sich auch leichter ertragen.“ Erstaunlich, die Aufzeichnungen über das Vertreibungsjahr enden mit einem dankbaren Rückblick: „Die erste Weihnacht in Westfalen, da bekamen wir von der Fabrik 1 Teller, 1 Schüssel, 1 Tasse und 1 größere Tasse und 1 Arbeitskittel mit Ärmeln, den man auch als Kleid anziehen konnte. Das war eine Freude, denn damals bekam man so etwas in den Geschäften nicht zu kaufen. Nun hatte wenigstens jeder einen Teller zum Essen.“

Gedanken zum Sonntag am Samstag, 29. Juli 2006, im Gießener Anzeiger von Pfarrer Helmut Schütz, Pfarrer der Evangelischen Paulusgemeinde Gießen.

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