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Die Menschheit ist sterblich

Silhouetten von Menschen, darüber eine Uhr auf 13 vor 12
Wie viel Zeit bleibt der Menschheit noch? (Bild: Gerd AltmannPixabay)

In einer amerikanischen psychologischen Zeitschrift las ich den Satz: „Der Verlust, den wir alle jetzt erfahren, ist der Verlust der Gewissheit, dass es eine Zukunft geben wird, und nicht der Verlust der Zukunft selbst. In diesem Sinne leben wir in einer Zeit des Übergangs, lernen wir mit unserer Sterblichkeit als Menschheit zu leben und erhoffen wir, dass diese Herausforderung starke neue Qualitäten in jedem von uns hervorruft“ (Joanna Macy).

Wer glaubt heute noch mit Gewissheit daran, dass wir Menschen auf der Erde eine Zukunft haben? Viele trauen sich nicht, sich vorzustellen, wie es im kommenden Jahrtausend sein wird. Konfirmanden, befragt nach dem, was sie fühlen, wenn sie an die Zukunft der Erde denken, antworteten unter anderem, sie bekämen „ein ganz komisches Gefühl im Magen“, „Angst vor der Zukunft wegen der Atombombe“, „Hoffnung, dass es keinen Krieg gibt“ oder äußerten den Eindruck, „dass es auf der Erde bald kein Leben mehr gibt, wenn es so weitergeht“. Nimmt die Jugend bewusster wahr, was uns alle bedroht? Oder äußern Jugendliche nur freimütiger ihre Gefühle?

Im vergangenen Jahr schien auch vielen erwachsenen Menschen unseres Landes bewusst geworden zu sein, wie viel für uns durch Aufrüstung und Umweltvergiftung auf dem Spiel steht. Die „Friedensbewegung“ bescherte uns keinen heißen Herbst der Krawalle, sondern setzte Zeichen gegen das blinde Weitermarschieren auf einem Weg, der in den Abgrund führt. Doch kurzfristiger Erfolg war den Friedensdemonstranten nicht beschieden; die Raketen, die uns nach Meinung der einen beschützen sollen, nach Meinung der anderen aber das Gegenteil erreichen, werden aufgestellt. Viele verlieren nun den Mut, sich weiter für den Frieden einzusetzen. Es hat ja alles doch keinen Zweck, denken manche. Andere bereiten angeblich – hoffentlich nicht – verzweifelte Gewalttaten vor, die die Unfriedensstifter treffen sollen. Resignation, blinde Gewalt, Abstumpfung gegenüber dem Schrecklichen – das sind im Grunde nur verschiedene Seiten derselben Haltung: keine Hoffnung auf Zukunft mehr.

Aber Sterbenmüssen kann auch klug machen. Wer seine Endlichkeit als Geschöpf Gottes begreift, kann erkennen, wozu er seine begrenzten Kräfte in einer begrenzten Lebenszeit nutzen kann. Und wer die Sterblichkeit der ganzen Menschheit erkennt und darüber verzweifelt, dass es so weit kommen könnte, dass wir uns selbst auslöschen, was kann der tun? Zunächst der Verzweiflung nicht ausweichen. Die Verzweiflung fühlen. Erkennen, dass sie ein gesundes Gefühl ist in unserer heutigen Welt und uns mit den anderen Menschen verbindet. Andere Menschen suchen, um nicht allein zu bleiben mit diesem Schmerz über den Zustand unserer Welt. Zumindest in Friedensgruppen sollte es möglich sein, sich gemeinsam diesen Gefühlen zu stellen. Denn nur wer zu fühlen wagt, gewinnt Kraft und Mut, um in einem sehr langfristigen Einsatz gegen die Bedrohungen anzugehen.

Was hält die meisten unter uns davon ab? Natürlich die Furcht vor der Verzweiflung an erster Stelle. Nur wenige fühlen sich stark genug, solche Gefühle überhaupt aushalten zu können. Und ohne die Begleitung anderer Menschen, die ähnlich empfinden und zu denen wir Vertrauen haben, wäre es auch nicht ratsam, sich überwältigendem Schmerz auszusetzen.

Aber zu einer Friedensgruppe gehen? Sich anderen Menschen anschließen, die sich für den Frieden einsetzen? Das ist für die meisten erst recht keine Möglichkeit. Da könnte man ja abgestempelt werden als „Grüner“ oder als „Kommunist“. Da muss man sich mit so vielen verschiedenen Meinungen auseinandersetzen. Da kommt ja doch nichts dabei raus. Aber ist das so sicher? Vielleicht geschieht in einem solchen kleinen Häuflein von Menschen auch einmal etwas anderes. Dass man sich ernstnimmt, auch wenn man aus einer ganz anderen Ecke kommt. Dass man langen Atem gewinnt, weil niemand einen überfordert. Dass man neue Gedanken zu denken wagt, weil keiner einen für seine Ziele missbrauchen will. Dass man zugeben kann, wie machtlos man sich fühlt, weil die anderen da sind, die trotzdem nicht aufgeben.

In der Bibel heißt es: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90, 12).

Zum Nachdenken am Samstag, 4. August 1984, in der Wetterauer Zeitung von Helmut Schütz, Reichelsheim

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