Solidarität gegen die Weltordnung

Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel.

Von To[n Veerkamp ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel „Der Abschied des Messias“ in der exegetischen Zeitschrift Texte & Kontexte (2006/2007), hier – verbunden mit seiner in derselben Zeitschrift publizierten Übersetzung des Evangeliums (2015) – überarbeitet und neu herausgeben von Helmut Schütz, Gießen, 2021. (1)

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Veerkamp Johannes
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Darstellung einer Palme, neben der links ein Römer mit Schwert und Schild steht, während rechts eine jüdische Frau zertrennte Ketten in der Hand hält. darunter steht die hebräische Inschrift: Yehuda hamishtachreret.
Jehuda hamischtachreret, „das sich befreiende Judäa“: Wandfliese in Tel Aviv-Jaffa, die auf die Überwindung Roms anspielt – ein Gegenbild zur „Judaea capta“-Münze 70 n. Chr. (Bild: Talmoryair, Beit Bialik00381, CC BY 3.0)

{1}-{6} Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Wer, wann, wo?

Text und Kontext

Widersprüche

Messias

Die Sprache des Johannes und unsere Sprache

Die andere Kultur

Zur Übersetzung von Johannes 13-17

Lehrhaus

Danksagung

 

Der Abschied des Messias. Eine Lektüre des Johannesevangeliums

Die Vorrede, 1,1-18

1. Das Wort und das Leben, 1,1-3

2. Das Leben und das Licht, 1,4-5

3. Der Zeuge, 1,6-8

4. Das Licht und die Weltordnung, 1,9-11

5. Geburt, 1,12-13

6. Das Wort und die menschliche Wirklichkeit, 1,14

7. Ein Nachwort, 1,15-18

 

Erster Teil: Der offenbare Messias, 1,19-4,54

Eine Vorbemerkung

1. Einleitung: Der Täufer, der Messias und die Schüler, 1,19-51

1.1. Der erste Tag. Die Befragung, 1,19-28

1.2. Der zweite Tag. Einer wie Gott, 1,29-34

1.3. Der dritte Tag. Der Messias, 1,35-42

1.4. Der vierte Tag. Der MENSCH, 1,43-51

2. Der Anfang der Zeichen in Kana, Galiläa. Die messianische Hochzeit, 2,1-12

2.1. Messianische Hochzeit, 2,1-11

2.2. Messianische Gemeinde, 2,12

Scholion 1: Was ist so verwerflich an allegorischer Auslegung?

3. Pascha. Der Messias als Lehrer Israels, 2,13-3,21

3.1. Ein Lehrstück, 2,13-22

3.2. „Du bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht?“, 2,23-3,21

Scholion 2: Das antagonistische Schema im Johannesevangelium?

4. Jener muss zunehmen, ich muss geringer werden, 3,22-36

4.1. Der Täufer und der Messias, 3,22-30

Scholion 3: Über die Reinheit

4.2. Himmel und Erde; Vertrauen und Misstrauen, 3,31-36

Scholion 4: Die Quelle des Johannes

5. Die Frau am Jakobsbrunnen, 4,1-42

5.1. Samaria, 4,1-4

5.2. Im Land des Anfangs, 4,5-15

5.3. Der Mann, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann, 4,16-19

5.4. Weder – noch, Inspiration und Treue, 4,20-24

5.5. ICH BIN ES, 4,25-30

5.6. Was heißt hier essen, 4,31-38

5.7. Befreier der Welt, 4,39-42

6. Das andere Zeichen in Kana, Galiläa: Dein Sohn lebt, 4,43-54

 

Zweiter Teil: Der verborgene Messias, 5,1-12,50

7. Ein Fest. Das Leben der kommenden Weltzeit, 5,1-47

7.1. Das Werk und der Schabbat, 5,1-18

7.1.1. Die Lähmung, 5,1-9a

7.1.2. Der Schabbat, 5,9b-18

7.2. Das Gleichnis von Vater und Sohn, 5,19-21

7.3. Deutung des Gleichnisses: „Und das ist jetzt“, 5,22-30

7.4. Mose, mein Zeuge, 5,31-47

7.4.1. Das Zeugnis, 5,31-37a

7.4.2. Die Schriften, 5,37b-47

Scholion 5: Christozentrismus und Enterbung des Judentums

8. In der Nähe des Pascha. Der Ernährer Israels, 6,1-7,1

8.1. Einstimmung: Nahe war Pascha, das Fest der Judäer, 6,1-4

8.2. Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15

8.3. ICH WERDE DASEIN, 6,16-25

8.4. In der Synagoge von Kapernaum. Die Lehre vom Brot des Lebens, 6,26-59

8.4.1. Das Werk, das Gott verlangt, 6,26-29

8.4.2. Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40

8.4.3. Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51

8.4.4. Der Streit unter den Judäern, 6,52-59

8.5. Der Zerfall der messianischen Gemeinde, 6,60-71

8.5.1. Eine böse Rede, 6,60-66

8.5.2. Worte der kommenden Weltzeit, 6,67-7,1

Scholion 6: Zur klerikal-sakramentalen Deutung der Brotrede, vor allem 6,52-59

9. Sukkot, das Laubhüttenfest. Der große Streit, 7,2-10,21

9.1. Aufstieg nach Jerusalem, 7,1-10

9.2. Vom Messias, 7,11-52

(Intermezzo: Eine Probe aufs Exempel, 7,53-8,11)

9.3. Das Licht der Welt 8,12-30

9.3.1. Wo ist dein VATER, 8,12-20

9.3.2. „Ich tue das in SEINEN Augen Gerade, immer!“, 8,21-30

9.4. Bevor Abraham geboren wurde: ICH WERDE DASEIN, 8,31-59

9.4.1. Die Treue und die Freiheit, 8,31-36

9.4.2. Der Diabolos ist nicht der Teufel, 8,37-47

9.4.3. Steine statt Argumente, 8,48-59

9.5. Von Blinden und Sehenden, 9,1-41

9.5.1. Die Werke Gottes, 9,1-5

9.5.2. Auf einmal sehe ich, 9,6-12

9.5.3. Das Verhör und der Ausschluss, 9,13-34

9.5.4. Eure Verirrung bleibt, 9,35-41

9.6. Von der Einheit Israels, 10,1-21

9.6.1. Ein Gleichnis, 10,1-6

9.6.2. Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18

9.6.3. Spaltung, 10,19-21

10. Chanukka, das Fest der Erneuerung. Leben und Sterben, 10,22-11,54

10.1. Der Messias und Gott, 10,22-39

Scholion 7: Gesetzlichkeit

10.2. Wo alles anfing, 10,40-42

10.3. Du wirst die Ehre Gottes sehen, 11,1-45

10.3.1. Lazarus, 11,1-16

10.3.2. Martha, 11,17-27

10.3.3. Maria und die Judäer, 11,28-37

10.3.4. Macht ihn los und lasst ihn gehen, 11,38-45

10.4. Sterben für die Nation, 11,46-54

11. Die Nähe des Pascha, 11,55-12,50

11.1. Ein Begräbnismahl, 11,55-12,11

11.2. Der messianische König, 12,12-19

11.3. Er verbarg sich vor ihnen, 12,20-36

11.3.1. Das Weizenkorn, 12,20-26

11.3.2. Jetzt ist meine Seele erschüttert, 12,27-33

11.3.3. Wer ist dieser bar enosch, MENSCH? 12,34-36

11.4 Fazit, 12,37-43

11.5 Zusammenfassung der Lehre Jesu, 12,44-50

 

Dritter Teil: Pascha – der Abschied des Messias, 13,1-20,31

12. Vor dem Pascha, 13,1-30a

12.1. Herr und Lehrer als Sklave, 13,1-17

12.2. Herr, wer ist es? 13,18-30a

13. Es war Nacht, 13,30b-18,28a

13.1. Das neue Gebot, 13,30b-38

13.2. Drei Einwände, 14,1-14,26

13.2.1. Der erste Einwand: Wir wissen nicht, wo du hingehst, 14,1-7

13.2.2. Der zweite Einwand: Zeige uns den VATER, und es genügt, 14,8-21

13.2.3. Der dritte Einwand: Warum bist du für uns wirklich und nicht für die Weltordnung? 14,22-31

13.3. Das Gleichnis vom Rebstock. Solidarität, 15,1-17

13.4. Der Kampf, 15,18-25

13.5. Der Abschied, 15,26-16,15

13.5.1. Wenn er kommt, der Anwalt, Inspiration der Treue, 15,26-16,7

13.5.2. Er kommt und klagt an, 16,8-12

13.5.3. Wenn sie kommt, die Inspiration der Treue, 16,13-15

13.6. Die Stunde der Frau, 16,16-28

13.7. Abschluss des Abschiedsgespräches, 16,29-17,1a

13.8. Das Gebet des Messias, 17,1b-26

13.9. Verhaftung und Verhör, 18,1-28a

13.9.1. Verhaftung, 18,1-14

13.9.2. Simons Nachfolge. Jesus vor dem Großpriester, 18,15-28a

14. Der erste Teil der Passionserzählung: Frühmorgens, 18,28b-19,13

14.1. Was ist schon Treue? 18,28b-38a

14.2. Da, der Mensch, 18,38b-19,11

Scholion 8: Obrigkeit von Gott?

14.3. Freund des Cäsars, 19,12-13

15. Der zweite Teil der Passionserzählung: ˁErev Pascha, 19,14-42

15.1. König der Judäer,19,14-22

15.2. Am Kreuz, 19,23-37

15.2.1. Erste Szene: Psalm 22,19 und 23-24

15.2.2. Zweite Szene: Mutter und Sohn, 19,25-27

Scholion 9: Der Friede unter den messianischen Gemeinden

15.2.3. Dritte Szene: Das Ziel ist erreicht, 19,28-30

15.2.4. Vierte Szene: Der Erstochene, 19,31-36

15.3. Die Grablegung, 19,38-42

16. Tag eins der Schabbatwoche, 20,1-31

Vorbemerkung: Die Zeitangabe „Tag eins“

16.1. Das Grab, 20,1-10

16.2. Noch nicht, 20,11-18

Scholion 10: Tod und Auferstehung des Messias; ein für allemal?

16.3. Die geschlossenen Türen, 20,19-23

16.4. Sehen und vertrauen, 20,24-29

Schlusswort: Damit ihr vertraut, 20,30-31

 

Vierter Teil: Galiläa, 21,1-25

17. Am See von Tiberias, 21,1-25

17.1. Auch wir kommen mit dir, 21,1-14

17.2 Der Hirte, 21,15-19a

17.3. Folge mir, 21,19b-23

Unterschrift: Dies ist der Schüler, 21,24-25

 

Epilog

1 [Johannesevangelium und Antisemitismus]

2 [Sozialismus und messianische Inspiration]

3 [Messianismus: Ursprung, Scheitern, Bewahrung]

4 [Liturgien des Widerstands gegen unsere Weltordnung]

Glossar der Schlüsselbegriffe

Literatur

 

Anhang (Helmut Schütz): Zur Bearbeitung des Textes

Wie man sich in der online-Version dieses Buches zurechtfindet

Die Originaltexte

Änderungen der Originaltexte

1. Biblische Eigennamen

2. Umschrift von griechischen und hebräischen Begriffen

3. Fehlerkorrektur und inhaltliche Anmerkungen des Bearbeiters

Jüdische Autoren und das Johannesevangelium

Eine ignorierte Lektüre des Johannesevangeliums

 

{7} Einleitung (2)

Wer, wann, wo?

Wir haben einen Text, von dem wir nicht wissen, wer ihn geschrieben hat und wo und wann er geschrieben wurde. Es gibt viele Hypothesen und es kann nicht die Aufgabe einer Einleitung sein, ihnen eine weitere hinzuzufügen oder Partei für die eine oder andere Hypothese zu ergreifen. Wir haben nur einen fast zwei Jahrtausende alten Text. Über die Person bzw. die Personen hinter dem Text können wir zumindest folgendes sagen: Es handelt sich um einen oder mehrere jüdische Menschen, die in den Schriften Israels bewandert sind, sich in der griechischen Sprache gut auskennen, aber durch ihr Griechisch ihre aramäische Muttersprache durchscheinen lassen. Der Text muss nach dem Jahr 66 entstanden sein, weil er sich auf Ereignisse bezieht, die nicht vor dem letzten Drittel des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung stattfanden.

Text und Kontext

Es geht im Text um Messianisten, d.h. Juden, die an das baldige Kommen des Messias und so an die radikale Umwandlung der Weltordnung glauben. „Wir haben den Messias gefunden“ sagt Andreas zu seinem Bruder Petrus (1,41). Und Philippus sagt zu Nathanael: „Den Mose in der Tora und die Propheten beschrieben haben, den haben wir gefunden: Jesus, Sohn des Josef, aus Nazareth in Galiläa“ (1,45).

Es geht also um einen Galiläer, der der Messias Israels sein soll. Der Text will die Frage beantworten, ob das stimmt: Ist jener Galiläer Jesus der Messias oder nicht? Unser Text – nennen wir ihn einfach Johannes – kennt die Antwort: Dieser ist es, und die angeblich vor ihm als Messias auftraten, seien „Diebe und Terroristen“ (10,8). Sie geben sich als „Hirten“ aus, also als Führer des Volkes, aber sie tun nichts anderes als „stehlen, abschlachten und ins Verderben führen“ (10,10). Eine politische Führung müsste sich vor das Volk – der Text nennt es „Schafe“ – stellen, es beschützen und verteidigen gegen die, die es ausplündern wollen. Letztere nennt der Text „Wolf“, eine Bezeichnung des Römischen Reiches. Die Führung versagt, sie „flüchtet“ und überlässt Stadt, Tempel und Volk den römischen Heeren. Der Messias, eben jener Jesus aus Nazareth, ist genau das Gegenteil, seine Führung des Volkes ist eine gute Führung, er ist „der gute Hirte.“

Der Text stellt Jesus aus Nazareth mitten in die tödlichen Kämpfe seines Volkes im Judäischen Krieg gegen Rom (66-73). „Stehlen, morden, plündern, schlachten und ins Verderben führen“ sind die Stichworte des zehnten Kapitels über den „guten Hirten“, der judäische Krieg ist der Kontext des Johannes.

{8} Widersprüche

Jesus ist in zahlreiche und heftige Widersprüche verwickelt. In keinem Evangelium geht er mit seinen Gegnern so hart in Gericht wie bei Johannes. Seine Gegner sind „die Juden“, die Pharisäer, die Priester, Juden, die anfangs an ihn geglaubt hatten (8,31). Deswegen hat Johannes als Haupttext des christlichen Antijudaismus gewirkt.

Es kommt alles darauf an, hier peinlich genau zu übersetzen. Johannes war Jude, Jesus war auch Jude. Wir übersetzen das griechische Wort Ioudaioi mit Judäer und nicht mit Juden. Jesus war Jude aus Galiläa, also Galiläer, er war kein Ioudaios, einer aus Judäa. Die Galiläer waren sehr orthodoxe Juden, die meisten von ihnen lehnten jegliche Zusammenarbeit mit den Römern ab. Anders die Juden aus Jerusalem; sie neigten zu Kompromissen, ihre Kultur war eher hellenistisch als jüdisch. Wohl auch deshalb wurden die Galiläer von den Menschen aus Jerusalem als Hinterwäldler angesehen. Sie waren im Judäischen Krieg die militante Speerspitze des Aufstandes gegen Rom.

Obwohl bei Johannes Jesus den bewaffneten Kampf strikt ablehnte, hatte er unter den Militanten (Zeloten) Freunde. Petrus war Zelot (13,37; 18,10). Der Widerspruch zwischen dem Galiläer Jesus und den Judäern von Jerusalem war der einer politischen Gegnerschaft. Genauso der Widerspruch zwischen Jesus und den Pharisäern, die nicht nur in Judäa, sondern auch in Galiläa eine einflussreiche und dabei gemäßigt antirömische Partei waren. Jesus sah im Pharisäismus einen politischen Irrweg, der eher zur Spaltung (schisma, 7,43; 9,16; 10,19) unter den Juden im Lande, in Samaria und in der Diaspora führte. Es gehe also nicht nur darum, ein Schüler von Mose, sondern auch darum, ein Schüler Jesu von Nazareth zu sein, damit die Spaltung überwunden werden kann.

Die Pharisäer waren Gegner, aber keine Feinde. Anders ist es mit den Abtrünnigen, Leute, die die Gruppe um Johannes verlassen hatten; in 6,66 wird noch neutral festgestellt, dass „viele seiner Schüler weggingen …,“ aber in 8,44 sind sie „vom Teufel“, wie traditionell übersetzt wird. Unsere Übersetzung weicht bewusst ab: „Ihr seid vom Vater, dem Feind.“ Der diabolos ist nicht der böse Engel aus dem Jenseits, sondern der diesseitige Todfeind, Rom. Rom ist der Vater der Abtrünnigen, sie handeln in seinem Sinne, sie sind Kollaborateure, Verräter, kein Pardon für sie! Es geht also nicht um „die Juden“, nicht einmal um die Einwohner Jerusalems, die Judäer, es geht um eine ganz bestimmte Gruppe von Judäern, die ursprünglich Angehörige der Gruppe um Johannes waren.

Der Anlass für die Abspaltung war die Brotrede, 6,30-58. Diese Rede hat eindeutig sektiererische Züge, sie nimmt sich nicht die geringste Mühe, Verständnis zu we{9}cken, sondern verfährt nach dem Prinzip: „Friss, Vogel, oder stirb.“ (3) Das machte es damals für die Menschen schwierig, diesem Jesus zu folgen, und für uns heute ist es schwierig, Johannes zu lesen, gar zu verstehen.

Unsere Übersetzung nimmt diese Schwierigkeiten nicht weg, aber sie versucht zumindest, die realen Widersprüche hörbar zu machen. Johannes ist ein Sektenpapier, aber kein Dokument des Antijudaismus, gar des Antisemitismus. Es ist das Christentum gewesen, das spätestens seit Augustin die antijüdische Lektüre des Johannes als die einzig mögliche zugelassen hat. Unsere Übersetzung versucht daher, die mächtigen Schichten der traditionellen Übersetzungen und Auslegungen abzutragen; sie stellt sich diametral nicht Johannes, sondern seiner Wirkungsgeschichte entgegen. Wer sich die Brille des Antijudaismus aufsetzt, ist nicht mehr in der Lage, die reale – politische! – Widerspruchsstruktur des Textes wahrzunehmen, eine Widerspruchsstruktur „mit Dominante“, wie der französische Philosoph Louis Althusser sagte. Die Dominante ist der Widerspruch zwischen Rom und Jesus; die Verse 12,27-33 machen dies vollkommen klar, sobald man einzusehen bereit ist, dass „der Fürst der Welt“ Rom ist. Alle anderen Widersprüche im Text sind vom Verhältnis zu diesem Hauptwiderspruch herzuleiten.

Messias

Alle Christen – griechisch Christianoi, auch mit Messianisten zu übersetzen – haben ein großes Problem: Warum ist die Welt trotz des Messias Jesus so geblieben, wie sie war, räuberisch, mörderisch, wölfisch? Johannes hat dieses Problem nicht vom Tisch gewischt. In keinem anderen Evangelium wird um die Lösung so verzweifelt gerungen wie im Johannesevangelium.

Das Dokument dieser Verzweiflung finden wir in der Abschiedserzählung, Kap. 13-17. Es hält daran fest, dass es keinen Kompromiss zwischen Jesus und Rom – in welcher Gestalt auch immer – geben kann. „Es kommt der Führer der Weltordnung“ – Johannes weiß, dass die große Zeit des Römischen Reiches noch kommt – aber „mit mir hat er ja nichts“, 14,30. Dieser Messias scheitert an der Mordlust des Imperiums, seine Auferstehung unterstreicht seinen Weggang, und dies sei für die Schüler „nützlich“ (sympherei, 16,7).

Der Messias ist aber keine Utopie, sondern eine Perspektive, zōē aiōnios. Unsere Übersetzung weicht von der traditionellen Vorstellung „ewiges Leben“ (was ist das?) ab. Wir schreiben „Leben der kommenden Weltzeit“, der messianischen Epoche. Sie kommt. Einstweilen müssen wir von der Inspiration dieser messianischen Perspektive her leben, vom Trost des Messias (paraklētos, 16,7) her. Wir müssen zwar ohne Messias leben, aber wir können inspiriert durch ihn leben, sein Weg, seine Treue ist {10} Leben, 14,6. Deswegen übersetzen wir pneuma tēs alētheias nicht wie gewohnt mit „Geist der Wahrheit“, sondern mit „Inspiration der Treue“, 16,13.

Johannes begreift die vor ihm liegende Zeit als die Epoche des römischen Reiches, tatsächlich war das zweite Jahrhundert die große Zeit des Reiches. Er erahnt die Situation des frühen Christentums und verweist die Schüler in die Katakomben, in den Untergrund. Im Untergrund aber kann man nur überleben, indem und solange man solidarisch mit den Gesinnungsgenossen ist. Daher muss das Leben der Schüler Jesu ein Leben in der Solidarität sein. Das „neue Gebot“ (13,34) ist das der „Solidarität“, dieses Wort ist die einzig mögliche Übersetzung des Worts agapē. Mehr Religion braucht der Mensch nicht.

Wir sehen die Schriftsteller der messianischen Schriften (des „neuen Testaments“) nicht als Theologen, sondern als jüdische Politiker, denen es nicht um das Seelenheil geht, sondern um „die Welt anders,“ eine Welt, in der es Leib und Seele gut gehen wird! Und so übersetzen wir.

Lemgow-Schmarsau, im März 2015
Ton Veerkamp

Die Sprache des Johannes und unsere Sprache (4)

Die andere Kultur

André Chouraqui, der jüdische Rechtsgelehrte, Sprachwissenschaftler, Philosoph und Theologe, hatte sich zum Ziel gesetzt, die semitische Sprachstruktur der Schrift in einer (französischen) Übersetzung möglichst hörbar zu machen. Das betrifft den Rhythmus und den Wortschatz der jeweiligen Originaltexte. In der Zeitschrift „Amsterdamse Cahiers“ (Nr. 5, 1982) hat André Chouraqui seine eigenen Hintergründe und seine Arbeitsweise dargelegt. Er beginnt gleich mit einer Warnung, indem er aus dem Talmud zitiert. Rabbi Jehuda bar Ilai (um 150 u. Z.) habe gesagt: „Wer den Text eines Verses übersetzt, ist ein Lügner, wer eine Glosse zu einem Vers anfertigt, ein Gotteslästerer.“

Ähnlich sahen und sehen das auch viele islamische Theologen. Der Koran dürfe eigentlich nicht in eine andere Sprache übersetzt werden, weil Gott mit Mohammad Arabisch und nichts anderes gesprochen habe; eine Übersetzung würde das Wort Gottes verfälschen. Den Anderen wird der Zutritt zu den Verheißungen des Islam nicht verweigert, jedoch wird ihnen zugemutet, dass sie sich auf das Fremde zu be{11}wegen, das Fremde nicht auf sie; sonst müsste sich die Botschaft den Hörern anpassen.

Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Testaments. Die Bibel in heutigem Deutsch (5) setzt dagegen ganz auf die Verständnismöglichkeiten der Hörenden bzw. Lesenden. Zwischen beiden Extremen hat sich jede Übersetzung zu bewegen. Eine Übersetzung, die sich ganz den eingeschliffenen Verständnismöglichkeiten der Hörenden anpasst, transportiert nicht länger die Struktur des Textes und der Kultur, die in ihm hörbar werden kann. André Chouraqui verlangt dagegen etwas der islamischen Tradition Ähnliches: der zu übersetzende Text muss ein fremder Text bleiben, sonst bewegen sich die Hörenden nicht auf dieses Fremde zu.

Er sagt aber auch: „Unter allen Versionen bleibt die älteste, die der Septuaginta, ein Monument, das als ein unzerstörbares Siegel nicht nur der Erkenntnis der Bibel im Westen, sondern auch allgemein der menschlichen Zivilisation eingestanzt wurde.“ Anders als die islamischen Theologen haben die alexandrinischen Gelehrten um 330-100 v.u.Z. sich dazu entschlossen, die hebräische Schrift in eine völlig anders strukturierte Sprache zu übersetzen. Diese Leistung sei in der Geschichte der Menschheit bis dahin etwas ganz und gar Unerhörtes gewesen. Es sollte fünf Jahrhunderte dauern, so schreibt André Chouraqui, bis ein vergleichbares Projekt durchgeführt wurde: die Übersetzung der klassischen buddhistischen Bücher ins Chinesische durch Kumaradjiva und seine Schüler (344-413 u.Z.). Der Septuaginta, jener griechischen Version der Schrift aus Alexandrien, erstellt vom 3. bis zum 1. Jh. v.u.Z., merkt man aber ihre Herkunft aus dem TeNaK, der hebräischen Bibel, an, weil sie sie gar nicht verleugnen will. Gerade so, mit einem Griechisch, das eigentlich gar kein Griechisch ist, will sie sich den Griechen verständlich machen.

Den Übersetzungen Vetus Latina und Vulgata ging es dabei nicht viel anders. Dieses Latein war für die klassischen Rhetoren – wie Augustin! – eine Zumutung. Das galt mutatis mutandis für alle großen Übersetzungen der Reformationszeit. Erst nachdem das Fremde der großen Übersetzungen sich in die Alltagssprache eingeschliffen hatte und zum Altbekannten geworden war, wirkten sie „selbstverständlich“ und transportierten kaum Neues mehr.

Franz Rosenzweig und Martin Buber haben eine fremde – und daher befremdende – Version der Schrift in deutscher Sprache geschaffen. Ihre Version ist bewusst nicht orientiert an den angeblichen Verständnismöglichkeiten der Adressaten, sondern orientiert sich an der Struktur der zu übersetzenden Botschaft. Der Adressat muss ja erfahren, dass er es mit einem fremden Text zu tun hat, gerade auch, wenn die Botschaft mit deutschen Vokabeln und in deutschen Sätzen daherkommt. Er wird kon{12}frontiert mit einer fremden Kultur. Die Reaktion der Befremdung ist beabsichtigt. Die Version geht bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit der deutschen Sprache, vielleicht über sie hinaus, und sie mutet deutschen Rezipienten zu, sich zunächst von Lesenden zu Hörenden zu entwickeln und sich dann auf deutsch etwas sagen zu lassen, was auf deutsch eigentlich gar nicht gesagt werden kann. Dabei lernen sie auch, dass in ihrer eigenen Sprache mehr steckt, als sie für möglich hielten. Aber vor allem lernen sie, neu zuzuhören und das, was sie früher zu wissen meinten, auf den Prüfstand zu stellen. Die Gute Nachricht transportiert, was die Leute schon zu wissen meinen. Lernen findet hier eher selten statt. Gerade das Fremde ist notwendige Voraussetzung, aus der Botschaft Neues und Bewegendes herauszuhören. Nicht zufällig hat es im vergangenen Jahrhundert wirklich neue und „bewegende“ Übersetzungen gegeben. Die Deutschen haben Buber-Rosenzweig, die Franzosen André Chouraqui, im englischen Sprachraum gibt es Everett Fox.

Buber-Rosenzweig stellen für die Exegese eine Herausforderung dar, weil sie ihr ein neues Zuhören und das Verlassen alter Gewohnheiten im geschlossenen Milieu der sogenannten „Forschung“ zumuten. Einige ihrer Grundeinsichten (Kolometrie, wurzelgetreues Übersetzen, Wortwiederholungen als Strukturelement u.ä.) werden bei der Übersetzung des Johannesevangeliums angewandt. Das geschieht übrigens ohne sklavisches Kopieren. Siegfried Kracauer hat aber schon um 1930 eindeutig auf die Grenzen von Buber-Rosenzweig hingewiesen. Man kann einem alten Text nicht dadurch seine ursprüngliche Gestalt wiedergeben, dass man „archaisierend“ zu Werke geht. Kracauer schreibt:

… der Gebrauch der restaurierenden Ausdrücke „Weihbuhle“ (für Luthers „Hure“ und Zunzens polizeiliche „Beischläferin“) und „Malstatt“ (Luther: „Mal“) entspricht der Redeweise der musik-dramatischen Götter und Recken (Richard Wagners) ebenso sehr wie die Aufforderung: „Besetze dein Samen das Hochtor seiner Feinde“ (Luther: „Und dein Same besitze die Tore seiner Feinde“). Von den heroischen Hochgefilden Wagners führt eine ausgetretene Straße zu den nahebei gelegenen Flachländern Felix Dahns und Gustav Freytags herab, in die etwa die Worte „ohnemaß“ und „fürwahr“ oder die mit der aufgeregten Interpunktion versehene Butzenscheiben-Anrede: „Mit Verlaub, mein Herr!“ flugs versetzen. (6)

Man kann, ohne die Struktur zu vernichten, „heutiges Deutsch“ verwenden und muss trotzdem nicht in die Sprache der Informatik oder der Betriebswirtschaft verfallen. Gleichwohl haben Buber-Rosenzweig theologische Vorentscheidungen getroffen, hinter die man ohne sehr gute Argumente nicht zurückgehen kann. Wenn man Wörter wie pisteuein oder alētheia, die auf die hebräische Wurzel ˀaman zurückgehen, nicht mit „glauben“ bzw. „Wahrheit“, sondern mit „vertrauen“ bzw. „Treue“ {13} übersetzt, dann folgt man Bubers Mahnung, alle Wörter, die auf ˀaman zurückgehen, mit deutschen Wörtern vom Stamm „treu-“ oder „trau-“ zu übersetzen. (7) „Treue“ ist mehr als „Glauben“, weil weltverändernde Praxis mehr als Weltanschauung ist.

Dennoch eine Warnung in eigener Sache. Die Septuaginta war „fremd“ genug; wenn aber Fremde, hier „Christen“, die Deutungshoheit über die Schrift Israels gewinnen, hilft auch die Fremdartigkeit der Übersetzung nichts mehr. Entscheidend ist nicht der sprachliche Purismus, sondem die ideologische Zielsetzung beim Gebrauch von Texten. Der Verfasser der vorliegenden Übersetzung ist sich dieser ideologischen Gefahr bewusst. Übersetzung ist Deutung, und diese Deutung wird zur Diskussion gestellt.

Zur Übersetzung von Johannes 13-17

Unsere Texte sind nicht zum Lesen, sondern zum Vorlesen, zum „Ausrufen“ da. Die Juden nennen den Korpus ihrer Grundtexte – das, was wir „Hebräische Bibel“ oder gar „Altes Testament“ nennen – miqraˀ, das „Auszurufende“, das „zu Rezitierende“. Das Wort hat als Wurzel qaraˀ. Der Islam nennt seine Schrift „Koran“ (qurˀan), was eben auch auf jene gemeinsemitische Wurzel qaraˀ zurückgeht. Es handelt sich um einen durch Atemeinheiten strukturierten Text. Deswegen muss die Schriftform einer Übersetzung diese Struktur sichtbar machen. Das Prinzip der „Kolometrie“ ist daher zwingend; in jede Zeile gehört höchstens so viel, wie mit der menschlichen Stimme in einem Atemzug ausgesprochen werden kann. Das hat Konsequenzen für die Auslegung.

Der TeNaK – so nennt die jüdische Theologie das, was wir „Hebräische Bibel“ nennen, also Tora, Neviˀim, Ketuvim, Weisung, Propheten und Schriftwerke –, ist die Hauptquelle des Johannesevangeliums. Deswegen ist jedes Wort nach seinem hebräisch-aramäischen Äquivalent zu befragen. Das gilt auch für solche trivialen Partikeln wie kai, en usw.; da kai für das hebräische we, en für be steht, ist jeweils zu fragen, ob wir „griechisch“ oder „hebräisch-aramäisch“ zu übersetzen haben.

So kann be nicht nur „in“, sondern auch „mit“ oder „durch“ bedeuten. Die Schüler Jesu sollen nicht „in ihm bleiben,“ denn jeder redliche Mensch muss sich fragen, wie {14} ein Mensch überhaupt in einem anderen Menschen bleiben kann. Semitische Sprachen kennen kopulative Verben wie „sein“ und „bleiben“ nicht. Bleiben (griechisch: menein) steht für die „Wurzeln“ ˁamad oder qum, die „standfest sein“ oder „aufgerichtet sein“ bedeuten, daher auch „verbunden bleiben, fest bleiben“.

Erst recht wird es spannend, wenn der Übersetzer auf Formen des Verbs einai stößt; in klassischen griechischen Texten bedeutet das Verb einfach „sein,“ ist also die Kopula der Identität. Das hebräische haja wird mit Formen von einai wiedergegeben, aber es bedeutet nicht „sein“, sondern „dasein für“, „geschehen“, allenfalls „werden“. Das für das Johannesevangelium so kennzeichnende emphatische egō eimi ist kein Urteilssatz nach dem Muster Subjekt = Prädikat. Es gibt keine Informationen darüber, was Jesus alles war, sondern dass und wie er für andere handelte; daher: „Ich bin für dich da als …,“ „ich geschehe dir als …“ Es kann aber sehr wohl sein, dass der griechische Text solche Verben tatsächlich „griechisch“ meint, einai als Kopula. Der Übersetzer muss sich daher peinlich genau fragen, welcher Gebrauch vorliegt.

Das Zwischenglied bei der Ermittlung des semitischen Hintergrundes eines Textes wie des Johannesevangeliums ist die Septuaginta. Da sie keine idiolekte Übersetzung war (gleiche Worte ausnahmslos mit gleichen fremdsprachigen Äquivalenten übersetzen) und sie ein hebräisches Wort sehr oft durch mehrere griechische Wörter übersetzt und umgekehrt ein griechisches Wort mehrere hebräische Äquivalente hat, ist die Sache nicht einfach. Man muss erst alle Stellen konsultieren und dann eine Auswahl treffen.

Unser Text ist wie ein Bild eines alten Meisters, das unter einer oder gar mehreren durch Lichteinwirkung nachgedunkelten Schichten Firnis verborgen ist. Gegen Firnis ist wenig zu sagen; er schützt das Bild vor schädlichen Einwirkungen von außen. Genauso wenig ist gegen Dogmatik zu sagen; eine verbindliche Auslegung schützt vor willkürlichen, durch den jeweiligen Zeitgeist veranlassten Auslegungen. Aber die Schutzschicht kann selber schädlich werden. Was auf dem Bild ist, ist kaum noch sichtbar. Sorgfältige Restaurierung durch Entfernung der Schutzschichten bringt ein Bild ans Tageslicht, das wir noch nie zuvor gesehen hatten. Unsere Übersetzung, begründet durch eine vor Willkür schützende Auslegung, ist vergleichbar mit einer solchen Restaurierung. Sie ist von uralten, als solchen kaum noch wahrgenommenen dogmatischen Vorurteilen zu befreien.

Johannes kannte keine „Vater-Sohn-Heiliger Geist-Dogmatik,“ wie sie im 3. Jh. in den Kategorien der damaligen griechischen Wissenschaftssprache entwickelt und seit dem frühen 4. Jh. (Konzil von Nizäa) orthodox wurde. Wenn wir solche Wörter wie „Vater,“ „Sohn“, „Heiliger Geist“ lesen, können wir ziemlich sicher sein, dass er, der semitisch dachte, mit der Sprache der Orthodoxie nichts hätte anfangen können. Deswegen müssen wir, wo es geht, anders übersetzen, als es die orthodox – aber nicht biblisch – geschulte Leserschaft erwartet.

{15}Alle neueren Übersetzungen in deutscher Sprache (8) sind „post-nizänische“ Übersetzungen, das heißt, sie verdecken den Text, auch wenn sie kein Zeitungsdeutsch verwenden möchten, mit jener dicken Schicht Firnis teilweise finster gewordener christlicher Dogmatik.

Jesus ist, um ein Beispiel zu nennen, der „Menschensohn“; zugleich ist er Gottes Sohn. Nachdem im Jahr 453 das Konzil von Chalzedon den dogmatischen Streit um „Christus“ mit einer Kompromissformel („wahrer Gott, wahrer Mensch, eine ungeteilte Person in zwei Naturen“) meinte schlichten zu müssen und nachdem diese Formel zum Grundbestand der christlichen Religion in sämtlichen Schattierungen geworden ist, könne, so meinen die meisten, „Johannes“ auch nicht viel anderes als eben „Nizäa“ und „Chalzedon“ gemeint haben.

Da nun aber die Vokabel „Sohn“ auf hebräisch ben, auf aramäisch bar, und auf griechisch hyios geschrieben und ausgesprochen wird, ist die Frage: meinen wir ben oder meinen wir hyios? Ben, bar meint nicht nur Sohn, sondern auch „einer wie.“ Wir erfahren z.B. in Genesis 7,6: we-noach ben-schesch meˀot schana, und, wenn wir wortwörtlich übersetzen, erhalten wir: „Und Noah war ein Sohn von sechshundert Jahren.“ Weder Chouraqui noch Buber übersetzen dort das Wort ben mit dem Wort „Sohn.“ Es handelt sich um einen „Sechshundertjährigen.“ Ein „Sohn des Menschen“ ist also „ein(er wie ein) Mensch.“

In Daniel 7 wurde die Geschichte der Völker der für die Schrift überschaubaren Welt durch ein Regime von räuberischen Mächten bestimmt, Löwe, Bär, Panther, Seeungeheuer. Nach der Entmachtung dieser „Raubtiere“ erscheint als absolute Alternative der „Sohn des Menschen“, also ein Mensch. Und dieser Mensch tut nur noch das, was der Gott Israels verlangt; er identifiziert sich so total mit Gottes Anliegen, dass er „wie Gott“ (ben ˀelohim, bar elahin) handelt und spricht. Von Nizäa und einer Wesensgleichheit (homoousios, consubstantialis), von „Vater“ und „Sohn“ fehlt hier jede Spur.

Mag sein, dass die christlichen Theologen, denen nur die damalige philosophische Wissenschaftssprache des spätantiken Griechischen zur Verfügung stand, nicht anders formulieren konnten, aber Johannes war ein griechisch schreibendes Kind Israels mit Aramäisch als Muttersprache, aufgewachsen und denkend im Sprachkörper des TeNaK. Gleichzeitig müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der Verfasser des Johannesevangeliums zwar ein Gelehrter, aber kein rabbinischer und erst recht kein spätantiker Gelehrter war. Wir werden sehr oft sehen, dass das Johannesevangelium sich vehement und prinzipiell vom rabbinischen Judentum absetzt. Das Johannesevangelium ist zwar ein israelitischer Text, aber er ist sicher kein jüdischer Text – {16} und erst recht kein christlicher Text. Er ist durch die christliche Rezeption seit dem 2. Jh. erst zu einem Text des Christentums und so zu einem christlichen Text geworden.

Diese Bemerkungen mögen reichen, um den Leserinnen und Lesern zu verdeutlichen, wie mühselig die Restaurierung des Textes eines heterodoxen, heftig antirabbinischen Messianisten aus dem Israel des ausgehenden 1. Jh. unserer Zeitrechnung sein muss.

Obwohl wir das Johannesevangelium nur in Gestalt von Handschriften späterer christlicher Theologen haben, müssen wir bei der Übersetzung das oben Gesagte berücksichtigen. Wir haben leider keinen Originaltext, sondern viele Originaltexte, die in Details und manchmal auch in wichtigen Aspekten voneinander abweichen. Der früheste einigermaßen vollständige Text, der Papyruskodex P66, stammt aus der Zeit um 200, mindestens hundert Jahre nach der ersten Niederschrift; weitere wichtige Handschriften stammen aus dem 3.-4. Jh. und aus noch späterer Zeit.

Textkritik kann nicht zum Ziel haben, das Original des Verfassers „Johannes“ zu rekonstruieren. Abgesehen von eindeutigen Schreibfehlern hat jeder Hersteller eines handgeschriebenen Manuskriptes seine guten Gründe gehabt, das eine oder andere neu zu formulieren. So haben Hersteller von Handschriften nach ungefähr 400 begonnen, die „Erzählung von der Ehebrecherin“ mit dem berühmten Satz: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, in den Text einzufügen. Die Frage ist nicht: Gehört sie zum Original?, sondern: Welche Gründe haben welche Leute (Handschriften) gehabt, die Erzählung genau an dieser Stelle einzufügen?

Wir müssen daher zugeben, dass wir nicht einmal einen der Originaltexte, sondern einen „Bastardtext“ übersetzen. Die allgemein benutzte 27. Ausgabe von „Nestle-Aland“ ist ebenfalls ein, wenn auch mit größter Sorgfalt erarbeiteter „Bastardtext“, eine Mischung aus verschiedenen Textvorlagen. Er ist die Grundlage unserer Übersetzung, wobei wir uns die Freiheit herausnehmen, nötigenfalls von ihm abzuweichen und andere Varianten zu wählen.

Ein Problem für sich sind Namen von Personen und Orten im Text. Für christliche Leserinnen und Leser sind Jesus, Johannes, Simon Petrus bzw. Petrus usw. „alte Bekannte.“ Schon aus dem Grund empfiehlt es sich, den Personen ihre ursprünglichen hebräischen bzw. aramäischen Namen zurückzugeben. Für einen griechischen Menschen waren auch Iēsous oder Lazaros exotische Namen, und für sie waren diese Leute Nichtgriechen, und das heißt Fremde, sogar Barbaren. Der Text stammt aus einer uns fremden Kultur – die Leute im Text lebten, dachten, fühlten anders als die Griechen und als wir.

Wenn wir das griechische Wort Ioudaioi mit „Juden“ übersetzen, tun wir, als ob Johannes mit jenen Ioudaioi Probleme hatte, die identisch waren mit jener mörderischen Paranoia, die „Christen“ des Mittelalters und der Moderne hinsichtlich des jeweiligen Judentums entwickelten. Diese Differenz ist zu beachten. Deswegen schrei{17}ben wir das hebräische Jehudim (das aramäische Jehudajin wäre eine weitere Möglichkeit) und das entsprechende Jehuda für das Land und für die Person Judas. Johannes schreibt nicht, wie Lukas, Ierousalēm, sondern Hierosolyma, was zweifelsfrei eine versuchte Transkription der Dualform Jeruschalajim ist; diese Form behalten wir bei. Samaria ist Schomron, die Frau aus Samaria ist daher eine schomronitische Frau. Der Versuch ist weniger Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten Ursprung, sondem eher das, was bei Bertolt Brecht „Verfremdung“ heißt. (9)

Brecht betrachtet Bilder des älteren Breughel. Er schreibt: „Wenn in flämische Landschaft ein Alpenmassiv gesetzt ist oder dem zeitgemäßen europäischen Kostüm das antike asiatische entgegensteht, dann denunziert eines das andere und zeigt es in seiner Besonderheit, aber zugleich erhalten wir Landschaft schlechthin, Leute überall.“ Das scheint mir ein Übersetzungsprogramm für alte Texte überhaupt. „Der Jesus in orientalischem Kostüm unter den flämischen Zeitgenossen“, das ist für Brecht zunächst das Auffällige am Gemälde „Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel“. (10) In „Dialogen aus dem ‚Messingkauf‘“ heißt es: „So wie die Einfühlung das besondere Ereignis alltäglich macht, so macht die Verfremdung das alltägliche besonders“. (11)

Bei den „Bibliodramen“ spielt die Einfühlung die Hauptrolle, Jesus wird so zu einer alltäglichen, daher auch langweiligen, auf alle Fälle auswechselbaren Figur. Nur durch die Verfremdung wird er für uns zu dem, was er für die Erzähler war: das Einmalige, das Besondere an sich. Und die Figuren, die mit ihm in Wechselwirkung stehen, werden einmalig. Brecht hat, trotz seines intensiven Verhältnisses zur Bibel als Erzählung, sich nie zugetraut, aus einem biblischen Stoff ein Drama zu machen. Man führt „Jesus“ nicht auf, so wenig wie man „Mohammad“ aufführen kann. Wir lassen in der Übersetzung die Gestalten im Kleid orientalischer Namen auftreten.

Lehrhaus

Diejenigen, denen die gängigen deutschen Übersetzungen vertraut sind, werden sich bei dieser Übersetzung manchmal wie der Ochse vor dem fremden Scheunentor vorkommen. Wir haben uns deswegen bemüht, sachliche Abweichungen von der Standardübersetzung zu begründen. Das geschieht in einem ausführlichen Fußnotenapparat. Rein technische Hinweise wechseln sich mit kommentierenden Erläute{18}rungen ab. Ein kleines Glossar (neue Übersetzung – traditionelle Übersetzung – griechisches Äquivalent – hebräisches/aramäisches Äquivalent) ist am Ende des Buches abgedruckt.

Die Auslegung eines Textes ist kein wissenschaftliches L‘art pour l‘art. Der gigantische Auslegungskorpus des Talmud zeigt das immer wieder notwendige Bemühen darum, wie die Menschen konkret, unter den jeweiligen herrschenden Weltordnungen, mit der Großen Erzählung (12) leben sollen. Ich denke, dass im gängigen Gottesdienst die Große Erzählung in der Regel nicht ausgelegt, ja, nicht einmal hörbar gemacht werden kann. Den Ort, an dem das geschehen kann und muss, nennen die Juden beth ha-midrasch, Lehrhaus. Die Epoche des Christentums ist vorbei. Diejenigen, die mit und in der Großen Erzählung unter den Bedingungen der Weltordnung, aber nicht nach den Bedingungen der Weltordnung leben wollen, sind heute nur noch eine verschwindende Minderheit, auch in den Kirchen. Wollen sie vermeiden, zu einer fundamentalistischen Sekte zu werden, sind sie auf das jüdische Vorbild „Lehrhaus“ angewiesen. Die Übersetzung ist für das Lehrhaus gedacht. Übersetzung, Apparat und Auslegung mögen den sich Schulenden im Lehrhaus hilfreich sein. Welchen Reim sich der Übersetzer und Ausleger auf diesen lästigen, widerborstigen, ärgerlichen und hin und wieder großen, auf alle Fälle in seiner ideologischen Wirkung immer noch mächtigen Text macht, hat er als seinen eigenen Kommentar kenntlich zu machen: einen Diskussionsbeitrag unter vielen anderen. Wobei die Grenzen zwischen Auslegung und Kommentar zuweilen fließend sind.

Danksagung

Übersetzung, Auslegung und Kommentar weichen auffällig von dem ab, was in den gängigen Übersetzungen, Auslegungen und Kommentaren geboten wird. Mein Kommentar ist kritisch. Unter Kritik versteht die bürgerliche Wissenschaft die Erörterung von Zuordnungsfragen: Wer hat was, wer hat wo „redigiert“ usw., wo hat wer was her, wer ist gnostisch oder nicht usw. Ansonsten hat „Jesus“ bei ihnen immer recht. Vielmehr ist Kritik für mich eine politische Kritik des Johannesevangeliums. Welche Politik schlägt der Text vor, welchen Interessen will er dienen, sind die Mittel tauglich oder nicht, welche ideologischen, politischen, sozialen Folgen hat er, welche hat er zu verantworten, welche nicht? Das setzt eine Distanz voraus, die die meisten Kommentare vermissen lassen. Für mich hat der „Jesus“ des Johannes zuweilen eben nicht recht. Bei einem Konflikt wie dem des Johannes ist es notwendig, sich nicht von vorneherein auf die Seite einer bestimmten Konfliktpartei zu stellen.

{19} Selbstverständlich habe ich eine Reihe von Kommentaren konsultiert. Von allen habe ich gelernt, auch dort, wo ich zu diametral gegensätzlichen Schlüssen gekommen bin. Das gilt erst recht von „großen“ Kommentaren wie denen C. K. Barretts und Rudolf Bultmanns. Ohne sie hätte ich vieles übersehen, was für das Verstehen des Textes notwendig war.

Lemgow, September 2002
Ton Veerkamp

Der Abschied des Messias

Eine Lektüre des Johannesevangeliums (13)

Die Vorrede, 1,1-18

Eine Vorrede schreibt man, wenn das Werk vollendet ist. Verstehen kann man sie erst, wenn man das Werk gelesen hat. Sie ist daher ein zusammenfassendes Nachwort, das man dem Text voranstellt, um den Zweck des Textes von vornherein klarzustellen. Die Vorrede wiederholt. Bei der Lektüre empfiehlt es sich, mit der Auslegung ab 1,19 anzufangen, um dann die Vorrede zu studieren. Die Vorrede kann man wie folgt einteilen:

1. Das Wort und das Leben, 1,1-3

2. Das Leben und das Licht, 1,4-5

3. Der Zeuge, 1,6-8

4. Das Licht und die Weltordnung, 1,9-11

5. Geburt, 1,12-13

6. Das Wort und die menschliche Wirklichkeit, 1,14

7. Ein Nachwort, 1,15-18

{20} 1. Das Wort und das Leben, 1,1-3

Evangelium nach Johannes (14)

1,1 Im Anfang (15) ist (16) das Wort. (17)
Das Wort ist auf GOTT (18) gerichtet,
göttlich (19) ist das Wort.
1,2 Dieses ist im Anfang auf GOTT hin.
{21} 1,3 Alles geschieht durch es,
ohne es geschieht nichts, (20)
was geschehen ist. (21)

Das Problem steckt in der Gepflogenheit, das Verb sein als die einzig gangbare Übersetzung für das hebräische haja zu nehmen. In den europäischen Sprachen ist sein fast immer eine Kopula. (22) Es verbindet das Subjekt mit dem Prädikat nach der logischen Grundformel S = P, Subjekt ist dem Prädikat gleich.

Eine Kopula kennen die semitischen Sprachen nicht. Der Platzhalter für dieses Verb im Arabischen, das Verb kana, wird mit dem Akkusativ konstruiert, ist also keine Kopula. Bei Identitätsaussagen verwenden diese Sprachen nicht die Kopula, sondern die schlichte Juxtaposition.

Haja bedeutet „geschehen, wirken als, existieren als, werden“. Wir können in unserem Text haja nicht mit geschehen übersetzen, weil Johannes dafür ein eigenes Verb hat: ginesthai.

Das Präsens in den ersten Zeilen des Evangeliums übernimmt in unserer Übersetzung die Funktion des „Schockierens“. Würden wir das traditionelle Imperfektum nehmen, „im Anfang war das Wort“, würde eine historische Reihenfolge suggeriert: „Im Anfang war das Wort, und dann kommt weiteres.“ Das Wort wirkt aber immer als Anfang, als Prinzip, bei allem, was geschieht. Das „Wort“ gehört zur inneren Struktur aller menschlichen Wirklichkeit, in ihr wirkt das Wort als Prinzip, als Hauptsache, (23) {22} ENTÊTE, übersetzt André Chouraqui (24) und schreibt diese Übersetzung für bereschith in Genesis 1,1 mit großen Buchstaben, für en archē mit kleinen Buchstaben. Genesis 1,1 geht voran, und Johannes 1,1 folgt ihr.

Man kann die Vorrede des Johannesevangeliums nur vom ersten Kapitel der Schrift her verstehen. Die Schöpfungserzählung beginnt mit dem Satz: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“ Das Verb dieses Satzes wird nur mit dem Subjekt „Gott“ verwendet. Die Belege finden sich hauptsächlich in Genesis 1,1ff. und in Jesaja 40-48. Diese Handlung ist das politische Fundament sowohl der Schrift als auch des Evangeliums.

Das bezeichnet das hebräische Wort bereschith. Die Wurzel dieses Wortes ist rosch, „Haupt, Kopf“. Man könnte übersetzen: „In der Hauptsache schafft Gott den Himmel und die Erde.“ Die Hauptsache ist nicht der Himmel und die Erde, sondern das ganz spezifische Schaffen. En archē, be-reschith hat aber eine strukturelle Funktion. Anfang ist immer in allem, was ist.

Dieser Anfang ist vom Schöpfer her ein vollendetes Werk: „Am siebten Tag vollendete Gott seine Werke, die er machte, und feierte (jischboth, schabath) am siebten Tag von allen seinen Werken“, wie es in Genesis 2,2 heißt. Die Juden feiern das jede Woche. Die Messianisten haben dieser Ansicht widersprochen. Die Schöpfung sei keine vollendete, in der Vergangenheit abgeschlossene Tatsache. Gerade dieser Gedanke wird im Johannesevangelium deutlich ausgesprochen. Deswegen ist bei den Messianisten und vor allem bei Johannes der Schabbat kein Tag, an dem man der Vollendung der Schöpfungswerke gedenkt und deswegen feiert. Johannes hat es deutlicher, provozierender als die anderen Evangelisten gesagt. „Mein VATER verrichtet Werke bis jetzt, so verrichte auch ich Werke“ (5,17), lässt er den Messias Jesus sagen. Ein gelähmter Mensch, ein gelähmtes Israel ist Zeichen der Nicht-Vollendung. Schöpfung ist nicht, Schöpfung wird. Schöpfung bedeutet kein massives Sein, wie „Welt“ oder „Natur“, sondern eine Wirklichkeitsstruktur, eine Struktur des Werdens, niemals des Seins. Dass alles einen Anfang und auch ein Ende hat, ist eine Platitüde. Schöpfung bedeutet, dass nichts in sich selbst begründet ist, dass nichts Wirkliches, also kein Einzelnes in der Wirklichkeit sich zum Absoluten, sprich zum theos, erklären kann.

Mit seinen ersten zwei Worten en archē ruft das Johannesevangelium die Schöpfungstheologie eines Propheten in Babel um die Mitte des 6. Jh. v.u.Z. auf. Dieser anonyme Prophet, als Deuterojesaja bekannt, wollte verhindern, dass die nach Babel verschleppten Menschen aus Juda unter dem immensen Anpassungsdruck ihre Identität und somit ihre Zukunft verlieren. Ihr Gott, also das, was ihre unbedingte Loyalität in Anspruch nimmt, kann daher keine regionale, gar lokale Instanz sein. {23} In einer Zeit, wo die Großmächte – das neubabylonische, das ägyptische und das persische Reich – die Geschicke aller Völker im für jenen Propheten überschaubaren Weltkreis bestimmen, kann das Volk Judas im Exil nur dann eine eigene Zukunft haben, wenn das, was sein gesellschaftliches Wesen ausmacht, eine Instanz über allen politischen Instanzen ist, allen, ohne Ausnahmen in Zeit und Raum.

Dieser Prophet kann also den shooting star der politischen Neuordnung im ganzen Orient, den Perserkönig Kyros (Cyrus), zum Hauptfunktionär („Gesalbten“, maschiach, Messias) des Gottes Judas/Israels machen (Jesaja 45,1ff.).

Der Sinn der Schöpfungstheologie ist politischer, nicht kosmologischer Natur. Der Text Genesis 1,1-2,4 ist die formalisierte Zusammenfassung der Schöpfungstheologie jenes Deuterojesajas. Er fängt mit den Worten bereschith, en archē, an. Genesis 1,1ff. dient der ganzen Heiligen Schrift als Vorrede, wie die Zusammenfassung des Johannesevangeliums dem ganzen Evangelium als Vorrede dient. Kein Jude kann einen Text mit den Worten: „Im Anfang“ hören, ohne das „Im Anfang“ der Schöpfungserzählung mit zu hören.

Den Satz Im Anfang ist das Wort kann man auch so umschreiben: prinzipiell geschieht (in allem, was sonst noch geschieht) das Wort. Was Wort, davar, logos, bedeutet, erzählt das Evangelium ausführlich. Der Text bestimmt die Vokabel „Wort“ genau: zunächst als Prinzip; dann wird gesagt: „Das Wort ist auf Gott gerichtet.“ (25)

In der Schrift ist „Gott“ die Instanz, der man unbedingt Folge zu leisten hat, das Grundprinzip (archē) einer jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung. Sie fungiert als Konvergenzpunkt aller gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse. Im Rahmen der biblischen Logik ist die Frage, ob denn überhaupt ein Gott existiert, eine absurde Frage. Einzig erlaubt ist die Frage: „Wer bzw. was ist der Gott, wer bzw. was funktioniert in einer gegebenen Gesellschaft als Gott?“ Vor diese Frage stellte der Prophet Elia das ganze Volk Israel auf dem Berg Karmel (1 Könige 18,21). Nach dieser Logik kann es keine gottlose Gesellschaft geben, weil keine Gesellschaft auf eine Grundordnung verzichten kann. Sie würde dann auseinanderfallen.

Wir haben in der Schrift keinen abstrakten, idealistischen Monotheismus. Für sie gab es viele Götter, viele Gesellschaftsordnungen vieler Völker, die auf unbedingter Loyalität bestanden. Die Frage ist also: „Welche Gesellschaftsordnung wollen wir?“ In der Sprache des TeNaK lautet die Frage: „Wer ist Gott?“ bzw. „Wie ist sein NAME?“ (26) (Exodus 3,13). Ist die Frage einmal beantwortet, steht die Gesellschaftsordnung nicht mehr zur freien Disposition. Sie wird dann ein absolutes Gegenüber, {24} eben „Gott“. „Gott“ ist eine Funktionsbestimmung, das, was in der altjudäischen Gesellschaft die Funktion hat, „aus dem Sklavenhaus herauszuführen“ (Exodus 20,2).

Der bestimmende Artikel (ho theos, „der Gott“) deutet im Johannesevangelium jene ganz bestimmte Gottfunktion an. Das Wort ist durch diesen funktionalen Gott bestimmt. Pros ton theon bedeutet also nicht auf Gott oder das Göttliche überhaupt hin, sondern auf einen bestimmten Gott, den Gott Israels, gerichtet. Die zwei Vokabeln ton theon, „den Gott“, bedeuten in unendlicher Verdichtung die spezifische, detailliert bestimmte Gesellschaftsordnung, die sich Israel in seiner Tora gegeben hat, eine Ordnung von befreiten Sklaven, von Autonomie und Egalität. Das Wort ist also auf den = diesen Gott gerichtet, also nur von dieser Schrift her verständlich. Das gilt für das Johannesevangelium und überhaupt für alle messianischen Schriften. (27) Unter der Voraussetzung, dass wir in der deutschen Übersetzung unter Gott ohne Artikel diesen Gott verstehen, können wir übersetzen: „Auf Gott gerichtet.“ Ist die Voraussetzung nicht erfüllt, muss der bestimmte Artikel mit übersetzt werden. In der Übersetzung gehen wir davon aus, dass die Voraussetzung erfüllt ist.

Der dritte Satz lautet: „… gottbestimmt ist das Wort.“ Es handelt sich nicht um einen griechischen Urteilssatz nach dem Muster S = P. Das Wort ist nicht mit irgendeinem, Prädikat identisch, sondern es geschieht gottbestimmt. Der Artikel fehlt hier, deswegen nicht Gott, sondern gottbestimmt oder, wenn man will, göttlich. Natürlich ist das keine allgemeine Feststellung, das Wort hat keine allgemeine, göttliche Struktur, sondern eine spezifische: Das Wort vollzieht sich im Rahmen dessen, was in Israel der Gott heißt, und es wirkt wie (der) Gott.

Dieses „wie Gott“ wird im Evangelium sachlich durch den Ausdruck „Sohn des Gottes“ (hyios tou theou) wiedergegeben. Ein im Denken der spätantiken Kultur geschulter Grieche des 3. oder 4. Jh. kann solche Sätze nicht anders als im Rahmen seiner Logik lesen, im Rahmen der abendländischen Logik überhaupt. Natürlich wird er seine Probleme haben.

Der logische Satz das Wort = Gott scheint gegen den monotheistischen Hauptsatz der Schrift zu verstoßen. Er muss den Satz dann interpretieren. Er kennt die alexandrinische philosophische Tradition und ihren großen Höhepunkt, die Philosophie Plotins, er benutzt ihre wissenschaftlichen Kategorien, er hat ja gar keine anderen. Er muss fragen: „Welcher Art ist die Identität Wort = Gott?“ Manche interpretieren: Das Wort ist nicht Gott, sondern göttlich. Das sahen aber andere anders, und der Streit begann.

Ist die Identität zwischen Gott und Wort als Wesensgleichheit oder als Wesensähnlichkeit, auf griechisch homoousios oder homoiousios, zu denken? Der Unterschied scheint subtil, das Problem ist wichtig. Ordnet man das Wort dem Gott Israels unter, {25} reduziert man den Christus der christlichen Religion letztlich zu einem der großen Propheten Israels. Dem Judentum und später dem Islam gegenüber hätte das Christentum dann keine wesentlichen ideologischen Vorteile. Macht man aus dem Wort auf neoplatonische Weise eine der Emanationen des Einen (to hen), verliert das Christentum der Spätantike gegenüber seinen einmaligen Charakter.

Das Christentum sollte aber nach 323 – in dem Jahr übernahm Konstantin die Alleinherrschaft über das Reich – die Rolle einer einzig legitimen und universalen – oder besser gesagt: hegemonialen – Reichsideologie spielen. Nachdem die spätantike Kultur unter Kaiser Julianus (361-363) noch einmal und vergeblich versucht hatte, das verlorene Terrain zurück zu erobern, wurde sie als Heidentum unter Theodosius (379-395) verboten. Das Christentum hatte das Rennen gemacht, das christliche Mittelalter, basierend auf der neu organisierten Ausbeutung bäuerlicher Arbeit (Kolonat), begann. Mit der plotinischen Übersetzung und Deutung des Satzes „und das Wort ist Gott“ war das Christentum in seinem Bereich, Byzanz, dem Abendland, ideologisch hegemoniefähig geworden. Seitdem können wir kaum noch anders, als Johannes 1,1-18 griechisch zu lesen. Unsere Lektüre hier ist aber orientalisch, wenn man will.

Der vierte Satz nimmt das Wort bereschith wieder auf. Jetzt aber ist das Wort bestimmt durch die Gesellschaftsordnung Israels. Es war nicht von Anfang auf Gott allgemein gerichtet, sondern es ist auf diesen ganz bestimmten Gott gerichtet und das im Anfang, prinzipiell, also von dem her, was in Israel Schöpfung heißt. Dieser Anfang ist keine Vergangenheit, sondern Gegenwart. Da, wie wir gesehen haben, Schöpfung etwas Politisches und nicht Kosmologisches ist, bestimmt sie politisch die Richtung auf die Tora, die Gesellschaftsordnung des alten Israels als solche, „auf Gott“, hin.

Der fünfte Satz ist ein Doppelsatz: a) „Alles geschieht durch es (das Wort)“ und b) „ohne es geschieht nichts“. Die Interpunktion der Handschriften ist ein Deutungsversuch der jeweiligen Hersteller. Manche haben hinter Satz b) einen Punkt, andere fahren fort mit einem Relativsatz. Der nächste Punkt in der ältesten vollständigen Handschrift aus der Zeit um das Jahr 200 – des Papyrus P66 – erscheint erst nach dem Satz: „Und das Licht scheint in der Finsternis.“

Wir müssen uns entscheiden und setzen einen Punkt hinter „was geschehen ist“. „Was geschehen ist“ bedeutet „alles, was in der Vergangenheit begonnen und in der Vergangenheit abgeschlossen wurde“ (gegonen, semitisches, kein griechisches Perfekt). Erst durch das Wort wird die vollendete und abgeschlossene Vergangenheit aufgebrochen und zukunftsfähig gemacht. Durch das Wort wird die Vergangenheit wirklich: egeneto, semitisches, kein griechisches Imperfekt. Die Verbalform egeneto zeigt die Fortdauer alles dessen, was in der Vergangenheit begann. Ohne es (das Wort) ist alles, was in der Vergangenheit geschah und in der Vergangenheit abgeschlossen wurde, endgültig vorbei. Die Geschichte – das Kürzel für alles, was in der {26} Vergangenheit begann und abgeschlossen wurde – hätte dann keinen Atem, erst recht keinen langen Atem. Ohne das Wort geschieht nichts mehr, was Geschichte war, ho gegonen. Das Wort ouden, „nichts“, oder, wie andere Handschriften wollen, oude hen, „nicht ein Ding“, bezieht sich auf ho gegonen, „das, was geschehen ist“. Unser Perfekt gibt das Semitische am Perfekt gegonen nur ungenügend wieder; man müsste eigentlich unschön umschreiben, etwa: „Das, was in seinem Werden abgeschlossen ist.“ (28) Nicht ein Ding ist in seinem Werden abgeschlossen, das ist die Aussage. Durch das Wort bleibt alle Geschichte offen, lebendig, wie wir in der nächsten Zeile hören werden. Nichts ist vorbei und nichts ist fertig.

2. Das Leben und das Licht, 1,4-5

1,4 Mit ihm ist Leben.
Das Leben ist das Licht für die Menschen.
1,5 Und das Licht scheint in der Finsternis,
die Finsternis hat es nicht überwältigt.

„Mit ihm ist Leben“, heißt es. Oder, traditionell: „In ihm ist Leben.“ Leben ist der Gegensatz zu Nichts. Das Leben muss näher bestimmt werden. Das geschieht durch Licht, nicht Licht an-sich, nicht Licht als kosmisches Prinzip, sondern Licht für etwas, Licht der Menschen. Der Genitiv ist hier ein sogenannter Genitivus objectivus. Sobald es um nähere Bestimmungen von Wort, Geschichte, Leben, Licht geht, taucht die menschliche Wirklichkeit auf. Diese menschliche Wirklichkeit ist konkrete Geschichte. Bevor diese Geschichte zur Sprache kommt, muss der Widerspruch zum Licht benannt werden. Der Widerspruch lautet Leben/Licht gegen Nichts/Finsternis. Dieser Widerspruch führt uns wieder in die Schöpfungserzählung zurück, wir zitieren noch einmal (Genesis 1,1-4a):

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.
Die Erde ist wirr und irr geworden:
Finsternis über der Fläche des unendlichen Meeres.
Gottessturm brütete über der Fläche des unendlichen Meeres.
Und Gott sprach:
„Es werde Licht!“
Licht wurde.
Und Gott sah das Licht – dass es gut war.

{27} Bevor wir dort das Wort Licht überhaupt hören, bevor überhaupt ein Wort gesprochen wird, hören wir in der Schöpfungserzählung das Wort Finsternis. Bevor aus dem Himmel und der Erde Schöpfung wird, muss die Finsternis in ihre Schranken gewiesen werden, genauso wie das Chaosmeer. Die Propheten haben das, was vielleicht ursprünglich ein kosmologischer Ursprungsmythos war, zu einer politischen Lehre des von Menschen verursachten Chaos und ihrer finsteren Zustände gemacht. Wir müssen hier zwei Texte mithören. Zunächst Genesis 1,4f.:

Gott trennte zwischen dem Licht und der Finsternis.
Gott rief dem Licht zu: „Tag!“
Der Finsternis rief er zu: „Nacht!“
Es wurde Abend, es wurde Morgen,
Tag eins. (29)

Hiermit ist die Finsternis sozusagen entmythologisiert. Sie ist kein kosmisches Prinzip, sie ist schlicht Nacht, mehr nicht, weniger auch nicht. Es gibt freilich auch eine von Menschen verursachte Finsternis. Wir hören Jeremia 4,23-26:

Ich sah das Land, da, irr und wirr,
den Himmel: Keins seiner Leuchten!
Ich sah die Berge, da, erschüttert,
alle Hügel, sie wälzen sich um.
Ich sah, da, keine Menschheit mehr,
alle Vögel des Himmels verflogen.
Ich sah, da, Weinberg ist Wüste,
Städte zerstört,
vor dem Antlitz des NAMENS,
vor dem Antlitz der schnaubenden glühenden Wut seiner Nase.

Hier wird der Zustand eines von Krieg verheerten Landes beschrieben mit dem Zustand einer Erde vor jedem schöpferischen Wort: Irr und wirr, kein Licht, keine Menschheit, keine Vögel, alles verwüstet, und zwar wegen der törichten Politik der Eliten Jerusalems, ihrer Verweigerung, das Reformwerk des guten Königs Josia zu bewahren und die Machtverhältnisse in der Region zu beachten. Das Ergebnis dieser Politik ist das Nichts und die Finsternis. Der Prophet kann das nur als Resultat der zornigen Reaktion des Gottes Israels verstehen. Wenn die Ordnung der Tora, die ja für Israel „Gott“ ist, durch die Politik seiner Eliten zerstört wird, reagiert diese Ordnung mit dem Zorn ihres Zerstörtseins. Es geht nicht um einen mythischen Urzustand, es geht um das, was die Menschen um Johannes damals und was wir heute täglich sehen: Finsternis, Chaos, Zerstörung des Lebens.

{28} Was Jeremia beschreibt, ist genau der Zustand des Volkes von Judäa nach dem Jahr 70. Die Stadt ist verwüstet, die Bevölkerung massakriert, das Land unbewohnbar. Was not tut, ist ein vollkommener Neuanfang. Von der Katastrophe des Jahres 70 führt kein Weg mehr zurück, nichts wird mehr sein, was je war. Wegen des aktuellen Zustandes muss jemand, der wie Johannes das Jahr 70 als das Ende deutet, mit den Worten im Anfang beginnen. Das Werk des Messias ist eine neue Erde unter einem neuen Himmel, Leben und Licht. Die Finsternis hat nicht gewonnen: Das Verb, das hier auftaucht, katalambanein, „überwältigen“, hat in der griechischen Version der Schrift immer eine gewalttätige Konnotation. Gegen das Nichts und die Finsternis, die seit dem katastrophalen Ausgang des judäischen Krieges 66-70 herrschten, holt Johannes „Licht“ und „Leben“ hervor: die Finsternis hat Licht und Leben nicht überwältigt.

3. Der Zeuge, 1,6-8

1,6 Es geschah:
ein Mensch,
gesandt durch GOTT. (30)
Sein Name: Johannes.
1,7 Dieser kam für das Zeugnis, das Licht zu bezeugen,
damit alle vertrauen durch ihn. (31)
1,8 Nicht jener war das Licht,
sondern er sollte das Licht bezeugen.

„Es geschah: Ein Mensch, Johannes sein Name.“ Dem Satz Johannes 1,6 ist der Satz Richter 13,2 sehr ähnlich:

Es geschah: ein Mann (Mensch), Gesandter von Gott,
sein Name: Johannes.

Es geschah: ein Mann aus Zora, aus einer danitischen Großfamilie,
sein Name Manoach.

{29} Der Zusammenhang zwischen beiden Sätzen ist nicht nur die „semitische“ Herkunft der Sprache des Johannes, er ist auch inhaltlich bestimmt. Beide, Manoach und Johannes, ermöglichen eine Befreiungsgeschichte, sind aber nicht die Befreier. Mit dem Wort wa-jehi, (kai) egeneto, „es geschah“, wird eine nichtige Geschichte von Unterdrückung und Aussichtslosigkeit beendet. Jetzt wird aus Vergangenheit wirkliche Geschichte. Dieser Ausdruck kommt viele hunderte Male in der Schrift vor; es geht immer um das, was geschah, nie um das, was war.

Der Held der Erzählung Richter 13-16 ist nicht Manoach, sondern Simson, aber ohne Manoach wäre die Erzählung über den Befreier Simson nicht möglich gewesen. Auch die Erzählung vom Messias Jesus wäre ohne Johannes nicht möglich gewesen. Es geschieht ein Mensch, und diese Geschichte ist „gottbestimmt“; dieser Mensch ist ganz bestimmt von dem, was in Israel „Gott“ ist, er ist „göttlich“. Der Name des von Gott her gesandten Menschen ist Johannes, ein priesterlicher Name; bei Lukas entstammt er einer Priesterfamilie. Bei Johannes ist er aber nicht Johannes der Täufer, sondern Johannes der Zeuge.

Auch Vers 7 hat eine hebräische Färbung. Würde man dann das hebräische Resultat wieder „verdeutschen“, erhielte man: „Dieser kam für das Zeugnis …, damit alle vertrauen durch ihn.“ (32) Das Ziel seiner Tätigkeit als Zeuge ist, Vertrauen zu wecken. Das Ziel des Johannes ist identisch mit dem Ziel des ganzen Evangeliums, des Schriftstücks, das „aufgeschrieben wurde, damit ihr vertraut“, 20,31. Johannes ist Zeuge in einem Verfahren um die Vertrauenswürdigkeit des Messias. Näheres hören wir in 1,19-34 und 3,23-30. „Er war nicht das Licht“ ist die Kurzfassung von: „Er bekannte, er leugnete nicht, er bekannte: Ich bin nicht der Messias“ (1,20). Aber Johannes ist der Kronzeuge des Messias, der das Licht der Welt ist (8,12). Der Zeuge weckt das Vertrauen in den Messias Jesus, das war seine Lebensaufgabe.

Wir erklären das Verb pisteuein. Es ist die griechische Form der kausativen Verbalform der Wurzel ˀaman, „treu, fest sein“; kausativ also, he-ˀemin, „(einen Menschen) vertrauenswürdig sein lassen“, also „vertrauen“. (33) Glauben ist eine mehr oder weniger begründete Meinung haben, Vertrauen setzt eine Praxis in Gang. Der {30} Evangelist Johannes überträgt Substantive bzw. Adjektive der hebräischen Wurzel ˀaman mit griechischen Wörtern vom Stamm alēth-. Wir haben den Vorschlag Martin Bubers übernommen, alle Wörter dieser hebräischen Wurzel mit deutschen Wörtern vom Stamm trau- oder treu- zu übersetzen. Das Licht ist vertrauenswürdig, es kann Vertrauen erwecken. Die der Treue des Lichtes entsprechende Handlung der Menschen ist pisteuein, „vertrauen“.

4. Das Licht und die Weltordnung, 1,9-11

1,9 Das ist das vertrauenswürdige Licht, (34)
das jeden Menschen erleuchtet,
das in die Welt (35) kommt. (36)
1,10 In der Welt wirkt es,
die Welt geschieht durch es,
aber die Weltordnung erkennt es nicht an. (37)
{31} 1,11 In das ihm Eigene kam es,
aber die Eigenen nahmen es nicht an. (38)

Das Licht leuchtet in die Weltordnung (kosmos) hinein. Nicht die Welt als Lebensraum für die Menschen ist finster, sondern die Art und Weise, in der die Menschen den Lebensraum geordnet, organisiert, haben; das griechische Verb kosman bedeutet „in (schöne) Ordnung bringen“ (vgl. Kosmetik). Wir haben hier keine Pseudometaphysik der Urgegensätze Licht/Finsternis, Himmel/Erde bzw. Welt, Geist/Fleisch bzw. Materie usw. Hier wird keine Kosmologie, erst recht keine „gnostische“, sondern Politologie verhandelt.

Kosmos ist durch und durch griechisch. Wie der Himmel ein geordnetes, berechenbares Gesamt von Himmelskörpern ist, so ist die Welt eine politisch geordnete Welt, wie eine klassische Polis, eine Weltordnung. Das Hebräische hat ˁolam, „Epoche“, keine räumliche, sondern eine zeitliche Vorstellung. Die Erde (ˀerez) besteht für Israel aus vielen „Erden“/Ländern (ˀarazoth), in denen viele Völker nach ihren eigenen Satzungen oder Ordnungen, unter ihren eigenen „Göttern“ leben, Geschlecht für Geschlecht in Weltzeit (dor wa-dor le-ˁolam). Das ist eine völlig andere Art von Weltsicht.

Seit der Eroberung des Orients durch Alexander leben die Menschen in einer Ordnung, die durch die Urbanität des Hellenismus bestimmt ist, eben in einem Kosmos. Durch die Römer wird diese Ordnung buchstäblich zur Weltordnung. Und genau das ist das politische Problem. Die Weltordnung zerstört alle traditionellen Ordnungen der Menschen. Für sie ist Ordnung wirklich Unordnung, alles gerät aus den Fugen. Den Messianismus kann man nur verstehen vor dem Hintergrund traditionalistischer Revolten im ganzen Orient gegen die hellenistische Modernisierung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen. Erfolg hatten sie zeitweise in Judäa durch die makkabäische Revolution um 170 v.u.Z.

Der Zweck des Lichts ist die Erleuchtung der Menschen, eine Erleuchtung durchaus im Sinne der Aufklärung. (39) Sie sollen sehen, wie die Weltordnung wirklich ist, und sich entsprechend verhalten. Wir haben uns dafür entschieden, den letzten Nebensatz, „kommend in die Weltordnung“, nicht auf das Wort Menschen (anthrōpon), sondern auf das Wort Licht (phōs) zu beziehen; grammatikalisch ist beides möglich. (40) {32} Der Messias – das Licht – ist nämlich der „der-wie-Gott, in die Weltordnung kommend“; so definiert Martha den Messias (11,27). Der Messias „klärt“ die Menschen „auf“. Die Verbalform ēn darf nicht mit einer Form unseres Verbs sein übersetzt werden. Es geht nicht um ein allgemein-abstraktes Sein, sondern um ein konkretes, tatkräftiges, effektives Geschehen, Wirken.

Der nächste nebengeordnete Satz ist schwer zu deuten. Wir können ihn nicht von einer orthodox-trinitarischen Orthodoxie her erklären, der VATER habe die Weltordnung durch den SOHN erschaffen, sie sei demnach durch ihn geworden. Die Weltordnung ist aber kein Schöpfungswerk, sondern Menschenwerk. Der Lebensraum der Menschen ist hier die Erde; sie ist geschaffen. Aus der Erde machen die Menschen Welt, Weltordnung. Wenn also übersetzt wird, die Weltordnung sei durch es (Licht, Wort) geworden, verbreitet man Unsinn. Denn man müsste dann fragen, wie der Satz weiter zu denken ist. Geworden zu dem, was sie ist? Oder geworden zu dem, was sie sein soll? Der Sinn ist: Durch das Wort wird die herrschende Weltordnung (ho kosmos houtos, jüdisch ˁolam ha-se) konfrontiert mit ihrer absoluten Alternative, der kommenden Weltzeit (ho aiōn ho mellōn, ˁolam ha-baˀ). (41) Keine herrschende Weltordnung kann ihre eigene radikale Alternative denken; sie müsste dann ihren Untergang denken. Das Wort ist etwas, das von außen, als Fremdes, auf {33} sie zukommt und Dinge in Gang setzt, die sie vollkommen in Frage stellen werden. Wirklich deutlich wird das erst im Gespräch zwischen dem Messias und dem Vertreter Roms, Pilatus. Diese Weltordnung und das Wort schließen sich absolut aus. Die Geschichte, die durch das Wort in Gang gesetzt wird, steht der Geschichte Roms – der konkreten Weltordnung – diametral gegenüber.

Das Wort kam in das Eigene. Die Kommentare behandeln das Eigene in der Regel als ein Synonym für Welt. Aber es ist nicht die Welt, erst recht nicht die Weltordnung. Es geht um das, was das Eigene des Messias unter den Bedingungen der Weltordnung ist: das judäische Volk. Die Eigenen sind die, die im Evangelium Ioudaioi genannt werden, die Judäer, „Juden“ in den gängigen Übersetzungen. Dieses Volk nimmt seinen eigenen Messias nicht an. Das ist der Konflikt, der das ganze Evangelium bestimmt, der Kampf um Anerkennung des Messias durch das eigene Volk.

5. Geburt, 1,12-13

1,12 Die es aber annehmen,
denen gibt er die Macht,
Gottgeborene zu werden, (42)
denen, die seinem Namen vertrauen,
1,13 die nicht aus Blut, (43)
die nicht aus dem Willen des Fleisches, (44)
die nicht aus dem Willen eines Mannes, (45)
sondern die gottgemäß gezeugt wurden.

{34} Die aber (dennoch) den Messias Jesus annahmen, erhalten „Macht, Gottgeborene zu werden“. Der Status derer, die jetzt benannt werden, hat mit Macht (exousia) zu tun. Wir umschreiben den Ausdruck tekna tou theou, „Kinder Gottes“, mit „Gottgeborene“. Aus der Schrift kennen wir Ausdrücke wie bene ha-ˀelohim, „Gottessöhne“, ˀisch ha-ˀelohim, „Gottesmann“, aber jilde ha-ˀelohim, „Kinder Gottes“, kommen in der Schrift nicht vor. Gott hat keine Kinder. Was der Ausdruck bedeutet, geht aus den nachfolgenden Bestimmungen hervor. Zwei Bestimmungen sind positiv, drei negativ. Die zwei positiven Bestimmungen umrahmen die drei negativen:

Denen, die seinem (des Messias) NAMEN vertrauen,
die nicht aus Blut,
die nicht aus dem Willen des Fleisches,
die nicht aus dem Willen des Mannes,
sondern die gottgemäß gezeugt werden.

Johannes denkt nicht in erster Linie an Menschen überhaupt, sondern an diejenigen aus dem eigenen Volk, die den Messias annehmen. Annehmen bedeutet vertrauen, vertrauen im NAMEN des Messias. Der Name war in jener Kultur mehr als eine Kennzeichnung eines Individuums, anders als bei uns. Bei uns kann man beliebig seinen Namen wechseln. Aber Name in einer altorientalischen Kultur ist das unverwechselbare, unaufgebbare Eigene der Person, es ist die ureigene Lebensaufgabe einer Person. Tut sie nicht das, was ihr Name sie zu tun heißt, bleibt es für immer ungetan und ungeschehen. Der NAME des Messias ist die Befreiung der Welt von der Ordnung, die auf ihr lastet, Johannes 4,42. Vertrauen im NAMEN (oder auf den NAMEN hin) bedeutet, dass man vertraut, dass der NAME hält, was er verspricht.

„Nicht aus Blut.“ Wir haben hier für Blut einen Plural haimata, den es in der deutschen Sprache nicht gibt. Auf Hebräisch gibt es den Plural damim. Er kommt 73mal in der Schrift vor, vor allem im Zusammenhang mit Opferritualien. Exodus 4,24-26 erzählt:

Es geschah:
Unterwegs, im Nachtlager, trat der NAME ihm (Mose) entgegen,
er suchte ihn zu töten.
Zippora nahm einen Kieselstein und schnitt ihrem Sohn die Vorhaut ab,
sie berührte mit ihr seinen Fuß.
Sie sagte: „Ein Bräutigam des Bluts (damim, Plural) bist du mir geworden.“
Er (der NAME) ließ von ihm ab.
Deswegen hatte sie „Bräutigam des Bluts“ gesagt,
der Beschneidung wegen.

Nicht die Beschneidung, Merkmal der Unterscheidung Israels von den anderen Völkern, entscheidet darüber, wer zum „Eigenen des Messias“ gehört. Nicht aus Blut heißt daher: nicht aus der Beschneidung und für sie gezeugt werden. Hier gibt es keinen Meinungsunterschied zwischen Johannes und Paulus.

{35} „Nicht aus dem Willen des Fleisches“. Thelēma steht für zwei hebräische Wörter: chefez und razon. Buber übersetzt das erste meistens mit „Gefallen“ und das zweite mit „Gnade“, aber auch mit „Gefallen“ (Hiob 14,6); beide Wörter haben eine ähnliche Bedeutung. Von Gott heißt es: „Alles, was ihm gefällt (ˀascher chafez, ho ethelēsen), tut er“, Psalm 115,3. Das impliziert in der Schrift keine Willkür, wohl aber eine nicht hinterfragbare Macht.

„Fleisch“ ist keine negative Vorstellung. Es bedeutet die verwundbare, vergängliche menschliche Existenz. Jesaja 40,6ff. sagt: „Alles Fleisch ist wie Gras …, das Gras verdorrt …, das Wort unseres Gottes besteht (jaqum – steht) in Weltzeit.“ Was die menschliche Wirklichkeit zeugt und erzeugt, wird immer „Fleisch“ sein, vergänglich wie das Gras und wie die Blumen des Feldes. Die Negation von „Gefallen des Fleisches“ ist keine Ablehnung der menschlichen Existenz; sie wäre absurd, wie die Ablehnung des grünen Grases und der Blumen des Feldes auf Grund ihrer Vergänglichkeit absurd wäre.

Der Gegensatz ist der zwischen „vergänglich“ und „bleibend“. „Nicht aus dem Willen des Fleisches“ heißt: nicht aus einer Existenz gezeugt werden, die an diese Weltzeit, an den ˁolam ha-se, und somit an die herrschende Weltordnung gebunden bleibt. Johannes will keine menschliche (fleischliche) Existenz, die an der Vergänglichkeit ihrer historischen Bedingungen gebunden bleibt, sondern eine messianisch inspirierte (nicht: geistige!) Existenz, die die kommende Weltzeit verkörpert. Der Gegensatz zu einem vergänglichen, verwundbaren, körperlichen Leben ist bei Johannes nicht das ewige, geistige Leben im Jenseits, sondern ein Leben der kommenden Weltzeit, zōē aiōnios, im Diesseits. Das Adjektiv aiōnios bedeutet „den kommenden aiōn, den ˁolam ha-baˀ (Buber: Weltzeit), die kommende Epoche betreffend“. Der Ausdruck stammt von Daniel. Wir kommen darauf zurück, wenn wir die Stelle 5,29 besprechen. Diese Epoche wird bleibend sein, eine Epoche, in der das menschliche Leben nicht länger durch unmenschliche Verhältnisse bedroht ist. Wir übersetzen daher zōē aiōnios konsequent mit „Leben der kommenden Weltzeit“ und nicht mit „ewiges Leben“.

„Nicht aus dem Willen des Mannes“. Hier ist an Abraham zu denken. Der Sohn ist das Thema von Genesis 15-22. Dieser Sohn wird geboren aus einer Frau, „der es nicht länger nach der Art der Frauen erging“, und die mit einem Mann lebte, „der alt war“, aus zwei Menschen, die zeugungsunfähig waren, Genesis 18,12-14; 21,1-2:

Sara lachte in ihrem Innersten, sie sagte:
„Nachdem ich ein Nichts bin,
soll mir dann noch Wollust werden,
obwohl mein Herr alt ist?“
Der NAME sprach zu Abraham:
„Warum lachte Sara so und sagte:
‚Soll ich da wirklich gebären,
{36} obwohl ich alt bin?‘
Ist das denn für den NAMEN ein Ding der Unmöglichkeit?
Ich werde zu dem Zeitpunkt zurückkommen,
um diese Jahreszeit hat Sara einen Sohn.“

Und der NAME ordnete es für Sara, wie er gesagt hatte,
Er tat für Sara, was er geredet hatte:
Sie wurde schwanger.
Sara gebar dem Abraham einen Sohn, als er schon alt war,
an dem Zeitpunkt, den Gott mit ihm beredet hatte.

An keiner Stelle ist davon die Rede, dass Abraham diesen Sohn, den einzig Geborenen, mit Sara gezeugt hatte. Es ist nur von Sara und ihrem Sohn die Rede. Wir hören nirgends den klassischen Satz: „Der und der (Abraham) erkannte sie und sie (Sara), wurde schwanger und gebar einen Sohn …“ Der Sohn, den beide wollten, um den sie Gott angefleht hatten, wird geboren, nicht aus dem Willen eines Mannes! Zwar hören wir: „Dies sind die Zeugungen Isaaks, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugte den Isaak“, Genesis 25,19. Aber die Zeugung durch Abraham ist ein Element aus dem Kapitel: „Zeugungen Isaaks“. Ganz im Gegensatz zu all den Patriarchen aus dem Buch Genesis, Zeugungen (tholedoth), tholedoth ˀAdam (Genesis 5,1) tholedoth Noach … bis tholedoth Jaˁaqov (Genesis 37,2) fehlt ausgerechnet das Kapitel tholedot ˀAvraham (vgl. die Besprechung von 8,58 unter 9.4.3.) Das Ganze ist wirklich ein Witz: (46)

Sie log, sie sagte:
„Ich lachte nicht“, denn sie fürchtete sich.
Er sagte:
„Nein, du hast doch gelacht!“

Und Abraham erkennt das an (Genesis 21,3):

Er rief den Namen seines Sohnes,
der ihm geboren wurde,
den Sara ihm geboren hatte:
„Jizchaq (Isaak), er lacht.“

Das Kind wurde Abraham geboren, passiv; Sara hat geboren, aktiv. Beide sind alt, ein Witz. Der Witz ist der NAME. Ein Kapitel weiter wird daraus Ernst, Genesis 22,1ff.

Es geschah nach diesen Worten:
Gott erprobte Abraham, er sagte zu ihm:
{37} „Abraham!“
Der sagte:
„Hier bin ich.“
Er sagte:
„Nimm doch deinen Sohn,
deinen Einzigen (jachid),
den du liebst,
den Jizchaq.
Gehe dann du ins Land Moria,
erhöhe ihn als Erhöhungsopfer,
auf einem der Berge des Landes, den ich dir sagen werde.“

Auf den „einzigen Sohn“ (jachid, monogenēs), kommen wir noch zu sprechen. (47) Jedenfalls können wir uns eine Vorstellung machen, was es heißt, wenn wir hören: „Nicht nach dem Willen des Mannes, sondern gottgemäß gezeugt.“ (48) Der Einzige, der monogenēs, ist der neue Isaak, der einzige gottgemäß Gezeugte. Wer dem vertraut, wird selber zum gottgemäß Gezeugten. Er sieht wirklich Licht, ist aufgeklärt, bleibt am Leben in einer Ordnung des Todes.

6. Das Wort und die menschliche Wirklichkeit, 1,14

1,14 Das Wort geschieht als Fleisch,
hat sein Zelt (49) bei uns,
wir schauen (50) seine Ehre, (51)
{38} eine Ehre als die eines Einziggezeugten (52) beim VATER,
erfüllt von solidarischer Treue. (53)

Jetzt muss das Wort, der logos, näher bestimmt werden. Wäre es nach dem gnostischen Mythos das Ewige Licht und wäre die menschliche Wirklichkeit ein Gefängnis, in dem die Seele als Funke dieses Ewigen Lichtes eingeschlossen ist, dann käme das Licht in eine ihm diametral gegenüberstehende Wirklichkeit, die ontologisch als finster bestimmt ist, in eine feindliche und göttliche Gegeninstanz.

„Das Wort geschieht als Fleisch“, übersetzen wir. Unser Autor ist kein Grieche, sondern ein Kind Israels, das im Gebäude der Großen Erzählung zu denken gelernt hat. Seine Sprache ist immer und überall die Sprache der Schrift Israels. Für griechisch Denkende ist es nahezu unmöglich, das Vergängliche (Fleisch) und das Unvergängliche (Wort) zusammen zu denken. Wer sich die Mühe macht, die Enneaden Plotins zu lesen, gerät unweigerlich unter den Eindruck der elitären heidnischen Pracht die{39}ses ideologischen Konstruktes. Wer aber dann einen Text wie Johannes 1,14 mit der Elle der plotinischen (oder neoplatonischen) Kategorien misst, verliert sich in eine unlösbare Problematik. Das ewige unvergängliche Wort, der logos, kann sich nach der neoplatonischen Logik nicht mit der vergänglichen menschlichen Wirklichkeit vereinen. Er kann lediglich durch ein weltabgeschiedenes Leben das Vergängliche hinter sich lassen. Nach dieser Metaphysik ist der Satz „Das Wort ist Fleisch geworden“ unmöglich. Denn das Wort kann allenfalls Fleisch scheinen, aber nicht sein, nicht werden und nicht bleiben. Das Wort (ewig, unvergänglich) = „Fleisch“ (zeitlich, vergänglich) sprengt aber diese Metaphysik.

Die großen Theologen lassen keinen Zweifel darüber bestehen, dass sie es mit der Identität zwischen Subjekt und Prädikat genauso ernst meinen wie mit der ganzen Schrift, Evangelium und TeNaK. Deswegen wagen sie einen nach griechischer Denkart unmöglichen Satz. Das, was die beiden Pole der Gleichung vereint, gilt „unvermischt, unverwandelt, ungeteilt, ungeschieden“, wie die dogmatische Formel von Chalcedon es will. Mit diesen vier Adjektiven, die alle ein Alpha privativum (a-, deutsch un-) haben, gibt die eine Hand, was die andere wegnimmt. Mit solchen Formeln versuchte man, den – oft blutigen! – Auseinandersetzungen um die Orthodoxie den Stachel zu ziehen. Von diesen spekulativen Klimmzügen der Kirchenpolitik und ihrer mühselig ausgehandelten Orthodoxie des 5. Jh. war Johannes Lichtjahre weit entfernt. Das Unglück der Johannesexegese besteht bis heute darin, dass man Johannes von den Konzilen in Nicäa und Chalcedon her zu lesen gewohnt ist, statt umgekehrt die Dogmatik der Überprüfung durch Johannes, durch die Schrift überhaupt, zu unterziehen. Zur Ehrenrettung der klassischen Dogmatik muss freilich gesagt werden, dass die Theologen des 4. und 5. Jh. ihre Arbeit gut gemacht haben. Ihr Kompromiss hatte bis in die Neuzeit gehalten, und wir können von ihrer Genauigkeit und ihrer Leidenschaft unendlich viel lernen. Wir dürfen ihre Sätze aber nicht zu ewiger Wahrheit machen.

Johannes 1,14 sagt: Der Messias ist ein konkreter Mensch, und dieser Mensch macht die Wahrheit des Satzes Jesaja 40,8 aus: „Das Wort unseres Gottes steht in Weltzeit.“ Wie damals das Wort in den Worten des Mose Gestalt annahm, so nimmt jetzt das Wort in der konkret-historischen Existenz eines ganz bestimmten Juden, der in den politischen und ideologischen Kämpfen seiner Tage eine ganz bestimmte Position vertrat, Gestalt an. Mit Friedrich-Wilhelm Marquardt sagen wir: Der Messianismus bekennt sich zu „Jesus dem Juden“. Das Wort wurde nicht Fleisch, nicht Mensch überhaupt, sondern jüdischer Mensch, und nicht – dabei einen Schritt weiter gehend als Marquardt – zum jüdischen Menschen überhaupt, sondern zu einem ganz bestimmten Juden, der in den konkreten politischen Auseinandersetzungen seines Volkes eine ganz bestimmte Stellung eingenommen hatte, eine Stellung, die ihn in einen tödlichen Gegensatz zu den Eliten seines Volkes und zu Rom als Besatzungsmacht brachte. Gerade bei Johannes ist der Messias als dieser konkrete Mensch leidenschaftlich Partei in diesen Auseinandersetzungen. Schüler eines sol{40}chen Messias zu sein, heißt bei Johannes: Kampfgefährte, Fleisch und Blut des Messias zu werden, „sein Fleisch zu essen, sein Blut zu trinken“, an seiner konkreten menschlichen Wirklichkeit und seinen politischen Kämpfen teilzuhaben und demzufolge von der herrschenden Weltordnung gehasst zu werden. Johannes wehrt sich mit diesem Satz gegen eine Tendenz in den messianischen Gemeinden der Griechen. Die Geringschätzung des Fleisches führt dazu, einen Satz wie: „… Sohn, geworden aus dem Samen Davids nach dem Fleisch, aufgerichtet als Sohn Gottes nach der Inspiration der Heiligung …“ (Römer 1,3-4) de facto zu streichen. Die Herkunft aus dem „Samen Davids“, seine Verwurzelung im Volk Israel, spielte eine immer geringere Rolle. Eine Generation später ist das Bewusstsein dafür, dass der Messias ein Kind Israels war, so weit verschwunden, dass Marcion um 150 den christlichen Gemeinden die Abschaffung der Schrift nahelegen konnte.

„Es hat sein Zelt bei uns“, heißt es dann vom Wort. Die Übersetzung „es hat unter uns gewohnt“ ist mehr als fade. Das Zelt ist das „Zelt der Begegnung“ aus der Wüste, wo der NAME wohnte: „Die Wolke hüllte das Zelt (ˀohel) der Begegnung ein, die Wucht/Ehre des NAMENS erfüllte die Wohnung (mischkan)“, Exodus 40,34. Die zwei hebräischen Wörter gibt die Septuaginta mit skēnē, Zelt, wieder. Das Zelt war der Ort des Daseins dessen, der mit den vier unaussprechlichen Zeichen JHWH angedeutet wird und bei uns mit dem Wort NAME wiedergegeben wird. Das Zelt ist der Ort der Gesetzgebung, der Ort, wo die Ordnung der Gesellschaft von befreiten Sklaven festgelegt wird. Auf Exodus 40,34-38 folgt das Buch Leviticus: „Er rief Mose zu, der NAME sprach mit ihm vom Zelt der Begegnung aus.“ In diesem Buch wird das Koordinatenfeld von Autonomie und Egalität ausgefüllt. Das Zelt der Begegnung ist zugleich mobil: „Als die Wolke sich hob von der Wohnung, zog Israel aus auf allen ihren Zügen“, Exodus 40,36. Aus diesem mobilen Ort wurde später der stabile Ort des Heiligtums in Jerusalem. Johannes sagt, nach der Zerstörung des Heiligtums durch die Römer habe das Zelt der Begegnung die Gestalt des fleischgewordenen Wortes, des Messias Jesus, angenommen.

Bei Johannes ist der Platzhalter für den NAMEN das Wort VATER. In Johannes 1,14 hören wir dann auch zum ersten Mal das Wort VATER, nachdem wir zunächst das Wort Wucht/Ehre gehört haben: „Wir schauen seine Ehre, Ehre wie eines Einziggezeugten vom VATER, erfüllt von solidarischer Treue.“ Alle entscheidenden Worte von Exodus 40,34 hören wir in Johannes 1,14. Was mit dem rätselhaften Wort kavod, „Wucht“ (die Wurzel kaved bedeutet schwer, wuchtig sein), angedeutet wird, das wir mit Ehre zu übersetzen versuchen, wird inhaltlich gefüllt mit „Ehre wie eines Einziggeborenen (jachid, agapētos) beim VATER“. Die Analogie ist das Verhältnis zwischen Isaak und Abraham, vor allem in der Erzählung von der „Bindung Isaaks“, Genesis 22. Die Verflechtung des Motivs der „Bindung Isaaks, des Einziggeborenen“ mit dem Verhältnis zwischen dem Gott Israels und dem Messias Israels wirft Fragen auf, aber den Zusammenhang zwischen Genesis 22 und unserer Stelle hat der Hebräerbrief gesehen, 11,17.

{41} Monogenēs steht für das hebräische jachid. In der Septuaginta bedeutet es in sechs von zehn Fällen „einziges Kind“ (z.B. die Tochter Jeftahs, Richter 11,34). In zwei Fällen, Psalm 22,21 und 35,17, bedeutet es „die einzige Seele“. Psalm 25,16 hat es für „einsam“ – wie ein Mensch ohne Geschwister. Im apokryphen Buch Weisheit Salomos ist „einzigartig“ eine angemessene Übersetzung: „Einzigartig ist die Inspiration der Weisheit“, 7,22. Bei Johannes kommt es fünfmal vor (inkl. 1 Johannes 4,9); bei Lukas bedeutet es dreimal „einziges Kind“, in Hebräer 11,17 das „einzige Kind“ Abrahams, Isaak. Johannes überträgt den theologischen Gebrauch von „einzig“ (jachid) in der Erzählung von Isaak als „einziger Sohn“ und somit als die einzige Zukunft Abrahams auf den Messias Jesus. Er ist der neue Isaak, er eröffnet die Zukunft des neuen Israels.

Die Ehre wird abschließend mit den Wörtern charis/chessed und alētheia/ˀemeth wiedergegeben. Chessed übersetzt Buber mit Huld und begründet das mit der Zuneigung des Herrn zu seinem Vasallen. Uns scheint Huld zu sehr von feudalen Herrschaftsvorstellungen geprägt, wie überhaupt Buber einen Hang zum neugotischen Deutsch von Leuten wie Richard Wagner hatte. (54) Gnade ist herrschaftlich geprägt, der NAME könnte durch diese Vokabel als der Gott der Antike, als Herr, erscheinen. Das mag mit dem Bild übereinstimmen, das sich die Menschen damals vom absoluten Gegenüber ihrer Gesellschaftsordnung machten, die für sie „Wort Gottes“ war. Die Funktion „Gott“ hat in der Regel die Funktion der „Herrschaft“, aber das, was in der Schrift „Gott“ genannt wird, hat die Funktion der Freiheit. Freiheit aber herrscht nicht, ist nicht von oben herab gnädig. Das Wort charis kommt bei Johannes nur in der Vorrede zum Evangelium vor, zweimal zusammen mit alētheia, einmal allein. Da im Evangelium das Wort agapē sowohl eine Haltung Gottes zu den Menschen als auch die Haltung der Menschen untereinander angibt, ist hier ebenfalls an chessed zu denken. Offenbar hat der Verfasser der Vorrede Anlass gesehen, für die Haltung Gottes zu den Menschen das Wort charis zu nehmen. In der LXX steht es gewöhnlich für chen, Gunst („Gnade“). Es ist dort die Haltung des Höhergestellten den Untertanen gegenüber. Andererseits finden wir in der Schrift niemals den Ausdruck chen we-ˀemeth, sondern immer chessed we-ˀemeth. An diese Verbindung muss der Verfasser der Vorrede gedacht haben. Chen, Gunst, Gnade, kommt in der Zeit der Katastrophen für das judäische Volk nur als ˀemeth, Treue, in Frage und ist dann Solidarität.

Das Wort als menschliche Wirklichkeit und als einzige Zukunft für das neue Israel in einer neuen Menschheit ist für Johannes nur dann konkret, wenn es als ein konkreter Mensch aufgefasst wird. Das Wort ist dieser ganz bestimmte jüdische Mensch, Jesus ben Joseph aus Nazareth, Galiläa. Es gibt, so meint Johannes, kein anderes Wort. Johannes 1,14 ist das Zentrum der Zusammenfassung des Evangeliums.

{42} Mit diesem letzten Satz ist die Vorrede eigentlich abgeschlossen. Aber die Diskussionen in der messianischen Gemeinde um Johannes gehen weiter. Die sogenannten Abschiedsreden Johannes 13-17 geben einen Einblick in den Diskussionsprozess. Das Nachwort der Vorrede verweist auf zwei ungelöste Probleme: das Verhältnis zur messianischen Gruppe um Johannes, „den Täufer“, und zum im Entstehen begriffenen rabbinischen Judentum (die „Juden“ des Johannesevangeliums).

7. Ein Nachwort, 1,15-18

1,15 Johannes gab Zeugnis über ihn, er rief aus:
„Dieser ist es, von dem ich sagte:
Der nach mir Kommende,
ist vor mir geschehen,
denn mein Anfang ist er.“ (55)
1,16 Aus seiner Fülle nehmen wir alle,
ja, Solidarität für Solidarität. (56)
1,17 Was als die Tora durch Mose gegeben wurde,
das geschah als die Solidarität und die Treue
durch Jesus Messias. (57)
1,18 Niemand hat je GOTT gesehen, niemals.
Der als Einziggeborener, Göttlicher, (58)
{43} den der VATER im Busen trägt, (59)
der hat es ausgeführt. (60)

„Nach (hinter) mir kommt, der vor mir geschehen ist; denn für mich ist er der Erste“ (1,15 = 1,30, vgl. Offenbarung 1,17). (61) In 1,8 hieß es bereits: „Er (Johannes) ist nicht das Licht, sondern Zeuge des Lichts.“ Den Mitgliedern der Gruppe der Täuferschüler wird gesagt, der Messias Jesus sei Hintergrund und Zukunft des Täufers. Das ist eine systematische Frage. Mit der modernen Diskussion, ob Jesus historisch der Täuferbewegung entstamme, hat sie nichts zu tun. Nach Ansicht der Vorrede hängt die ganze politische Tätigkeit der Bewegung um Johannes in der Luft, wenn sie sich nicht als eine Bewegung auf den Messias Jesus hin begreift. Dass das Johannesevangelium wiederholt – sehr deutlich im Passus 3,25-30 – auf diese Problematik zurückkommt, zeigt, dass es Widerstände gegen diese Einsicht gab. Zwar gab es eine Tendenz von der Täufergruppe her zu den Messianisten um Jesus hin, aber ein Rest zeigte sich als ziemlich zäh. Für diesen Kreis war auch später Johannes, der Täufer, der „Erste“, prōtos. Das muss offenbar eine Quelle der Unruhe in der Gemeinde um Johannes gewesen sein (siehe unten zu 1,30).

Der Satz in 1,16 leitet zum zweiten Problemkreis über. Das Pronomen wir zeigt, dass „Johannes“ für die Gruppe insgesamt spricht. Aus der Fülle des Messias „nehmen wir alle, ja, Solidarität für (statt, anti) Solidarität“. Charis steht hier wieder für ches{44}sed. Die Solidarität mit Israel wird ersetzt (anti), und zwar durch eine neue Gestalt der Solidarität.

Die Solidarität Gottes mit Israel zeigte sich in der Tora (nomos) durch Mose. Die Peruschim sagten zum geheilten Blindgeborenen: „Wir sind die Schüler des Mose“ (9,28). Das bedeutet, dass Mose ihr Lehrer ist, Mosche rabbenu. Letzteres ist geradezu die Definition des rabbinischen Judentums. Die Solidarität Gottes mit Israel ist in diesem Judentum ausschließlich die Tora des Mose. Diese Tora beschreibt die Ordnungen, in denen das Volk Israel leben will. Diese Ordnungen sind heilsam, sie ermöglichen ein menschliches Leben in Israel.

Diese Gesellschaftsordnung von Autonomie und Egalität ist/war die Solidarität Gottes. Ist sagt das rabbinische Judentum. War, sagt Johannes. Denn die Umstände – und wahrlich die weltweiten, globalen Umstände – haben sich so geändert, dass die Gesellschaftsordnung der Tora politisch nirgendwo mehr durchführbar ist. Die Tora ist jetzt das mandatum novum, die Solidarität, die agapē der Schüler des Messias untereinander. Also nicht die allgemeine Menschenliebe, sondern der Zusammenhalt der Gruppe unter allen, auch unter den widrigsten Umständen. So geschieht heute die bleibende chessed we-ˀemeth, charis kai alētheia des Gottes Israel durch den Messias Jesus.

Ist das eine neue Tora? Es scheint so: „Was nun als Tora durch Mose gegeben wurde, das geschieht als solidarische Treue (chessed we-ˀemeth) durch Jesus Messias“ (1,17). Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen, denn dieser Satz heißt: Solidarische Treue Gottes Israel gegenüber bleibt auch dann, wenn die Tora unter den tatsächlichen Umständen keine konkrete Lebensmöglichkeit mehr ist. Das sahen viele Messianisten (Paulus, Römer 7). (62) Die Tora ist durch die qualitativ neuen Verhältnisse sozusagen „ausgesetzt“ (oder einstweilen „geledigt“). (63)

Johannes redet nicht von einer neuen Tora (nomos kainos), sondern von einem neuen Gebot (entolē kainē). Johannes redet freilich sehr distanziert von der Tora („eure Tora“ 8,17; 10,34; „ihre Tora“ 15,25). Gleichzeitig aber bleibt die Tora (oder die Schrift) für Johannes davar, logos, Rede, die erfüllt werden muss. Erfüllen bedeutet für Johannes nicht erledigen (vgl. 19,24.28).

Der Verfasser des ersten Johannesbriefes hat da seine Schwierigkeiten. Ist das „Neue“ die ersatzlose Streichung des „Alten“, Jesus die ersatzlose Streichung des Mose? Der Ausdruck: Solidarität für Solidarität legt diese Schlussfolgerung nahe, {45} erst recht der Satz: „Was nun als die Tora durch Mose gegeben wurde, das geschieht als solidarische Treue durch Jesus Messias.“ 1 Johannes 2,7f. lautet:

Freunde, ich schreibe euch kein neues Gebot,
sondern ein Gebot von alters her, das ihr von Anfang an hattet.
Das Gebot von alters her ist das Wort, das ihr gehört habt.
Wiederum schreibe ich ein neues Gebot.
Was vertrauenswürdig ist bei ihm, ist es auch bei euch:
dass die Finsternis vorbeigeht
und das wirkliche Licht bereits scheint.

Der Verfasser des ersten Johannesbriefes sieht keinen Ersatz des „Gebots von alters her“ (Mose) durch das neue Gebot. „Das Gebot von alters her“ (entolē palaia) ist das gehörte Wort. Er vermeidet das Wort anti („statt, für“) der Vorrede. In der messianischen Gruppe um Johannes ist das Verhältnis zum rabbinischen Judentum noch lange im Fluss geblieben. Neu ist für ihn die neue Situation, die durch den Messias bereits in der alten Ordnung der Finsternis leuchtet. Kein Ersatz der Tora durch das mandatum novum. Die Diskussion in der Gruppe um Johannes ging offenbar auch um die Frage, ob man das „Alte“ überhaupt noch braucht. Überall suchten die messianischen Gemeinden ihr Verhältnis zum rabbinischen Judentum zu klären. Johannes 1,16f. reflektiert diese Debatte.

Jetzt kommt ein wahrhafter Schlusssatz. „Niemand hat je Gott gesehen“, schreibt auch 1 Johannes 4,12. Dieser Satz fasst das Grundanliegen der Schrift zusammen. Dem Ansinnen Moses, er wolle das Gesicht Gottes sehen, erteilt der NAME eine schroffe Abfuhr: „Nicht sieht mich der Mensch und lebt“, Exodus 33,12. Nur „von hinten“ kann Mose sehen, nämlich das, was hinterher geschehen ist: das, was geschah, zeigt sich als wirkliche Befreiung, Exodus 34,6:


der NAME, der NAME,
Gottheit barmherzig, Gunst erweisend,
langmütig,
reich an solidarischer Treue (rav chessed we-ˀemeth) …

Übersetzen wir „Gott sehen“ in die politische Prosa des 21. Jh. Wenn „Gott“ der tiefste Konvergenzpunkt aller gesellschaftlichen Loyalitäten ist, die dichteste Zusammenballung dessen, was es an Ordnung in einer Gesellschaftsordnung gibt, dann bedeutet „Gott sehen“: die Hand auf die Gesellschaftsordnung der befreiten Sklaven selbst legen, die eigenen Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung selber stülpen. Wenn das der König, der Staat, tut, meldet er einen absoluten Anspruch an, macht die Menschen zu Sklaven: „Götze mir ins Angesicht“, Exodus 20,3. „Niemand hat je Gott gesehen“ ist keine empirische Feststellung, sondern eine Feststellung, dass das Gegenteil nichts als eine Lüge wäre. Der Satz bedeutet: Gotteserfahrung ist etwas zutiefst Illegitimes. Wer diese Gottunmittelbarkeit politisch umsetzt, erhebt {46} den Anspruch, die innerste Ordnung der Gesellschaft persönlich und absolut zu verkörpern. Das haben Kommunisten „Personenkult“ genannt, und das ist eine korrekte Beschreibung dessen, was unter Stalin mit der kommunistischen Partei und mit den Menschen der Sowjetunion geschehen ist.

Auch der Messias hat „Gott“ nicht gesehen. Niemand hat gesehen. Der Messias hat das, was hier mit der Vokabel „Gott“ ausgesagt werden soll, nicht gesehen, sondern „erklärt“, exēgēsato. Der Messias ist kein Visionär, er ist Exeget, er erklärt die Schriften: Schriften, die, nach seiner Meinung, die Schüler nie verstanden hatten. Und er lebt das, was die Schriften von Israel wollen, vor. Wir schreiben für exēgēsato nun „ausgeführt“, weil die „Erklärung“ durch den Messias sein Lebenswandel (halakha) ist, ein Lebenswandel, der ihn in einen letztendlich unversöhnlichen Gegensatz zu den Eliten seines Volkes und der römischen Besatzungsmacht führte.

Das Subjekt des zweiten Teiles des Schlusssatzes wird monogenēs theos, einziggezeugter Göttlicher, Gottgemäßer, genannt. Dass wir damit Probleme haben, sollte uns nicht wundern. Diejenigen, die unseren Text in den ersten Jahrhunderten überliefert haben, hatten damit auch Probleme. Einige setzen den bestimmten Artikel ein, also: der einziggezeugte Gott. Andere ersetzen die Vokabel Gott durch die Vokabel Sohn. Letzteres passt sehr gut zur Orthodoxie des 4. und 5. Jh. Der Gedanke lautet dann: „Niemand hat je Gott gesehen, der einziggezeugte Sohn, der am Busen des VATERS (orthodox: der mit Gott wesensgleiche, homoousios, Sohn) hat …“ Man benutzte eine Orthodoxie, die zwei bis drei Jahrhunderte nach der Abfassung unseres Textes versucht, das Problem, das der Text uns aufgibt, zu lösen. Das ist kein wissenschaftlich zu verantwortendes Verfahren.

Der Schlüssel liegt wohl im rätselhaften Ausdruck der am Busen des VATERS. Hören wir Numeri 11. Das Volk in der Wüste gedachte der schönen Tage im Sklavenhaus, wo es umsonst (chinnam) Fisch zu essen gab, dazu „Gurken, Melonen, Porree, Zwiebel, Knoblauch!“ Mose war es leid, dieses Volk zu führen. Er beklagt sich über diese Aufgabe beim Gott Israels. Es heißt dann, Numeri 11,11f.:

Und Mose sagte zum NAMEN:
„Warum willst du deinem Knecht Böses antun?
Warum habe ich keine Gunst in deinen Augen gefunden,
dass du mir die Last dieses ganzen Volkes auflegst?
Bin ich etwa schwanger gewesen mit diesem ganzen Volk,
habe ich es etwa gezeugt,
dass du mir gesagt hättest,
hebe es an deinem Busen auf,
wie der Hüter den Säugling aufhebt …?“

Das Verhältnis eines Säuglings zur Bezugsperson ist das einer völligen Abhängigkeit. So ist das Verhältnis Moses zum Volk, das er führen muss und das von ihm abhängig ist. Mose sagt zu seinem Gott: „Die sind nicht mein, sie sind dein Volk. Hebe es an {47} deinem Busen auf!“ Tatsächlich kann dieser Einziggezeugte theos, ein einzigartig von Gott Bestimmter, genannt werden als „der am Busen“. Er ist die exemplarische Konzentration Israels, er ist „am Busen des NAMENS/VATERS“, ganz und gar von Gott bestimmt, eben theos. Der Gott des Mose erhörte die Stimme Moses, er hob diesen geschlagenen und ermordeten Messias in Vertretung für das geschlagene und verzweifelte Volk der Juden auf – wie einen Säugling an seinem Busen.

Und nun beginnt die Erzählung über Jesus ben Joseph aus Nazareth in Galiläa, sein Vorbild Johannes, seine Nachfolger und Schüler. Wenn wir die Erzählung gehört und begriffen haben, dann erst können wir die Vorrede verstehen.

Anmerkungen

(1) [Anmerkungen in eckigen Klammern stammen von mir, Helmut Schütz, als dem Editor dieser Ausgabe der Johannesauslegung von Ton Veerkamp. Weitere Einzelheiten zur Edition und Überarbeitung der zusammengestellten Texte erläutere ich im Anhang. Auf Ton Veerkamp beziehe ich mich in editorischen Anmerkungen mit dem Kürzel TV.]

(2) [Diese Einleitung stammt aus TVs revidierter Übersetzung des Johannesevangeliums im Jahr 2015.]

(3) [„Friss, Vogel, oder stirb“ war der Titel einer umstrittenen theologischen Schrift von J. N. Weislinger, Straßburg 1726.]

(4) [Ich ergänze hier die Einführung in die Grundsätze, die TV im Jahr 2002 seiner ersten Übersetzung der Kapitel 13 bis 17 des Johannesevangeliums vorangestellt hatte: Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Johannes 13-17, in: Texte & Kontexte 95/96 (2002), 5-13.]

(5) [Auf ähnliche Projekte im englischen Sprachraum wie The Good News’s Bible (Today’s English Version) or the Contemporary English Version weise ich in meiner englischen Übersetzung von TVs Text hin.]

(6) Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1963, 180.

(7) [Als ich versuchte, das gleiche Prinzip auf eine Übersetzung des Johannesevangeliums in die englische Sprache zu übertragen, stieß ich noch eher auf Grenzen, als dies letzten Endes auch in der deutschen Sprache der Fall ist. Nicht für jedes Wort, das auf das hebräische Wort ˀaman zurückgeht, gibt es ein englisches Wort mit ein- und derselben Wurzel. Und auch im Deutschen wirkt es manchmal etwas bemüht, etwa für stammverwandte Worte wie zedeq oder zedaqah, die gewöhnlich mit „gerecht“ oder „Gerechtigkeit“ übersetzt werden, an Martin Buber angelehnt deutsche Entsprechungen wie „bewährt“ oder „Bewährung“ zu wählen. Trotzdem ist es ein berechtigtes Anliegen, allzu vertraut scheinende Inhalte, die mit traditionellen Übersetzungen verbunden zu sein scheinen, in Frage zu stellen.]

(8) [Das trifft wohl auch für den englischen Sprachraum zu, sogar für die Complete Jewish Bible, die ich meiner englischen Übersetzung des Johannesevangeliums zu Grunde gelegt habe und deren Urheber sich dessen jüdischen Hintergrundes bewusst sind.]

(9) [Wie aus der Vorrede zur Übersetzung des Jahres 2015 ersichtlich ist (siehe Anm. 593), hat TV inzwischen davon Abstand genommen, es mit der Verfremdung der Namen zu übertreiben. Daher werde ich auch in der Wiedergabe seiner Übersetzung und Auslegung beispielsweise nicht mehr den Namen Elˁasar für Lazarus, Jeruschalajim für Jerusalem oder Schomron für Samaria verwenden, und ich beschränke mich darauf, aus im Anhang erläuterten Gründen die aramäische Bezeichnung Peruschim für die „Pharisäer“ und die Übersetzung Judäer für das Wort Ioudaioi beizubehalten.]

(10) Bertolt Brecht, Über Theater, Leipzig 1966, 345ff.

(11) Bertolt Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst I, Berlin/Weimar 1966, 99.

(12) [Zu dem, was TV mit der „Großen Erzählung“ meint, vgl. Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013. Einen kurzen Einblick in das Buch habe ich hier zu geben versucht: Ton Veerkamp: „Die Welt anders“.]

(13) [TVs Übersetzung des Johannesevangeliums von 2015 einschließlich der zugehörigen Anmerkungen füge ich in seine Auslegung aus den Jahren 2006 und 2007 ein. Gelegentlich ergänze ich in eckigen Klammern Teile der Anmerkungen aus TVs kolometrischer Übersetzung von 2005, eingeleitet durch das Kürzel „KÜ“.]

(14) KÜ: Titel nach der ältesten vollständigen Fassung des Papyrus 66, um 200 u.Z.

[Zur Benennung der Schrift des Johannes als eines „Evangeliums“ siehe TVs Bemerkungen zu Johannes 20,4, wo er im Blick auf das Wettrennen zwischen Petrus und dem so genannten „geliebten Jünger“ an die Verwendung des Wortes euangelein in 2 Samuel 18,19ff. erinnert.]

(15) ANFANG: Johannes schreibt Griechisch, er denkt von der hebräischen Bibel her. Weder archē noch logos sind Begriffe aus der hellenistischen oder griechischen Philosophie. Mit seinem ersten Wort ruft er den Anfang der Schrift auf: be-reschith, „im Anfang.“ Die Schrift setzt den Maßstab für Johannes, sie soll auch den Maßstab für die Übersetzung setzen. Was hier anfängt, ist nichts weniger als der Anfang einer neuen Schöpfung. Das erinnert an Paulus, kainē ktisis, „neue Schöpfung“, 2 Korinther 5,17.

KÜ: Bei Johannes wird das Wort archē auf verschiedene Weise konstruiert. En archē steht in 1,1f. für be-reschith von Gen 1,1. Wir bleiben beim klassischen, auch von Martin Buber verwendeten „im Anfang“. Ap‘ archēs kommt zweimal vor, 8,44 und in 15,27. Es bedeutet nicht ex archēs, von Anfang an, wie in 6,64 und 16,4, sondern hauptsächlich, prinzipiell.

(16) IST: Das griechiesche Verb einai setzt eine ganz andere Sprachstruktur als das hebräische haja bzw. das aramäische hawa voraus. Einai ist durchweg eine Kopula, er gibt den statischen Zustand von Identität zwischen verkoppelten Wirklichkeiten her, haja ist dynamisch, es bedeutet eher „geschehen“ oder „für etwas da sein“ als „sein“. Wenn Johannes einai verwendet, müssen wir immer an die Möglichkeit denken, dass eigentlich haja gemeint ist. Im ersten Satz könnten wir mit „geschehen“ übersetzen, geraten dann in Konflikt mit egeneto, wa-jehi, in V.3. Dennoch ist keine „griechische“ Identität zwischen theos und logos gemeint. Wir übersetzen ēn mit einem Präsens, „ist“; das Wort ist immer und überall das Prinzip aller Realität. Der Satz bedeutet: „Prinzipiell ist das Wort.“ Gottes Dasein für die Menschen hat in der Schrift und daher für Johannes nur die Gestalt des Wortes, davar, logos.

(17) WORT: Logos steht für hebräisch davar, von Martin Buber zumeist mit „Rede“, seltener mit „Sache“ oder „Begebnis“ übersetzt. Gott sei, nach Deutonomium 4, „Stimme von Reden/Worten“ (qol devarim), und zwar zunächst die „zehn Reden/Worte“ (ˁaßeret ha-devarim), die sogenannten „zehn Gebote“. Das ist mit logos gemeint. Logos hängt zwar mit legein zusammen; wir übersetzen das Verb aber durchgehend mit „sagen“, weil Johannes das Wort neutral gebraucht. Lalein übersetzen wir mit „reden“, weil es um ein betontes und gezieltes Sprechen geht. Rhēmata (bzw. logoi, Plural) sind „gesprochene Worte“ im Gegensatz zu grammata, „geschriebene Worte“. Vollständigkeitshalber sei noch ephē erwähnt, „er sagte aus, erklärte“ (dreimal bei Johannes). Dennoch kehre ich zur Praxis zurück, logos im Johannesevangelium mit „Wort“ zu übersetzen, weil die Bubersche „Rede“ doch etwas künstlich-angestrengt wirkt.

(18) [Insgesamt in Großbuchstaben geschriebene Worte beziehen sich in TVs Übersetzung auf den einen GOTT Israels und auf die Bezeichnungen SOHN bzw. MENSCH für den Messias Jesus.]

(19) GÖTTLICH: Theos (theios). Wenn Johannes den Gott Israels meint, schreibt er ho theos; ohne Artikel ist das Wort ein Adjektiv, „göttlich“, „gottbestimmt“ oder „gottgemäß“.

(20) NICHTS: Oude hen, „nicht eins“; eine Minderheit unter den Handschriften, darunter P66, haben ouden, „nichts“.

(21) [Ich beziehe hier die letzten Worte von V.3 ho gegonen auf die vorherige Zeile, wie es TV auch in seiner Auslegung getan hat. Sowohl seine Übersetzung von 2005 als auch von 2015 verbinden diese Worte jedoch mit dem Anfang von V.4, „Was geschehen ist, ist mit (bzw. in) ihm Leben.“ Er erklärt das, indem er sich auf die Frage bezieht, ob vor oder nach ho gegonen ein Punkt gesetzt werden sollte.]

KÜ: Handschriften wie P66 setzen selten Trennungszeichen; mit unserer Interpunktion hat das wenig zu tun. Wenn wir eine Interpunktion anbringen, interpretieren wir schon. Uns scheint, dass die Strophe das Stichwort „geschehen“ (ginesthai) introduziert und es in der dritten Zeile in das neue Stichwort „Leben“ überführt. In der folgenden Strophe wird das Stichwort „Leben“ zum neuen Stichwort „Licht“.

(22) Manchmal wird das Verb absolut gebraucht. M. Heidegger verweist in seiner „Einführung in die Metaphysik“ auf Goethes Verszeile: „Über allen Gipfeln / ist Ruh“ (1967, 68).

(23) [Das deutsche Wort „Hauptsache“ entspricht in der Tat recht weitgehend dem, was nach TV im Hebräischen mit dem Wort bereschith gemeint ist. Ins Englische muss man allgemeiner übersetzen, „mainly, chiefly“.]

(24) André Chouraqui war ein jüdischer Sprachwissenschaftler, Philosoph und Theologe algerisch-französischer Herkunft.

(25) [Die übliche Übersetzung „bei Gott“ unterschlägt die Gerichtetheit „auf Gott“ und unterstellt ein sozusagen gleichrangiges Nebeneinander zweier Wesenheiten.]

(26) [Mit dem in Großbuchstaben geschriebenen Wort „der NAME“ bezeichnet TV den Namen des Gottes Israels, der in der Schrift durch das Tetragramm JHWH umschrieben wird und nicht ausgesprochen werden darf.]

(27) [Mit den „messianischen Schriften“ meint TV das so genannte „Neue Testament“.]

(28) [Als ich TVs Übersetzung des Johannesevangeliums ins Englische übersetzte, war es für mich interessant zu sehen, dass die englische Sprache durch ihre Verlaufs- und Imperfektformen auf der einen und eine klar abgegrenzte Bedeutung des Perfekt auf der anderen Seite dem semitischen Sprachverständnis näher liegt als das Deutsche.]

(29) Diese ungewöhnliche Übersetzung von jom ˀechad begründen wir bei der Besprechung von Johannes 20,1.

(30) GESANDT: Apostellein übersetzen wir mit „senden“, pempein mit „schicken“. Hinter beiden Verben steht die hebräische Wurzel schalach.

KÜ: Das erste wird vor allem von Menschen gesagt. Deswegen sind sie „Apostel“. Bei Johannes gehört pempein sozusagen zur „Definition“ von Jesus, wie apostellein in Exodus 3ff. zur „Definition“ Moses gehört. Gott ist demnach der, der Mose bzw. Jesus schickt bzw. sendet. Diese sind nur „Geschickte“ oder „Gesandte“. Jesus ist sozusagen der Apostel par excellence! Para mit Genitiv deutet Herkunft, daher „von“ oder „im Auftrag des …“ Da der Artikel fehlt, kann auch übersetzt werden: „göttlicher Gesandter“.

(31) VERTRAUEN: Pisteuein steht für das hebräische heˀemin, von ˀaman. Angelehnt an Bubers Übersetzung der Derivate von ˀaman übersetzen wir alle Wörter von griechischem Stamm pist- mit deutschen Wörtern vom Stamm „treu-“ oder „trau-“. Das Gleiche gilt für alle griechischen Wörter vom Stamm alēth-. Siehe Anm. 34.

(32) Die Konstruktion mit einem infinitivus constructus und einem Finalsatz mit waw copulativum (Gesenius, Hebrew Grammar, Oxford 14. Auflage 1978, § 165; Segert, St., Altaramäische Grammatik, Leipzig 3. Auflage 1981, § 7.5.9.2) versucht Johannes häufig im Griechischen mit einer zweifachen Finalpartikel (hina) wiederzugeben. Für Liebhaber einer klassischen Satzbildung ein wenig elegantes Verfahren.

(33) In Jesaja 7,9 sagt ein Prophet dem König Judas in einer sehr kritischen Situation, er solle nicht die Nerven verlieren: „Vertraut ihr (selber) nicht, findet ihr keine Treue (bei anderen).“ (im lo thaˀaminu ki lo thaˀamenu, kai ean mē pisteusēte oude mē synēte.) Die Septuaginta wird dem hebräischen Wortspiel mit der kausativen und der passiven Form der Wurzel ˀaman nicht gerecht. Buber übersetzt: „Vertraut ihr nicht, bleibt ihr nicht betreut.“ Der Sinn ist, dass Panik das Volk ins Verderben führen muss. Der König soll seinem Berater, das Volk dem König vertrauen und entsprechend handeln. Diese Haltung ist dem Messias gegenüber einzunehmen, und das ist mehr als glauben.

(34) VERTRAUENSWÜRDIG: Alētheia ist nicht „Wahrheit“, sondern „Treue“ (ˀemuna, ˀemeth), alēthēs nicht „wahr“, sondern „getreu, vertrauenswürdig“. Phōs alēthinos aus 1,9 ist nicht das „wahre Licht“, sondern jenes Licht, auf das man sich beim Gehen durch das Leben (jüdisch halakha) verlassen kann, also „vertrauenswürdiges Licht“.

(35) WELT: Kosmos ist sowohl „Welt“ wie auch „Weltordnung“. Bei Johannes ist kosmos in erster Linie ho kosmos houtos, „diese Weltordnung“. Das Wort bezeichnet das, was bei den Rabbinern ˁolam ha-se, „diese Weltzeit“, genannt wird. Es ist eine politische Kategorie: die herrschende Weltordnung, eben das römische Imperium. Wo bei Johannes davon geredet wird, dass der kosmos befreit werden wird, ist nicht die Welt in seiner jetzigen Ordnung, sondern der menschliche Lebensraum gemeint, die Welt wird ja befreit von der Ordnung, die auf ihr lastet, 4,42! Das griechische kosmos – es hat kein eigentliches Äquivalent in der hebräischen Schrift – bedeutet „(harmonische) Ordnung, Schmuck (Kosmetik)“. Hier bedeutet es sowohl Lebensraum als auch jene Ordnung, die die Ordnung der einzelnen Völker und eben vor allem die Ordnungen Israels bedroht. Das Schlechte an der Welt ist bei Johannes nicht die Welt an sich, sie ist das Objekt der Solidarität Gottes, 3,15. Schlecht ist die Ordnung, unter der sie leiden muss. Daher gibt es keine „gnostische“, vielmehr eine „politische“ Kosmologie bei Johannes, der wir durch die alternierende Übersetzung „Welt“ und „Weltordnung“ Rechnung zu tragen versuchen.

(36) Das Wort erchomenon, „kommend“, bezieht sich nicht auf anthrōpon, „Mensch“, sondern auf phōs, das „Licht“.

(37) KÜ: Hier müssen wir ēn emphatisch mit „wirkt“ übersetzen; es geht um ein wirkendes „Sein“, um das wirkliche „Sein“ (haja). Das Subjekt ist „Licht“ bzw. „Wort“; es ist kein Element der Weltordnung, sondern ihr tätiges Prinzip, ihre Wirklichkeit (vgl. 1,1). Das Wort kai steht für die Partikel we, „die koordinierende Konjunktion ‚und‘, die auch mehrere andere Beziehungen auszudrücken vermag“ (so Stanislav Segert, Altaramäische Grammatik, Leipzig, 3. Auflage 1986, 224). In der zweiten Zeile bedeutet kai „denn“, in der dritten „aber“. Es geht in der dritten Zeile nicht um Unwissenheit („kennt nicht“), sondern um Verweigerung („erkennt nicht an“); dieser Aspekt des Verbs ginōskein ist im ganzen Evangelium vorherrschend.

[In der späteren Übersetzung TJ15 schreibt TV an Stelle von „In der Welt wirkt es“ dann doch: „In der Welt ist es“.]

(38) DAS IHM EIGENE: Ta idia, „das Eigene“ oder „das Seine“, gemeint ist Israel. Erkennen (v.10) ist die Bedingung für annehmen in v.11. Erkannt, so die Position des Textes, habe Israel, aber angenommen habe es nicht.

(39) Im Niederländischen gibt es für beide Sachverhalte nur ein Wort: verlichting.

(40) [TVs Übersetzungsversion entspricht derjenigen der Elberfelder Bibel und der katholischen Einheitsübersetzung; die lateinische Vulgata, Luther und die Zürcher Bibel beziehen stattdessen das „in diese Welt“ oder „zur Welt“ kommen auf die Menschen.]

(41) [Hier bin ich mit TV nicht ganz einverstanden. Ich frage mich, ob man wirklich „der Kosmos geschieht bzw. wird durch das Licht“ gleichsetzen kann mit „der Kosmos wird durch das Licht radikal in Frage gestellt“, zumal sich ja auch TV darüber im Klaren ist, dass kosmos beides bedeuten kann: „Weltordnung“ und „Lebenswelt der Menschen“.

Könnte Johannes nicht doch vorausgesetzt haben, dass die Lebenswelt der Menschen durch Gottes logos, davar, sophia (vgl. Sprüche 8,30!) ursprünglich als eine wohl geordnete Welt erschaffen und erst nachträglich durch gegengöttliche Mächte in eine ungerechte Weltordnung verwandelt wurde? Nach dem Buch der Weisheit Salomos 9,9 war die Weisheit (sophia) bei Gott, als er den kosmos erschuf (das sieht nach einer Weiterentwicklung von Sprüche 8,30 aus). Daraufhin will Salomo die Welt nach Gottes Tora und Weisheit in rechter Weise ordnen. In Jesaja 24,21 und 40,18 ist wie in Genesis 2,1 der kosmos das Heer der Höhe oder des Himmels. Auch Paulus spricht in Römer 1,20 von der ktitis kosmou. In Epheser 1,4 und Hebräer 4,3 / 9,26 und 1. Petrus 1,20 ist von der katabolē kosmou, die Rede. In 2. Petrus 2,4 / 3,3 geht es um die Nichtverschonung des archaiou kosmou bzw. um ho tote kosmos, der in der Sintflut unterging, also der früheren oder damaligen Welt wegen ihrer Verfehlung. Anscheinend wird also dasselbe Wort verwendet für die gute von Gott geschaffene Welt und für die durch menschliche Verfehlung in Unordnung versetzte Welt. Mit TV stimme ich jedenfalls darin überein, dass Johannes einen sehr deutlichen Akzent auf den durch menschliche Verfehlung in Unordnung geratenen kosmos legt, der dem Untergang geweiht ist – es sei denn, der logos Gottes, sein Messias, bringt ihn wieder in Ordnung.

In einer Mail vom 3. September 2020 schrieb Ton Veerkamp dazu mir persönlich:

„Sicher kann man Joh 1,10 mit Spr. 8,22ff. in Verbindung bringen. Freilich ist chokmah nicht das gleiche wie davar, sophia nicht logos. Die Weisheit Gottes ist das, was einen Menschen zum Menschen macht. Das Sprachspiel von Spr. 8, 22 – die Hypostase der Chokma als sein  Spielkind unter den Menschen (meßacheqeth) und ihre Freude (schaˁaschuˁim) – ruft eine andere Wirklichkeit auf als Joh 1,10.“]

(42) GOTTGEBORENE: Tekna tou theou, nicht „Kinder Gottes“, sondern „Gottgeborene.“

KÜ: Tekna kommt von tiktein, gebären und bedeutet „die, die geboren werden, Geborene“. Der Text hat nicht tekna tou theou, „Kinder des Gottes“, sondern tekna theou, ohne Artikel {göttlich Geborene}. Der Artikel findet sich in keiner der Varianten, vgl. Anm. 5 zu 1,1. „Gott“ hat keine Kinder.

(43) BLUT: Der Plural haimata (hebräisch damim), kann auf deutsch nicht wiedergegeben werden. Dieser Plural kommt 73mal in der Schrift vor. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Exodus 4,25, wo Moses Frau Zippora ihren Mann (oder ihren Sohn?) mit der blutigen, abgeschnittenen Vorhaut bestreicht; zu Mose sagt sie: „Du bist mir ein Blutbräutigam (chathan damim) geworden.” Der Sinn erschließt sich von der Beschneidung her. Das liegt auf der Linie des Paulus: nicht die physische Beschneidung entscheidet darüber, ob ein Mensch „gottgeboren“ ist, sondern die Haltung gegenüber dem „einziggezeugten SOHN“.

(44) WILLEN DES FLEISCHES: Der Ausdruck „Willen des Fleisches“ ist nicht negativ gemeint; „Fleisch“ ist die menschliche, vergängliche und verwundbare Existenz. In der kommenden messianischen Zeit wird diese Form von verwundbarer Existenz ein Ende finden, da sind die Menschen keine „Menschgeborenen“, sondern „Gottgeborene“, gottgemäß Gezeugte.

(45) EINES MANNES: Der einzige Bezug kann hier nur Abraham sein, der von sich aus den Sohn der Verheißung nicht zeugen kann, was Sara sehr gut weiß, Genesis 18,11f. Wenn später vom „Einziggezeugten Sohn Gottes“ gesprochen werden wird, dann wird auch an Isaak zu denken sein.

(46) Der Koran hat hier (Sure 11,71) „auslachen“ (ḏahikat), die Ankündigung der Geburt von Isaak (hier andere Wurzel als die für „lachen“) ist tatsächlich äußerst verwunderlich (ˁadschib), 11,72f.

(47) Vgl. Anm. 133 bei der Besprechung von Johannes 3,16.

(48) Das berühmte vierte Kapitel aus dem Galaterbrief bringt diesen Gedanken auch. Offenbar war die Verbindung zwischen Isaak und dem Messias Jesus in der messianischen Bewegung eine verbreitete Auffassung. Dort taucht nicht zufällig auch der biblisch, nicht griechisch gedachte Gegensatz zwischen Geist und Fleisch auf, der Gegensatz zwischen dem nach dem Fleisch gezeugten Ismael und dem nach dem Geist gezeugten Isaak, Galater 4,29.

(49) ZELT: Das Verbum eskēnōsen ruft das Wort „Zelt“ auf und stellt die Verbindung vor allem zu Exodus 40,34-38 her. Die Wohnung Gottes (hebräisch mischkan) ist „Zelt der Begegnung“ (hebräisch ˀohel moˁed). Von dort „redet“ Gott über Mose zu den Kindern Israels.

(50) SCHAUEN: Wir verabreden hier: Alle Verben, die von den Wortstämmen hor-, ops-, id- abgeleitet sind, übersetzen wir mit „sehen“ u.ä. (hebräisch raˀa); theasthai übersetzen wir mit „schauen“ (vgl. unser Theater, die hebräische Wurzel ist chasa); theōrein übersetzen wir mit „beobachten, betrachten“ oder „in Betracht ziehen“, weil es in unserem Text für eine Sichtweise steht, die das Handeln orientiert (vgl. unser Wort „Theorie“; das hebräische Pendant ist auch hier chasa). Johannes wählt diese verschiedenen Formen mit Bedacht.

(51) EHRE: Doxa ist hebräisch kavod und bedeutet wortwörtlich „Wucht“ (von kaved, „schwer sein“). Nach Buber übersetzen wir mit „Ehre“ und nicht mit „Herrlichkeit“. Das Wort ist nicht zu „ver-herr-lichen“, sondern ihm gebührt Ehre auf Grund dessen, was es für Israel tut.

[Martin Buber selbst verwendet das Wort „Ehre“ in der Regel allerdings gerade nicht zur Verdeutschung des Wortes kavod, wo es sich auf Gott bezieht, sondern das Wort „Erscheinung“ (Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, in: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gütersloh 2007, 1105):

Nicht immer aber geht es an, auf den ursprünglichen Wortsinn zurückzugehn, um der biblischen Absicht Genüge zu tun. So ist dem eigentlichen Sinn des Wortes kabod, das man mit „Ehre“, wo von den Menschen, mit „Herrlichkeit“ übersetzt, wo von Gott die Rede ist, keine abendländische Entsprechung zu finden. Dem Wurzelsinn gemäß bezeichnet es das innere Gewicht eines Wesens, aber als sich manifestierend, als erscheinend. lm menschlichen Bereich muß es wohl bei „Ehre“ bleiben, aber für den kabod Gottes darf das Wort „Erscheinung“ verwendet werden, als das Sichtbarwerden der unsichtbaren majestas, ihr Scheinendwerden – Lichtglorie am Himmel als Ausstrahlung der „Wucht“. Diese Unmittelbarkeit der Sprachwahrnehmung beim Leser vorausgesetzt, darf der Dolmetsch das zugehörige Verb in der Reflexivform an Stellen wie 2 M[ose] 14,4, 17f.; 3 M[ose] 10,3, statt mit „Ehre einlegen“, „sich verherrlichen“ oder dgl., ein gut deutsches Wort erneuern und Gott sprechen lassen: „Ich erscheinige mich.“

Ich vermute, dass Veerkamp sich von Bubers Verdeutschung von Psalm 115,1 hat leiten lassen, wo das Wort kavod in doppelter Weise auf Israel und auf Gott bezogen wird und Buber sich für die Verwendung des Wortes „Ehre“ entschieden hat. Denn es ist dieser Psalm, von dem her Veerkamp in seiner Auslegung von Johannes 12,28 die Bedeutung der Ehre des NAMENS als „das lebende Israel“ herausarbeitet.]

(52) EINZIGGEZEUGTEN: Vgl. oben, Erläuterung zu „eines Mannes“ in 1,13.

(53) SOLIDARISCHER TREUE: Charis kai alētheia, hebräisch chessed we-ˀemeth. Diese Wortverbindung ist klassisch, vor allem in den Psalmen. Buber übersetzt hier mit: „Huld und Treue“. Weil gegen Huld einiges einzuwenden ist (gerade wegen der von Buber intendierten feudalen Beziehung zwischen Lehnsherrn und Vasall), schreiben wir „Solidarität/solidarisch.“ Das Wort charis kommt bei Johannes nur viermal vor, außer in diesem Vers noch in 1,16 (2x) und 1,17. Obwohl charis normalerweise für das hebräische chen, „Gunst“, oder traditionell „Gnade“, gebraucht wird, und die LXX chessed meistens mit eleēmosynē übersetzt, legt der gedankliche Zusammenhang der Vorrede nahe, dass in 1,14 chessed we-ˀemeth im Hintergrund steht.

(54) Vgl. S. Kracauer, Das Ornament der Masse, 174ff., Frankfurt/M. 1977.

(55) MEIN ANFANG: Prōtos mou. Eine Ordinalzahl, also nicht heis (hebräisch echad), sondern prōtos (hebräisch rischon). Letzteres hat im Hebräischen die gleiche Wurzel wie reschith, griechisch archē, „Anfang“. Chouraqui hat: „Antérieur à moi: il est.“ Für Johannes den Täufer ist das Wort (logos) der Anfang an sich, also auch für ihn.

(56) SOLIDARITÄT FÜR SOLIDARITÄT: Charin anti charitos; vgl. die Anm. zu 1,14. Solidarität und Treue geschehen in Israel, trotz der Tatsache, dass es nach der Katastrophe des Jahres 70 in eine hoffnungslose Lage geraten ist und von sich aus nichts mehr tun kann.

(57) WAS: Hoti wird zwar von keiner Handschrift, aber in alten und neuen Übersetzungen oft weggelassen. Ich lese hier zwei Wörter ho ti und schlage „was“ (statt „denn“) vor; die Tora ist und bleibt die Grundlage. Spätere Generationen haben hier einen Gegensatz gesehen: „Durch Mose wurde die Tora gegeben, aber durch Jesus geschah die Solidarität und die Treue.“ Durch den Messias Jesus wurde die eine Geschichte („geschah!“) neu. Die Gabe der Tora war die „Solidarität und Treue“ Gottes durch Mose, jetzt geschieht die gleiche „Solidarität und Treue“ neu durch Jesus Messias, was sich im „neuen Gebot“ äußert, 13,34. Dennoch redet Johannes nicht von nomos kainos, „neuer Tora“, sondern von entolē kainē, „neuem Gebot“. Es gibt im Johannesevangelium einen unübersehbaren Gegensatz zwischen den Leuten um Johannes und dem rabbinischen Judentum, das in Mose seinen einzigen Lehrer sieht; alle Rabbinen sind nur Schüler des Mose (9,28). Johannes cum suis sind dagegen auch Schüler Jesu. Aber nirgendwo schreibt Johannes, dass Jesus sich von Mose trennt, im Gegenteil: „Wenn ihr (Rabbinen) Mose vertraut, dann vertraut auch mir; denn über mich hat jener geschrieben“ (5,42).

(58) GÖTTLICHER: Vgl. v.1, dritte Zeile. Ausleger und Übersetzer haben hier die Qual der Wahl zwischen ho monogenēs theos, „der einziggeborene Gott“, und ho monogenēs hyios, „der einziggeborene SOHN“. Die Lesart „Gott“ scheint die besseren Papiere zu haben, weil sie von den älteren Handschriften unterstützt wird. Die Lesart „SOHN“ finden wir nur in Handschriften, die nicht älter als das 5. Jh. sind. „SOHN“ scheint besser in den Gedankengang des Evangeliums und vor allem zu 1,13-14 zu passen. In Papyrus 66 fehlt der Artikel, also nicht: „Der einziggezeugte Gott“. Ho theos ist immer „der Gott“, nämlich der Gott Israels. Theos ohne Artikel kann adjektivisch, wie theios, „göttlich“, aufgefasst werden, „von Gott her“ oder „wie Gott“, oder 10,32 interpretierend „in Einklang mit Gott“. „SOHN“ ist eine Lesart des orthodoxen Harmoniebedürfnisses des 5. Jh., des Jahrhunderts Chalcedons! VATER ist bei Johannes die häufigste Umschreibung des heiligen NAMENS, der vier Buchstaben JHWH, die Juden niemals aussprechen und die wir nach dem Vorbild des Theologen K. H. Miskotte mit dem großgeschriebenen Wort NAME wiedergeben. Das wird vor allem in 5,18ff. ausgeführt.

(59) DEN DER VATER IM BUSEN TRÄGT: Eis ton kolpon tou patros, dem Sinn nach: „dem VATER innig verbunden“, vgl. 13,23 und die Anmerkung zu dieser Stelle.

(60) [Bei meinem Versuch, das griechische Wort exēgesato ins Englische zu übertragen (ich wählte schließlich das Wort „performed“), ist mir die Bedeutungsbreite des von TV gewählten deutschen Wortes „ausgeführt“ aufgegangen, und zwar von „er ist [Gottes] Exeget“ bis zu „er hat in seiner Lebensführung gezeigt“.]

(61) Prōtos, Ordinalzahl, nicht heis, der EINE, Kardinalzahl. Die hebräische Form für prōtos ist reschith, nicht ˀechad. Man soll deswegen übersetzen: „Mein Erster ist er“; man könnte auch übersetzen: „Mein Anfang ist er!“

(62) Siehe Gerhard Jankowski, Die große Hoffnung. Paulus an die Römer. Eine Auslegung, Berlin 1998, 165-170.

(63) [Das Wort „geledigt“ verwendet Gerhard Jankowski, a.a.O., 152f. als Übersetzung für das Wort katērgētai in Römer 7,2. denn gemäß der Tora ist eine Witwe durch den Tod ihres Ehemannes wieder zur Ledigen geworden.]

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