Bild: Familie Treblin/Ebling

Karl Barth und Albert Schweitzer

„Es bleiben Glauben, Hoffnung, Liebe: die Liebe aber ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13). „Ein bisschen Entmythologisierung in Marburg und ein bisschen kirchliche Dogmatik in Basel… Könnte ein so problematischer Theologe wie Albert Schweitzer nicht das bessere Teil erwählt haben und mit ihm die ersten Besten, die da und dort versucht haben, Wunden zu heilen…?“ (Karl Barth).

Heinrich-Treblin
Heinrich Treblin

Mystiker und Ethiker

Wenn man als 90-Jähriger auf die Theologie der hinter uns liegenden Jahrzehnte zurückblickt, an der man ja innerlich stark beteiligt war, so bemerkt man, wie regelmäßig nach einiger Zeit ein Themen- oder Paradigmenwechsel erfolgte. Offenbar spürte die junge Generation in der Theologie der Eltern und Großeltern ein Defizit und führte nun ihrerseits einen Pendelausschlag nach der anderen Richtung herbei.

So suchte Schleiermacher im 19. Jahrhundert in den Zeitgenossen das (vertikale) „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ zu wecken, setzte nach ihm Ritschl auf eine (horizontale) bürgerliche Berufsethik mitsamt dem Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts, der dann wiederum von dem Donnerschlag der Theologie Karl Barths (Offenbarung „senkrecht von oben“) getroffen wurde. Barth lehrte uns, den Glauben an den biblischen Gott gegen die Religion der „Deutschen Christen“ festzuhalten und in Barmen zu bekennen.

Aber auch hier blieb die Reaktion nicht aus. Die Generation der 68er warf den Vätern von Barmen vor, über dem innerkirchlichen religiösen Widerstand, (der damals allerdings ein enormes politisches Gewicht hatte!), die ethisch-politische Dimension der christlichen Botschaft übersehen zu haben. Die Bekennende Kirche habe zu wenig politischen Widerstand geleistet. Das versuchte die Theologie nun nachzuholen. In der Diskussion um eine demokratische Gesellschaftsordnung (Ernst Wolf „dominium terrae) und um die Massenvernichtungswaffen bemühte man sich um „politische Diakonie“ der Kirche. Auch Barth selbst wandte sich jetzt stärker den ethischen Früchten des Glaubens zu.

Im Großen und Ganzen hing die vorrangige dogmatische Beschäftigung mit dem Glauben damit zusammen, dass man im reformatorischen Raum ängstlich darauf bedacht war, die im Kampf mit der römischen „Werkgerechtigkeit“ gewonnene Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben nicht zu vergessen. Jetzt aber galt es, der Entartung des Glaubens und der Hoffnung in eine egoistische Sorge um das persönliche Seelenheil, die vergisst, wozu Gott seine Gemeinde in die Welt gesandt hat, zu wehren. Jürgen Moltmanns großer Entwurf einer Theologie der Hoffnung wies auf die bisher verdrängte Dimension der Eschatologie hin, die mehr ist als Vertröstung auf ein künftiges Jenseits, nämlich Aufruf zu verantwortlichem politischen Handeln in der Welt.

Inzwischen hat sich schon wieder eine neue theologische Generation zu Wort gemeldet. Manch einer vermisst in dem Aktivismus der Friedensbewegung den „religiösen“ Tiefgang, die Verwurzelung im Glauben. Was die Bibel in dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammenfasst, an der Liebe Gottes und Jesu sich orientierende Liebe zum Mitmenschen, auch zum Feind, wird neuerdings wieder aufgespalten. Im Namen der Religion, des Glaubens, streiten heute „Mystiker“ gegen die „Ethiker“. Unter neuen Bezeichnungen („Spiritualität“, „Mystik“) meldet sich der Glaube zu Worte und verlangt eine stärkere Verankerung der Ethik in der Beziehung zu Gott.

Agape als Überwindung des Heilsegoismus

Bezeichnend für den Disput zwischen Mystikern und Ethikern war das Streitgespräch zwischen Margot Käßmann und Gregor Gysi auf dem Frankfurter Kirchentag. Während die Bischöfin engagiert den Standpunkt des (vertikalen) Glaubens vertrat und argumentierte, rechte Nächstenliebe sei angesichts der sündigen Verfassung der Menschen nur möglich, wenn sie im Vertrauen zum barmherzigen Gott begründet sei, so hielt ihr der „Ethiker“ und Sozialist Gysi, der sich als Atheist bekannte, die Sünden und Versäumnisse der christlichen Kirchen gegenüber den ausgebeuteten und unterdrückten Arbeitern und Völkern der 3. Welt vor. An einen solchen Gott könne er nicht glauben.

Ich hätte mir gewünscht, dass beide Seiten die jeweils eigenen Defizite (die Verleugnung des solidarischen Eintretens für die Rechte der Arbeiter und den Antijudaismus als Schuld der Kirchen einerseits, die Entartung des Sozialismus im Stalinismus andererseits) deutlicher eingestanden hätten und so das relative Recht der jeweils anderen Seite betont hätten. Ich stehe nicht an, Gysi als Verteter der sozialen Gerechtigkeit einen „anonymen Christen“ zu nennen.

Die tiefere Ursache des Dissenses zwischen Mystikern und Ethikern sehe ich aber in einem anderen Punkt, nämlich darin, dass beide Seiten die oben zitierte paulinische Trias, mit der der Apostel ganzheitlich die christliche Existenz zusammenfasst, außer Acht gelassen haben. Ohne die Agape sind Glaube und Hoffnung nichts wert.

Agape (im Unterschied zum Eros, mit dem sie heutzutage oft verwechselt wird, wenn man von „Liebe“ spricht), ist nicht egoistischer Genuss des anderen Geschlechts, sondern „Leben für andere“, gegründet in Jesu, des Sohnes und Ebenbildes des liebenden Gottes uneingeschränkter Liebe zum Sünder. Glaube als Gottvertrauen, als „Ruhen in Gott“ (Augustin) bleibt Heilsegoismus, wenn er nicht Gestalt gewinnt in der Agape; denn dazu hat uns Gott erwählt und uns Glauben geschenkt, dass wir in der Welt Zeugen seiner barmherzigen Liebe und so „Licht der Völker“ werden. Auch Hoffnung auf das eschatologische Reich des Friedens bleibt egoistische Erwartung auf ein Leben in einer besseren Weltordnung ohne Krieg und Hunger, auf Sicherheit, wenn wir nicht bereit sind, den Weg, den uns der Friedensstifter Jesus vorgezeigt hat, selber zu gehen, den Weg der Agape, den Weg der Feindesliebe, des Gewaltverzichts und der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. Es ist der Weg des „Weizenkorns“ (Johannesevangelium, Kapitel 12, 24f.) , das erstirbt, um Frucht zu bringen. „Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren. Wer es aber verliert um meinetwillen, wird es gewinnen“, sagt Jesus.

Als die Massen, die zuvor dem vollmächtigen Propheten und Wundertäter Jesus begeistert nachgefolgt waren, diese Zumutung vernahmen, wandten sie sich von Jesus ab, und auch seine Jünger flohen angesichts des Kreuzesgalgens. Es war gewiss nur ein „Teil“ der damaligen Juden, die Jesu messianischen Ruf zur Umkehr und Abkehr vom bisherigen Sicherheitsdenken und egoistischen Heilsverlangen als Zumutung und als Ärgernis von sich wiesen. Ihnen folgte leider bis heute die Mehrheit der gesetzestreuen Juden. Aber, was schwerer wiegt, die Mehrheit der heidenchristlichen Kirchen, trotz der Mahnung des Paulus, sich nicht ihres Besitzes der Wahrheit (als das bessere Gottesvolk, das die „verstockten“ Juden enterbt habe), zu rühmen (Römerbrief, Kapitel 9 bis 11). Noch Luther war nicht frei von einem heilsegoistischen Pochen auf einen „gnädigen Gott“ und am Festhalten am kollektiven Vertrauen auf das „Schwertamt“ der weltlichen Obrigkeit (trotz der Mahnung Jesu: „Unter euch soll es nicht so sein“ (Matthäusevangelium, Kapitel 20, 25 und Kapitel 26, 52). Lediglich die gewaltfreien Täufer und die späteren Quäker sind auf ihre Weise den Weg der Nachfolge Jesu gegangen.

Es soll nicht geleugnet werden, dass auch in der Geschichte der Christenheit viel Gutes in Befolgung von Matthäus 25 getan worden ist. In der theologischen Reflexion jedoch hat der Glaube über der Agape stets die beherrschende Rolle gespielt. Immerhin ist es erstaunlich, dass ein Theologe wie Karl Barth, ein Lehrer des Glaubens, am Ende seines Lebens jenen oben zitierten Satz sprechen konnte, in dem er fragt, ob Albert Schweitzer (dessen Theologie in Sachen des Glaubens er freilich noch immer für problematisch hielt), gegenüber der Basler Dogmatik und der Marburger Existenztheologie „das bessere Teil erwählt“ haben könnte.

Die Empfindung, es könnte die einseitige Beschäftigung mit dem Glauben zu einer lieblosen Gnosis oder zu einem frommen Heilsegoismus führen, die politische Eschatologie in reiner Betriebsamkeit landen, erfüllt heute viele. Sofern sie nicht im Sog der Spaßkultur nur darüber nachdenken, wie man dem Glücksverlangen der Zeitgenossen entgegenkommen kann, ist es doch nicht zu verkennen, dass in der weltweiten Ökumene Beispiele wie der Dienst einer Mutter Teresa und das Werk des Urwalddoktors Albert Schweitzer besondere Aufmerksamkeit erregen.

Theologisch am klarsten formuliert und praktisch bewährt hat Dietrich Bonhoeffer die Nachfolge Jesu als „Leben für andere“. In dem Maß, wie die traditionellen Großkirchen an Bedeutung verlieren und die Menschen sich glaubwürdigeren Beispielen persönlicher und gesellschaftlicher Lebensgestaltung zuwenden, wandelt sich auch das Gottesbild. Der Glaube an einen „allmächtigen“ Gott, der alles vermag und von dem man auch die Erfüllung aller unserer Wünsche nach Sicherheit und Glück erwartet, weicht dem Glauben an einen Gott, der aus unendlicher Liebe zu seinen undankbaren Kindern es fertig bringt, „ohnmächtig“ zu leiden und selber die Folgen unseres lebenszerstörenden Tuns zu ertragen. An einem solchen Gott orientiert sich dann auch seine Gemeinde. Sie findet ihren Ort nicht im weltbeherrschenden Vatikan, in einer von der Staatsmacht privilegierten geschützten Amtskirche, sondern „draußen vor dem Lager“ an der Seite der Armen, Unterdrückten, Erniedrigten, den Opfern der Gewalt der Mächtigen und wird so selber zum Opfer der Herrschenden. Die Kirche der Zukunft wird zurückkehren zur Nachfolgegemeinde Jesu, der als Jude sich für die Versöhnung der Juden und Heidenvölker dahingab (Epheserbrief, Kapitel 2) und so der Welt den kommenden Gottesfrieden verlobte, oder sie wird mit der Welt zugrunde gehen.

Heinrich Treblin, Pfr. i. R., Jahrgang 1911, illegaler Pastor der Bekennenden Kirche in Breslau, Dienst in Schlesien, im polnischen Wrozlaw, Pfarrer in Niesky (DDR) und Alzey (BRD). Schriften zur Friedensnachfolge.

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