Bild: Helmut Schütz

„Es ist das Wort ganz nahe bei dir“

Erstaunlich, wie einig die heiligen Bücher der drei Religionen sind, deren Anhänger an einen einzigen Gott glauben: Gott ist nahe. In seinem Wort, seiner Tora, seinem Gebot. Und Vergebung ist keine Flatrate für unbegrenztes Sündigen. Nein, das Vertrauen auf einen barmherzigen Gott öffnet uns die Augen und das Herz dafür, wie schrecklich es ist, unbarmherzig zu denken und zu handeln.

Die hebräischen Schriftzeichen QaROB für das Wort "nahe"
Die hebräischen Buchstaben Q – R – O – B (mit den Vokalzeichen für a und o), die das Wort QaROB = „nahe“ oder „Nachbar“ bilden

#predigtGottesdienst am 18. Sonntag nach Trinitatis, den 11. Oktober 2020, um 9.30 Uhr in der Pauluskirche und um 11.00 Uhr in der Thomaskirche Gießen
Musik zum Eingang

Ich freue mich, nach einer langen Corona-bedingten Pause, wieder einmal hier mit Ihnen Gottesdienst feiern zu dürfen, und begrüße alle herzlich: Guten Morgen, liebe Gemeinde!

Singen dürfen wir leider zur Zeit nicht gemeinsam; aber zum Orgelspiel von Florian Keßler können wir die Lieder nach dem Text auf dem Liedblatt im Kopf mitsingen. Auch die Liturgie singen wir nicht wie gewohnt. Das ändert aber nichts daran, in wessen Namen wir Gottesdienst feiern, nämlich:

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

So sind wir hier versammelt, im Namen des Einen Gottes der ganzen Welt, der zuerst sein Volk Israel erwählte, als der liebende Vater.

Dass wir diesen Gott Israels kennenlernen durften und zu seinem Volk hinzuerwählt wurden, verdanken wir Jesus Christus, dem Sohn des himmlischen Vaters.

Es ist nicht selbstverständlich, mit diesem Gott Israels und Jesu Christi etwas anfangen zu können. Wirklich erkennen wir ihn nur, wenn Gott selbst uns mit Vertrauen erfüllt, wenn er uns inspiriert zum Halten seiner Gebote der Menschenliebe, wenn er uns nahe kommt in seinem Geist der Liebe.

Davon handelt auch die heutige Predigt zum Thema „Es ist das Wort ganz nahe bei dir“ und das Wort zur kommenden Woche aus 1. Johannesbrief 4, 21:

Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

Lasst uns beten:

Gott, du Vater Israels, Vater Jesu Christi und unser Vater!

Wir kommen in die Kirche mit unseren Alltagsgedanken und Sonntagswünschen. Mit Sorgen und Freuden, mit Ängsten um die Zukunft oder Offenheit für Neues. Und hier begegnen wir nun dir, du Gott, der du uns vertraut sein magst und doch immer wieder fremd, den wir vielfach vergessen mögen im Getriebe der Welt und der du uns doch näher bist, als wir denken.

Die Bibeltexte dieses Gottesdienstes erzählen von deinen Geboten. Ist das ein Thema, das uns fesselt? Oder stößt es uns ab? Wollen wir herausgefordert werden, oder fühlen wir uns eingeengt, in unserer Freiheit beschnitten? Sind deine Gebote altmodisch, überholt? Oder brauchen wir sie, um leben zu können? Gott, hilf uns zu begreifen, was du uns mit deinen Geboten für unser Leben schenkst. Amen.

Martin Luther hat im Jahr 1524 ein Lied zu den Zehn Geboten gedichtet, das wir jetzt hören und – wie gesagt – im Kopf mitsingen können – das Lied 231, zunächst vier Strophen:

1. Dies sind die heilgen Zehn Gebot, die uns gab unser Herre Gott durch Mose, seinen Diener treu, hoch auf dem Berg Sinai. Kyrieleis.

2. Ich bin allein dein Gott, der Herr, kein Götter sollst du haben mehr; du sollst mir ganz vertrauen dich, von Herzensgrund lieben mich. Kyrieleis.

5. Du sollst ehrn und gehorsam sein dem Vater und der Mutter dein und wo dein Hand ihn’ dienen kann; so wirst du langes Leben han. Kyrieleis.

6. Du sollst nicht töten zorniglich, nicht hassen noch selbst rächen dich, Geduld haben und sanften Mut und auch dem Feind tun das Gut. Kyrieleis.

Lasst uns nun den Psalm 1 im Wechsel miteinander beten. Sprechen Sie bitte die eingerückten Verse:

1 Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder noch sitzt, wo die Spötter sitzen,

2 sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!

3 Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl.

4 Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut.

5 Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.

6 Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht.

Der Predigttext heute ist ein Ausschnitt aus dem 30. Kapitel im 5. Buch Mose (das auch Deuteronomium genannt wird). Das 5. Buch Mose wiederum ist eine einzige lange Rede des Mose, bevor Gott seinem Volk Israel den Einzug in das gelobte Land schenkt, wo es nach dem Auszug aus der Sklaverei in Ägypten und nach 40jähriger Wanderung durch die Wüste endlich im Frieden gemäß den Geboten Gottes leben dürfen soll. In dieser Rede kündigt Mose dem Volk Israel bereits an, welche Folgen es haben wird, wenn die Gebote Gottes nicht beachtet werden: Das Land wird verlorengehen, Israel wird in der Zerstreuung unter den Völkern der Welt, unter den Heiden leben. Und für diese Zeit legt Mose den Israeliten in diesem 30. Kapitel des 5. Buchs Mose eine Hoffnung ans Herz.

Was das für uns Christen bedeutet, darüber mache ich mir nachher in der Predigt Gedanken. Hören wir jetzt erst einmal Mose zu:

1 Wenn nun dies alles über dich kommt, es sei der Segen oder der Fluch, die ich dir vorgelegt habe, und du es zu Herzen nimmst, wenn du unter den Heiden bist, unter die dich der HERR, dein Gott, verstoßen hat,

2 und du dich bekehrst zu dem HERRN, deinem Gott, dass du seiner Stimme gehorchst, du und deine Kinder, von ganzem Herzen und von ganzer Seele in allem, was ich dir heute gebiete,

3 so wird der HERR, dein Gott, deine Gefangenschaft wenden und sich deiner erbarmen und wird dich wieder sammeln aus allen Völkern, unter die dich der HERR, dein Gott, verstreut hat.

4 Wenn du bis ans Ende des Himmels verstoßen wärst, so wird dich doch der HERR, dein Gott, von dort sammeln und dich von dort holen

5 und wird dich in das Land bringen, das deine Väter besessen haben, und du wirst es einnehmen, und er wird dir Gutes tun und dich zahlreicher machen, als deine Väter waren.

6 Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst.

7 Aber alle diese Flüche wird der HERR, dein Gott, auf deine Feinde legen und auf die, die dich hassen und verfolgen.

8 Du aber wirst umkehren und der Stimme des HERRN gehorchen, dass du tust alle seine Gebote, die ich dir heute gebiete.

9 Und der HERR, dein Gott, wird dir Glück geben zu allen Werken deiner Hände, zu der Frucht deines Leibes, zu den Jungtieren deines Viehs, zum Ertrag deines Ackers, dass dir’s zugutekomme. Denn der HERR wird sich wieder über dich freuen, dir zugut, wie er sich über deine Väter gefreut hat,

10 weil du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchst und hältst seine Gebote und Rechte, die geschrieben stehen im Buch dieses Gesetzes, wenn du dich bekehrst zu dem HERRN, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele.

Glaubensbekenntnis

Weitere vier Strophen aus dem Lied 231 über die zehn Gebote hören wir und können sie im Kopf mitsingen:

7. Dein Eh’ sollst du bewahren rein, dass auch dein Herz kein’ andern mein, und halten keusch das Leben dein mit Zucht und Mäßigkeit fein. Kyrieleis.

8. Du sollst nicht stehlen Geld noch Gut, nicht wuchern jemands Schweiß und Blut; du sollst auftun dein milde Hand den Armen in deinem Land. Kyrieleis.

9. Du sollst kein falscher Zeuge sein, nicht lügen auf den Nächsten dein; sein Unschuld sollst auch retten du und seine Schand decken zu. Kyrieleis.

11. All die Gebot uns geben sind, dass du dein Sünd, o Menschenkind, erkennen sollst und lernen wohl, wie man vor Gott leben soll. Kyrieleis.

Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und Worte für unser Herz. Amen.

Liebe Gemeinde,

ich habe Ihnen zugemutet, einen langen Abschnitt aus der jüdischen Tora, der Wegweisung Gottes im 5. Buch Mose, anzuhören, der unmittelbar vor unserem heutigen Predigttext steht. Ich habe es getan, weil wir Christen ja oft Texte aus dem Zusammenhang der jüdischen Bibel reißen und sie dann christlich auslegen, aber was unmittelbar davor oder danach steht und uns nicht in den Kram passt, das lassen wir einfach weg.

Unser heutiger Predigttext fängt aber mit „Denn“ an. „Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete“, wir werden ihn gleich hören.

Ein „Denn“ bezieht sich auf das, was davor stand, darum der lange Blick auf den Text, den wir eben gehört haben. Was haben wir denn eben gehört? Was konnten Sie im Kopf behalten? Mir sind zwei Dinge im Gedächtnis geblieben. Erstens die große Hoffnung, die Israel mit dem Gebot Gottes verbinden darf: Wenn das Volk zu dem einen Gott umkehrt, der es schon einmal aus der Unterdrückung befreit hat, und wenn es nach seinen Geboten handelt, dann wird es wieder Befreiung erfahren. Konkret heißt das: Das Volk wird gesammelt aus allen Völkern, es wird zurückkommen ins Gelobte Land, wo es mit vielen Nachkommen glücklich und in gutem Auskommen leben kann.

Einen Satz allerdings höre ich mit gemischten Gefühlen: „alle diese Flüche wird der HERR, dein Gott, auf deine Feinde legen und auf die, die dich hassen und verfolgen.“

Lieber höre ich Sätze von Frieden und Versöhnung, die es auch in der Bibel gibt. Aber hier will Gott alle Feinde Israels strafen. Ich komme später darauf zurück und halte hier nur fest: Gott steht zu seinem Bund mit Israel; das Schicksal seines Volkes wird ihm niemals gleichgültig sein.

Nach den eben gehörten Sätzen hören wir den heutigen Predigttext (5. Buch Mose – Deuteronomium 30):

11 Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.

12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: „Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?“

13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: „Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?“

14 Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

15 Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute vor, den Tod und das Böse.

Auch diese Sätze, liebe Gemeinde, beziehen sich zunächst auf das Volk Israel. Gott ist Israel nahe in seinen Geboten. Gott bleibt den Juden nahe in ihrer Tora. Und wenn wir Christen früher oft gedacht haben: Für die Juden ist Gott hoch oben im Himmel, weit weg, ein ferner Gott, nur uns Christen ist er ganz nahe gekommen, Mensch geworden in Jesus, dann müssen wir sagen: In seiner Tora, seinen Geboten, seiner guten Wegweisung, ist und bleibt Gott schon den Juden nahe. Das befreiende Wort Gottes ist nicht nur oben im Himmel, nicht jenseits des Meeres, es ist im Munde und im Herzen dessen, der es hört, damit es getan wird.

Dazu fällt mir ein, worauf mich muslimische Freunde aufmerksam gemacht haben. Auch im Koran ist Gott nicht nur ganz fern, ganz hoch über uns, vielmehr sagt Gott nach Sure 50, 16:

Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader.

Erstaunlich, wie einig sich die heiligen Bücher der drei Religionen sind, deren Anhänger an einen einzigen Gott glauben: Gott ist nahe.

Aber was bedeutet das?

Ist Gottes Gebot nicht zu hoch und nicht zu fern, dann haben wir keine Ausrede, uns nicht daran zu halten. Wir müssen nicht erst hoch zu Gott in den Himmel, um Ahnung zu haben von Gottes Willen. Er hat uns gesagt, was er von uns will. Wir müssen auch keine Weltreise machen, uns nicht einreden, dass wir erst dann Gutes tun könnten, wenn wir ganz anders wären, reich wären, wenn die Verhältnisse anders wären.

Ganz nahe bei uns ist das Wort. Als ich nun einmal gesucht habe, wo dieses Wort QaROB, „nahe“, im Hebräischen sonst noch vorkommt in der Bibel, da erlebte ich eine Überraschung. Sehr oft fand ich dafür die Bedeutung: „dein Nachbar“. Gott ist uns also nicht nur so nahe wie unsere Halsschlagader, er ist uns so nahe wie unser Nachbar. Der Nachbar, für den wir ein Paket entgegennehmen oder der uns ärgert, weil er auf dem Balkon bis in die Morgenstunden hinein feiert. Der Nachbar, der uns leid tut, weil er seine Arbeit verloren hat, aber auch der Asylbewerber, dem wir auf der Straße mit gemischten Gefühlen begegnen.

Das Gebot Gottes hat also schon im Alten Testament mit dem Nachbarn zu tun, mit dem Nächsten, und auch das Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ hat ja nicht Jesus er-funden, sondern er hat es ge-funden in seiner jüdischen Bibel, im 3. Buch Mose – Levitikus 19:

18 Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.

33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.

34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.

Nahe ist dieses Wort, in unserm Mund, in unserm Herzen, dass wir es tun, heißt es in 5. Mose 30, 14, und im folgenden Vers stehen dann noch die Worte:

15 Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute vor, den Tod und das Böse.

Das klingt einfach UND hart zugleich: Wer Gutes tut, wird leben. Wer Böses tut, erntet den Tod. Ist es wirklich so einfach?

Wir Christen denken ja oft: Nein, so einfach ist es eben nicht. Aus eigener Kraft ist es unmöglich, die Gebote zu befolgen. Nur für uns Christen ist das nicht schlimm, denn Christus vergibt uns ja, egal was wir tun.

Aber ist das auf der anderen Seite nicht auch wieder zu einfach? Ist damit denn außer Kraft gesetzt, was im 5. Buch Mose steht?

Auch das Alte Testament weiß, dass wir Vergebung brauchen. Genau in dem Kapitel, das wir gerade lesen, wird diese Vergebung ja beschrieben: Wo wir zu Gott umkehren, merken wir, dass er schon längst da ist, dass er sich zu uns umgekehrt hat. Wo wir anfangen, uns ernsthaft Gedanken über Gott zu machen, kann uns der Gedanke kommen, dass Gott uns längst nahe ist. Warum? Weil wir nicht wären, wenn er nicht wäre. Als Geschöpfe Gottes hätten wir ohne ihn keine Existenz.

Und dieser Gedanke hilft uns vielleicht auch, eine Antwort auf die Frage mit der Strafe und der Vergebung zu finden. Es ist ja ein ganz bestimmter Gott, an den wir glauben. Israels Gott trägt einen Namen, der Befreiung bedeutet von allem, worin wir Menschen uns selber verstricken und andere unterdrücken. Das Wort dieses Gottes enthält alles, was wir zum Leben brauchen: Im Einklang mit Gott zu leben, bedeutet auch, die Freiheit und das Recht jedes anderen Menschen zu achten, im Einklang zu leben auch mit der Natur. Wo anderen Göttern gefolgt wird, Göttern der Selbstbehauptung, des persönlichen, religiösen oder nationalen Egoismus, da können die bösen Folgen nicht ausbleiben: Ausbeutung, Unrecht, Hass und Gewalt bis hin zu Krieg und Terrorismus. Die Bibel hat für solche bösen Folgen falscher Wege der Menschen einen Namen: Strafe. Der strafende Gott ist kein schikanöser Willkürgott. Wo die Bibel Gottes Strafen erwähnt, da legt sie den Finger auf Wunden, die wir Menschen uns und unserer Welt selber schlagen. Wir müssen mit den Folgen unserer Sünden zurechtkommen.

Davon spricht unser biblisches Kapitel 30 aus dem 5. Buch Mose ausführlich. Lesen wir es zu Ende:

16 Dies ist’s, was ich dir heute gebiete: dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen.

17 Wendet sich aber dein Herz und du gehorchst nicht, sondern lässt dich verführen, dass du andere Götter anbetest und ihnen dienst,

18 so verkünde ich euch heute, dass ihr umkommen und nicht lange in dem Lande bleiben werdet, in das du über den Jordan ziehst, es einzunehmen.

19 Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen,

20 dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und seiner Stimme gehorchst und ihm anhangest. Denn das bedeutet für dich, dass du lebst und alt wirst und wohnen bleibst in dem Lande, das der HERR deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, ihnen zu geben.

Wenn ich das so lese und höre, frage ich nochmals: Gelten diese Worte auch für uns? Oder sind sie nur für Juden bestimmt? Hier wird ja den Juden Gottes Segen zugesagt, und dieser Segen besteht darin, alt zu werden in dem Land, das sie nach Gottes Willen einnehmen dürfen, und viele Kinder und Kindeskinder aufwachsen zu sehen. Wäre ein solcher Segen für uns Christen zu wenig? Manche würden sagen: Wir Christen haben doch mehr zu erhoffen, ewiges Leben über den Tod hinaus!

Allerdings glauben schon mindestens seit der Zeit Jesu auch Juden an die Auferstehung der Toten. Darüber war Jesus mit den Pharisäern einig. Und umgekehrt frage ich mich: Wie viele Christen sind es wohl heute, für die das ewige Leben wirklich wichtiger ist als ein langes erfülltes Leben? Ist es nicht auch für uns ein großer Segen, alt werden zu dürfen? Viele freuen sich daran, Kinder, Enkel oder gar Urenkelkinder aufwachsen zu sehen. Und in einem Land in Frieden und Sicherheit leben zu können, wie es uns in Deutschland nun seit 75 Jahren geschenkt ist, das betrachten wir wohl alle ebenfalls als reichen Segen Gottes.

Auf jeden Fall können wir aus diesem Bibeltext auch für uns lernen: Solcher Segen Gottes ist nicht selbstverständlich. Das ist ja gerade die Definition von Segen: Er kommt nicht von selbst. Er kommt von Gott. Segen ist ein Geschenk von oben.

Allerdings – indem ich das so aufgeschrieben habe und jetzt sage, stutze ich und denke: Moment mal, da steht ja gar nichts von einem Geschenk. Da steht ja, dass Gott seinem Volk etwas zuschwört. Er sichert Israel vertraglich seinen Segen zu. Allerdings gibt es eine Bedingung dafür: den Vertrag zu erfüllen. Die vertraglich vereinbarte Leistung der Israeliten, um Gottes Segen zu kriegen, ist: „dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst“. Wir haben schon gehört, warum Israel diesen Gott lieben kann: Weil er kein Willkürgott, kein Tyrann, ist, sondern das Volk mehrfach aus der Sklaverei befreit hat und weil die Wege dieses Gottes darin bestehen, diese Freiheit zu bewahren – und zwar nicht nur für jeden Volksgenossen, sondern sogar für den Fremdling, der Zuflucht im Land gefunden hat.

Trotzdem könnten wir diese Worte bedrohlich finden. Soll denn von unserem Gottvertrauen und Verhalten unser Leben abhängen? Haben wir als Christen nicht gelernt, dass von unserer eigenen Kraft gar nichts abhängt, dass uns das Heil, Segen, Vergebung von Gott durch Jesus geschenkt ist?

Das ist wahr – allerdings wusste auch schon Israel, dass es nur aus der Vergebung Gottes leben kann. Und umgekehrt gilt auch für uns Christen der Satz aus Psalm 130, Vers 4:

4 Bei dir [Gott] ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

Vergebung ist keine Flatrate für unbegrenztes Sündigen. Indem ich auf Gott vertraue, auf Jesu Vergebung baue, kriege ich keinen Freibrief, um ungestraft meine Kinder zu vernachlässigen, meinen Partner zu betrügen, meinem Nächsten zu schaden, die Umwelt zu vermüllen, Lügen zu verbreiten und vieles mehr. Nein, das Vertrauen auf einen barmherzigen Gott öffnet uns im Gegenteil die Augen und das Herz dafür, wie schrecklich es ist, unbarmherzig zu denken und zu handeln. Darum lieben Juden ihren Gott und ihre Tora, die wir immer so lieblos „das Gesetz“ nennen: Gebote der Barmherzigkeit dienen zu unserem Segen, zu unserem Leben, zum Überleben unserer Umwelt und der Menschheit.

Ein letzter Gedanke: Wir könnten auch zynisch werden und sagen: Was wir da im Bibeltext hören, klingt alles schön, aber es gibt so viele Menschen, die nicht alt werden, die keine Kinder haben, obwohl der Kinderwunsch da war. Ja, es sterben sogar Kinder, und in vielen Ländern der Erde leben Menschen nicht in Frieden und gutem Auskommen – sogar viele in unserem Land. Haben all diese Menschen sich nicht an Gottes Gebote gehalten? Würde er sagen: „Selber schuld!“?

Nein. Denen, die leiden, ohne etwas dafür zu können, würde Gott das sicher nicht sagen. Mahnende Worte sind für uns bestimmt, wo wir zu Tätern von Bösem werden, vielleicht aus Gedankenlosigkeit oder weil wir unsere Gefühle verdrängen. Aber wer unschuldig leidet, wer zum Opfer wird, wer mit seinen Kräften am Ende ist? Der darf wissen, dass Gott ihm näher ist, als er denkt. Schon im Alten Testament tat es Gott buchstäblich im Herzen weh, als das Volk Israel in Ägypten unterdrückt wurde, und er sorgte für Befreiung. Doch auch der Ägypterin Hagar war Gott nahe, als sie von der Israelitin Sara verstoßen wurde, und als alleinerziehende Mutter wurde Hagar zur Gründerin des Volkes der Ismaeliten. Segen von Gott bedeutet nicht ein perfektes Leben ohne jedes Unheil, da Gott nicht allem Bösen mit Gewalt Einhalt gebietet. Gottes Segen war nicht einmal am Ende, als man Jesus ans Kreuz schlug, der die Liebe Gottes am vollkommensten verkörperte. Er ließ sich um der Liebe willen töten, die stärker ist als der Tod. Und so bestätigt Jesus, was wir vorhin gehört haben: „Es ist das Wort ganz nahe bei mir.“ Jesus ist ja das verkörperte Wort Gottes, Gottes Fleisch gewordene Liebe. Nicht einmal, wenn wir denken, wir seien von Gott verlassen, sind wir allein, nicht einmal im Tod verlieren wir den Segen des barmherzigen Gottes. Wir dürfen darauf vertrauen. Amen.

Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben. Amen.

Lied 295:

1. Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit, nach seinem Worte handeln und leben allezeit; die recht von Herzen suchen Gott und seine Zeugniss’ halten, sind stets bei ihm in Gnad.

2. Von Herzensgrund ich spreche: Dir sei Dank allezeit, weil du mich lehrst die Rechte deiner Gerechtigkeit. Die Gnad auch ferner mir gewähr; ich will dein Rechte halten, verlass mich nimmermehr.

3. Mein Herz hängt treu und feste an dem, was dein Wort lehrt. Herr, tu bei mir das Beste, sonst ich zuschanden werd. Wenn du mich leitest, treuer Gott, so kann ich richtig laufen den Weg deiner Gebot.

Fürbitten
Gebetsstille
Vater unser
Abkündigungen

Empfangt Gottes Segen:

Der Herr segne euch und er behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. „Amen, Amen, Amen!“

Musik zum Ausgang

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