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Nicht verloren „im Lande des Vergessens“

Trauerfeier für eine junge Frau, die an den Folgen ihrer Drogenabhängigkeit gestorben ist. Mit Worten des Psalms 88 drücke ich die Klage um ihr Schicksal aus – und frage ich nach Hoffnung für sie und ihre Angehörigen.

Land des Vergessens: Kokain liegt in Form eines Totenkopfes auf dem Tisch, eine Hand mit zusammengerolltem 50-Euro-Schein hält sich bereit, um es zu schnupfen.
Drogenabhängigkeit endet oft tödlich (Bild: sammisreachersPixabay)

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.

Aus der Tiefe rufe ich, HERR, zu dir. Herr, höre meine Stimme. (Psalm 130, 1-2)

Ich begrüße Sie herzlich am Grab von Frau Y. Wir nehmen heute von ihr Abschied, nachdem sie im Alter von [über 30] Jahren gestorben ist.

Wir sinnen nach über unsere Empfindungen bei diesem Abschied, wir versuchen, der Verstorbenen gerecht zu werden, so gut es geht, wir suchen an diesem Grab Trost in Gottes Wort.

Mit gemischten Gefühlen stehen wir hier, denn diese Frau, die wir heute bestatten, hat es vielen nicht leicht gemacht – ihrer Familie, ihren Freunden – und auch sich selbst. Sie hat es in ihrem Leben von frühester Kindheit an sicher auch nicht leicht gehabt, wenn wir nur daran denken, dass sie ihre Mutter bereits sehr früh verloren hat. Aber wir sind nicht hier, um Zensuren zu verteilen: Wer hat Schuld, wer ist zu verurteilen, wer hat mildernde Umstände. Erstens wissen wir das nicht letztgültig zu sagen, und zweitens ist der einzige, der uns mit letzter Sicherheit beurteilen kann, nämlich Gott, ein barmherziger Richter, der uns unsere Schuld vergibt.

Daher geht es mir heute mehr um die Gefühle, die Frau Y. in anderen ausgelöst hat und auch selber gefühlt haben mag. In den Gesprächen mit den nächsten Angehörigen kam die Trauer deutlich zum Ausdruck, die viele schon lange vor diesem Tod empfunden haben, denn Frau Y. hat sich selbst ja immer wieder durch die Drogen und alles, was damit zusammenhing, schweren Schaden zugefügt – und sie ist denen, die ihr anvertraut waren, einiges schuldig geblieben. Daher ist auch der Zorn verständlich, den ihr Verhalten ausgelöst hat, ein ohnmächtiger Zorn, denn alle Versuche, sie von ihrem Weg in den Abgrund abzubringen, waren vergeblich. Da man Ohnmacht nicht so gerne zugeben möchte und man sich manchmal fragt: Hätte ich nicht doch noch mehr tun können, um ihr zu helfen, stellen sich häufig auch Schuldgefühle ein. Es ist normal, sich schuldig zu fühlen für harte Entscheidungen, die notwendig sind, um ein Kind zu schützen, um sich selbst nicht kaputtzumachen, um das Co-Abhängigkeits-Spiel mit dem in seiner Sucht Gefangenen zu beenden und ihm so eine letzte Chance zum Ausstieg zu geben. Es ist auch normal, wenn man nicht immer ganz genau das Richtige getan hat, denn wir sind keine Übermenschen.

Und in all dem dürfen wir nicht vergessen – es geht hier um einen Menschen, den Sie trotz allem auch liebgehabt haben, den Sie vielleicht immer noch lieben, und der selbst mit Sicherheit eine große Sehnsucht nach Liebe gehabt hat.

Vieles andere mehr bewegt uns. Widersprüchliche Gefühle haben nebeneinander ihr Recht und dürfen auch ausgesprochen werden. Aber uns fällt es heute schwerer als früheren Generationen, unser Herz sprechen zu lassen. Darum möchte ich an diesem Grab Gebetsworte aus einem sehr alten Lied der Bibel aussprechen und auslegen, aus dem Psalm 88:

2 HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir.

3 Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien.

4 Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode.

Ich weiß nicht, ob Frau Y. „fromm“ war, wie man so sagt, ob sie hin und wieder gebetet hat. Aus meiner Erfahrung als Klinikseelsorger in der Suchtabteilung kann ich es mir aber vorstellen, dass sie in äußerster Verzweiflung zum Gebet gegriffen hat – wohl ohne Hoffnung auf Erhörung. Und wenn nicht, so können wir doch sagen, dass ihr ganzes Verhalten einem Schrei nach Hilfe gleichkam – einer Hilfe, die sie vielleicht nur hätte annehmen müssen, wozu sie nicht imstande war. Sie wusste offenbar nicht, wie das geht: das Geschenk des Lebens annehmen, verantwortlich damit umgehen, verantwortlich in einer Partnerschaft oder Familie zu leben. So war sie dem Tode nahe schon zu ihren Lebzeiten.

Wie es jemandem ergeht, der mitten im Leben schon den Tod erlebt, beschreibt der Dichter unseres Psalms mit harten Worten:

5 Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat.

6 Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind.

7 Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe.

8 Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten.

Manche haben gedacht, hier beschreibt ein schon Verstorbener die Qualen der Unterwelt. Sicher kann ein Verzweifelter sich auch das Leben nach dem Tod so ausmalen – von Gott verlassen, in der finsteren, tiefen Grube, verdammt unter dem ewigen Grimm Gottes, bedrängt von den Chaosfluten des Nichts, die die Welt bedrohen, so lange sie besteht. Aber wir können sicher annehmen, dass Frau Y. bereits ihr Leben in der Drogenszene so empfunden hat, verlassen, bedrängt, weder richtig tot noch lebendig. Vor allem die folgenden Verse spiegeln ihr Leben und ihre Verzweiflung genau wider:

9 Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus,

10 mein Auge sehnt sich aus dem Elend.

Gefangensein in der Abhängigkeit trotz aller Sehnsucht nach Freiheit – das war das Los von Frau Y. in ihrer Sucht, von der sie nicht loskam. Gefangensein in ihrer Krankheit – ohne die Fähigkeit, die Hand zu ergreifen, die ihr hätte helfen können.

Und nun kommen Gebetsworte in unserem Psalm, die evtl. Ihnen, den Hinterbliebenen, aus dem Herzen sprechen. Wobei ich auch hier wieder nicht weiß, ob Sie manchmal beten. Allerdings kann auch ein stummer, ungerichteter Seufzer so etwas sein wie ein Gebet in einen Himmel, von dem wir hoffen, dass er vielleicht doch nicht leer ist:

HERR, ich rufe zu dir täglich; ich breite meine Hände aus zu dir.

11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?

12 Wird man im Grabe erzählen deine Güte und deine Treue bei den Toten?

13 Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?

In Frageform wird hier von Wundern gesprochen, die an Toten geschehen. Sollte es möglich sein, dass Tote auferstehen, dass Frau Y. wenigstens nach ihrem Tod eine Hoffnung hat? Die Menschen im Volk Israel waren sich da gar nicht so sicher, ebensowenig wie wir modernen Menschen. Doch im Gegensatz zu vielen Menschen heute konnte der Psalmdichter damals trotz allem an seinem Glauben festhalten, dass da in der Ungewissheit jenseits der Grenze des Todes ein Gott sein muss, den man ansprechen, ja anschreien kann:

14 Aber ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich:

15 Warum verstößt du, HERR, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir?

Vielleicht können viele Menschen heute nur aus dem Grund nicht mehr beten, weil es in den Kirchen lange Zeit verboten schien, anders mit Gott zu reden als in netten, lobenden, preisenden Worten. Aber wenn Gott lebendig ist, dann hält er es auch aus, wenn wir vor ihm klagen, sogar wenn wir ihn anklagen. Und dann gibt es manchmal Wunder. Nicht Wunder übernatürlicher Art, sondern Wunder, die an uns selber geschehen. Wir erhalten irgendwann Antwort – innen drin in unserem Herzen, irgendwie. In uns, bei uns, unter uns wächst wieder Vertrauen und Liebe, Freude und Leben. Wir spüren, wir sind in dieser Welt doch nicht verlassen, sondern umfangen und geborgen in einer Liebe, die uns geschenkt wird und die wir weiterschenken können.

Vielleicht können wir uns sogar schon heute mit dem Gedanken anfreunden, dass Frau Y.s Schicksal nach ihrem Tod nicht das Land des Vergessens sein muss, sondern dass sie unvergessen bleibt in den Gedanken des ewigen Gottes. Niemand von uns kann sich den Himmel verdienen, jeder bekommt ihn geschenkt, diesen Himmel, der ein Bild für die ewige Erfüllung ist, von der wir uns keine auch nur annähernd richtige Vorstellung machen können. Auch Frau Y. ist im Himmel des Gottes, der keins seiner Kinder auf ewig verloren gehen lässt, und wenn sie ihm noch so viele Sorgen machen. Egal, was sie in ihrem Leben sich und anderen schuldig geblieben ist, Gott sieht durch alles Äußere hindurch die lebenshungrige junge Frau, die auf die falsche Weise das Leben gesucht und den Tod gefunden hat, sieht vor allem das Kind in ihr, das sie einmal gewesen ist, das sich nach Liebe sehnte.

Von unerfüllter Sehnsucht nach Leben und Liebe von Kindheit an spricht auch unser Psalm:

16 Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; ich erleide deine Schrecken, dass ich fast verzage.

17 Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken vernichten mich.

18 Sie umgeben mich täglich wie Fluten und umringen mich allzumal.

19 Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und meine Verwandten hältst du fern von mir.

Damit endet der Psalm – so wie auch wir häufig in Gedanken um die gleichen Fragen kreisen und nie zu einem Ende kommen. Doch ich möchte im Vertrauen auf den Gott, der in Jesus selber Mensch wurde, der in Jesus selber in die Nacht des Todes hinabstieg und vom Vater auferweckt wurde, für uns heute das Gebet zu Gott so fortsetzen:

Gott, Du bist bei uns, auch wenn wir Deine Nähe nicht spüren. Halte uns fest, wenn wir nicht weiterwissen, wenn unsere Gedanken sich im Kreise drehen, wenn unsere Herzen hart werden und wir uns zu-machen gegenüber allem, was uns anrühren könnte.

Hilf uns, das Loslassen zu lernen. Lass uns die Verstorbene loslassen in Deine liebenden Hände hinein, denn Du wirst mit ihr auf eine Art umgehen, die ihr gerecht wird. Du nimmst sie auf in Deinen Himmel, weil Du Liebe und Vergebung bist.

Mach uns auch bewusst: Da war Ärger und Zorn, vielleicht sogar Hass und schließlich Gleichgültigkeit – und zugleich war da Liebe und Sehnsucht nach Liebe. Mach uns bewusst: Wir waren machtlos, wir konnten nicht helfen, so gern wir es hätten tun wollen – und hilf uns, dort verantwortlich zu handeln, wo wir es können – indem wir gut für uns sorgen und für die, die uns anvertraut sind. Amen.

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