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Zu-fällige Zugänge zur Analyse der Psyche

Ein innerer Dialog im Kopf eines Pfarrers mit dem Philosophen Odo Marquard.
Fraktale Struktur, die wie ein Auge mit Strahlen aussieht
Fraktale Strukturen entstehen quasi zufällig durch einfache wiederholte Anweisungen (Bild: Pixabay)

Manche nennen es Zufall, wenn Ereignisse nicht durch kausale Zusammenhänge oder Notwendigkeiten zusammentreffen. Wieviel Zufall es in der Wirklichkeit tatsächlich gibt, ist naturwissenschaftlich gesehen für einen Laien kaum noch verständlich, da sich die Diskussion im Spannungsfeld zwischen der quantenphysikalischen Unschärferelation und der chaostheoretischen Untersuchung fraktaler Strukturen abspielt. Als Theologe spreche ich gern von einer Fügung, wenn aus – sozusagen fälligen – Zufällen Sinnzusammenhänge entstehen. Sie, lieber Herr Prof. Marquard, schätzen als Philosoph den Zufall sehr: „der Zufall ist keine mißlungene Absolutheit, sondern – sterblichkeitsbedingt – unsere geschichtliche Normalität. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.“ So formulierten sie 1984 in der „Apologie des Zufälligen“ (S. 131).

Eine Reihe ganz bestimmter Zufälle „wollten es“, dass sowohl Sie als auch ich selbst mit den Konzepten der Psychoanalyse in Kontakt kamen. Bei Ihnen ergab sich das Thema Ihrer Habilitationsschrift aus dem Zufall, dass Sie als Student im Bücherschrank Ihrer Tante auf Schriften von Sigmund Freud stießen, in dessen Denkweise Ihnen Ähnlichkeiten zur Philosophie des Deutschen Idealismus auffielen. Meine Neugier auf Zugänge zu den Tiefendimensionen der menschlichen Seele wurde ebenfalls zufällig geweckt, als ich in meiner Zeit als Gymnasiast in einer Buchhandlung ein Witzbuch suchte und Freuds Buch über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten fand.

Unser beider Umgang mit dem Thema Psychoanalyse entwickelte sich allerdings in verschiedene Richtungen, und zwar nunmehr weniger zufällig, sondern durchaus konsequent im Zusammenhang der Ausbildung unserer jeweiligen philosophischen bzw. theologisch-seelsorgerlichen Überzeugungen.

Ihre Schlussfolgerungen zur Verwandtschaft des psychoanalytischen Denkens mit der romantischen Naturphilosophie als Schwundstufe des Deutschen Idealismus legten nahe, dass die Psychoanalyse auch an dessen Fehlern im Menschenbild krankte: einer Selbstüberschätzung des Menschen, die in Aporien enden musste und letzten Endes doch nicht das Allheilmittel für die menschlichen Probleme gefunden hatte: Die Psychoanalyse „offenbart Probleme und macht sie ehrlich, aber sie löst sie nicht“ („Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse“, 1963, S. 233). Folgerichtig blieben Sie auch skeptisch gegenüber anderen Formen der Psychologie und Gruppendynamik, zum Beispiel gegenüber der „Konjunktur der Gruppe als Anti-Einsamkeitsmittel“ („Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit“, 1983, S. 115) oder gegenüber „Selbsthilfegruppen, die man nur durch Selbsthilfe übersteht“ (S. 116), bis hin zur Skepsis gegenüber der Psychologie als „Fragebogenwissenschaft“ („Freiheit und Pluralität“, 2006, S. 110).

Aber während Sie im Blick auf „das Programm unserer Selbsterfahrungsgruppen“ formulierten: „wer das Glück unmittelbar intendiert – wer, statt einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Sache zu tun, dies verweigernd ausschließlich und direkt nur glücklich sein will … – , wird niemals glücklich“ („Das Über-Wir“, 1984, S. 41), erfuhr ich in meinem ersten Studiensemester eine von Prof. Dietrich Stollberg geleitete Selbsterfahrungsgruppe an der Kirchlichen Hochschule Bethel als Hilfe zum Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins. Ich lernte zugleich, dass psychologische und gruppendynamische Methoden durchaus als Medien für zwischenmenschliche Hilfe und theologisch verantwortbare Seelsorge dienen können. Zwar lernte ich an der Ruhr-Universität Bochum auch zerstörerische Formen von Gruppendynamik kennen, wenn sich informell das Recht der Stärkeren in der Gruppe durchsetzt, weil Leitungsverantwortung nicht wahrgenommen wird. Aber in meiner Vikarsausbildung in Friedberg/Hessen wurde ich durch Prof. Helmut Harsch und seinen Assistenten Thomas Weil auf die durch Eric Berne in den USA als „Ableger“ der Psychoanalyse entwickelte Transaktionsanalyse aufmerksam (wegen des furchtbaren Wortes kürze ich im Folgenden lieber ab: „TA“). Als Thomas Weil später in Kassel sein „Institut für Transaktionsanalyse und integrative Tiefenpsychologie“ gründete, machte ich bei ihm eine intensive psychotherapeutische Zusatzausbildung, deren Ertrag für meine seelsorgerliche Arbeit ich nicht missen möchte.

Grundgedanken und Methodik der TA passen in meinen Augen zum christlichen Menschenbild. Das wurde zwar von Prof. Helmut Fischer am Theologischen Seminar in Friedberg Anfang der 80er Jahre in einer heftigen Auseinandersetzung mit seinem Kollegen Helmut Harsch bestritten; er unterstellte der Transaktionsanalyse das „amerikanische Menschenbild“ eines „programmierten Menschen“. Zur gleichen Zeit wurde der Transaktionsanalyse „von links“ die Verengung des Blickwinkels auf die Stabilisierung von Individuen vorgeworfen. Aber eben die Unveränderbarkeit von Programmierungen besteht für die Transaktionsanalyse in meinen Augen nicht. Anders als für die Psychoanalyse gilt für die Transaktionsanalyse der Leitgedanke Martin Bubers: „Der Mensch wird am Du zum Ich“. Heilsam wirken weniger bestimmte Methoden als vielmehr die beratende oder therapeutische Beziehung als solche.

Die Art, wie in einer therapeutischen oder beraterischen Beziehung Heilung geschehen kann, erinnert mich an einige Ihrer philosophischen Grundaussagen. Die Art, wie sich diese Beziehung entfaltet, erzählt sozusagen alte Geschichten neu nach, mit dem Ziel, ein anderes Ende zu finden. Während Freud den „Wiederholungszwang“, der sich in der Übertragungssituation ausagierte, negativ beschrieb, sieht die tiefenpsychologische und beziehungsorientierte TA in Beratung und Therapie eher eine „Wiederholungschance“ alter Geschichten, die der Ratsuchende dadurch anders weiterzuerzählen lernt, dass der Berater oder Therapeut anders als die ursprünglichen Bezugspersonen verständnisvoll zuhören, Halt geben und Orientierung anbieten. Der Ratsuchende soll nicht nur „rechtfertigungsfrei und ohne Angst“ anders sein können „als die anderen“ („Einheit und Vielheit“, 1987, S. 36), sondern auch anders, als er es sich auf Grund der Umstände seiner eigenen Lebensgeschichte erlauben durfte.

Im Konzept des „Miniskript“ bringt der amerikanische Transaktionsanalytiker Taibi Kahler in Kurzform auf den Punkt, welche – in der Regel unbewusst ausgesandte – Botschaften primärer Bezugspersonen die seelische Entwicklung von Kindern negativ beeinflussen können, zum Beispiel: „Sei nicht!“, „Sei nicht nahe!“, „Sei kein Kind!“, „Werde nicht erwachsen!“, „Sei nicht du!“, „Schaffe es nicht!“, „Sei nicht normal!“, „Lass es dir nicht gut gehen!“, „Gehöre nicht dazu!“ Diese Liste liest sich wie der Inbegriff einer pädogisch angewandten „‚Übertribunalisierung‛ der menschlichen Lebenswirklichkeit“ („Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts“, 1978, S. 49), die Sie wie folgt skizzieren: „Die Leibnizfrage an den Schöpfer: … Mit welchem Recht ist und gilt überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?… wird … gesteigert und ubiquisiert zur absoluten gnadenlosen Anklagefrage an jedermann: Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt und nicht vielmehr nicht, und mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders? … jedermann hat … ohne Pardon die totale Beweislast für sein eigenes Seindürfen und Soseindürfen. Zum exklusiven menschlichen Lebenspensum wird: vor einem Dauertribunal, bei dem der Mensch zugleich als Ankläger und Richter agiert, die Entschuldigung dafür leben zu müssen, daß es ihn gibt, und nicht vielmehr nicht, und daß es ihn so gibt, wie es ihn gibt, und nicht vielmehr anders.“ (S. 50f.)

Könnte es sein, dass die Psychoanalyse Sigmund Freuds sich insofern in Aporien verstrickt, als sie sich dem Sog dieser Übertribunalisierung nicht entziehen kann und „die Triebnatur“ des Menschen in Verbindung mit der „Ohnmacht der Vernunft“ („TIRNP“, S. 251) letztlich nur als „Wolfsnatur“ (S. 249) zu bestimmen vermag?

Ich habe den Eindruck, dass sich demgegenüber die TA, wie ich sie kennengelernt und praktiziert habe, der christlichen Einsicht gegenüber nicht verschließt, dass der Mensch als Gottes Schöpfung gut ist und seine scheinbare „Wolfsnatur“ nur einer – nicht zu verharmlosenden – Verzerrung durch die Realität der Sünde entspringt. Das bedeutet: Der Mensch muss dem Menschen dann nicht ein Wolf werden, wenn er in einer heilenden Beziehung echte Annahme, Solidarität, ja Liebe (im Sinn der christlichen Agape), erfährt, annimmt und in seine ganze Lebenshaltung integriert. Wo einem Menschen die Botschaft vermittelt wird: „Nimm dich, wie du bist“, da kann er auch die Botschaft annehmen: „Werde, der du werden kannst“ (zwei Buchtitel des Transaktionsanalytikers Rüdiger Rogoll). Die christliche Rechtfertigungsbotschaft kann also im Blick auf die Analyse und Therapie der menschlichen Seele einen Ausweg aus den Aporien der Psychoanalyse weisen, denn: „Christlich gerät der Mensch gerade nicht unter absoluten Rechtfertigungsdruck, denn seine Rechtfertigung – die christlich nicht vom Menschen erwartet wird, weil dieser sie selber gar nicht leisten kann – ist je schon geschehen: durch die Erlösungstat Gottes per Christentum.“ („Der angeklagte Mensch“, 1978, S. 49). Wer gerechtfertigt ist, wer im Urvertrauen lebt, wer angstfrei so sein darf, wie er ist – auch anders als alle anderen – der kann auch seelisch wachsen und verantwortungsbewusst handeln.

2 Kommentare zu „Zu-fällige Zugänge zur Analyse der Psyche“

  1. In der drittletzten Zeile heißt es „durch die Erlösungstat Gottes per Christentum“.
    Das muss m.E. heißen „… per Christum“.

    Dem Beitrag insgesamt danke ich für die Darstellung des Evangeliums in seiner evidenten zentralen Relevanz.

    1. Vielen Dank für das wohlwollende und aufmerksame Lesen!

      Sie haben Recht – an dieser Stelle würde man sinngemäß tatsächlich die Erlösung „durch Christus“ erwarten.

      Aber ich habe noch einmal im Reclam-Heftchen nachgeschaut. Odo Marquard schreibt wirklich „per Christentum“. Als skeptischer Philosoph hält er sich vielleicht lieber an die für ihn real wahrnehmbare Gemeinschaft der Christen als an Christus selbst – aber ich weiß es nicht, vielleicht war es schon im Original ein Druckfehler. Fragen kann ich ihn leider nicht mehr, da er bereits vor einigen Jahren verstorben ist.

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