Bild: Helmut Schütz

Johannes-Blog 2: „Der verborgene Messias“ (5,1 – 12,50)

Mit Kapitel 5 des Johannesevangeliums beginnt der zweite Teil meines Johannes-Blogs, in dem ich die wissenschaftlichen Kommentare von Hartwig Thyen und Klaus Wengst mit der befreiungstheologischen Lektüre Ton Veerkamps vergleiche. Inzwischen habe ich die am 23. Februar 2022 begonnene Kommentierung beendet – am 23. Februar 2023.

Das Bild enthält zu meinem Johannes-Blog die Titelangaben der Johannesauslegungen von Hartwig Thyen, Klaus Wengst und Ton Veerkamp (beim letzteren sind es die Buchrücken dreier Zeitschriftenausgaben "Texte und Kontexte")
Ausschnitte aus den Buchcovern der Johanneskommentare von Hartwig Thyen und Klaus Wengst und die Buchrücken der Zeitschriftenausgaben, in denen Ton Veerkamps Johannesauslegung erschienen ist

Inhaltsverzeichnis

Zum Johannes-Blog 1: „Der offenbare Messias“ (1,1 – 4,54)

Geleitwort zum Johannes-Blog 2

Ein Fest: Heilung der Lähmung Israels durch den Sohn des VATERS (Johannes 5,1-47)

Johannes 5,1: Jesus nimmt an einem Fest der Juden in Jerusalem teil

Johannes 5,2: Der Teich Bethesda am Schaftor zu Jerusalem mit fünf Hallen

Johannes 5,3-5: Ein Mensch unter vielen Kranken, der seit 38 Jahren krank ist

Johannes 5,6-9a: Jesus lässt den lange Zeit Gelähmten seinen Gang gehen

Johannes 5,9b-13: Der Konflikt mit „den Juden“ um das Tragen der Liege am Sabbat

Johannes 5,14-16: Jesus spricht den Geheilten auf seine Verirrung an und wird von „den Juden“ verfolgt

Johannes 5,17: Das andauernde Wirken des VATERS und Jesu als seines Sohnes

Johannes 5,18: „Die Juden“ werfen Jesus vor, sich selber Gott gleich zu machen

Johannes 5,19-20a: Jesus erzählt das Gleichnis von Vater und Sohn

Johannes 5,20b-23: Die größeren Werke des vom VATER gesandten Sohnes

Johannes 5,24-26: Das „ewige“ Leben, die Toten und die Stimme des Sohnes Gottes

Johannes 5,27-30: Das endgültige Gericht des bar enosch, „Menschensohns“

Johannes 5,31-32: Jesus beruft sich auf einen vertrauenswürdigen Zeugen

Johannes 5,33-35: Johannes als Zeuge und Leuchte für Gottes Treue und Befreiung

Johannes 5,36-37a: Das Zeugnis der Werke des Sohnes und das Zeugnis des VATERS für den Sohn

Johannes 5,37b-38: Stimme, Gestalt und Wort Gottes entgehen den Gegnern Jesu

Johannes 5,39-40: Jesu Gegner finden in den Schriften nicht Jesus als das Leben

Johannes 5,41-44: Wer Ehre unter Menschen will, sucht nicht die Ehre des VATERS

Johannes 5,45-47: Mose, der von Jesus geschrieben hat, klagt die Gegner Jesu an

Pascha: Die Ernährung Israels durch Jesus als das Brot vom Himmel (Johannes 6,1-71)

Johannes 6,1: Jesus geht weg – jenseits des Meeres von Galiläa, von Tiberias

Johannes 6,2-4: Eine Volksmenge folgt Jesus wegen seiner Zeichen auf den Berg

Johannes 6,5-9: Jesus fragt Philippus nach Brot für das Volk, Andreas verweist auf wenig Brot und Fisch

Johannes 6,10-13: Jesu Speisung der 5000 und die Sammlung von Israels Rest

Johannes 6,14-15: Jesus als Prophet lässt sich nicht zum König machen, sondern entweicht allein auf den Berg

Johannes 6,16-21: Jesus geht den Gang auf dem Meer, den NAMEN verkörpernd

Johannes 6,22-25: Die Volksmenge gelangt mit Booten aus Tiberias nach Kapernaum

Johannes 6,26-27: Von der Speise, die ins Leben der kommenden Weltzeit bleibt

Johannes 6,28-29: Gott will das Werk des Vertrauens auf den Gesandten Gottes

Johannes 6,30-31: Die Forderung eines Zeichens und die Erinnerung an das Manna in der Wüste

Johannes 6,32-34: Jesus verspricht wahres Brot vom Himmel, die Leute wollen es

Johannes 6,35: In Jesus offenbart sich der NAME als das Brot des Lebens

Johannes 6,36-40: Jesus verliert nichts von dem, was ihm der VATER gegeben hat

Johannes 6,41-44: Murren über Josefs Sohn, zu dem kommt, wen der VATER zieht

Johannes 6,45-46: Wer sich von Gott schulen lässt, kommt zu dem, der den VATER gesehen hat

Johannes 6,47-51: Das Brot vom Himmel ist Jesu Fleisch für das Leben der Welt

Johannes 6,52-58: Das Fleisch des Menschensohns kauen, sein Blut trinken

Johannes 6,59: Jesus hatte in synagogaler Versammlung in Kapernaum gelehrt

Johannes 6,60-62: Die böse Rede Jesu als Stolperstein für seine Schüler und das Aufsteigen des Menschensohnes

Johannes 6,63: Das Fleisch im Gegenüber zum lebendigmachenden Geist

Johannes 6,64-66: Jesus weiß, wer ihm nicht vertraut und von ihm weggeht

Johannes 6,67-69: Das Bekenntnis der Zwölf durch Simon Petrus zu Jesus als dem Heiligen Gottes

Johannes 6,70-71: Judas, einer der Zwölf, als ein diabolos, der Jesus überliefern wird

Laubhüttenfest (Sukkot): Der große Streit über Licht und Blindheit (Johannes 7,1-10,21)

Johannes 7,1-2: Jesus geht seinen Gang in Galiläa, als das Fest Sukkot nahe ist

Johannes 7,3-10: Jesu Konflikt mit seinen Brüdern und sein heimliches Aufsteigen zum Fest

Johannes 7,11-13: Gerüchte über Jesus, ob er gut ist oder ein Volksverführer

Johannes 7,14-18: Jesu Lehre im Tempel von dem Gott, der ihn gesandt hat

Johannes 7,19-24: Im Streit um die Tora argumentiert Jesus mit der Beschneidung am Sabbat

Johannes 7,25-29: Jesus tritt im Tempel Gerüchten über ihn und die Oberen Jerusalems entgegen

Johannes 7,30-32: Vergebliche Versuche, Jesus, zu ergreifen, den viele als Messias anerkennen

Johannes 7,33-36: Jesu Wort über die kleine Zeit und dass man ihn nicht finden wird

Johannes 7,37-39: Jesu Rede am letzten Festtag über Ströme lebendigen Wassers

Johannes 7,40-44: Spaltungen im Volk wegen der Frage, ob Jesus der Messias ist

Johannes 7,45-49: Jesus als Verführer des Volkes und Verfluchung des Volkes durch die Pharisäer

Johannes 7,50-52: Nikodemus als Fürsprecher Jesu oder des verfluchten Volkes

[Johannes 7,53 – 8,11: Gehört Jesu Freispruch für die Ehebrecherin in einen christlichen oder jüdischen Kontext – und in welcher Weise?]

Johannes 8,12: Jesus als das Licht der Welt, um den Gang nicht in der Finsternis zu gehen

Johannes 8,13-20: Jesu vom VATER bestätigtes Selbstzeugnis in der Schatzkammer des Tempels

Johannes 8,21-24: Wer von diesem kosmos ist, wird an seinen Verirrungen sterben

Johannes 8,22-30: Jesus ist der, der immer das in des VATERS Augen „Gerade“ tut

Johannes 8,31-36: Befreiende Wahrheit oder versklavende Verirrung für Kinder Abrahams

Johannes 8,37-40: Wer Jesus töten will, tut nicht die Werke Abrahams

Johannes 8,41-47: Wer dem Gesandten des NAMENS die Liebe verweigert, hat dessen Widersacher zum Vater

Johannes 8,48-53: Statt als Lebensgeber gewürdigt zu werden, wird Jesus als Besessener entehrt

Johannes 8,54-59: Jesu Ehre vom VATER und Abrahams Freude über den Tag Jesu

Johannes 9,1: Jesus sieht im Vorübergehen einen Blindgeborenen

Johannes 9,2-5: Sünde als Warum der Blindheit oder Werke Gottes als ihr Wozu

Johannes 9,6-7: Jesus heilt den Blinden durch Schlamm, den er sich im Teich Siloah abwäscht

Johannes 9,8-12: Außenstehende reagieren auf die Heilung des blinden Bettlers

Johannes 9,13-17: Das erste Verhör des ehemals Blinden vor den Pharisäern

Johannes 9,18-23: Das Verhör der Eltern des Blindgeborenen durch die Judäer

Johannes 9,24-34: Das zweite Verhör des ehemals Blinden und seine Ausstoßung

Johannes 9,35-38: Das Vertrauen des Ausgestoßenen auf den Menschensohn

Johannes 9,39-41: Jesu Gericht über sehend werdende Blinde und blinde Sehende

Johannes 10,1-6: Das Gleichnis vom Hof der Schafe, die nur auf ihren Hirten hören

Johannes 10,7-10: Jesus als die Tür zu Befreiung und Leben im Gegensatz zu mörderischen Dieben

Johannes 10,11-15: Jesus als der gute Hirte im Gegensatz zu unzuverlässigen Lohnhirten

Johannes 10,16: Andere Schafe, nicht aus diesem Hof: Samaria oder die Völker?

Johannes 10,17-18: Jesu Gebot vom VATER, sein Leben einzusetzen und zu „nehmen“

Johannes 10,19-21: Die Spaltung unter den Judäern wegen Jesu Rede und Blindenheilung

Chanukka: Die Auferweckung des Lazarus als Zeichen der Erneuerung Israels (Johannes 10,22-11,54)

Johannes 10,22-24: Jesu messianischer Gang in der Halle Salomos als Herausforderung für die Judäer

Johannes 10,25-30: Jesu Einssein mit Gott auf Grund seiner Werke als Hirte Israels

Johannes 10,31-33: Ein Steinigungsversuch, weil Jesus sich selbst „gottgleich“ oder „zu Gott“ macht

Johannes 10,34-36: Wenn die Schrift zu Israel sagt: „Götter seid ihr!“, dann ist erst recht der von Gott geheiligte Jesus Gottes Sohn

Johannes 10,37-39: Vergeblicher Aufruf Jesu an die Gegner, seinen Werken zu vertrauen

Johannes 10,40-42: Jesus findet dort Vertrauen, wo Johannes getauft hatte

Johannes 11,1-5: Lazarus, der Bruder Marias und Marthas und Jesu Freund, ist krank

Johannes 11,6-10: Nach zwei Tagen will Jesus nach Judäa gehen, einen Gang am Tage

Johannes 11,11-16: Jesus will Lazarus aufwecken und Thomas mit ihm sterben

Johannes 11,17-24: Jesu findet Lazarus im Grab und spricht mit Martha über die Auferstehung am Tag der Entscheidung

Johannes 11,25-27: Jesus als Auferstehung und Leben und Marthas Glaube an den Messias

Johannes 11,28-32: Maria wird heimlich gerufen, trauernde Juden folgen ihr zu Jesus

Johannes 11,33-38a: Jesu wutschnaubende Erschütterung und Tränen über den Tod des Lazarus

Johannes 11,38b-44: Als Gesandter des VATERS ruft Jesus Lazarus aus dem Grab

Johannes 11,45-53: Kaiphas rät dem Sanhedrin, Jesus für das Volk sterben zu lassen

Johannes 11,54: Jesus zieht sich in die Stadt Ephraim nahe der Wüste zurück

Pascha: Jesu Salbung und Einholung als König Israels, dessen Stunde gekommen ist (Johannes 11,55-12,50)

Johannes 11,55-57: Zweifel, ob Jesus zum Passafest kommt, und ein behördlicher Aufruf, ihn zu denunzieren

Johannes 12,1-3: Bei einem Mahl in Bethanien salbt Maria Jesu Füße

Johannes 12,4-8: Jesus weist die Kritik des Judas Iskariot an der Salbung zurück

Johannes 12,9-11: Auch Lazarus soll getötet werden, weil viele Juden um seinetwillen auf Jesus vertrauen

Johannes 12,12-19: Jesu Einholung nach Jerusalem als König von Israel auf einem Eselchen

Johannes 12,20-22: Einige Griechen wollen Jesus sehen, vermittelt durch Philippus und Andreas

Johannes 12,23-26: Die Stunde des sterbenden Weizenkorns und seine Nachfolger

Johannes 12,27-29: Die Erschütterung der Seele Jesu und die Ehrung des NAMENS

Johannes 12,30-33: Gericht über diesen kosmos und ihren Führer und Jesu Sammlung aller durch seine Erhöhung ans Kreuz

Johannes 12,34-36: Der erhöhte Menschensohn und das Licht in der Finsternis

Johannes 12,37-41: Jesaja weiß, warum „sie“ nicht auf „ihn“ vertrauen, dessen Ehre er sah

Johannes 12,42-43: Das Bekenntnis zu Jesus wegen menschlicher Ehre verweigern

Johannes 12,44-50: Jesu Zusammenfassung seiner Lehre aus der Verborgenheit

Johannes-Blog 3: „Der Abschied des Messias“ (13,1 – 21,25)

Anmerkungen

Geleitwort zum Johannes-Blog 2

Den ersten Teil meines Johannes-Blogs habe ich heute, am 3. Juni 2022, beendet, da der Beitrag zu lang wurde und sich rein technisch kaum noch problemlos weiter vervollständigen ließ. Alle allgemein einführenden Hinweise zum Johannes-Blog bitte ich am Beginn des ersten Teils nachzulesen. Der zweite Teil startet hier gleich mit den Vorbemerkungen zum 5. Kapitel des Johannesevangeliums; die zugehörigen Anmerkungen werden fortlaufend ab der Nr. 431 weitergeführt.

Ein Fest: Heilung der Lähmung Israels durch den Sohn des VATERS (Johannes 5,1-47)

[6. Juni 2022] Während Wengst und Thyen zwischen Kapitel 4 und 5 zwar einen gewissen Einschnitt im ersten Teil des Johannesevangeliums sehen, der nach Wengst bis zum Ende des 12., nach Thyen nur bis zum Ende des 10. Kapitels reicht, beginnt Ton Veerkamp <431> zufolge mit Kapitel 5 ein zweiter Teil des Evangeliums, der „den Konflikt zwischen der messianischen Gemeinde und ihren Gegnern, den Judäern“, behandelt:

In diesem Konflikt wird Jeschua nicht als Messias angenommen und als solcher nicht wahrgenommen; er ist als Messias verborgen. Dieser Teil umfasst fünf Kapitel unterschiedlicher Länge. Sie haben die Vorgänge während fünf verschiedener Feste der Judäer als Inhalt.

Auch hier gibt es Zeichen, auch hier treten sie paarweise auf: Die Heilung des Gelähmten und die Ernährung Israels (5 und 6) sowie das Öffnen der Augen und die Belebung Israels (9 und 11). Die Zeichen sind die Werke, mit denen Jeschua das Werk Gottes vollendet. Und die Werke sind die Zeichen und Machterweise (ˀothoth, mofthim).

Das Besondere an der Gliederung, die Veerkamp für die Kapitel 5 bis 12 vornimmt, ist erstens, dass er sich für ihre Einteilung an der Erwähnung von fünf jüdischen Festen orientiert: ein unbestimmtes Fest (5,1), die Nähe des Pascha (6,4), Sukkot (7,2), Chanukka (10,22) und nochmals die Nähe des Pascha (12,1), und zweitens, dass er die jeweils erzählten Zeichen Jesu symbolisch auf die Heilung, Ernährung, Erleuchtung und Auferweckung Israels bezieht, bis in Johannes 12 deutlich wird, dass der Messias Jesus zwar als Israels König in Jerusalem empfangen, aber weitgehend missverstanden und von seinem eigenen Volk abgelehnt wird.

Einig sind sind Wengst, Thyen und Veerkamp darin, an der überlieferten Reihenfolge der Kapitel 5 bis 7 im Johannesevangelium festzuhalten. Veerkamp <432> begründet diese Entscheidung so:

Viele Kommentare verbinden Kapitel 5 mit 7,9ff. und schließen Kapitel 6 mit dem Passus 4,43ff. zusammen; so erhalte man, sagen die Gelehrten, eine geschlossene Darstellung des Auftretens Jeschuas in Jerusalem. Gleichzeitig wird die Heilung des Sohnes des Beamten (4,43ff.) mit der Ernährung Israels (6,1ff.) in Galiläa zusammengeschlossen, und wir erhalten eine logische Erklärung, wie Jeschua auf einmal nach Jerusalem kam. Unsere Logik ist nicht die Logik des Johannes. Seine Logik ist die Logik der Feste. Nicht eine einzige alte Handschrift hat Zweifel an der Reihenfolge des überlieferten Textes gehegt.

Klaus Wengst (W157) fügt hinzu, dass „die jetzige Textfolge“ kaum „durch die Annahme von Blattvertauschung(en) zu erklären“ ist, da in einem solchen Fall alle „vertauschten Seiten … an ihrem Ende zufällig mit einem vollständigen Satz aufgehört haben“ müssten:

Hinzu kommt das Problem der unterschiedlichen Textlänge der angeblich vertauschten Stücke. Lässt sich aber die angenommene Änderung der Reihenfolge nicht als zufällig erfolgt erklären, dann ist sie, falls stattgefunden, so gewollt. Hinter der jetzigen Abfolge steht also in jedem Fall eine Absicht. Eine nachträgliche Änderung einer ursprünglichen Textfolge muss nicht angenommen werden. Keine einzige griechische Handschrift oder alte Übersetzung weicht von der überlieferten ab.

Außerdem räumt Wengst zwar ein, „dass sich die Formulierung in 6,1 leichter verstehen ließe, wenn als vorangehender Aufenthaltsort Galiläa vorausgesetzt wäre. Aber sie ist aus Jerusalemer Perspektive keineswegs unmöglich.“ Den Übergang zwischen den Kapiteln 6 und 7 sieht er dagegen nicht als problematisch, während gerade der Anschluss des Kapitels 7 an das Kapitel 5 ein Problem erzeugen würde:

Wäre vor 7,1 die Situation von Kap. 5, also der Aufenthalt Jesu in Jerusalem, vorausgesetzt, ginge es jetzt um einen Wechsel der Gebiete von Judäa nach Galiläa. Dann aber wäre die Formulierung zu erwarten: „Und danach ging Jesus weg nach Galiläa“ (vgl. 4,3). Die tatsächliche Formulierung: „Und danach zog er in Galiläa umher“ widerspricht der Annahme eines Wechsels der Gebiete. In der überlieferten Textfolge ist als Jesu Aufenthaltsort vor 7,1 Kafarnaum in Galiläa vorausgesetzt. … Es spricht also mehr dafür als dagegen, bei der überlieferten Textfolge zu bleiben.

Auch nach Hartwig Thyen (T294) ist die „vorliegende Folge“ des Textes weder „das Resultat gewaltsamer äußerer Zerstörung“ noch „der Nachlässigkeit eines Buchbinders…, der das sechste Kapitel an falscher Stelle eingefügt hätte“, zumal „nicht nur alle Erzähleinheiten, sondern auch deren Sätze bis hinunter zu ihren Wörtern völlig intakt sind“:

Trotz aller Spannungen und Leerstellen in diesem Text muß aber derjenige, dem wir die überlieferte Gestalt unseres Evangeliums verdanken, auf jeden Fall von dessen Kohärenz und Lesbarkeit überzeugt gewesen sein.

Einig sind Wengst, Thyen und Veerkamp auch darin, dass das Kapitel 5 (W157) innerhalb des Evangeliums „als eine eigene Einheit“ abzugrenzen ist:

In 5,1 erfolgt ein Ortswechsel von Galiläa nach Jerusalem, in 6,1 einer von Jerusalem in das Gebiet östlich des Sees Gennesaret. Ort der Handlung ist jetzt wieder Jerusalem.

Inhaltlich setzt sich das Kapitel 5 nach Ton Veerkamp

aus drei unterschiedlich langen Abschnitten zusammen. Der erste Teil erzählt die Heilung eines Gelähmten an einem Festtag, 5,1-9a. Dieser Festtag ist ein Schabbat, und diese Tatsache löst eine Kontroverse aus. Vordergründig geht es um die Frage, ob es erlaubt sei, einen kranken Menschen zu heilen. Diese Frage wird hier nicht behandelt, sie wird erst später aufgegriffen, 7,21ff.

Im zweiten Abschnitt von Kapitel 5 geht es um die Fragen: Wer „wirkt“ (ergazesthai), und um welche „Werke“ (erga) geht es eigentlich? Das „Werk“ des Gottes Israels und dessen, den er sendet, ist lebendig machen, zōopoiein, 5,9b-18.

Der dritte Abschnitt wird eingeleitet von einem Gleichnis „vom Vater und Sohn“ (5,19-21) und anschließend bestimmt durch das Stichwort krinein, ein Gerichtsverfahren durchführen, und krisis, Gerichtsurteil. Dieser Abschnitt hat selber zwei Unterteile: „Das ist jetzt“ (5,22-30), „Mosche, mein Zeuge“ (5,31-47).

Klaus Wengst teilt das Kapitel fast genau so ein, nur mit etwas anderer inhaltlicher Akzentuierung:

  • Auf die Erzählung der Heilung eines Gelähmten in Vers 1-9a „ist alles Weitere bezogen“.
  • Die Verse 9b-16 dienen „als Überleitung“, indem nachgetragen wird, „dass die Heilung und das anschließende Handeln des Geheilten am Sabbat“ erfolgt sind, woraus sich ein Konflikt zwischen Jesus und den „Juden“ ergibt.
  • Ab Vers 17 setzt Jesus in „einer einzigen langen Rede“, die „nur gleich zu Anfang durch V. 18 unterbrochen“ wird und in der Jesus sein Wirken „zu dem Wirken Gottes in Entsprechung“ setzt und herausstellt, „dass sich im Handeln Jesu das Handeln Gottes vollzieht.“

Diese Rede untergliedert Wengst wiederum (W167) „in drei Abschnitte“:

  • Die Verse 17-20 beschreiben „das Handeln Jesu als Entsprechung zum Handeln Gottes“, das heißt: „im Handeln Jesu“ vollzieht sich Gottes Handeln.
  • Konkret besteht dieses Handeln nach den Versen 21-30 in der endzeitlichen „Vermittlung des Lebens“ und im „Halten des Gerichts“, die „im Handeln Jesu“ bereits „als gegenwärtiges Ereignis“ geschildert werden.
  • In den Versen 31-47 geht es um „die Legitimität des so für Jesus erhobenen Anspruchs…: Wer steht für die Richtigkeit dieses Anspruchs ein? Worin ist er begründet?“

Bei Hartwig Thyen sieht die Gliederung ab Vers 16 ein wenig anders aus. Einem Abschnitt (T305ff.) „Jesus verteidigt sich gegen die Anklagen der Juden (5,16-30)“ folgt (T318ff.) „Jesu Legitimation als der wahrhaftige Zeuge (5,31-40)“ und schließlich (T327ff.) die Umkehrung der Rollen im Schlussteil „Jesus, der Angeklagte, wird zum Ankläger derer, die ihn anklagen (5,41-47)“.

Johannes 5,1: Jesus nimmt an einem Fest der Juden in Jerusalem teil

5,1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.

Das Johannes-Kapitel 5 beginnt mit der Angabe des Anlasses (W157), zu dem Jesus erneut nach Jerusalem hinaufzieht: „Ein jüdisches Fest“. Nach Wengst kommt (Anm. 225) in dieser Formulierung „keine Distanzierung zum Ausdruck“, vielmehr nutzt Jesus, wie Dorit Felsch <433> ausführt [45], die „die größtmögliche öffentliche Reichweite“ der Wallfahrtsfeste für seine Verkündigung, und es ist ist ganz selbstverständlich anzunehmen [54f.], dass „er dort auch am Kult teilnahm“. Da (W158) sowohl in 2,13 als auch in 6,4 von einem „Pessach“ die Rede ist, könnte dieses dazwischen liegende Fest in Wengsts Augen „das Wochenfest (Schavuot) oder das Laubhüttenfest (Sukkot)“, aber da „Johannes in Kap. 7 ausdrücklich ein Laubhüttenfest anführt, dürfte er bei dem nicht gekennzeichneten Fest in Kap. 5 am ehesten an Schavuot denken.“ Zum Verzicht darauf, das Fest konkret zu benennen (Anm 226), erwägt Felsch den Grund [54], dass Johannes „hier Motive aus zwei Festen einbringt, nämlich aus Schavuot und Rosch HaSchanah“. Wengst erwähnt nicht, auf welche Motive Felsch hier anspielt. Da nicht Schavuot als Fest der Ernte oder der Erstlingsfrüchte gemeint sein kann, denkt sie vielleicht an den Bezug des Festes auf den neuerlichen Empfang der Zehn Gebote am Berg Sinai, nachdem Israel das Goldene Kalb angebetet hatte, und beim Neujahrsfest Rosch HaSchanah daran, dass es auch als Tag des Gerichts gilt.

Hartwig Thyen (T295) findet dagegen „im gesamten fünften Kapitel keinerlei inhaltliche Gesichtspunkte…, die auf ein bestimmtes jüdisches Fest hinwiesen und es so erlaubten, das hier genannte ,Fest‘ näherzubestimmen“. Er hält die „vage Formulierung ‚ein Fest‘“ für „absichtsvoll“ (T296):

das Bevorstehen eines „Festes der Juden“ soll hier allein den erneuten Weg Jesu „hinauf nach Jerusalem“ motivieren. Diese Reise ins feindliche Jerusalem, wo sich der Konflikt zwischen Jesus und den Ioudaioi dann soweit zuspitzen soll, daß sie ihn jetzt gar zu töten suchen (5,18), dient der Kontrastierung der Verehrung, die Jesus im vermeintlich „feindlichen“ Samarien erfuhr, sowie seiner freundlichen Aufnahme durch die Galiläer, die der glaubende basilikos exemplarisch repräsentierte, und seiner Abweisung in Jerusalem.

Damit wird Thyen zufolge nochmals bekräftigt, dass „Jesus als seine patris tatsächlich Jerusalem begreift“, in dem seine prophetische Botschaft keine Würdigung erfährt.

Nach Ton Veerkamp <434> ist es zwar „verwunderlich“, dass dieser „Festschabbat … nicht näher bestimmt“ wird, „weil Johannes die Feste sonst immer benennt, Pascha (neunmal), Sukkot und Chanukka (je einmal)“. Aber er nimmt an, dass Johannes hier zunächst aus guten Gründen ganz allgemein von einem jüdischen Fest spricht, bevor er später besonders auf Jesu Wirken in der Nähe des Pessach und an Sukkot und Chanukka eingeht:

Ein Fest (heortē, chag) ist eine Unterbrechung in der Reihe der Tage, in denen die Menschen ihre Werke tun. Die Unterbrechung ist der Vollendung des Schöpfungswerkes Gottes gewidmet. Bei jedem großen Fest steht ganz Israel vor seinem Gott. Vor welchen Gott? Vor einem Gott, der „von seinen Werken, die er machte, feierte“ (Genesis 2,2)? Oder vor einem Gott, „der wirkt bis heute“? Diese Frage muss bei jedem Fest, an jedem Schabbat geklärt werden: Hat Gott vollendet, feiert Gott, oder nicht? Gehen alle Gelähmten, sehen alle Blinden, ist der Mensch wirklich schon „im Bilde Gottes und nach seinem Gleichnis“? Diese Frage ruft unter den herrschenden Verhältnissen jedes Fest auf. Deswegen kann das Fest zunächst ohne nähere Bestimmung bleiben.

Johannes 5,2: Der Teich Bethesda am Schaftor zu Jerusalem mit fünf Hallen

5,2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich,
der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; …

[7. Juni 2022] In sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit gehen Veerkamp, Wengst und Thyen auf die genauere Ortsangabe für das zu Beginn des 5. Johannes-Kapitels beschriebene Heilungswunder Jesu ein. Ton Veerkamp <435> beschränkt sich auf die folgenden knappen Feststellungen:

Der Ort ist ein Tauchbad am alten Schaftor, das unter Nehemia vor mehr als 450 Jahren errichtet wurde (Nehemia 3). Das Tauchbad hatte fünf Säulenhallen. Diese Mitteilung scheint überflüssig. Entweder deutet sie an, dass es sich um eine große Anlage handelt; andere sehen in den fünf Säulenhallen die Symbolik der fünf Bücher der Tora.

Den Namen des Tauchbades gibt er mit „Bethzatha“ an, „Haus der Oliven“; für diese Lesart vieler Handschriften entschied sich die neueste Ausgabe der griechischen Textausgabe des Nestle-Aland; dazu Veerkamp (Anm. 184):

Der Name des Ortes wird von den Handschriften unterschiedlich überliefert; erwägenswert sind auch die Lesarten „Bethesda“ und „Bethsaida“.

Auch Klaus Wengst verweist zum Schaftor (W159, Anm. 228) auf das Buch Nehemia (3,1.32 und 12,39). Darüber hinaus (W159) entnimmt er Untersuchungen mehrerer Autoren zu entsprechenden Ausgrabungsarbeiten in Jerusalem, dass zur „Teichanlage Betesda … zwei nebeneinander liegende, unterschiedlich große Becken“ gehörten. Für Wengst heißt der Teich ohne weitere Diskussion „Betesda“; den Namen führt er auf das hebräische „bejt eschdáh“ zurück, wörtlich:

„Haus des (Wasser-)Ausgießens“. Diese Bezeichnung ist sinnvoll, wenn hier eine solche Tradition vorausgesetzt ist, wie ich sie unten zu V. 7 anführen werde, dass nämlich in normalem Gewässer ab und an anderes, heilendes Wasser aufsteigt.

Hartwig Thyen (T296) beschäftigt sich zunächst eingehend mit den Schwierigkeiten, die in Johannes 5,2 darüber besteht, worauf sich „das Adjektiv probatikē (,Schafe- oder die Schafzucht betreffend‘)“ beziehen soll. Er entscheidet sich am Ende für die Lösung, die auch in der Lutherbibel und von Veerkamp und Wengst vorausgesetzt wird (T297), nämlich dass „eine offenbar weniger bekannte kolymbethra {Badeanstalt} … durch den Verweis auf die allgemein bekannte (Artikel!) probatikē“ genauer lokalisiert werden soll. Ähnlich wie hier in Gießen das „Evangelische Krankenhaus“ oft einfach „das Evangelische“ genannt wird oder im Griechischen der Sonntag als der „kyriakē hēmera {Tag des Herrn}“ einfach mit „kyriakē {der des Herrn}“ abgekürzt wurde, wurde offenbar auch „das bekannte biblische ‚Schaftor‘ Jerusalems“ einfach das „probatikē {frei übersetzt: das Schäfersche}“ genannt.

Zur Frage „des ,hebräischen Beinamens‘ (hē epilegomenē Ebraïsti)“ dieser Badeanstalt herrscht Thyen zufolge ebenfalls „in den Handschriften große Verwirrung“. Er hält es jedoch (T297f.) „anders als das Komitee, das über den Text des … Nestle-Aland, 26. Auflage, entschied“, nicht für abwegig, dass das „uns aus unseren Bibelübersetzungen geläufige Bēthesda seinen Ursprung durchaus in der erbaulichen Volksetymologie bejth chessedˀ (,Haus der Gnade‘) haben“ könnte (T298), „denn warum sollte eine für heilsam gehaltene Badeanlage in Jerusalem nicht ‚Haus der Gnade‘ geheißen haben können?“

Die genaue Ortsangabe sagt nach Thyen nichts „über die Historizität des Erzählten“ aus, hat aber

die Funktion, der folgenden Erzählung von der Heilung des Lahmen das Flair des Verisimile {„dem Wahren ähnlich“} zu verleihen. Das schließt nicht aus, sondern begründet vielmehr erst und gerade die Möglichkeit, daß hier auch symbolische Obertöne im Spiel sein können. In dem hebräischen Beinamen bejth chessedˀ könnte darum der Gedanke an ein „Haus der Gnadenerweise“ durchaus mitschwingen. Und bei der Fünfzahl der Säulenhallen, in denen sich offenbar die Heilung Suchenden aufhalten, wird man an Mose und die Fünfzahl der Bücher der Tora denken dürfen.

Zum letzteren Gedanken verweist Thyen auf das Ende des 5. Johanneskapitels (Verse 39 und 45f.), wo Jesus ausdrücklich auf die Schriften und auf Mose Bezug nimmt. Schließlich scheinen auch „die in V. 5 genannten achtunddreißig Jahre … für einen derartigen symbolischen Modus unserer Szene zu sprechen.“

Johannes 5,3-5: Ein Mensch unter vielen Kranken, der seit 38 Jahren krank ist

5,3 … in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
5,4
5,5 Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank.

[8. Juni 2022] Nach Johannes 5,3 (W159) liegt in „den Säulenhallen“ am Teich Betesda „eine Menge von dauerhaft Kranken“, Wengst sieht in diesem Ort „so etwas wie ein antikes Lourdes“ (W160), „wo sich Kranke, denen Ärzte nicht helfen konnten, auf wunderbare Weise Heilung erhofften.“ Eine „einzige Person“ unter diesen Kranken wird besonders hervorgehoben, indem es von ihr heißt,

dass sie schon „38 Jahre krank war“. Man hat immer wieder gemeint, dass die Zeitangabe keine besondere Bedeutung habe, sondern lediglich im Rahmen einer Wundergeschichte die Motive „Schwere der Krankheit“ und „Vergeblichkeit bisheriger Heilungsversuche“ vertrete. <436> Doch dann hätte Johannes auch unbestimmt von „vielen Jahren“ sprechen können. Wenn er eine bestimmte Zahl nennt, ist zumindest danach zu fragen, ob er damit auch eine bestimmte Aussage intendiert.

Diese bestimmte Aussage erschließt Wengst aus einer bestimmten Deutung eines biblischen und eines rabbinischen Belegs:

Biblisch findet sich die Zahl 38 nur einmal. In Dtn 2,14 wird die Zeit der Wüstenwanderung Israels von Kadesch Barnea bis zur Überquerung des Baches Sered mit 38 Jahren angegeben, „bis die ganze Generation der waffenfähigen Männer aus der Mitte des Lagers umgekommen war, wie der Ewige es ihnen geschworen hatte“. Ein Midrasch sagt über diese 38 Jahre, „in denen die Israeliten wie Ausgestoßene in der Wüste waren“, dass in ihnen „die Rede mit Mose nicht redete, bis diese ganze Generation umgekommen war“. <437> Die 38 Jahre sind also eine negativ qualifizierte Zeit, die durch Israels Übertretung und das Schweigen Gottes gekennzeichnet ist. An ihrem Ende aber stehen die Versöhnung und das Reden Gottes.

Was in diesem Zusammenhang mit „Israels Übertretung“ konkret gemeint sein könnte, darauf geht Wengst allerdings nicht ein, insbesondere blendet er den politischen Charakter der Weigerung Israels völlig aus, im Vertrauen auf den NAMEN das Gelobte Land in Empfang zu nehmen (5. Mose 1,30-35). Stattdessen konzentriert sich Wengst sehr allgemein darauf,

dass diese 38 Jahre nun um sind. Damit wird der Leser- und Hörerschaft vor allem signalisiert, dass jetzt ein das Unheil wendendes Handeln Gottes zu erwarten ist. Jetzt tritt Jesus auf und redet tatkräftig; sein Wort bewirkt das bisher vom Kranken vergeblich erhoffte Wunder. Die Intention der Erwähnung der 38 Jahre besteht also in erster Linie darin, das anschließend erzählte Reden und Handeln Jesu von vornherein als Wirken Gottes zu qualifizieren.

Das ist zwar richtig; die Frage ist aber, ob Johannes dieses Wirken Gottes, gerade wenn er auf 5. Mose 2,14 anspielt, tatsächlich allgemein-menschlich auf das persönliche Betroffensein von chronischer Krankheit und anderem Unheil beziehen wollte. Wengst setzt das offenbar voraus und weitet diese Perspektive noch aus, indem er die Krankheit, von der hier die Rede ist, auch symbolisch auf eine religiöse Ferne von Gott bezieht:

Einige Psalmen zeigen, dass Krankheit auch als Gottesferne erfahren werden kann. In der Szenerie von Joh 5,2-5 kommt das indirekt darin zum Ausdruck, dass der Kranke an seine Matte gefesselt ist und nicht einmal in den nahe gelegenen Tempel gehen kann. Gerade dort wird ihn Jesus später wieder treffen (V. 14).

Auch nach Hartwig Thyen (T299) erinnern die „achtunddreißig Jahre absichtsvoll an Dtn 2,14“, und diese

achtunddreißig Jahre sind die Zeit der Geschichte der Sünde Israels. Erst jetzt wird eine neue Generation des Volkes den Bach Sered überschreiten und den Einzug in das verheißene Land beginnen. An diesen Zusammenhang erinnern nicht nur die achtunddreißig Jahre, sondern wohl auch Jesu Wort an den Geheilten: ide hygies gegonas, mēketi hamartane, hina mē cheiron soi ti genētai {Nun sündige hinfort nicht mehr, damit dir nicht noch Ärgeres widerfahre!} (V. 14).

Und auch hier ist wie bei Wengst zu fragen, was Thyen konkret mit der „Sünde Israels“ meint. Es bleibt bei ihm völlig unklar, worauf Johannes in Jesu Zeit und seinen eigenen Tagen damit hinauswollen könnte, dass er auf „eine neue Generation“ anspielt, die „den Einzug in das verheißene Land“ vollzieht.

In seiner Übersetzung ergänzt Thyen (T298) die Verse 3b-4 als eine „hochpoetische Passage“, die in den ältesten Handschriften nicht enthalten sind und die „ein früher Leser“ des Johannesevangeliums in den Text eingefügt haben mag, um die spätere Aussage des Gelähmten in Vers 7 zu erklären (T295):

Von Zeit zu Zeit stieg ein Engel des Herrn in den Teich hernieder und bewegte das Wasser. Und wer dann nach dieser Bewegung des Wassers als erster hineinstieg, der wurde geheilt, mit welcherlei Krankheit er auch behaftet sein mochte.

Vielleicht meinte Johannes, seinem Publikum diesen Hintergrund nicht eigens erklären zu müssen, da er zu seiner Zeit allgemein bekannt war.

Nach Ton Veerkamp <438> verbindet Johannes die volkstümliche Legende auf der einen Seite mit einem Lied aus dem Buch Jesaja, in dem es um die Befreiung Israels geht:

Es handelt sich um ein Heilbad. Der Legende nach sollte ein himmlischer Bote das Wasser verwirbeln und der erste Kranke, der dann ins Wasser geht, sollte geheilt werden. Der erste Teil des Jesajabuches endet mit dem Lied: „Jauchzen soll die Wüste“, wir erwähnten es schon bei der Besprechung von 4,14. In diesem Lied geht es um die endgültige Befreiung Israels aus dem Würgegriff seiner Feinde. Dann heißt es, 35,5:

Dann werden geöffnet die Augen der Blinden,
die Ohren der Tauben werden geöffnet,
dann hüpft wie ein Hirsch der Gelähmte,
jubeln wird die Zunge des Stummen.

In den messianischen Gruppen spielte das Lied eine wichtige Rolle (Matthäus 11,2ff. par., Lukas 7,18ff.).

Außerdem sieht er wie Wengst und Thyen den „noch deutlicheren Bezug“ im 5. Buch Mose, den er jedoch anders als diese ebenfalls befreiungstheologisch auslegt:

Der Mensch, um den es hier geht, war achtunddreißig Jahre krank. Mosche hatte auf seinem Weg zum Land Kundschafter hinausgeschickt. Nach ihrer Rückkehr rieten sie dem Volk, dorthin nicht weiterzugehen, weil die Verhältnisse im Land einen Einzug und ein Leben nach der Tora dort nicht erlauben würden: „Riesen haben wir dort gesehen“, Deuteronomium 1,28. Das ganze Projekt sei von Anfang an faul gewesen: „Aus Hass hat der NAME uns weggeführt aus dem Land Ägypten, um uns in die Hand des Amoriters zu geben und uns zu vernichten.“ Die Folge: Niederlage und Stagnation im wahrsten Sinne des Wortes, achtunddreißig Jahre lang wird sich Israel im Kreise drehen. Dann kommt die Wende, Deuteronomium 2,1f.13f.:

Dann wandten wir uns ab, zogen in die Wüste, auf dem Weg zum Schilfmeer,
wie der NAME zu mir [Mosche] redete.
Und wir drehten uns ums Gebirge Seïr im Kreise, viele Tage.
Der NAME sprach zu mir:
„Genug ist es für euch, euch um dieses Gebirge im Kreise zu drehen,
wendet euch nordwärts.

Jetzt richtet euch auf, ihr sollt den Bach Sered [Grenzfluss] überqueren.“
Wir überquerten den Bach Sered.
Die Tage, die wir gingen von Kadesch-Barnea
bis wir den Bach Sered überquerten:
Achtunddreißig Jahre,
bis das ganze Geschlecht kriegsfähiger Männer weggestorben war
aus der Mitte des Lagers,
wie es der NAME euch geschworen hatte.

Sicher ruft uns Johannes mit dieser Zahl achtunddreißig jene Erzählung von der Überwindung der Lähmung Israels in Erinnerung.

Die spannende Frage ist nun, wie Jesus nach dem Evangelisten Johannes die Lähmung Israels zu überwinden trachtet. Oder geht es gar nicht um Israel und nicht um Politik, sondern allgemein um Krankheit und Sünde, wie Wengst und Thyen meinen?

Johannes 5,6-9a: Jesus lässt den lange Zeit Gelähmten seinen Gang gehen

5,6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war,
spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
5,7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen,
der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt;
wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
5,8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
5,9a Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

[9. Juni 2022] Nachdem Zeit, Ort und Anlass der nun folgenden Handlung Jesu geklärt sind, tritt Jesus in Aktion. So lange man den Verweis auf 5. Mose 2,14 nicht als ein Signal ernst nimmt, das sehr deutlich für eine politische Deutung der Geschichte im Sinne einer Überwindung der Lähmung Israels auf dem Weg zu seiner Befreiung spricht, ist es naheliegend, die Frage Jesu und die Antwort des Kranken auf die psychologisch-ethischen Zusammenhänge zwischen der Krankheit eines Menschen und seiner persönlichen Verantwortung für seine Gesundung zu beziehen. In diesem Sinne deutet Klaus Wengst (W160) Jesu Frage: „Willst du heil werden?“ mit Josef Blank <439> als einen Appell „an den Heilungs- und Lebenswillen des Menschen, dessen Mitwirken bei der Heilung von ihm herausgefordert wird“. Er fügt hinzu (Anm. 232):

Dass diese Frage auch in anderer Hinsicht nicht deplatziert ist, zeigt die Parodie von Wunderheilungen Jesu in einem Theaterstück von Dario Fo, wonach Geheilte, die vorher als Bettler ihren Lebensunterhalt hatten, sich über ihre Heilung beschweren, weil sie nicht wissen, wovon sie nun leben sollen.

Die (W160) „Antwort des Kranken“ interpretiert Wengst auf eine dritte Weise:

Er versteht die Frage Jesu nicht so, dass der ihn nun heilen wolle. Vielmehr hat er sie in dem Sinn gehört, dass jemand an seinem Schicksal Anteil nimmt, dem er nun die Schwierigkeit seiner Lage erklärt, die eine Heilung bisher verhindert hat. Er hat niemanden, der ihn zum Becken brächte, wenn das Wasser aufwallt; jedes Mal kommt ihm ein anderer zuvor.

Als ich vor 33 Jahren in meinen Dienst als Klinikseelsorger eingeführt wurde, bin ich in meiner Predigt auf Johannes 5,1-16 in ähnlicher Weise auf die Verantwortung des Gelähmten und die persönlichen Beziehungen zu seinen Mitmenschen und insbesondere zu Jesus als seinem Therapeuten eingegangen. <440>

Der Fortgang der Geschichte enthält für „die Leser- und Hörerschaft hier weitere Informationen“, erstens (W161),

dass er sich nur sehr langsam fortbewegen kann. Unter den vorher Aufgezählten ist er also unter den „Gelähmten“ oder „Ausgezehrten“ einzuordnen. Außerdem wird nun deutlich, warum die Kranken in diesen Säulenhallen liegen und wodurch sie sich Heilung erhoffen: Man muss das gelegentlich im Becken aufwallende Wasser erreichen.

Den Hintergrund für diese Vorstellung bildet Wengst zufolge möglicherweise die allerdings erst „in späteren Midraschim begegnende Tradition vom Mirjamsbrunnen“, der „mit den Israeliten bei der Wüstenwanderung“ mitgezogen war und „mit dem Tod Mirjams verschwand“. <441> Wenn dieser „in andere Gewässer“ gelangt und „darin sein Wasser aufsteigen lässt und damit einen dort badenden Menschen bespült, wird der geheilt.“

Jesus vollzieht die Heilung des Gelähmten jedoch einfach mit „einem knappen Befehlswort: ‚Steh auf, heb deine Matte auf und geh einher!‘“ Darin besteht Wengst zufolge (Anm. 233) „eine nahezu wörtliche Parallele zu dem Befehl Mk 2,9 innerhalb der Erzählung von der Heilung des Gelähmten, während in Mk 2,11 der Schlussteil abweicht.“ In der Aufforderung (W161), aufzustehen statt zu liegen, „sich auf die eigenen Füße zu stellen“, sieht Wengst einen

Ausdruck von Lebendigkeit. Mit „einhergehen“ ist sicherlich mehr gemeint als bloß „gehen“. Die altmodischen Worte „einhergehen“ und „wandeln“ dürften das hier Intendierte treffen: das Leben führen – gemäß den Weisungen Gottes natürlich.

Indem „der Kranke ausdrücklich aufgefordert wird, seine Matte aufzuheben und er dann sie, an die er bisher gefesselt war, in seiner Hand trägt, kann das als weitere Dimension enthalten, dass er nicht ‚rück-fällig“ werde, wieder ins Liegen verfalle, sondern aufrecht wandle.“ In diesem Zusammenhang verweist Wengst darauf (Anm. 234), dass Johannes wie „in Mk 2,9.12 … hier das Wort krábattos“ verwendet, „das das armselige Bett des ‚kleinen Mannes‘ bezeichnet.“

Nach der sofort eingetretenen Heilung führt der Mensch aus, „was Jesus ihm geboten hat.“ Wengst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass er auch „das am Wallfahrtsfest anstehende Gebot, zum Tempel zu gehen“, befolgen wird, „zu dessen Befolgung er bisher nicht in der Lage war.“ Außerdem betont er, dass Johannes in der Wundergeschichte zwar wie „bei den beiden vorangehenden“ auch „andere Dimensionen anklingen“ lässt, aber „zunächst in aller Schlichtheit das Wunder“ erzählt (W161f.):

Er „legitimiert“ Jesus damit nicht für etwas, das außerhalb des Erzählten läge. Diesem „Heiland“ (4,42) geht es auch um den Leib und seine Heilung. Das erzählte Wunder wird so zum Aufschein der Hoffnung auf erfülltes, auf „aufrechtes“ Leben in seiner Ganzheit.

Das klingt gut und richtig. Aber schon die Überlegung, dass Jesus sein Zeichen der Aufrichtung allein an diesem einen Mann, der 38 Jahre lang gelähmt war, vollbringt, während er alle anderen Kranken, Blinden, Lahmen und Ausgezehrten an diesem Ort weiter auf Heilung warten lässt, weckt in mir Zweifel, ob es Johannes in dieser Allgemeinheit um ein menschliches Ideal der Ganzheit geht. <442> Sicher geht es ihm um „aufrechtes“ Leben auf Erden unter Gottes Himmel – aber fokussiert auf Israel, das durch das Wirken des Messias Jesus die Jahre seiner Lähmung hinter sich lassen kann.

Anders als Wengst hält Hartwig Thyen (T299) die Frage Jesu an den Gelähmten: „Willst du gesund werden?“ für verwunderlich und scheinbar widersinnig, da Jesus doch um „dessen Schicksal und langjähriges Leiden“ weiß:

Dem Leser – und vielleicht auch dem Lahmen selbst – erschließt wohl erst Jesu späteres Wort an den Geheilten: ide hygies gegonas, mēketi hamartane, hina mē cheiron soi te genētai {Siehe, du bist gesund geworden. Nun sündige hinfort nicht mehr, damit dir nicht noch Ärgeres widerfahre!} (V. 14), den tieferen Sinn dieser vordergründig so banalen Frage. Das heißt aber, daß Jesus zwischen Krankheit und Sünde einen geheimnisvollen Zusammenhang sieht, auch wenn der nicht einfach nach dem Schema eines Vergeltungsdogmas demonstriert und als Ursache jeden Leidens vorausgesetzt werden kann, wie das nicht nur Hiobs Freunde, sondern nach Joh 9,2 offenbar auch Jesu Jünger meinten.

Auf jeden Fall wendet sich Thyen gegen jeglichen Versuch, im 5. Johanneskapitel unterschiedliche Quellen- und Bearbeitungsschichten zu unterscheiden, nur weil man in Johannes 9,2 „ganz generell jeglichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde“ durch Jesus bestritten sieht, während in 5,9b-16 „eben dieser Konnex von Krankheit und Sünde“ vorausgesetzt wird. Stattdessen fordert Thyen von jedem Exegeten die Anstrengung (T300), „das überlieferte Evangelium mit all seinen Spannungen und Leerstellen zu erklären.“

Wie geht Thyen daraufhin mit dem genannten vermeintlichen Widerspruch um? In seinen Augen geht es sowohl in 9,2 als auch hier im 5. Kapitel

nicht um generalisierbare Gesetze, sondern um konkrete Lebensgeschichten Einzelner. Als derjenige, der Eines ist mit dem Vater (10,30), und der darum nicht auf das Zeugnis anderer angewiesen ist, „weil er selbst weiß, was im Menschen ist (2,25)“, redet Jesus im Wissen um die Sündengeschichte des Geheilten vom Teich Bethesda zu diesem Einzelnen, und in 9,2 redet er im Widerspruch zu dem von seinen Jüngern unterstellten generellen ,Vergeltungsdogma‘ davon, daß weder die Sünde dieses konkreten Blinden noch die seiner Eltern Ursache seines Leidens ist.

Ähnlich wie eben bei Wengst ist auch Thyen in dieser Argumentation teilweise Recht zu geben, nämlich sowohl in seiner Abweisung literarkritischer Operationen am Text des Evangeliums als auch darin, dass Johannes keine durchgehende generelle Vergeltungsdogmatik vertritt. Aber warum übersieht Thyen, der doch um den Hintergrund des Symbols der 38 Jahre im 5. Buch Mose weiß, dass es bei dem Gelähmten eben gerade nicht um „die Sündengeschichte“ eines „Einzelnen“ geht, sondern um die Verirrung und Verfehlung des ganzen Volkes Israel? Die befreiungstheologischen Implikationen alttestamentlicher Bezüge interessieren ihn nicht; er erhebt aus der jüdischen Bibel eher ein Konzentrat religiöser Wahrheit, das er auf den Glauben des Einzelnen und eine spirituell-jenseitig verengte Zukunftshoffnung zuspitzt. Das zeigt sich in seiner Annahme, dass

hinter der Frage, „Willst du gesund werden?“, wohl zugleich die andere [steckt]: „Willst du zu mir kommen und bei mir bleiben, damit du das Leben gewinnst?“ (vgl. V. 39f). Denn hier gilt ja: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“ Und nur, wen der Sohn frei macht, der ist wahrhaft frei (8,34-36) und ,gesund‘.

Hier sind alle entscheidenden Begriffe nicht vollständig in ihrer Bedeutung geklärt: Ist das Leben ein ewiges Leben im Himmel oder das erfüllte Leben der kommenden Weltzeit auf Erden? Ist Sünde als individuell-ethische Verfehlung des Einzelnen oder als Abirrung des Volkes von der Disziplin der Freiheit und des Rechts zu betrachten? Völlig offen bleibt die Bedeutung des wahrhaften Freiheit gemäß Johannes 8,34-36.

Recht zu geben ist Thyen darin, dass „unsere Erzählung als intertextuelles Spiel mit Mk 2,3-12 begriffen sein will“. Dafür spricht erstens der „Zusammenhang von Krankheit und Sünde“, insbesondere „Jesu überraschendes Wort“ an den Kranken in Markus 2,5: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“, zweitens dass „der Kranke hier wie da Helfer braucht, ihn zu tragen“, und drittens „die hier wörtlich wiederkehrende Aufforderung an den Lahmen: egeire aron ton krabatton sou kai peripatei {Steh auf, nimm deine Liege und gehe hin!}, aus Mk 2,9“. Dabei sieht Thyen in dem Wort „krabattos, das hier in den Versen 8.9.10.11 und 12 sowie Mk 2,4.9.11.12 gebraucht ist“, einen

Hauch des Vulgären…, so als ob wir einem sagten: „Nimm deine ,Falle‘ und geh!“ Mt und Lk haben das Wort denn auch durch das gehobenere klinē {Bett} (Mt 9,6) bzw. klinidion {Liege} (Lk 5,24) ersetzt; darüber hinaus begegnet krabatton im NT nur noch in Mk 6,55 und Act 5,15; 9,33, und zwar im Sinne von ,Trage‘.

Das heißt, Thyen zufolge zitiert Johannes den Markustext, indem er ihn zugleich mit voller Absicht verändert, um seiner Leserschaft neue Erkenntnisse zu vermitteln (T300f.):

Die auffälligste Differenz zum Markustext ist zunächst das sorgfältig gestaltete Jerusalemer Lokalkolorit mit der Nähe des Tempels sowie der Gegenwart der Ioudaioi, mit dem Johannes diese galiläische Erzählung seines Prätextes versehen hat. Das war notwendig, weil es nach der Schilderung der freundlichen Aufnahme, die Jesus sowohl in Samarien als auch in Galiläa erfahren hatte (Joh 4), nun ja darauf ankam zu demonstrieren, daß und wie einem Propheten gerade in seiner idia patris {eigenen Vaterstadt} die timē {Würdigung} verweigert wird, die ihm gebührt (4,44).

Allerdings soll der Gelähmte wohl nicht so (T301), „wie der basilikos als Repräsentant der glaubenden Galiläer verstanden sein wollte, jetzt als einer begriffen werden, der die Haltung der Jerusalemer zu Jesus repräsentiert“. Dass der Mann in Vers 15 den Juden „verkündete (anēngeilen)“, dass ihn Jesus geheilt hatte,

ist wohl absichtsvoll ambivalent. Er könnte ein öffentliches Bekenntnis des Geheilten zu Jesus sein … Er könnte aber auch so verstanden werden, „als habe der Geheilte ausgerechnet auf Jesu Mahnung hin diesen bei den Juden denunziert“ und als versuche er jetzt für seine eigene Sabbatverletzung eine Art ,Befehlsnotstand‘ geltend und so Jesus dafür verantwortlich zu machen …

Thyen neigt dabei eher dazu, dem Mann „wahre Sabbatfreude“ zu unterstellen, aus der heraus er „den Juden, die wissen wollen, wer ihn beauftragt habe, (am Sabbat) sein Bett zu tragen, antwortet: ,Der, der mich (nach achtunddreißig jährigem Siechtum) endlich gesund gemacht hat, der hat zu mir gesagt: Nimm dein Bett auf und gehe!‘“ Und er fügt hinzu (T301f.):

Und wenig wahrscheinlich ist doch auch, daß einer, der achtunddreißig Jahre lang vergeblich auf einen Freund gewartet hat, der ihn im rechten Augenblick in das heilsame Wasser des Teiches trägt, diesen einzigen Freund, der ihm endlich erschienen ist, sogleich denunzieren wird.

Das mag man so sehen; mir ist aber auch die Erfahrung vertraut, dass Menschen, die auf Grund leidvoller Erfahrungen ein lebenslanges Misstrauen gegenüber anderen Menschen sozusagen erlernt haben, sich oft genug schwer damit tun, erfahrene Hilfe auch tatsächlich anzunehmen, vor allem wenn damit die Konsequenz verbunden ist, eine bisher nie von ihnen erwartete und zugetraute Verantwortung für die Folgen ihrer eigenen Taten zu übernehmen. Dass Jesus um diese Problematik weiß, darauf scheint seine Aufforderung an den Gelähmten hinzuweisen, er solle in Zukunft nicht mehr hamartanein, „sündigen, fehlgehen, verantwortungslos handeln“.

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang „eine weitere Differenz zu der markinischen Erzählung“, auf die Thyen (T302) aufmerksam macht:

[W]ährend Jesus dort den ,Glauben‘ derer ,anerkennt‘, die den Kranken auf dem mühsamen Weg über das Dach des Hauses zu ihm gebracht haben, muß hier unser Gelähmter selbst beklagen, keine derartige Freunde zu haben, die ihm helfen…

Will Johannes damit möglicherweise andeuten, dass die Lähmung des Volkes Israel so weit fortgeschritten ist, dass nicht einmal zwischenmenschliche Hilfe, wie sie Markus beschreibt, geleistet wird, sondern stattdessen die hilfsbedürftigen Menschen in vollständiger Isolation voneinander und ohne Hoffnung auf Heilung dahinvegetieren müssen?

Seltsam finde ich Thyens Begründung dafür, dass er das Wort „peripatein in Jesu Aufforderung an den Geheilten“ nicht „mit ‚gehe umher‘ übersetzen“ will, „sondern einfach mit ‚gehe hin‘, ‚wandle!‘ (Luther), ‚mach dich auf den Weg‘“:

Denn auch wenn das „Gehen“ derer, die zuvor gelähmt waren, fraglos die Macht des Wundertäters demonstriert, erweckt die Übersetzung von peripatei mit „gehe umher“ doch den fatalen Eindruck, als fordere Jesus hier zu solcher Demonstration seiner Macht auf.

Ich frage mich, wie man die Andeutung einer Aufforderung zu einem anderen Lebenswandel nach Gottes Geboten, die mit der besonderen Vokabel peripatein verbunden sein mag und worauf Wengst mit Recht hingewiesen hat, in einer solchen Weise missdeuten kann.

Nur Ton Veerkamp <443> nimmt ernst , wie gesagt, dass die „Zahl achtunddreißig“ überdeutlich auf die „Überwindung der Lähmung Israels“ im 5. Buch Mose anspielt. Er geht davon aus, dass „die meisten Kommentatoren“ diesen Zusammenhang überhaupt nicht in den Blick nehmen, wovon er Wengst ausnimmt. <444> Aber es genügt nicht, die Parallele einfach nur wahrzunehmen, man muss sie „politisch lesen“, damit „die Differenz“ zwischen damals und heute erklärt werden kann und „der Zusammenhang“ nicht „verloren“ geht.

Bei seiner Auslegung geht Veerkamp von der Frage aus, zu welcher Erkenntnis Jesus beim Anblick des Kranken gelangt – so kann man das kurze Wort gnous, wörtlich: „zur Erkenntnis gelangend“, umschreiben (die Übersetzung „vernahm“ der Lutherbibel unterstellt eine hier nicht ausdrücklich erwähnte Unterrichtung Jesu durch andere). Nach dem griechischen Text erkennt Jesus hoti polyn ēdē chronon echei, wörtlich in holprigem Deutsch: „dass viel schon Zeit er hat“. Luther überträgt sinngemäß: „dass er schon so lange krank war“, Thyen ebenfalls (T295), „daß der schon so lange unter seiner Krankheit litt“, Wengst übersetzt näher am Urtext (W158), „dass er schon lange Zeit so verbrachte“. Veerkamp versucht in seiner Übersetzung den Zusammenhang mit dem 5. Buch Mose erkennbar bleiben zu lassen:

„Jeschua erkannte, dass die Zeit lang genug gewesen war.“ Er handelt hier mit der gleichen Macht, mit der der NAME zu Israel sagte: „Genug (rav) ist es für euch, euch im Kreise zu drehen“ – eben „nach den vielen Tagen (jamim rabim, hēmeras pollas)“. Der Mann will, kann aber nicht: „Andere steigen vor mir ins Wasser ab“, er könne nicht als erster – Voraussetzung für die Heilung – in das vom heilenden Engel aufgewühlte Wasser absteigen. Israel kann sich selbst nicht aus dieser Lähmung befreien.

So gesehen geht es nicht um psychologisch-ethische Probleme im Zusammenhang mit persönlicher Krankheit und Heilung, sondern um das Problem der politischen Handlungsunfähigkeit Israels damals während der Wüstenwanderung und jetzt zur Zeit der anhaltenden Macht des Römischen Weltreichs. Wie konnte damals die Lähmung Israels überwunden werden, und worin erblickt Johannes jetzt Möglichkeiten für Israel, aus der Erstarrung in Hilflosigkeit und Verzweiflung herauszukommen?

Im Deuteronomium geht die Initiative vom mobilisierenden Wort aus: „… Genug ist es für euch, euch um dieses Gebirge im Kreise zu drehen; wendet euch nordwärts. Jetzt richtet euch auf!“ Das Wort schuf dort ein handlungsfähiges Israel, jetzt, so Johannes, schaffe der Mensch, der das Wort verkörpert (1,14), ein neues, messianisches, handlungsfähiges Israel. Jeschua erkannte, dass „die Zeit lang genug war“, und sagt: „Richte dich auf, trage deine Liege weg und gehe deinen Gang.“

Die politische Situation im Hintergrund der jeweiligen biblischen Texte im 5. Buch Mose und im Johannesevangelium skizziert Veerkamp folgendermaßen:

Die Handlungsfähigkeit Israels setzt im Deuteronomium eine politische Situation – eine kurze Periode im Windschatten der großen Politik bzw. der Politik der Großmächte – voraus. Die Herrschaft der flavischen Kaiser lasse, so aber Johannes, nirgendwo im Orient einen politischen Windschatten. Jedes Beharren auf der Möglichkeit, in diesem Römischen Reich nach der Tora des Mosche leben zu können, sei illusionär und führe das Volk in die Irre (hamartia, „Sünde“). Dies ist ein Hauptmoment im politischen Denken des Johannes. Die Handlungsunfähigkeit, die politische Lähmung, muss gerade im Vergleich mit dem Deuteronomium sichtbar gemacht werden; die Zahl achtunddreißig steht für die politische Handlungsunfähigkeit Israels. Nur der Messianismus oder besser, der Messias, erlöst Israel aus seiner politischen Lähmung. Die Weigerung, sich auf den Messias einzulassen, ist Verklärung und Perpetuierung der Lähmung – meint Johannes.

War es nach der Befreiung aus Ägypten dem Volk Israel möglich, ein Land in Besitz zu nehmen, in dem das Experiment eines Leben nach der Tora unternommen werden konnte, in Freiheit, Recht und Frieden, da die politischen Umstände es zuließen, so ist Gleiches unter der weltweiten Unterdrückungsherrschaft Roms nicht denkbar. Die einzige Hoffnung, die in den Augen des Johannes übrig bleibt, ist das Vertrauen auf den Messias des Gottes Israels, der die gesamte Weltordnung ein für alle Mal überwindet und das Leben der kommenden Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden für Israel inmitten der Völker auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes anbrechen lässt. So muss nach Veerkamp die Heilung des Gelähmten begriffen werden:

Der Mensch richtete sich auf, trug seine Liege weg und ging seinen Gang, und wird so zum Auslöser eines Konfliktes, der die politische Differenz zwischen den Judäern und Jeschua (Johannes) sichtbar macht.

Johannes 5,9b-13: Der Konflikt mit „den Juden“ um das Tragen der Liege am Sabbat

5,9b Es war aber Sabbat an diesem Tag.
5,10 Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war:
Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen.
5,11 Er aber antwortete ihnen:
Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!
5,12 Sie fragten ihn:
Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?
5,13 Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war;
denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.

[10. Juni 2022] Dass Johannes die Heilungserzählung erst nachträglich auf einen Sabbat datiert, geschieht Klaus Wengst zufolge (W162) mit voller Absicht. Einerseits

ermöglicht er es, sie zunächst für sich als Heilungsgeschichte zu lesen und zu hören. Zum anderen ist die erst jetzt erfolgende Nennung des Sabbats auch von daher sinnvoll, dass es Johannes hier gar nicht um das Problem geht, was am Sabbat zu tun oder zu lassen ist.

Dass Johannes (Anm. 237) „die prinzipielle Geltung der Sabbatgebote selbstverständlich voraussetzt“, wird „sich in 7,23 zeigen“. Letzten Endes wird nach Wengst (W162f.) der „kurze Konflikt zwischen dem Geheilten und ‚den Juden‘“ wegen des Sabbats nur erwähnt, um das „Handeln Jesu … in V. 18 in Entsprechung zum Handeln Gottes“ zu setzen.

Aber wer sind „die Juden“ in diesem Zusammenhang überhaupt? Wengst (W163) stellt zunächst heraus, „dass in dieser Erzählung ‚die Juden‘ nicht ‚alle Juden‘ sind; schließlich sind der Geheilte und Jesus auch Juden.“ Bei denjenigen, die Johannes hoi Ioudaioi nennt, muss es sich also um eine bestimmte Gruppe von Juden handeln, die in Wengsts Augen „als Behörde“ erscheinen:

Deshalb habe ich sie in der Übersetzung als „die führenden Juden“ wiedergegeben. Johannes jedoch spricht ganz pauschal von „den Juden“. Darin spiegelt sich die Erfahrung seiner eigenen Zeit, in der seine Gruppe „den Juden“ als bedrängend erfahrener Mehrheit gegenübersteht.

Den behördlichen Hinweis „auf das Verbotene“ der Handlung des Geheilten will Wengst „nicht dramatisieren“, da „nicht mehr als ein schlichter Hinweis“ vorliegt, „der nicht mit einer Androhung von Sanktionen verbunden ist, aber sicherlich erwartet, dass aus ihm die richtige Konsequenz gezogen wird.“ Zur Begründung des Verbots, die Matte zu tragen, verweist Wengst auf Jeremia 17,21f. und vor allem auf die „Auflistung von 39 verbotenen Hauptarbeiten“, durch die „die rabbinischen Weisen versucht“ haben, „das biblische Arbeitsverbot am Sabbat zu konkretisieren“. Als letzte dieser Hauptarbeiten wird „das Heraustragen aus einem Bereich in einen anderen Bereich“ <445> angeführt.

Kritisch sieht Wengst die „deutlich spürbare doppelte Entrüstung“ christlicher Exegeten über angeblich engstirnige jüdische Gesetzlichkeit und den Versuch, diese mit Hilfe von Tricks legal zu umgehen, die sich etwa bei Billerbeck <446> zeigt. Stattdessen plädiert Wengst dafür (W164), „auf jüdisches Selbstverständnis zu hören“ und ernst zu nehmen (W163), dass die „Systematisierung und … Ausdifferenzierung“ des Arbeitsverbots am Sabbat „der konkreten Unterscheidung des Sabbats von den anderen Tagen“ dient:

Die Heiligkeit des Sabbats, die heilvolle Unterbrechung der Arbeitstage, soll sehr konkret Ausdruck finden in einem sich von den anderen Tagen unterscheidenden Vollzug des Sabbats.

Zugleich müssen entsprechende Verbote aber „auch praktikabel sein“:

So wurde beim Verbot des Heraustragens von einem Bereich in den anderen die Möglichkeit geschaffen, am Sabbat einen „Eruv“ zu bilden, der sonst unterschiedliche Bereiche zu einem dann einheitlichen zusammenschließt, innerhalb dessen Lasten getragen werden dürfen. Der Praktikabilität dient auch die Ermöglichung, dass eine Last, die von einer Person getragen werden kann, aber am Sabbat eben nicht getragen werden darf, von zwei Personen getragen wird.

Als (W164) der Geheilte darauf hinweist, dass ihm das Tragen seiner Matte „von demjenigen geboten worden sei, der ihn heil gemacht habe“, ist nicht weiter von Interesse, was „er danach mit seiner Matte getan hat“, vielmehr geht es Johannes Wengst zufolge nur darum, Jesus „ins Gegenüber zu ‚den Juden‘ zu bringen“. Da der Geheilte gar nicht weiß, wer ihn geheilt hat, weil Jesus einfach „im Gedränge verschwunden“ ist, „hätte sich die Sache verlaufen“, wenn nicht Jesus anschließend selbst wieder die Initiative ergriffen hätte.

Noch deutlicher als Wengst weist Hartwig Thyen darauf hin (T303), dass „die beiden einzigen Sabbatkonflikte“ des Johannesevangeliums „in den Kapiteln 5 und 9“ an den „Fragen überhaupt nicht interessiert“ sind, um die es in „den synoptischen Streitgesprächen über den Sabbat“ geht:

Geht es nämlich bei den Synoptikern vorwiegend um die Frage nach Recht und Grenzen der Sabbat-Halacha, darum also, was der Mensch am Sabbat tun und was er nicht tun darf sowie darum, ob und in welchen Fällen das Sabbatgebot hinter dem höheren Gebot der Liebe zurücktreten muß, so sind die … Sabbatkonflikte unseres Evangeliums … vielmehr streng christologisch orientiert, so daß man sie als Variationen des einen – wiederum von Markus vorgegebenen – Themas begreifen muß, nämlich des Satzes: hōste kyrios estin ho hyios tou anthrōpou kai tou sabbatou {So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat} (Mk 2,28…).

In der nachträglichen Mitteilung, dass „sich die Heilung des Lahmen am Teich Bethesda an einem Sabbat zugetragen“ hat, sieht Thyen

die große dramaturgische Kraft dieses Autors und seine stilistische Kunstfertigkeit. Denn auf diese Weise nötigt er seinen Leser, ehe der mit den so angekündigten komplizierten Folgen dieser Heilung konfrontiert wird, zunächst noch einmal zurückzublicken und das Geschehen selbst unter dem Gesichtspunkt von Sabbatruhe und Sabbatfreude neu zu bedenken.

Ganz ähnlich wird Johannes später in der „Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9)“ verfahren. Dass Johannes in 7,14-24 „sich die Jerusalemer an den Konflikt um die Sabbatheilung des Lahmen erinnern und sie den Faden jener Auseinandersetzung wieder aufnehmen läßt, als Jesus ihre Stadt und den Tempel anläßlich des Laubhüttenfestes erneut besucht“, darf Thyen zufolge nicht zum Anlass für Quellenscheidungen oder (T304) Unterscheidungen „von Tradition und Redaktion“ genommen werden.

Zu den „in V. 10 hoi Ioudaioi Genannten“ sieht Thyen ähnlich wie Wengst die Notwendigkeit, sich von antijudaistischen Interpretationen abzugrenzen. In seinen Augen sind sie

keine anderen als die vom Autor geschaffenen fiktionalen Personen, die in unserer Szene aktuell handeln. Darum liegen Aussagen über „den Juden“ oder über „das Judentum“ und damit die Frage nach seinem vermeintlichen Antijudaismus völlig außerhalb des Horizontes unseres Evangeliums.

Besonderes Augenmerk richtet Thyen auf das „betonte ho anthrōpos {der Mensch} in der Frage der Juden: tis estin ho anthrōpos ho eipōn soi: aron kai peripatei? {Wer ist denn der Mensch, der dir befahl: Hebe (deine Liege) auf und gehe hin?}“. Es unterstreicht in seinen Augen nicht

nur die Empörung der Toratreuen darüber, daß es ein Mensch gewagt hat, Gottes heiligstes Gebot, nämlich das der Sabbatruhe, das als einziges seinen Grund schon im Schöpfungswerk des ,Anfangs‘ hat, dadurch zu übertreten, daß er nicht nur selbst den Sabbat ,auflöst‘ (elyen V. 18), sondern auch noch andere zu solchem Frevel anstiftet. Zugleich ist mit dem Stichwort anthrōpos schon das Thema der gesamten folgenden Auseinandersetzungen mit den Ioudaioi genannt, das in ihrem Vorwurf gipfeln wird: hoti sy anthrōpos ōn poieis seauton theon {dass du ein Mensch bist und machst dich selbst zu Gott} (10,33: vgl. 19,7).

Ton Veerkamp <447> sieht wie Thyen die Parallelen der beiden Heilungserzählungen des Gelähmten und des Blinden in den Kapiteln 5 und 9:

Was nun kommt, hat die gleiche Struktur wie der Vorgang, der in Kapitel 9 berichtet wird: Heilung – Befragung durch die Peruschim {Pharisäer} – neue Begegnung mit Jeschua – Auseinandersetzung mit den Peruschim. Das Problem liegt im Schabbat. Der Geheilte wird mit dem Vorwurf konfrontiert: „Es ist Schabbat, und es ist dir nicht erlaubt, deine Liege wegzutragen.“ Er antwortet: „Der mich gesund machte, eben jener, hat gesagt, trage deine Liege weg und gehe deinen Gang.“

Und wie Thyen sieht auch Veerkamp, dass Johannes in der Einschätzung der Macht des Messias über den Sabbat mit den synoptischen Evangelien übereinstimmt:

Wir können davon ausgehen, dass der Mann wusste, dass es Schabbat war und dass es nicht erlaubt ist, Liegen zu tragen. Wer aber in der Lage sei, Menschen wie ihn gesund zu machen, der habe das Recht, auch am Schabbat zu sagen: „Trage deine Liege weg und gehe deinen Gang.“ Der Mann kann davon ausgehen, dass Jeschua eine ähnliche Macht hat wie der himmlische Bote, der das Wasser im Tauchbad aufwirbelt. Implizit spricht er das aus, was Markus 2,26 sagt: „Der Mensch, bar enosch, ist Herr auch über den Schabbat.“ Das ist gemeinsame Auffassung aller messianischen Gruppen, von Paulus bis Lukas und Johannes.

Es gibt ein Wort in Vers 13, das Wengst und Thyen offenbar für völlig nebensächlich halten, da sie mit keinem Wort näher darauf eingehen, nämlich das Wort ekneuein, „sich abwenden, zurückziehen, fortgehen“, und das Veerkamp genauer ins Auge fasst:

Jeschua hatte sich vom Geheilten „abgewendet, weil eine Menschenmenge vor Ort war“. Man fasst das immer als „logische“ Trennung wegen des Gedränges am Ort auf. Das Verb ist selten, es kommt in den messianischen Schriften nur an dieser Stelle vor, in der Septuaginta nur siebenmal. Es bedeutet in allen Fällen ein aktives und bewusstes Handeln; Jeschua wendete sich absichtlich vom Geschehen ab.

Welchen Zweck Jesus damit verfolgt, dazu äußert sich Veerkamp nicht. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Jesus sich bewusst vom Gelähmten abwendet, um ihn allein aufzusuchen, ohne Beeinflussung durch den ochlos, die Volksmenge der Judäer. Vielleicht werfen auch zwei Stellen im 2. Buch der Könige Licht auf die Bedeutung des Wortes ekneuein. Der Prophet Elisa wendet sich zu den respektlosen Knaben um, die ihn als Kahlkopf verspotten (2. Könige 2,24), und König Josia wendet sich, um den Altar zu Bethel unrein zu machen, zu Gräbern um, aus denen er Knochen herausholt, um sie auf dem Altar zu verbrennen, verschont dabei aber die Gebeine zweier Propheten JHWHs (2. Könige 23,16-18). Möglicherweise ruft Johannes das Thema „Respekt“ auf, den das geheilte Israel seinem Messias Jesus schuldet, vielleicht auch die Reinigung Israels von falschen Göttern durch Josia und die Frage, welcher Prophet Respekt verdient.

Johannes 5,14-16: Jesus spricht den Geheilten auf seine Verirrung an und wird von „den Juden“ verfolgt

5,14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm:
Siehe, du bist gesund geworden;
sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
5,15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden,
es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.
5,16 Darum verfolgten die Juden Jesus,
weil er dies am Sabbat getan hatte.

[11. Juni 2022] Die Geschichte schreitet voran (W164), indem Johannes „Jesus die Initiative ergreifen lässt“:

Nicht der Geheilte findet Jesus, sondern Jesus findet den Geheilten. Nicht der Gesuchte wird gefunden, sondern der Gesuchte findet. Er hat die Fäden in der Hand – und liefert sich damit faktisch selbst aus. Wenn Johannes hier, wo bald danach Jesu Tod in aller Deutlichkeit ins Blickfeld tritt, so darstellt, lässt er damit Jesus nicht als Objekt und Opfer erscheinen, sondern als Souverän seines eigenen Geschicks. So bringt er zum Ausdruck, dass in dem von außen gesehen sehr zufällig erscheinenden Schicksal Jesu doch Gott zum Zuge kommt.

Dass Jesus „den Geheilten im Tempel“ findet, ist „für beide ein selbstverständlicher Aufenthaltsort, zumal ein Wallfahrtsfest den Rahmen bildet“. Was will Jesus dem Mann aber mit seiner Aufforderung, nicht mehr zu sündigen, sagen?

Hier ist einmal gesagt, dass verfehltes Handeln schlimmes Widerfahren zur Folge haben wird. Ist aber auch gesagt, dass seine Krankheit von 38 Jahren auf verfehltem Handeln beruhte? Zumindest wird das nicht ausdrücklich gemacht. Doch die vorher erwähnte Gesundung, die Aufforderung „nicht mehr“ zu sündigen, und der Komparativ „Schlimmeres“ können auf einen solchen Zusammenhang hinweisen. Und diesen Zusammenhang stellen nicht „die Juden“ her, auch nicht die Schüler Jesu, sondern er findet sich in einem Wort Jesu.

Dazu führt Wengst Rudolf Bultmann <448> an, dem zufolge „sich dieses Wort Jesu über Krankheit und Sünde ‚in der Sphäre des jüdischen Vergeltungsglaubens [bewegt], der Krankheit auf Sünde zurückführt‘“. Aber der babylonische Talmud <449> bietet auch die Widerlegung einer solch absoluten Verbindung von Tod und Leiden mit der Sünde: „Es gibt Tod ohne Sünde und es gibt Leid ohne Schuld.“ Wengst zieht das Fazit (W165):

Es gibt unverschuldetes Leiden. Aber es gibt auch verschuldetes Leiden. Die Frage ist nur, wer verschuldetes Leiden feststellt. Gegenüber der von außen aufgrund seines Leidens diagnostizierten Schuld durch seine Freunde besteht Hiob hartnäckig darauf, dass er unschuldig leidet. Wenn Jesus implizit Schuld feststellt, tut er das in seiner Funktion als Beauftragter Gottes, als den ihn die Fortsetzung des Textes noch deutlich herausstellen wird – als Beauftragter Gottes, der zuvor den Kranken gesund gemacht hat. Jesus spricht hier gleichsam wie ein Arzt nach der Genesung. Der Akzent liegt auf der Mahnung für die Zukunft. Verfehltes Handeln wird schlimme Folgen haben – auch für den Handelnden selbst: „[…] damit dir nichts Schlımmeres widerfahre.“ Als „Schlimmeres“ deutet sich in diesem Zusammenhang an, das Leben so zu führen, dass es dem Gericht Gottes anheimfällt. Auf ein Verstehen in dieser Richtung weist jedenfalls die folgende Rede Jesu.

Gegen diese Auslegung ist nichts einzuwenden, so lange man die Heilungserzählung auf der individuellen und zwischenmenschlichen Ebene dieses einzelnen Menschen betrachtet. Sobald der Gelähmte und nun Geheilte jedoch als Symbol für Israel wahrgenommen wird, ist konkret zu fragen, worin die Verfehlung oder Verirrung Israels als Volk besteht, die der Messias Jesus zusammen mit der Verirrung der Weltordnung (Johannes 1,29) wegtragen wird und die Israel aufgeben soll. Besteht Israels Verfehlung des Willens Gottes in seiner furchtsamen Unterwerfung unter die Macht Roms, wenn nicht gar seiner willigen Kollaboration mit der Besatzungsmacht, ähnlich wie die aus Ägypten entflohenen Israeliten sich geweigert hatten, in das von Riesen beherrschte Gelobte Land einzuziehen (5. Mose 1,28; 2,10f.), dann könnte Jesu Aufforderung, sich nicht mehr zu verfehlen, schlicht und einfach bedeuten, auf die befreiende Macht des Messias Jesus zu vertrauen. Genau ein solches Vertrauen brachten am Ende des 4. Kapitels die Samaritaner Jesus entgegen, nachdem sie sich zwei Tage lang von ihm hatten unterrichten lassen.

Eine solche Reaktion lässt der Geheilte allerdings vermissen. Stattdessen, so Wengst,

meldet er sofort „den Juden, Jesus sei es gewesen, der ihn heil gemacht hätte“ – wie die Anzeige bei einer Behörde. Das ist das Letzte, was über ihn erzählt wird. Wie Nikodemus – und anders als der Geheilte in Kap. 9 – verschwindet er nun spurlos aus der Szene. Seine Meldung wird für „die Juden“ zum Anlass, Jesus zu „verfolgen“, „weil er das am Sabbat getan hat“.

Da nach Wengst (Anm. 241) „eine Heilung am Sabbat in jüdischem Kontext“ als Anlass für ein „Verfolgen“ nur „schwer vorstellbar“ wäre, sondern allenfalls „für Diskussion“ wie etwa in 7,21-23, verweist er nochmals darauf, dass die Formulierung des Johannes „schon die Erfahrung harter Auseinandersetzungen seiner Gruppe mit der sie umgebenden jüdischen Mehrheit“ voraussetzt.

Hartwig Thyen (T304) geht ebenfalls auf „die Initiative“ ein, die „auch jetzt wieder von Jesus“ ergriffen wird: „Er ,trifft‘ (heuriskei) den Geheilten und spricht ihn an, so wie er am Anfang Philippus getroffen (heuriskei) und angesprochen hatte (1,43).“ Seine Worte an den Geheilten spielen mit der Heilungsgeschichte Markus 2,1-12 und setzen nicht nur „einen Zusammenhang von Krankheit und Sünde“ voraus, sondern auch, dass „diese Heilung von der Krankheit zugleich die Befreiung von der Sünde ist.“ Indem außerdem (T305) „die achtunddreißig Jahre der Krankheit des Mannes“ wohl nicht zufällig „an die achtunddreißig Jahre der Sündengeschichte Israels in der Wüste“ erinnern,

ist es nicht schwer, sich einen Reim auf das ,Ärgere‘ zu machen, das dem Geheilten widerfahren könnte, wenn er sich nicht entschlossen von seinem vorigen Leben in der Sünde trennt: Es würde ihm ergehen wie der Wüstengeneration seiner Väter. Doch auch wenn hier kein explizites Bekenntnis über seine Lippen kommt, wie bei dem Blindgeborenen, bleibt sein wortloses Weggehen (apēlthen) und der Umstand, daß er den Juden verkündete (anēngeilen), es sei Jesus gewesen, der ihn gesund gemacht habe, ambivalent. Zumal er den Juden, die von ihm wissen wollten, wer ihn denn zu dem sabbatwidrigen Tragen seiner Liege aufgefordert habe, Jesus nicht als den für seinen Sabbatbruch Verantwortlichen denunziert, sondern ihn vielmehr nur als seinen Wohltäter offenbart, läßt der Erzähler das Urteil über ihn zumindest offen.

Zu dem bei Johannes „nur hier und 15,20“ verwendeten Wort diōkein merkt Thyen an, dass es „eine gewaltsame Verfolgung“ bezeichnet, „die auf die Vernichtung des Verfolgten zielt (vgl. V. 18 und 16,2)“:

Wie Lk 11,49; Act 7,52 und Mt 23,34 zeigen, gehört das Lexem diōkein in den von Steck <450> in großer Breite untersuchten deuteronomistischen Motivzusammenhang ,Israels und des gewaltsamen Geschicks seiner Propheten‘. Noch einmal wird daran deutlich, daß Joh 5 als Demonstration von Jesu Wort gelesen sein will, daß dem Propheten in seiner idia patris die ihm gebührencle Ehre versagt wird (4,44).

Damit ist Thyen sicherlich Recht zu geben; allerdings nimmt er das Konfliktfeld, auf dem Jesus und die johanneischen Ioudiaoi aneinandergeraten, nicht genau genug in den Blick. Das tut allerdings Ton Veerkamp, <451> indem er den „Kampf um den Schabbat“, der jetzt nur „angedeutet, in Kapitel 7 weiter geführt [wird], bis er im Kapitel 9 einen Höhepunkt erreicht“, konsequent politisch/befreiungstheologisch interpretiert. Nachdem der „Geheilte … seinen Heiler nur durch dessen Tat bezeichnen“ konnte, ist es

Jeschua selbst, der den Konflikt zuspitzt. So bewusst Jeschua sich von ihm abwendete, so bewusst sucht er ihn auf. Der Mann suchte Jeschua nicht, vielmehr fand dieser ihn. Sicher kann man auch schreiben, Jeschua traf ihn, aber finden ist richtig, weil er ihm etwas zu sagen hatte: „Da bist du nun gesund geworden, verirre dich nicht länger, damit dir nichts Schlimmeres geschieht.“ Was ist dann die Verirrung, deren sich der Gelähmte schuldig gemacht haben sollte? Das kann nichts anderes als die Lähmung selber sein, die Unfähigkeit Israels, sich politisch bewegen zu können. Was ist für ein Volk schlimmer als politische Lähmung?

Mit dem messianischen Zeichen der Heilung des gelähmten Israel ist die „politische Botschaft“ verbunden, dass Befreiung für Israel möglich ist, dass es an der Zeit ist, sich aus der Unterwerfung unter die Römische Weltordnung zu lösen. Diese Botschaft „ist für die Judäer Grund, Jeschua politisch zu verfolgen“, so wie in Israels Vergangenheit die Propheten verfolgt wurden, die dem Volk und insbesondere seiner Führung politisch ins Gewissen redeten.

Johannes 5,17: Das andauernde Wirken des VATERS und Jesu als seines Sohnes

5,17 Jesus aber antwortete ihnen:
Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.

[12. Juni 2022] Obwohl bisher (W167) „die Juden“ mit Jesus „gar nicht in direkter Rede gesprochen haben“, tritt Wengst zufolge in Vers 17 „sofort Jesus als Antwor­tender auf“. Wie Jesus vorher als der Gesuchte selber fand, so tritt jetzt „der Verfolgte unvermittelt selbst auf und antwortet ungefragt.“ Auch nach Thyen (T306) ist Jesus, „ohne daß er zuvor in die Szene eingeführt worden wäre, … plötzlich und völlig unvermittelt da und ergreift zu den bloßen Absichten der Ioudaioi das Wort.“ Da insofern Vers 17 unmittelbar an Vers 16 anschließt, hält Thyen diejenigen Handschriften für ursprünglich, die in Vers 17 „das Satzsubjekt in dem Prädikat apekrinato {antwortete} impliziert [halten] und den Jesusnamen aus[lassen].“ Der Beginn dieses Verses müsste also mit „Der aber entgegnete (apekrinato) ihnen“ wiedergegeben werden.

Die Antwort Jesu auf den Vorwurf (W167), „den Kranken am Sabbat geheilt und damit das Sabbatgebot übertreten zu haben“, lautet nach Klaus Wengst: „Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke auch.“ Um nachzuvollziehen, wie dieser Satz nach Johannes zu begreifen ist, findet er

es wichtig, nicht nur pauschal auf jüdische Anschauungen zu verweisen oder sie zu zitieren, nach denen Gott trotz der Aussage von Gen 2,2, dass er am siebten Tag ruhte, doch nicht aufhört, auch am Sabbat zu wirken, sondern auch auf die unterschiedlichen Begründungszusammenhänge zu achten. Philon von Alexandria denkt griechisch-philosophisch vom Wesen und Begriff Gottes her. Damit ist es unvereinbar, sich Gott als ruhend und zeitweise nicht wirkend vorzustellen.

Die (W168) rabbinische Tradition <452> dagegen argumentiert nach den bereits erwähnten Regeln über die Einhaltung des Sabbat, indem etwa „einem Häretiker“, der Gott selbst den Verstoß gegen sein eigenes Sabbatgebot vorwirft, entgegnet wird:

„,Du größter Frevler in der Welt! Ist es einem Menschen nicht erlaubt, in seinem Hof am Sabbat hin- und herzutragen?‘ Er sagte ihnen: ‚Ja.‘ Sie sagten ihm: ,Der obere und untere Bereich sind der Hof des Heiligen, gesegnet er. Denn es ist gesagt (Jes 6,3): Voll ist die ganze Erde seiner Herrlichkeit. Und selbst wenn ein Mensch eine Übertretung begeht – darf er nicht hin- und hertragen, soweit seine Körpergröße reicht?‘ Er sagte ihnen: ‚Ja.‘ Sie sagten ihm: ,Es steht geschrieben (Jer 23,24): Erfülle ich nicht den Himmel und die Erde?‘“

Da Gott „einzig ist und die ganze Welt als seinen Bereich hat“, hat er es „nicht nötig“ (W163), „am Sabbat einen ‚Eruv‘ zu bilden, der sonst unterschiedliche Bereiche zu einem dann einheitlichen zusammenschließt“. Den Rabbinen zufolge (W168) steht Gott „nicht über dem Sabbatgebot, das er doch selbst gegeben hat. Es wird nicht nach einem Wesen Gottes hinter den Worten gesucht, sondern Gott, der im Wort ist, wird beim Wort genommen.“

Ohne dass er es ausdrücklich sagt, scheint Wengst anzunehmen, dass Jesus in dieser Hinsicht mit dem rabbinischen Judentum übereinstimmt:

Diejenigen, die Gott als Schöpfer und Erhalter bekennen, können nicht übersehen, dass er als solcher auch am Sabbat wirkt. Das spricht Jesus zunächst als Voraussetzung aus.

Auch die Art und Weise, in der Jesus seine eigene Person in die Nähe Gottes, seines Vaters, rückt, steht nach Wengst immer noch im Einklang mit jüdischem Denken:

Dass er dabei Gott seinen Vater nennt, wäre in jüdischem Kontext nicht weiter auffällig. Aber im Folgenden wird deutlich werden, dass hier eine besondere Vater-Sohn-Beziehung gemeint ist. Das zeigt sich bereits an dieser Stelle, wenn Jesus fortfährt: „Und ich wirke auch.“ Nach dem Folgenden ist deutlich, dass Jesus nicht als so etwas wie ein zweiter Gott gilt. Daher besteht die Argumentation nicht darin, dass er auch Gott und also sein Wirken am Sabbat ebenfalls erlaubt sei. Vielmehr ist mit dieser Aussage beansprucht, dass der ständig wirkende Gott im Wirken Jesu präsent ist, dass Gott sein Handeln im Handeln Jesu vollzieht. So wenig wie Gottes Handeln willkürlich ist, so wenig ist es das Handeln Jesu.

Hartwig Thyen (T307) betont zunächst, dass das „heōs arti der Antwort Jesu“ nicht wörtlich mit „bis jetzt“ übersetzt werden darf,

als wolle Jesus das göttliche Wirken durch dieses arti {jetzt} terminieren, sondern wie 1Joh 2,9; 1Kor 4,13; 8,7; 15,6; Mt 11,12 u. ö. betont es die verläßliche Dauer im Sinne von „immer noch“, „unaufhörlich“, „auch am Sabbat“.

Und „mit dem gedrängten kagō ergazomai {und ich wirke auch}“ nimmt Jesus

dieses so verstandene heōs arti ausdrücklich auch für sein eigenes Wirken in Anspruch und rechtfertigt damit seinen vermeintlichen Sabbatbruch. … Barth <453> paraphrasiert Jesu kagō ergazomai treffend so: „Ich tue …, was ich als Sohn meines Vaters tun muß und darf, ohne Rücksicht auf das den Menschen gegebene und für die Menschen gültige Gesetz, nach Sohnespflicht und Heilandsrecht, nach dem Recht, das das Mosegesetz nicht bricht, nicht aufhebt, das aber als ius divinum wie seinen Ursprung, so auch seine Grenze bildet“.

Im Gegensatz zu Wengst erwähnt Thyen „Rabbinisches“ nur ganz am Rande, ohne inhaltlich darauf einzugehen; stattdessen zitiert er „die jüdische Diskussion um die Gen 2,3 genannte Sabbatruhe Gottes“ gemäß dem auf die Versöhnung jüdischen Denkens mit der griechischen Philosophie bedachten Aristobul, <454> der erklärt:

„Wenn aber im Gesetz klar ausgesprochen wird, daß Gott am (siebenten Tage) geruht habe, dann bedeutet das nicht, wie einige annehmen, daß Gott (seither) nichts mehr tue … Denn nachdem er (ein- für allemal alles) geordnet hat, erhält er es und läßt es … seine Wandlungen durchlaufen. Er hat uns aber den (siebenten Tag) klar als gesetzlich geboten(nen Ruhetag) bezeichnet …“.

Das heißt: Während Wengst die Aussage Jesu im Einklang mit jüdisch-rabbinischem Denken zu interpretieren versucht, betrachtet Thyen sie vor hellenistisch-jüdischem Hintergrund und geht davon aus, dass Jesus zu Recht beansprucht, wie Gott selbst nicht an das Sabbatgebot gebunden zu sein.

Was Thyen hier nicht für seine Auslegung fruchtbar macht, nämlich das Spiel des Johannes mit den Sabbatkonflikt-Erzählungen der synoptischen Evangelien, das legt Ton Veerkamp <455> seiner Argumentation zugrunde:

Hier antwortet Jeschua mit einer prinzipiellen Feststellung: „Mein VATER wirkt bis jetzt, so wirke auch ich.“ Was Johannes in einem spröden Satz sagt, sagt Markus in 2,23-28 in einer kleinen Erzählung, die auf den Satz hinausläuft, der Mensch sei Herr auch über den Schabbat. Markus lässt Jeschua im Disput mit den Peruschim fragen: „Ist es erlaubt, am Schabbat das Gute zu machen oder das Böse zu machen, Seelen zu befreien oder zu töten?“ Schöpfung ist das Werk Gottes, wovon es heißt: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Schöpfung ist „das Gute machen“, Genesis 1,31-2,4a:

Und Gott sah, dass alles, was er gemacht hat, gut war, sehr!
Es wurde Abend, es wurde Morgen, der sechste Tag.
Und vollendet wurden der Himmel und die Erde und ihre ganze Ordnung.
Und Gott vollendete am siebten Tag seine Werke (erga), die er gemacht hat,
er ruhte feierlich am siebten Tag von allen seinen Werken (erga),
die er gemacht hat.
Und Gott segnete den siebten Tag, er heiligte ihn,
denn an ihm ruhte er feierlich von allen seinen Werken (erga),
die Gott schuf, indem er sie machte.

Von der so verstandenen Schöpfung her interpretiert Veerkamp die Aussage des johanneischen Jesus zwar durchaus im Einklang mit jüdischem Denken, aber dennoch im Widerspruch zur Haltung sowohl des hellenistisch geprägten als auch des rabbinischen Judentums, dass es im andauernden Wirken Gottes um die Erhaltung einer vollendeten Schöpfung geht:

„Mein VATER wirkt bis jetzt“ kann in diesem Zusammenhang nur heißen, dass die Schöpfung nicht vollendet ist. Johannes kann den ersten Satz der Schrift nur präsentisch lesen: „Am Anfang (prinzipiell!) schafft Gott den Himmel und die Erde, und die Erde ist Tohuwabohu …“ Deswegen „ruht“ Gott noch nicht, und erst recht nicht „feierlich“; es gibt noch keinen Grund, Schabbat zu feiern, es gilt vielmehr, „Werke zu tun“ (erga-zesthai). Das Thema wird in der Einleitung zur Brotrede (6,27) aufgegriffen. Auch in der Erzählung über den Blindgeborenen taucht das Thema auf (9,4). Schabbat ist erst, wenn alle Werke getan sind, wenn alle Menschen heil sind und sie endlich das sind, was sie sind: Ebenbild Gottes. Bis jetzt sind die Menschen alles andere als Ebenbild Gottes, sie sind nicht, was sie sind – Ebenbild Gottes –, und sie sind, was sie nicht sind: verstümmelte, kaputte Menschen; es gibt nichts zu feiern. Das jedenfalls meinen diese Messianisten.

Johannes 5,18: „Die Juden“ werfen Jesus vor, sich selber Gott gleich zu machen

5,18 Darum trachteten die Juden noch mehr danach, ihn zu töten,
weil er nicht allein den Sabbat brach,
sondern auch sagte, Gott sei sein Vater,
und machte sich selbst Gott gleich.

[13. Juni 2022] Zu Johannes 5,18 fasst sich Ton Veerkamp <456> außerordentlich kurz:

Den Gedanken an eine unvollendete Schöpfung greifen Jeschuas Gegner nicht auf. Ihr Vorwurf ist, Jeschua löse nicht nur den Schabbat auf, sondern er rede Gott an, als wäre dieser sein eigener Vater und mache sich so gottgleich.

Klaus Wengst holt in seiner Auslegung sehr viel weiter aus und merkt zunächst an (W167), dass hier noch einmal

– wiederum nicht in direkter Rede – von einer Reaktion ‚der Juden‘ berichtet [wird]. Danach spricht in einer einzigen langen Rede nur noch Jesus. Diese extrem ungleiche Verteilung der Anteile, die die Gegenseite nicht wirklich zu Wort kommen lässt und ihre mögliche Argumentation völlig verdeckt, wirft ein Schlaglicht auf Situation und Intention des Johannes. Er muss sich verteidigen und will die eigene Position bei der Leser- und Hörerschaft des Evangeliums stabilisieren. Sie ist der eigentliche Adressat der Rede Jesu, der gegenüber dem vorgestellten Adressaten immunisiert werden soll.

Die Schärfe der Aussagen über „die Juden“ (W168f.), insbesondere ihren „Willen zur Tötung“ Jesu, „der jetzt verstärkt wurde“,

lässt sich nur aus der Zeit des Evangelisten heraus verstehen, in der es theologisch bedingte Feindschaft zwischen der auf Jesus bezogenen jüdischen Minderheit und der sie umgebenden jüdischen Mehrheit gab. Fragt man im Blick auf die dargestellte Zeit unter dem Gesichtspunkt historischer Wahrscheinlichkeit, was führende jüdische Kreise veranlasst haben könnte, Jesus den Römern zur Hinrichtung in die Hände zu spielen, so ist das nur mit dem Hinweis auf politisches Kalkül zu beantworten: Das Wirken Jesu könnte messianische Unruhen verursachen, die die labile politische Situation gefährden würden. Ein solches Kalkül lässt gerade das Johannesevangelium mit besonderer Deutlichkeit erkennen (11,47-50.).

Jesu Gegner geben „zwei theologische Gründe für die Tötungsabsicht“ an, die Wengst zufolge (W169) „offenbar in den Auseinandersetzungen zur Zeit der Abfassung des Evangeliums eine Rolle“ spielten. Erstens werfen sie ihm vor:

„Er hat den Sabbat aufgehoben.“ Das jedoch hat Jesus weder nach der Erzählung getan noch nach seiner gerade gemachten Aussage. Er tut es auch nicht nach späteren Stellen des Evangeliums. Danach hat er sich – dem eigenen Verständnis nach – nicht einmal einer Sabbatverletzung schuldig gemacht. Von Aufhebung des Sabbats kann keine Rede sein. Wenn das aber dennoch als Vorwurf von außen erscheint, kann das darin Grund haben, dass sich die Sabbatpraxis der johanneischen Gruppe von der ihrer Umgebung unterschied, was diese konsequenzmacherisch zum Vorwurf der Aufhebung des Sabbats pauschalisierte.

Der zweite Vorwurf, „dass nämlich Jesus ‚Gott zu seinem besonderen Vater erklärt habe, womit er sich Gott gleich mache‘“, bringt nach Wengst „auf den Punkt“, was

in der Tat in dem für Jesus erhobenen Anspruch besteht. Hier spiegelt sich schon früh die jüdische Sorge gegenüber dem bekennenden Reden von Jesus, dass es die Einheit und Einzigkeit Gottes beeinträchtige und aus Jesus einen zweiten Gott mache.

Indem er auf rabbinische Stellen eingeht, die sich unter anderem auf 2. Mose 7,1 beziehen, betont Wengst allerdings:

Wenn Gott den Mose sich gleich macht, damit dieser für Pharao Gott sei, ist völlig klar, dass es hier nicht um die Vergottung eines Menschen geht, sondern um Stellvertretung und Beauftragung: In und durch Mose tritt Gott selbst dem Pharao gegenüber. Genau in dieser Weise lässt sich die Relation von Gott und Jesus im Johannesevangelium verstehen.

Das heißt: Wengst zufolge beruht der Vorwurf „der Juden“ lediglich auf ihrer

Außenwahrnehmung, für die diese Stellvertretung und Beauftragung nicht ausgewiesen, sondern Anmaßung ist: Er macht sich selbst Gott gleich. Er macht ihn – so könnte man die Wendung im ersten Teil des Vorwurfs auch übersetzen – zu seinem „Privatvater“.

Die Gleichsetzung Jesu mit Gott entspricht nach Wengst jedoch nicht der Auffassung des Evangelisten (Anm. 249), denn dieser „lässt Jesus sie – anders als gegenüber der Aussage der Samariterin in 4,26 – nicht einfach bejahen, sondern sein Verhältnis zu Gott im Sinn einer Beauftragung erklären.“

Hartwig Thyen zufolge (T307) werfen Jesu Ankläger ihm vor, dass er das „einzig Gott zustehende Privileg“, auch am Sabbat zu wirken, „für sich selbst in Anspruch nimmt“. Sie nehmen auch wahr, dass „er von Gott nicht als von ‚unserem Vater‘, sondern höchst pointiert als von seinem Vater (ho patēr mou) spricht“, wodurch er sich selbst Gott gleich macht:

Mochte seine Sabbat-Verletzung vielleicht noch durch ein rituelles Opfer zu sühnen sein, so erfüllt dieser hybride Anspruch auf jeden Fall den unsühnbaren Tatbestand der Gotteslästerung (blasphēmia), die nach Lev 24,10ff und Num 15,30f den Tod des Frevlers durch seine Steinigung fordert. Nach Dtn 21,22f soll darüberhinaus sein Leichnam noch bis zum Anbruch der Nacht an einem Baum aufgehängt werden.

In diesem Zusammenhang weist Thyen auf die Tendenz der „rabbinischen Zeugnis­se“ hin, gegenüber einer Tora-Stelle wie 4. Mose 15,30f. (T307f.)

die Zahl der Delikte, die nur durch den Tod des Delinquenten geahndet werden können, deutlich zu reduzieren. In diesem Sinne definiert der Mischna-Traktat Sanhedrin {7,4} unter Berufung auf Lev 24,15f als einzig todeswürdige Blasphemie, das unziemliche Aussprechen des Namens Gottes.

Eine (T308) solch „enge Auslegung von Lev 24,15f“ kann allerdings nach Thyen „im ersten Jahrhundert noch nicht verbreitet gewesen sein“.

In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die anstößige Problematik, dass in 3. Mose 24,15-16 „anscheinend zwischen der Verfluchung Gottes als einer geringeren Sünde und der bloßen Nennung seines Namens als todeswürdigem Frevel unterschieden wird“, ohne allerdings dazu etwas wirklich Klärendes beizutragen. Wenn man bedenkt, dass die griechischen Worte der Septuaginta onomazōn de to onoma kyriou, „der den Namen des Herrn Nennende“, auf das hebräische wɘnoqeb schem-jhwh zurückgeht, das von Martin Buber <457> mit „Wer aber den NAMEN antastet“ übersetzt wird, liegt die Erklärung auf der Hand: Die Verfluchung Gottes allgemein, selbst wenn es sich nicht um einen fremden Gott handelt, ist nicht so schwerwiegend wie das „Antasten des NAMENS“, indem nämlich die befreiende und Recht schaffende Macht des Gottes Israels geleugnet und in den Dreck gezogen wird. Ich sehe hier durchaus eine Parallele zur Lästerung des Heiligen Geistes (Markus 3,28-29), die Jesus gegenüber anderen Blasphemien als unvergebbar bezeichnet und bei der es entsprechend um die Leugnung bzw. Dämonisierung der befreienden Macht Jesu geht.

Während (T308) nach den synoptischen Evangelien Jesus erst in der Passionserzählung der Gotteslästerung angeklagt wird, lässt Johannes

seine Geschichte von „Jesus on Trial“ (Harvey) schon mit unserem fünften Kapitel anheben. Das hat K. Barth <458> schon sehr früh als intertextuelles Spiel unseres Evangelisten mit seinen synoptischen Prätexten wahrgenommen und dazu erklärt: „Man ist versucht, es einfach genial zu nennen, wie Johannes das, was nach Mt 26,63ff der Abschluß der Auseinandersetzung mit der Judenschaft ist: seine durch den Hohepriester herausgeforderte Selbstoffenbarung als Gottes- und Menschensohn und das die Selbstoffenbarung so hell, wie es Menschen nur möglich sein kann, reflektierende Urteil: Er soll des Todes sterben! – wie Johannes diesen historischen Abschluß hier mit wenigen, aller Motivierungskunst spottenden Zügen als den selbstverständlichen Ausgang und Anfang, als die sozusagen metaphysisch notwendige Voraussetzung dieser Auseinandersetzung einführt“.

Deutlich wird hier, wie stark sich Hartwig Thyen an Karl Barth anlehnt, insofern dem Vorwurf der jüdischen Gegner Jesu nur entgegengehalten werden kann, dass Jesus sich nicht etwa Gott gleich macht, sondern tatsächlich Gott gleich ist. Und indem nach Thyen (T309) „der um ihre geheimsten Gedanken wissende Jesus die Initiative“ ergreift „und sie wegen ihrer Verfolgungs- und Mordpläne zur Rede“ stellt, entspricht „[s]einem göttlichen Wissen … seine unvermittelte Präsenz in ihrer Mitte. Hier tritt der Angeklagte als Richter vor seine Ankläger.“

Gegenüber Thyen ist immer wieder zu fragen, ob nicht seine Gleichsetzung Jesu mit Gott einen entscheidenden Schritt zu weit geht, zumal er doch eigentlich weiß, dass Jesus zwar voll und ganz den Willen und das Wirken Gottes verkörpert, aber dabei doch nicht zu einem über die Erde wandelnden Gottmenschen mutiert, sondern voll und ganz das Fleisch, die Biographie, sarx, des Sohnes Josefs aus Nazareth angenommen hat.

Johannes 5,19-20a: Jesus erzählt das Gleichnis von Vater und Sohn

5,19 Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Der Sohn kann nichts von sich aus tun,
sondern nur, was er den Vater tun sieht;
denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn.
5,20a Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut…

[14. Juni 2022] Indem Jesus beginnt, in der dritten Person von sich als dem Sohn des Vaters zu sprechen, tritt er Klaus Wengst zufolge (W170) dem „Vorwurf der selbstmächtigen Anmaßung“, sich Gott gleich zu machen, entgegen, indem er ihn grundsätzlich verneint:

Jesus stellt sich nicht anmaßend in eigener Souveränität neben Gott oder gar gegen ihn. Er repräsentiert ihn vielmehr als sein Beauftragter. Das wird in der Vater-Sohn-Relation ausgedrückt. Als Sohn kann dieser „nichts von sich aus tun“. … Der Sohn tut nur, „was er den Vater tun sieht“. Daher kommt dessen Tun in seinem Tun zum Zuge. Der Sohn tut nichts anderes, nichts Eigenes, sondern eben das, „was jener tut“.

In diesem Zusammenhang geht Wengst (Anm. 252) auf die Kritik von Jörg Frey <459> an seinem Johanneskommentar ein, dem dieser „pauschal ‚eine deutliche Unterbewertung der johanneischen Christologie‘“ vorwirft:

Als angemessen „hoch“ bewertet gilt diese Christologie offenbar nur dann, wenn man sie – mehr oder weniger bewusst – von der altkirchlichen Dogmatik her interpretiert. Ein deutliches Anzeichen dafür ist der sich immer wieder findende Begriff „Wesen“, der völlig unbiblisch ist. Selbstverständlich haben die Kirchenväter Großartiges geleistet und es lohnt sich, dem nachzudenken, wie sie das neutestamentliche Zeugnis in ihrem von platonischer Ontologie und griechischer Metaphysik geprägten geistigen Kontext zum Zuge zu bringen versuchten. Aber dieser Kontext ist ein völlig anderer als derjenige der biblischen Schriften – und er ist auch schon lange nicht mehr der unsrige. Käme es nicht vielmehr darauf an, anstatt die biblischen Aussagen im Gefälle der kirchlichen Dogmatik zu interpretieren, umgekehrt die geronnenen Sätze der dogmatischen Überlieferung vom biblischen Zeugnis her zu verflüssigen? Und was ist daran unterbewertet, wenn ich das Johannesevangelium im jüdischen Kontext auslege und dabei immer wieder betone, dass ihm Jesus als Ort der Präsenz Gottes gilt und in dessen Reden, Handeln und Erleiden kein Geringerer als Gott selbst wirkt?

In dieser Hinsicht ist Wengst voll und ganz zuzustimmen. Meine Frage an ihn kann nur immer wieder sein, ob er in der Interpretation der johanneischen Christologie von den jüdischen Schriften her weit genug geht – ob er also ernst genug nimmt, in welcher Weise der johanneische Jesus den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert und sein befreiendes Wirken auf Israel konzentriert.

Die Aussage von Vers 20a (W171), dass der Vater dem Sohn „alles zeigt, was er tut“, deutet Wengst als

sozusagen ein himmlisches Modell, an dem sich das Wirken Jesu ausrichtet – so wie Gott dem Mose ein Modell des Heiligtums mit allen Geräten zeigte, demgemäß er es machen sollte (Ex 25,9; 27,8; Num 8,4). Dabei handelt es sich nicht um etwas Beiläufiges, sondern um den Ort der besonderen Gegenwart Gottes inmitten seines Volkes. So wie Johannes diese Rede Jesu in diesem Zusammenhang formuliert, lässt er eine klare Intention erkennen: Er sucht nach Vorstellungsmögiichkeiten, die einerseits den Eindruck abwehren sollen, als stünde Jesus neben Gott und beeinträchtige seine Einheit und Einzigkeit, die aber andererseits zugleich die Präsenz des einen Gottes im Wirken dieses Menschen Jesus zum Ausdruck zu bringen vermögen.

Nach Hartwig Thyen (T309) hatten Jesu „Ankläger durchaus richtig wahrgenommen“, dass „Jesus für sein Tun auch am Sabbat göttliche Privilegien in Anspruch nimmt und Gott in einem ganz spezifischen Sinne seinen ‚eigenen Vater‘ nennt“. Aber sie missverstehen ihn dennoch, da er als „der, der en archē pros ton theon {im Anfang bei Gott} war, ja, von dem gilt: kai theos ēn ho logos {und Gott war das Wort} (1,1; vgl. 20,28)“, sich nicht „erst selbst zu etwas machen müßte oder auch nur könnte, was schon von Ewigkeit her die Bestimmung seiner Sendung ist“:

Das wird seine nun einsetzende Offenbarungsrede, die seinen Anklägern die Sprache verschlägt, sie zu stummen Zuhörern und am Ende selbst zu den Angeklagten macht, eingehend begründen. Wir folgen in der Gliederung dieser Rede L. Schenke, <460> der darin die folgenden drei deutlich voneinander abgehobenen Teile unterscheidet, nämlich (1) 5,19-30 als Jesu „Apologie“ (2) 5,31-40 als seine „Legitimation“ und endlich (3) 5,41-47 als seine „Anklage“ seiner Ankläger [101ff.].

Im ersten „dieser Redeteile, Jesu Apologie“, also seiner Verteidungsrede

verfolgt Jesus eine Doppelstrategie: Zum einen muß er nämlich seine ,Gottgleichheit‘, die in seinen Worten ja tatsächlich impliziert war, verteidigen; und zum anderen muß er sich zugleich ebenso entschlossen gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, daß er als ein sterblicher Mensch sich selbst ,gottgleich‘ mache.

In diesem Zusammenhang schließt Thyen aus „der Parallelität“ der drei Sätze „er macht sich selbst Gott gleich (ison theō: 5,18), er macht sich selbst zu Gott (poieis seauton theon: 10,33) und er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht (hyion theou heauton epeiēsen: 19,7)“, dass (T310) dass die drei „Prädikationen isos theō, theos und ho hyios tou theou {gottgleich, Gott und Gottes Sohn} sowohl für die Leser des Evangeliums als auch für Jesu Opponenten nahezu synonym sein müssen“. Nur von „diesem spezifischen Sinn der Gottessohnschaft Jesu“ her ist Thyen zufolge „die Bedrohung derer, die sich zu Jesus als dem Christus bekennen, mit dem Ausschluß aus der Synagoge verständlich“, womit er sich auf Kikuo Matsunaga <461> stützt, der „dieses spezifische Messiasverständnis“ als „die ‚ultimate confession‘ {letztgültiges Bekenntnis} unseres Evangeliums“ betrachtet und „pointiert seine ‚Theos-Christologie‘ nennt“.

Wenn das aber so ist, „dann kann dieses Bekenntnis nicht in irgendeinem paganen Synkretismus wurzeln“, also nicht auf eine Vermischung mit heidnischen religiösen Vorstellungen zurückgehen:

Vielmehr müssen dann – wie auch die durchgehende Auseinandersetzung mit den hoi Ioudaioi Genannten, die zunehmende Schärfe dieses Konfliktes und die vielfältige Berufung auf Mose und die Schriften zeigt – die in dieser Synagoge selbst lebendigen Überlieferungen Israels der Mutterboden dieses Credo sein…

Das heißt: Auch Thyen will die johanneischen Aussagen über Jesus ganz von ihren jüdischen Wurzeln her begreifen, geht dabei aber doch ganz andere Wege als Wengst.

Nicht ganz einfach nachvollziehbar ist dabei für mich folgende Argumentation:

Wenn in dem Satz: theon oudeis heōraken pōpote: monogenēs theos ho ōn eis ton kolpon tou patros ekeinos exēgēsato {Niemand hat Gott je gesehen: Der einziggeborene Gott, der im Schoß des Vaters ist, der hat Kunde gebracht.} (1,18), zwischen Gott, dem Vater, und seinem Sohn als dem monogenēs theos {einziggeborenen Gott} unterschieden und im Einklang mit Ex 33,20 zugleich behauptet wird, daß ,Gott‘, nämlich eben diesen Vater-Gott, niemand jemals gesehen habe, so folgt daraus, daß Johannes die entsprechenden Theophanien {Selbstoffenbarungen Gottes} des Alten Testaments nicht etwa bestreitet – gilt doch: kai ou dynatai lythēnai hē graphē {und die Schrift kann nicht außer Kraft gesetzt werden} (10,35) -, sondern, daß er sie als Christophanien {Selbstoffenbarungen des Christus} begriffen sehen will.

Insofern das, was Thyen hier „Christophanie“ nennt, tatsächlich darauf hinausläuft, dass sich im Willen und Wirken Jesu all das offenbart und verkörpert, was dem befreienden und Recht schaffenden NAMEN des Gottes Israels entspricht, kann ich darin sogar mit ihm mitgehen. Dann würde Johannes Thyen zufolge davon ausgehen, dass in Gestalt des Wortes Gottes, das in dem Menschen Jesus Fleisch und Blut annahm, genau das, was dieser Messias und Gottessohn Jesus jetzt verkörpert, damals bereits in allen Gottesoffenbarungen der jüdischen Schriften erfahrbar gewesen ist:

In diesem Sinne hat bereits Abraham ,den Tag‘ Jesu gesehen und darüber gejubelt (8,56) und so sah Jesaja Jesu doxa {Herrlichkeit} und redet über ihn (12,41). Und wenn Jesus in unserem Kapitel von Mose sagt: peri gar emou ekeinos egrapsen {über mich hat jener geschrieben} (5,46), so dürfte das die Schilderungen von dessen Theophanien am brennenden Dornbusch ebenso wie auf dem Sinai einschließen… Das wird die Auslegung der absoluten egō eimi-{ICH BIN-}Worte unseres Evangeliums als Spiel mit Ex 3,14 ebenso bestätigen, wie Jesu Bitte für die Seinen in seinem ,Gebet an den Vater‘: pater hagie, tērēson autous en tō onomati sou hō dedōkas moi, hina ōsein hen kathōs hēmeis {Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins seien wie wir} (17,11), zeigen wird, daß egō eimi der ,Name‘ ist, den der Vater ihm gegeben und den er seinen Jüngern offenbart hat.

Ich bin mir allerdings bei Thyen nie so ganz sicher, ob nicht letzten Endes seine Aussagen über Jesu Gottgleichheit doch den Wesensaussagen der späteren Christologie entsprechen, ob er nicht doch irgendwie die Anwesenheit des Menschen Jesus oder eines mit ihm identischen personifizierten Logos in der Vorzeit Gottes oder Israels voraussetzt und vor allem, ob er nicht doch den Gott Israels mehr von Jesus her interpretiert, als umgekehrt den Messias Jesus ganz vom NAMEN her zu begreifen.

Indem Jesus „jetzt vorwiegend in dritter Person von ‚dem Sohn‘ und ‚dem Vater‘ spricht“, macht er Thyen zufolge „sein konkretes und einmaliges Tun am Teich Bethesda zugleich zum generellen ,Zeichen‘ dessen, wozu er bestimmt und welcher Art das ,Werk‘ ist, zu dessen ,Vollendung‘ der Vater ihn gesandt hat.“ Ob Thyen allerdings (T311) diese gleichnishafte Rede zu Recht so begreift, dass Jesus als „dieser erwachsene Sohn“ so handelt wie „ein kleines Kind, das noch nichts aus eigener Initiative vollbringen kann, sondern immer nur imitiert, was es seinen Vater tun sieht“, lasse ich offen, bis wir zur entsprechenden Auslegung Veerkamps kommen werden.

Schon im nächsten Satz scheint Thyen wiederum Teile meines im vorvorigen Absatz gehegten Unbehagens gegenüber seiner Einschätzung einer Existenz Jesu vor seiner Geburt zu bestätigen. Indem „diesem Sohn der Vater und sein Tun ständig vor Augen stehen“, was die Gegenwartsformen „der Verben dynasthai, poiein und blepein {können, tun und sehen}“ belegen, geht es hier zwar nicht um die „Erinnerung an das Tun eines göttlichen Vaters in der Zeit der mythischen Präexistenz seines himmlischen Sohnes“, aber auf Grund der Tatsache, dass „vom gegenwärtigen Sehen, Tun und Reden dessen, der hier spricht“, die Rede ist, betont Thyen nachdrücklich, dass dieser Jesus derjenige ist,

von dem seit seiner göttlichen archē {Anfang} gilt: panta di autou egeneto, kai chōris autou egeneto oude hen ho gegonen {Alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn wurde auch nicht ein einziges der Dinge, die geworden sind} (1,3). Bloßer Zuschauer und danach Imitator der Werke seines ,Vaters‘ ist er nie gewesen. Sein Vater hat vielmehr von Anfang an alle seine Werke durch ihn getan.

Wieder einmal lässt Thyen in der Schwebe, wie er das meint. War der Mensch Jesus auf geheimnisvolle Weise schon bei der Schöpfung dabei, begleitete er Gott in allen seinen in den Schriften bezeugten Taten? Oder meint Thyen, ähnlich wie Wengst und auch Veerkamp, dass Jesus eben das Wort des Vaters verkörpert, das schon die Schöpfung und jede befreiende oder richtende Tat Gottes bewirkt hatte?

Die folgenden Sätze machen immerhin teilweise deutlich, worauf Thyen hinaus will, nämlich zunächst einmal, dass Jesus in seinem Willen und Wirken vollkommen mit dem Gott Israels übereinstimmt:

Darum kann der folgende Satz: ha gar an ekeinos poiē, tauta kai ho hyios homoiōs poiei {Denn eben das, was jener tut, das wirkt in gleicher Weise auch der Sohn}, auch nicht so verstanden werden, als sollte hier das Tun des Vaters von dem des Sohnes unterschieden werden. Er besagt vielmehr, „daß beider Wirken völlig deckungsgleich, geradezu ,synchron‘ ist“ [Schenke 105].

Ich frage mich, ob Thyen auch genau das meint, nämlich die Auslegung des Willens und Wirkens Jesu vom befreienden NAMEN des Gottes Israels her, wenn er schreibt:

Wie wir bei der Auslegung des Prologs das Lexem logos als Prädikat des jüdischen Mannes Jesus begriffen haben, so wird man auch die Rede vom „vorzeitigem Sein des Sohnes beim Vater“ als Prädikation dieses Menschen verstehen müssen.

Bereits in der Auslegung von Johannes 1,1a war ich im Zweifel, ob Thyen wirklich bereit ist, dem jüdischen Mann Jesus insofern alle Prädikate des Gottes Israels beizulegen, als Jesus genau seinen befreienden und Recht schaffenden NAMEN verkörpert. Wenn er mit dem „Sein des Sohnes beim Vater“ die vollständige Übereinstimmung mit dessen Willen und Wirken meint, dann mag man allerdings in allem, was der VATER vor Zeiten getan hat, mit gutem Recht genau dieselbe Zielrichtung erkennen, die auch Jesus als der Sohn dieses VATERS verfolgt.

Worin genau besteht nach Thyen aber diese Zielrichtung? Er weist darauf hin, dass Vers 20a an Johannes 3,35 erinnert:

Schon 3,35 wurde Jesu Vollmacht mit dem Argument verteidigt, daß der Vater den Sohn liebe und alles in seine Hände gelegt habe. Und ebenso heißt es unserem neuen Kontext gemäß jetzt; ho gar patēr philei ton hyion kai panta deiknysin autō ha autos poiei {Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er selbst tut}. Diesem „Zeigen“ des Vaters, das seinen Grund in dessen Liebe hat, entspricht synchron und spiegelbildlich das zuvor genannte „Sehen“ und „Tun“ des Sohnes. Kommt darin aber die Einheit des Wirkens von Vater und Sohn zur Sprache, so ist damit auch die vorausgegangene Heilung des Lahmen als in der Liebe des Vaters gründendes göttliches Wirken gedeutet…

Indem Thyen jedoch die Heilung dieses Mannes unter Bezug auf seine 38 Jahre andauernde Lähmung nur sehr vage in eine Beziehung zur Sünde Israels gesetzt hat, verzichtet er darauf, das Ziel des Wirkens Jesu ganz klar mit dem auf Israel gerichteten Befreiungswirken des NAMENS in Verbindung zu bringen.

Von Ton Veerkamp <462> können wir lernen, was es heißt, das Wirken Jesu tatsächlich ganz und gar vom Wirken des Gottes Israels her zu begreifen:

Eine Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums ist die Bezeichnung des Gottesnamens JHWH mit der Vokabel VATER. Hier verrät uns Johannes, wie er auf diese Titulatur gekommen ist. Er geht von jener gesellschaftlichen Sozialstruktur aus, in der die Kette Väter-Söhne das tragende Gerüst bildet. Wir haben es mit einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft zu tun. Der Sohn setzt die Lebensgeschichte – die Schrift sagt: den NAMEN – des VATERS fort. Er tut nur das, was er den VATER tun sieht, heißt es bei Johannes.

Damit macht Veerkamp zunächst deutlich, dass Jesu Gleichnis nicht, wie Thyen es formuliert hatte, an das Bild der kleinkindlichen Nachahmung des Vaters anknüpft, sondern an gesellschaftliche Zusammenhänge zwischen Vätern und Söhnen:

Der Satz: „Mein VATER wirkt bis heute, auch ich wirke“ wird nun mit einem Gleichnis weitergeführt. Der Vater macht, der Sohn macht auch, aber immer nur das, was er den Vater machen sieht. In patriarchalisch strukturierten Gesellschaften, in denen nicht die Innovation, sondern die Tradition Bedingung des Fortschritts ist, ist das ein allgemeingültiger Satz; in der Werkstatt des Vaters lernt der Sohn durch Imitation: „Was der Vater macht, das macht gleichfalls der Sohn.“ Nur so ehrt er den Vater. Weil der Vater mit seinem Sohn verbunden ist als mit dem, der seine Geschichte bzw. seinen Namen fortsetzen wird, zeigt er ihm, was er tut: „Denn der Vater liebt wie ein Freund (philei) den Sohn“ – das gilt allgemein – und der Vater „zeigt ihm alles, was er macht“ – das gilt ebenfalls allgemein. Auch in patriarchalisch strukturierten Gesellschaften gibt es intakte soziale Strukturen. Der Vater ist dem Sohn zugetan wie einem Freund, nicht wie einem Untertan, er zeigt ihm das, was er selber tut (seine Werke), damit der Sohn solche Werke tun kann, ja auch größere Werke (Fortschritt durch Imitation).

Indem diese größeren Werke angesprochen werden, nimmt Veerkamp bereits auf die zweite Hälfte von Vers 20 Bezug, um die es im nächsten Abschnitt gehen soll.

Johannes 5,20b-23: Die größeren Werke des vom VATER gesandten Sohnes

5,20b … und wird ihm noch größere Werke zeigen,
sodass ihr euch verwundern werdet.
5,21 Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig,
so macht auch der Sohn lebendig, welche er will.
5,22 Denn der Vater richtet niemand,
sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben,
5,23 damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren.
Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat.

[15. Juni 2022] Beginnen wir dieses Mal mit Ton Veerkamp, <463> um an seine Auslegung des Gleichnisses von Vater und Sohn anzuknüpfen. Hatte Johannes im Gleichnis selbst das Verhältnis von Vater und Sohn gemäß der patriarchal geprägten Gesellschaftsordnung der Antike beschrieben, so identifiziert er in der Ausdeutung des Gleichnisses den Vater mit dem Gott Israels, und zwar genau gesagt mit dessen unverfügbaren befreienden und Recht schaffenden NAMEN. Diese Gleichsetzung deute ich an, indem ich auch das Wort VATER in dieser Bedeutung in Großbuchstaben schreibe. Und der Sohn ist in seinen Augen identisch mit dem Menschensohn, aramäisch bar enosch, dem der VATER gemäß Daniel 7 das Gericht und alle Macht und Ehre über die Völker der Erde überträgt:

Dann löst Johannes das Gleichnis auf. „Zu eurer Erstaunung“ geht es jetzt nicht mehr um irgendeinen Vater und irgendeinen Sohn, sondern um den, den Johannes VATER nennt, und um den, den Johannes Sohn des Menschen, bar enosch, nennt. Der Gott Israels zeigt dem, den er sendet (Sohn), seine Werke der Schöpfung, und sogar größere Werke: die Aufrichtung der Toten (Ezechiel 37!), die Wiederherstellung der Schöpfung. Der Übergang vom Gleichnis zur theologisch-politisch erfassten Realität zeigt sich im Übergang von Präsens (deiknysin {zeigt}) zum Futur (deixei {wird zeigen}). Der Vater „wird ihm größere Werke zeigen, damit ihr [die judäischen Gegner] staunt“.

Hier ist wieder an das Größere zu denken, das Jesus dem Nathanael ankündigt, als er ihn unter dem Feigenbaum gesehen hatte (vgl. Johannes 1,50-51). Damit werden nicht etwa die Werke des VATERS grundlegend in der Weise verändert, dass es nun nicht mehr um die politische Befreiung Israels ginge, sondern um eine religiöse Erlösungsbotschaft für die gesamte Menschheit; vielmehr muss nach Johannes ernst genommen werden, dass die Befreiung Israels unter römischen Bedingungen anders vonstatten gehen muss als unter ägyptischen oder babylonischen, nämlich indem durch das Gericht des Menschensohnes die gesamte Weltordnung endgültig überwunden wird. Um das deutlich zu machen, ruft Johannes die Vision aus Hesekiel 37 auf und stellt sie in einen Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren aus Daniel 7:

Das Werk des Vaters als des Gottes Israels ist „aufrichten und lebend machen der Toten“. Auch das Werk des Sohnes ist lebend machen. Freilich mit der Einschränkung: Die er will. Diese Einschränkung ruft jene Vollmacht auf, die der Vater, der „Fortgeschrittene an Tagen“ aus der Danielvision, dem Sohn gegeben hat. Die er will ist also keine Willkür, sondern ist Resultat jenes Gerichtsverfahrens, das Daniel beschreibt.

Indem nach Johannes das „Gerichtsverfahren … nunmehr ganz (krisis pasa) Sache jenes Sohnes“ ist‚ „denn der Vater richtet nicht‘!“, wird die „Würdigung…, die dem Gott Israels zuteil wird“, auf den Sohn übertragen:

Genau diese „Gleichheit“ (kathōs {genauso wie}) ist für die Gegner nicht hinnehmbar. Die „Würdigung“ (timē), nahe verwandt mit „Ehre“ (doxa, kavod), schafft eine Verbindung zu Daniel, wo timē für das aramäische jeqir steht, „Würde“, die königliche Würde des Richters (Daniel 7,14). Die ganze königliche Macht und Würde hat der Gott Israels dem bar enosch, dem wie ein Mensch, übertragen. Ist diese Übertragung vollzogen, gebührt dem Sohn die gleiche Würde wie dem, der den Sohn sendet.

In diesem Zusammenhang vergleicht Veerkamp die Art, wie Johannes und die spätere christliche Dogmatik von Jesus reden. Obwohl die johanneische Christologie von ihren jüdisch-rabbinischen Gegnern nicht akzeptiert werden konnte, wurzelt sie nach ihrem Selbstverständnis gleichwohl voll und ganz in den jüdischen Schriften. Das heißt, für Johannes wäre erst recht das, was das Christentum später aus seinen Anschauungen gemacht hat, inakzeptabel:

Die Sendung gehört zur Selbstdefinition des Vaters (aktiv, der Sendende) wie des Sohnes (passiv, der Gesandte). Was „Gott“ sonst noch alles sein kann bzw. nicht sein kann, entzieht sich jedem menschlichen Zugriff. „Gott“ in Israel war der, die, das, was Mosche sandte (Exodus 3,15): „Das ist mein Name in Weltzeit, das mein Gedenken Geschlecht für Geschlecht.“ „Gott“ in Israel soll nunmehr der, die, das sein, was Jeschua sendet. Alle andere oder weitere oder tiefere „Theologie“ ist Blasphemie.

Einen Seitenblick wirft Veerkamp hier auch noch auf den Islam, dessen Umgang mit dem Offenbarer Muhammad und dem Koran er mit der jüdischen Art, Theologie zu treiben, vergleicht:

„Gott“ ist nur durch den Propheten Muhammad offenbar. Freilich gehen Judentum und Islam nicht diesen johanneischen Weg der Identifikation des Gesandten mit dem Sendenden. Es bleibt eine unüberbrückbare Differenz. Deswegen ist Mosche (Tora) „diskutabel“, deswegen der Talmud. Bei Muhammad ist das schwieriger. Die hadith Muhammad, die Überlieferung über Muhammad, ist zwar eine für die Gläubigen unerlässliche Richtschnur des Lebens, aber sie ist nicht Koran, Wort Allahs. Der Koran ist nicht „diskutabel“, es gibt keinen islamischen Talmud.

Johannes geht zwar hier einen Schritt weiter als Mosche und Muhammad, aber er macht den Gesandten nicht dem Sendenden wesensgleich (Identität des Wesens – consubstantia). Diesen letzten Schritt geht die Konzilstheologie des klassischen Christentums. Für Judentum und Islam ist das nicht nachvollziehbar.

Auch Klaus Wengst (W171) bringt die von Jesus angekündigten „größeren Taten“ in einen Zusammenhang mit dem „endzeitlichen Handeln Gottes…, der die Toten lebendig macht und richtet, was in Jesus zum Vollzug komme“, wovon „unmittelbar anschließend“ die Rede sein wird. Er verzichtet aber darauf, die Endzeit genauer in den Blick zu nehmen: Geht es um endgültige Überwindung der Todesordnungen dieser Welt, um das Leben der kommenden Weltzeit für Israel anbrechen zu lassen? Oder werden die diesseitigen Hoffnungen Israels letzten Endes in jenseitsorientierte Endzeitvorstellungen aufgelöst?

Für Letzteres spricht, dass Wengst auf die spätere „jüdische Tradition“ Bezug nimmt, derzufolge Gott „die Toten aufrichtet und lebendig macht“. So fand in Hosea 6,2 „die spätere Auslegung die Auferweckung der Toten in der Schrift bezeugt: Er wird uns lebendig machen nach zwei Tagen, am dritten Tag uns aufrichten, dass wir vor ihm leben.‘“ Das trifft sicher zu; die Frage ist aber, ob Johannes tatsächlich in dieser Weise an die Totenerweckung denkt. Wenn er das täte, wenn er also davon ausgehen würde, dass Gott in diesem auch im Judentum vertretenen jenseitsbezogenen Sinne „sein endzeitliches Handeln, Tote lebendig zu machen und zu richten, in und durch Jesus vollzieht“, würde er damit nicht zugleich die Behauptung aufstellen, dass nunmehr der jüdische Glaube an den Toten erweckenden Gott nicht mehr ausreicht, sondern dass, wer auferstehen und der Hölle entgehen will, an Jesus glauben muss? Wengst will dieser Konsequenz entgehen, aber ich weiß nicht, ob er ihr auf der Basis religiös-verjenseitigter Kategorien entkommen kann. Nach Veerkamps Auslegung geht es Johannes nicht um religiöse Erlösung und Verdammung, sondern um politische Befreiung; auch im Blick auf diese steht er in radikalem Gegensatz zum rabbinischen Judentum, aber nicht im Sinne der Ablösung der Religion des Judentums durch das Christentum.

In der Auslegung von Vers 21 legt Wengst Wert darauf, dass es im lebendigmachenden Handeln des Vaters und des Sohnes „kein Nebeneinander“ gibt, stattdessen geht es (W172) um ein

Ineinander: Dass der Sohn lebendig macht, ist im Wirken des Vaters durch den Sohn begründet. Dass der Sohn lebendig macht, „wen er will“, ist in diesem Zusammenhang ein Nebengedanke. Er meint keineswegs „die Freiheit des Sohns, die ihn über das Gesetz erhebt“. <464> Er setzt vielmehr das dann in V. 24 entwickelte Lebendigmachens als des neuen Lebens in der Gemeinde voraus – und die Erfahrung, dass sich eben nicht alle in der Gemeinde wiederfinden. Die sich in ihr wiederfinden, führen das nicht auf ihren eigenen Entschluss und Willen zurück, sondern auf das in Jesu Wort erfolgende berufende und hineinziehende Handeln Gottes.

Damit bestätigt Wengst seine auf die religiöse Christengemeinde bezogene Auslegung und bezieht zugleich das Lebendigmachen jetzt auf einmal nicht mehr auf das Endgericht am Ende der Tage, sondern auf die Erweckung lebendigen Gemeindelebens im Hier und Jetzt. Von der Gemeinde ist in Vers 24 aber mit keinem Wort die Rede.

Dass nach Vers 22 „der Vater … das Richten ganz dem Sohn übergeben“ hat,

verneint keineswegs die in der jüdischen Tradition selbstverständliche Aussage, dass Gott der letzte Richter ist, die mit der von der Belebung der Toten eng zusammengehört. Gemeinsam halten beide fest, dass nicht Menschen in Machtstellungen mit ihren Taten endgültige Fakten setzen, sondern dass Gott das letzte Wort hat. Im Zusammenhang gelesen ist vielmehr so zu verstehen: „Eben durch den Sohn vollzieht Gott sein Richteramt.“ <465>

Von einer solchen „Durchführung des endzeitlichen Gerichts durch einen Beauftragten Gottes“ ist bereits „im jüdischen Kontext in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches“ die Rede:

Nachdem von diesem Beauftragten Gottes in 48,10 als seinem „Gesalbten“ die Rede war, wird er in 49,2.4 „der Erwählte“ genannt, der nach V. 4 die Funktion des endzeitlichen Richters übernimmt: „Und er wird die verborgenen Dinge richten, und eine leere Rede wird niemand vor ihm führen können.“ Unter dieser Bezeichnung wird er als Richter auch in 61,8f. und 62,1-3 beschrieben, in 62,7 mit dem zuvor verborgenen „Menschensohn“ identifiziert. Dieser Titel begegnet dann in den weiteren Gerichtsaussagen: 62,9.14; 63,11. Innerhalb der Gerichtsschilderung 69,26-29 heißt es in großer sachlicher Nähe zu Joh 5,22b: „Und die Summe des Gerichts wurde ihm, dem Menschensohn, übergeben“ (V.27). <466>

Auf Daniel 7 geht Wengst in diesem Zusammenhang überhaupt nicht ein, vermutlich deshalb, weil er bereits zu Johannes 3,13 davon ausgegangen war (W116), dass die „Kennzeichnung Jesu als des Menschensohnes … Johannes in der eigenen Tradition vorgegeben“ ist, dass er also nicht eigenständig darauf zurückgreift.

Mit Vers 23 tut sich Klaus Wengst insofern schwer, als (W172f.) im

Bestreben, Jesus nicht neben Gott zu stellen und damit dessen Einheit und Einzigkeit anzutasten, sondern sie zu bewahren, indem das Wirken Jesu ganz und gar als Wirken Gottes beschrieben wird, … auch die Möglichkeit einer Tendenz auf Exklusivität [steckt]. Sie wird manifest, wenn dieses Bestreben in die Behauptung umschlägt, dass nur im Wirken Jesu das Wirken Gottes wahrnehmbar sei und es also auch Verehrung des Vaters nur in der Verehrung des Sohnes gebe.

Die Exklusivität in der anderen Richtung (W172), dass es nämlich „keine isoliert für sich stehende Verehrung des Sohnes“ gibt, die „offenbar Götzendienst“ wäre, ist für Wengst selbstverständlich: „In Analogie zu 12,44 könnte man auch formulieren: Wer den Sohn ehrt, ehrt nicht den Sohn, sondern eben darin den, der ihn gesandt hat.“

Nach Wengst (W173) müssen die „Zielbestimmung…, dass ‚alle den Sohn ehren‘“, und „die negative Formulierung: ‚Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt nicht den Vater, der ihn geschickt hat‘“, jedoch „nicht im exklusiven Sinn“ verstanden werden, als ob Juden, die Jesus nicht anerkennen, keinen Zugang mehr zum VATER hätten. Um das zu begründen, bedient er sich folgender Argumentation:

Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht als Vater dieses Sohnes, nimmt ihn nicht wahr als den, der diesen Sohn geschickt hat. Damit wäre nicht behauptet, dass er den Vater überhaupt nicht ehrt – ist doch auch im Johannesevangelium „der Vater“ von vornherein als Gott Israels, als der in Israel bekannte Gott vorausgesetzt.

Zur Unterstützung dieser Sichtweise erwähnt Wengst die Haltung von Thomas von Aquin (Anm. 257): <467>

„Ein anderes ist es nämlich, Gott zu ehren aufgrund dessen, dass er Gott ist, [und] ein anderes, den Vater zu ehren. Denn gut kann jemand Gott ehren, insofern er der Schöpfer ist […], ohne dass er auch den Sohn ehrt. Aber Gott als Vater zu ehren kann niemand, ohne dass er den Sohn ehrt“. Dabei wäre hinzuzufügen, dass biblisch Israel als Sohn Gottes gilt (vgl. Ex 4,22; Hos 11,1).

Natürlich weiß Wengst (W173), dass Vers 23 „im Sinne einer exklusiven Aussage“ gelesen werden kann,

und so ist er in der Regel verstanden worden. Bultmann etwa schreibt: „Man kann nicht am Sohn vorbei den Vater ehren, die Ehre des Vaters und des Sohnes ist identisch; im Sohne begegnet der Vater, und der Vater ist nur im Sohne zugänglich.“ <468> Auch wenn man so verstehen kann – und selbst wenn Johannes es so gemeint hätte -, dürfen wir den Text so lesen? Diese Lektüre hätte zur Konsequenz, dass von diesem „Nur“ alles aufgesogen und in ihm aufgehoben wäre, was die Schrift über das Wirken Gottes bezeugt. So könnte nur das Geltung beanspruchen, was in der Perspektive dieses Sohnes wahrgenommen wird, und dann wäre auch alles das, was das Judentum weiterhin von Gott bezeugt, das Gegenteil von Gottesverehrung. Dem Judentum Verehrung Gottes abzusprechen, weil es Gott nicht in Jesus ehrt, wäre eine Ignoranz der jüdischen Auslegung der Bibel und des jüdischen Zeugnisses in Wort und Tat, die sich das Christentum viel zu lange geleistet hat.

In dieser Kritik des antijüdischen Christentums zweier Jahrtausende ist Wengst auf jeden Fall Recht zu geben – und auch in seiner Kritik an Johannes, falls schon dieser den exklusiven Zugang zu Gott durch Jesus im Sinn gehabt haben sollte. Dazu schreibt er (Anm. 259): „Es läge dann eine konsequenzmacherische Argumentation vor, die in seiner Situation verständlich gewesen sein mag.“ Wengst scheint allerdings offen zu lassen, ob Johannes tatsächlich diese in seinen Augen unnötige Konsequenz zieht.

Nimmt man allerdings ernst, dass Johannes, wovon Veerkamp ausgeht, erstens Israel als Adressaten seines Evangeliums annimmt und zweitens die Befreiung Israels ausschließlich von Jesus als der Verkörperung des NAMENS erwartet, dann müsste man zu diesem Problemfeld sagen: Johannes geht sicher von einer Exklusivität Jesu aus, da er dem rabbinischen Judentum gegenüber davon überzeugt ist, dass nur Jesus die Überwindung der herrschenden Weltordnung und den Anbruch des Lebens der kommenden Weltzeit herbeiführen kann. Da er eine generelle Völkermission eher skeptisch beurteilt (nur „einige Griechen“ kommen in 12,20 in den Blick und verschwinden gleich wieder aus der Erzählung), versteht er diese Exklusivität aber ganz gewiss nicht im Sinne einer Enterbung Israels durch eine neue von „Heidenchristen“ dominierte Religion.

Da nach Wengst (W174) für Johannes „in Jesus Gott selbst auf den Plan tritt“, er aber

genau darin radikal in Frage gestellt wird, lässt er sich in Zwangslogik dazu verleiten, auch seinen Gegnern Gotteserkenntnis abzusprechen, weil sie diese nicht in Jesus gewinnen wollen. Das sollte in völlig anderer Situation nicht aufgenommen und schon gar nicht theologisch systematisiert werden.

Eine solche Systematisierung wirft er (W173) insbesondere Marianne Meye Thompson <469> vor, die darauf hinaus will, dass

[d]urch „die ständige Wiederholung der Bezeichnung Gottes als ,des Vaters, der mich gesandt hat‘“, … nicht nur „Jesus in Begriffen des Verhältnisses zu Gott“ identifiziert [wird], sondern es gelte auch umgekehrt: „Gott wird höchst charakteristisch identifiziert und bezeichnet im Verhältnis zu Jesus.“ Das tendiere „auf eine Neuformulierung des Inhalts des Wortes ,Gott‘“ und impliziere „unweigerlich eine Neuformulierung der Identität Gottes“ [51]. … So schreibe Johannes „ein Evangelium über Jesus, der den ungesehenen Gott offenbart“ [240].

Damit vollzieht Thompson allerdings nichts anderes als die christliche Theologie seit dem 2. Jahrhundert, die Gott und seinen Messias nicht mehr von den jüdischen Schriften her verstand, sondern umgekehrt die jüdischen Schriften und den Gott Israels ganz und gar von einer christlichen Dogmatik her neu zu bestimmen versuchte.

Hartwig Thyen (T311) bezieht die größeren Werke, die der Vater dem Sohn zeigen wird, da sie „seine Ankläger in Verwunderung versetzen sollen“, einerseits auf künftige „öffentlich sichtbare Taten dessen…, der sie ihnen hier verheißt“, insbesondere (T311f.) „die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11), die das Tote erweckende Handeln Jesu exemplarisch vor Augen führt“, und andererseits auf die

Erzählungen von der Auferweckung der Tochter des Jairus (Mk 5,22-24.35-43 / Mt 9,18f.23-26 / Lk 8,40-42.49-56), von der Lebendigmachung des Sohnes der Witwe von Nain (Lk 7,11-17; vgl. 1Kön 17,17-24 u. s. o. zu 4,43ff) sowie der Summe der Botschaft Jesu an den eingekerkerten Johannes…: kai nekroi egeirontai {Tote stehen auf} (Mt 11,5…).

Dass Jesus nur „diese konkreten Erzählungen“ anspricht, erklärt nach Thyen auch die

Differenzierung zwischen dem Handeln des Vaters und demjenigen des Sohnes. Während der Vater nämlich die – und das heißt ja: alle – Toten erweckt und lebendig macht, heißt es von dem Sohn zunächst einschränkend: hous thelei zōopoiei {die er lebendig machen will}.

Da allerdings (T313) „der Vater diesen Sohn als den eschatologischen Totenerwecker und Richter über Tote und Lebende eingesetzt hat“,

können auch die „größeren Werke“ des Sohnes, die Johannes in der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus resümiert, nur ,Zeichen‘ sein, nichts anderes als die ,Spuren‘, die einer, der uneinholbar vorübergegangen ist, im Sand der Geschichte hinterlassen hat. Erst der österliche Geist wird ,den Seinen‘ die blinden Augen dafür öffnen, aus diesen Spuren zu lesen, daß es die doxa {Herrlichkeit} Gottes war, die da in der Gestalt dessen, den der Vater gesandt hat, an ihnen vorübergegangen war.

In diesen poetischen Zeilen bleibt allerdings wieder ungeklärt, in welcher Weise Johannes Thyen zufolge die endzeitlichen Hoffnungen Israels aufnimmt.

Johannes 5,24-26: Das „ewige“ Leben, die Toten und die Stimme des Sohnes Gottes

5,24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat,
der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht,
sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.
5,25 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Es kommt die Stunde und ist schon jetzt,
dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes,
und die sie hören, die werden leben.
5,26 Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber,
so hat er auch dem Sohn gegeben,
das Leben zu haben in sich selber; …

[16. Juni 2022] Nun folgen zwei gewichtige Verse, beide mit dem betonten doppelten amēn amēn Jesu eingeleitet. In ihnen beginnt Johannes Wengst zufolge (W174) „zu erläutern, wie Jesus als Sohn des Vaters lebendig macht und richtet“. Das „Hören des Wortes Jesu“ soll „zum Vertrauen auf Gott“ führen. Indem er (Anm. 260) auf seine Auslegung von Johannes 3,18 verweist, führt er zu Vers 24 aus (W174):

Wer in diesem Vertrauen lebt, wer „glaubt“, wer sich sozusagen ganz und gar in die Hand Gottes begibt und sich von ihr den Weg weisen lässt, kann nicht verloren gehen, verfällt als solcher nicht dem richtenden Urteil Gottes und hat schon „ewiges Leben“. Der Überschritt vom Tod zum Leben wird hier nicht erst am Ende der Zeit erwartet, sondern vollzieht sich schon jetzt. Damit erhalten die Begriffe „Tod“ und „Leben“ in ihrer Bedeutung andere Dimensionen. Es gibt einen Tod vor dem Tod, eine Lebensführung, die den Namen „Leben“ nicht verdient. Wirkliches Leben ist im Vertrauen auf Gott geführtes, von ihm geleitetes und deshalb auch verheißungsvolles Leben.

Dasselbe „Verständnis von Leben und Tod“ setzt Wengst auch für den Vers 25 voraus:

Die hier genannten Toten sind ja keine Gestorbenen, sondern durchaus physisch lebendige Menschen, die aber in der Haltung und Führung ihres Lebens kein Vertrauen auf Gott erkennen lassen. Dazu aber möchte „die Stimme des Sohnes Gottes“ ermutigen, damit sie „leben“. Solches Leben wird in der Gemeinschaft der Gemeinde erfahren.

In (W175) der Wendung „Die Stunde kommt und ist jetzt“ sieht Wengst eine nochmalige Verstärkung der feierlichen „Einleitung mit dem doppelten Amen“. In ihr

zeigt sich die dem Johannesevangelium eigentümliche Zusammenschau der Zeiten, nach der Jesus schon als der redet, als den ihn die Gemeinde verkündigt, der er am Schluss des Evangeliums ist: der Auferstandene, den Mirjam aus Magdala und seine Schüler als „den Herrn“ sehen. Hier deutet sich der Grund an, weshalb Johannes von Jesus als dem reden kann, in dem und durch den Gott jetzt schon endzeitlich lebendig macht und richtet. Er liegt in dem neutestamentlichen Grund-Satz, „dass Gott Jesus von den Toten aufgeweckt hat“ als jetzt schon erfolgenden Anbruch neuen Lebens, als Hereinbrechen der Endzeit in die Zeit.

Indem Wengst (Anm. 263) mit „dem eben Ausgeführten“ Josef Blank <470> zustimmt, dass „der lebendige Osterglaube an die Gegenwart des Erhöhten … den tragenden Grund der Johanneischen Aussagen bildet“ und dass die „Gegenwart des Endgeschehens … bei Johannes theologisch begründet [ist] durch den Glauben an die Gegenwart des Auferstandenen im Gottesdienst“, verbindet er die johanneischen Aussagen sehr eng mit einem christlichen Gottesdienst- und Gemeindeverständnis. Das mag gut zusammenpassen; trotzdem ist zu fragen, ob bereits Johannes in solchen Bahnen gedacht hat.

Auch die sich unmittelbar anschließende Aussage (W175): „Denn wie der Vater Leben in sich hat, so hat er es auch dem Sohn gegeben, Leben in sich zu haben“, begreift Wengst „von dem Zeugnis der als Neuschöpfung verstandenen Auferweckung Jesu her“:

In dieser österlichen Perspektive, als neue Schöpfung, hat der Sohn „Leben in sich“ und bringt so in der Verkündigung durch die Verwandlung „Toter“ in „Lebende“ Gemeinde als neue Schöpfung hervor.

Hartwig Thyen betont zunächst (T313), dass „die Einladung zum Glauben und die Verheißung ewigen Lebens an eben die Ioudaioi“ ergeht, „die Jesus der Blasphemie zeihen“, und dass das Wort „krisis hier nicht neutral im Sinne von ,Gericht‘ verstanden werden“ kann, sondern „konkret die ,Verurteilung‘ oder ,Verdammung‘ in diesem Gericht bedeuten“ muss, denn die Verheißung, nicht in das Gericht zu kommen, gilt ja „nur dem Glaubenden“.

Sodann wendet er sich energisch dagegen, die beiden Verse 24 und 25 als nahezu gleichbedeutend aufzufassen „und zum dictum probans {Hauptbeleg} der sogenannten ‚präsentischen Eschatologie‘ unseres Evangeliums“ zu machen. Gegen die bereits von Calvin <471> im „Anschluß an zahlreiche Stimmen der Kirchenväter“ vertretene Auffassung, dass Christus in Vers 25

„vom geistlichen Tode“ spreche, sei „völlig klar“ und darum werde, „wer das auf Lazarus und den Sohn der Witwe von Nain und ähnliche Fälle“ beziehen wolle, „durch den Zusammenhang selbst widerlegt“. Hier erinnere Christus vielmehr in erster Linie daran, „daß wir alle tot sind, bis er selbst uns zum Leben erweckt“.

Obwohl (T314) diese in Thyens Augen „gänzlich unbiblische Unterscheidung zwischen ‚geistig‘ und ‚physisch Toten‘ seit den Tagen Calvins einen förmlichen Siegeszug angetreten hat“ und die „von dem fragwürdigen Schlagwort der ,präsentischen Eschatologie‘ des Johannesevangeliums“ bestimmte Auslegung von Vers 24f. „nahezu zum Standard der Johannesexegese“ geworden ist, widerspricht ihr Thyen ebenso „wie der – doch wohl eher gnostischen als biblischen – Unterscheidung ‚geistig Toter‘ von wirklich, d. h. ‚physisch Toten‘, auf der sie beruht“.

Unter Berufung auf L. van Hartingsveld <472> versteht Thyen „Jesu Verheißung in V. 24 als Anrede an seine lebenden Antagonisten unserer Szene“, während er mit V. 25 „auf die angekündigten ‚größeren Werke‘, nämlich sein Auferwecken Toter“, zurückkommt. Dabei beziehen sich hoi nekroi, „die Toten“ mit dem bestimmten Artikel, zurück auf die wenigen „in V. 21 mit hous thelei {die er will} bezeichneten Toten.“ Weiter bestimmt van Hartingsveld [48] das

Verhältnis zwischen 5,28 und 5,25 … wie folgt…: die Stunde kommt, daß alle Toten auferstehen, die Stunde ist jetzt schon da, daß einige Tote auferstehen. Daß damit nicht geistig Tote, sondern leiblich Tote gemeint sind, beweist die Verwendung des Wortes phōnē in 5,25.28“.

Diese Beweisführung stützt van Hartingsveld darauf, dass in Vers 24 vom Wort Jesu, in den Versen 25 und 28 dagegen von der „Stimme des Gottessohnes“ die Rede ist [48-50]:

„Man bemerke die verschiedene Terminologie … logos ist das gesprochene, verständliche Wort, phōnē ist Laut, Klang, Geräusch. Der Wind hat nur eine phōnē (3,8). Schafe kennen die phōnē des Hirten (10,3.4.5.16.27). Der aus der Wahrheit ist, kennt die phōnē Jesu (18,37). Die phōnē Gottes tönt wie ein Donnerschlag (12,28ff; vgl. 5,37). Der Freund freut sich über die phōnē des Bräutigams (3,29). Lazarus im Grabe hört die megalē phōnē Jesu (11,43).“

Sehr überzeugend klingt das für mich nicht, denn die Stimme Gottes kann durchaus gleichbedeutend mit seinem Wort sein, wie etwa 5. Mose 15,5 zeigt, und darauf, dass nicht nur die Stimme des Bräutigams (3,29) klar verständlich ist, sondern auch die Stimme des Geistes (die van Hartingsveld in 3,8 nur als Stimme des Windes auffasst; in Thyens Text steht versehentlich die Versangabe 3,89), hatte Thyen in seiner Auslegung der entsprechenden Verse besonderen Wert gelegt. Nicht einmal van Hartingsveld behauptet demgemäß, dass die phōnē Gottes oder Jesu nur von leiblich Toten gehört werden können. Allerdings muss damit seine weitere Argumentation noch nicht widerlegt sein:

„In 5,28 ist phōnē die Stimme Jesu, die alle Toten aus den Gräbern ruft; in 5,25 ist phōnē Stimme Jesu, die einige Tote ins Leben zurückruft. So ist 5,25 zu beziehen auf den Fall des Lazarus. … Zu denken ist auch an die Erweckung des Jünglings zu Nain, des Töchterchens des Jairus und an die Antwort, die Jesus den Jüngern des Täufers gibt: Tote werden erweckt (Mt 11,5; Lk 7,22). Joh 5,1-29 ist gut komponiert. Die Heilung des Kranken in Bethzata war ein messianisches Wunder. Daß einige Tote auferstehen werden, wird ein noch größeres Zeichen sein. Darüber werden sie staunen (5,20). Aber sie werden sich über noch Größeres wundern, wenn Jesus alle Toten erweckt. So bekommt die Rede seinen (!) Höhepunkt. Sie erreicht die Klimax. … Und weil Jesus als der Sohn den Kranken heilt, einige Tote erweckt und einst alle Toten aus den Gräbern rufen wird, eben deshalb ist er auch berechtigt zu sagen: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben, kommt nicht in die Verdammnis, sondern ist aus dem Tode ins Leben hinüber gegangen (5,24).“

Damit grenzt van Hartingsveld die johanneische Sichtweise scharf ab von einer Interpretation im Sinne der lukanischen „Rückkehr des verlorenen Sohnes (Lk 15)“ oder (T314f.) dem paulinischen „Auferstehen aus dem Tode in Sünden und Gesetzesübertretungen zu Leben in Reinheit und Wahrheit“ bzw. der „Bekehrung von den heidnischen Ungerechtigkeiten zu den christlichen Tugenden“. Johannes geht es vielmehr (T315) „um die Gewißheit des Glaubens, daß der, welcher sich Jesus anschließt und ihn als den Messias bekennt, ins ewige Leben eingehen wird.“ Nach van Hartingsveld ist die „Unterscheidung ,geistig tot‘ / ,leiblich tot‘ … hier fern zu halten. Sie stiftet nur Verwirrung.“

Mit diesem ausführlichen Zitat L. van Hartingsvelds unterstreicht Thyen voll und ganz seine Auffassung, dass

die ,präsentischen‘ Aussagen unseres Evangeliums in der apokalyptischen Eschatologie gründen, und daß Jesu Rede ohne diesen Hintergrund, den sie nicht nur voraussetzt, sondern auf ihre Weise sogar neu bekräftigt, seinen jüdischen Antagonisten unverständlich bleiben müßte.

Dass Johannes apokalyptische Endzeitvorstellungen voraussetzt, halte auch ich für zutreffend. Bedenklich finde ich dabei nach wie vor die von Thyen (T313) verwendete Kategorie der „Verdammung“, die ein jenseitsweltliches Verständnis des Gerichts voraussetzt, das man Johannes nicht ohne Weiteres unterstellen darf.

Der folgende Vers 26 enthält für Thyen (T315) die Begründung für die „Vollmacht des Sohnes, Tote zu erwecken“; dieser ist nämlich auch insofern mit Gott gleich, dass er „wie der Vater das Leben en heautō {in sich selbst} hat.“ Damit wird ihm zufolge nichts grundlegend Neues gesagt, sondern aufgenommen, was im Prologvers 1,4 gesagt war: „en autō zōē ēn kai hē zōē ēn to phōs tōn anthrōpōn (1,4) {In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen}.“ Dieser Umstand, dass „auch und einzig dieser Sohn das Leben in sich selbst hat, wie der Vater“, ist für Thyen der konsequenteste Ausdruck der „Einheit von Vater und Sohn“, die Jesus in 10,30 aussprechen wird. Unter Bezug auf Johannes 10,18 zieht er daraus den Schluss:

Überspitzt gesagt heißt das, nicht nur Lazarus, den er liebte, erweckt Jesus von den Toten, sondern am Ende auch sich selbst.

Die Diskussion darüber, ob eine solche Schlussfolgerung tatsächlich zu dem passt, was Johannes ausdrücken wollte, insbesondere, wenn damit gemeint sein sollte, dass Jesus mit seiner Auferstehung sein vormaliges Leben bei Gott im Himmel einfach fortsetzt, verschiebe ich auf die Auslegung von 10,18.

Ton Veerkamp <473> schreibt zu Vers 26:

Der Vater ist das Leben selbst, das bedeutet der merkwürdige Ausdruck, der wortwörtlich heißt: hat Leben in sich selbst. Indem er den Sohn mit der ganzen Macht – vor allem der richterlichen Macht – ausgestattet hat, gibt er ihm dadurch die Vollmacht, Leben selbst zu sein, also Leben zu sichern, Leben zu geben.

Dabei geht er davon aus, dass für Johannes dieses Leben gemäß Psalm 115,16 das Leben auf der Erde unter dem Himmel Gottes ist und nicht ein jenseitiges Leben im Himmel (vgl. seine Auslegung von Johannes 1,32).

Die Verse 24 und 25 liest Veerkamp weder wie Wengst im Sinne einer christlichen Gemeindetheologie, deren Lebendigkeit durch ihren auferstandenen Herrn bewirkt wird, noch baut er sie wie Thyen in eine abgestufte Reihe von durch Jesus bewirkten Totenerweckungen bis hin zum jenseitigen ewigen Leben am Ende der Tage ein. Stattdessen interpretiert er sie konsequent innerhalb einer diesseitig zu begreifenden Eschatologie und Apokalyptik, derzufolge das Ende der herrschenden Weltordnung zugleich den Anfang des Lebens der kommenden Weltzeit zum Vorschein bringen wird. Zugleich nimmt er ernst, dass beide Verse ein präsentisches Element enthalten: Das, was in einer zum Greifen nahen Zukunft durch Jesus verheißen wird, beeinflusst schon jetzt das Leben derer, die auf ihn hören und auf den vertrauen, der ihn gesandt hat:

Die folgenden Sätze gehören zum Zentrum dessen, was Johannes zu sagen hat. Den Begriff zōē aiōnios haben wir bei der Besprechung von 3,15 als Leben der kommenden Weltzeit kennengelernt. „Wer meine Worte hört und dem vertraut, der mich (weil er mich!) gesandt hat, erhält das Leben der kommenden Weltzeit“, was zur Folge hat, dass er sich nicht im Gericht verantworten muss. „Er ist hinübergegangen vom Tod in das Leben“, vollendete Tatsache, keine Zukunft, Gegenwart, „und das ist jetzt!“ Diese Sätze werden durch das berühmte zweifache Amen eingeleitet. Es verlieh dem Nachfolgenden einen immensen Nachdruck.

Auch der nächste Satz wird so eingeleitet. Die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die Hörenden werden leben. „Und das ist jetzt“ – das Pathos der Revolution. Alle, die je die Revolution ausgerufen haben, 1776, 1789, 1848, 1917 usw., haben über alle Verheißungen der Revolutionäre gesagt: „Das ist jetzt.“ Es kommt und es kann nur kommen, weil es schon da ist – jetzt. Der Frau am Jakobsbrunnen hatte er gesagt: „Frau, die Stunde kommt – und das ist jetzt!“ Die Stunde der Überwindung jener Geschichte von Mord, Totschlag und Zerstörung zwischen Judäa und Samaria – jetzt!

Wer Veerkamp vorhalten mag, die Rede von Revolution im Blick auf Johannes sei anachronistisch, der übersieht, wie diesseitig revolutionär die prophetischen Schriften Israels viele Verheißungen für die kommende Weltzeit formulieren, auf die sich Johannes bezieht.

Johannes 5,27-30: Das endgültige Gericht des bar enosch, „Menschensohns“

5,27 … und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten,
weil er der Menschensohn ist.
5,28 Wundert euch darüber nicht.
Es kommt die Stunde,
in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden,
5,29 und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben,
zur Auferstehung des Lebens,
die aber Böses getan haben,
zur Auferstehung des Gerichts.
5,30 Ich kann nichts von mir aus tun.
Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht;
denn ich suche nicht meinen Willen,
sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

[17. Juni 2022] Die Aussage in Johannes 5,27 (W175), dass Gott Jesus die Macht übertragen hat, „Gericht zu halten, da er der Menschensohn ist“, interpretiert Klaus Wengst auf derselben Linie, wie er bereits Johannes 3,13 und Johannes 3,18 ausgelegt hatte:

Wer vertraut, wird nicht gerichtet; wer nicht vertraut, ist schon gerichtet. Wie schon hinsichtlich des Lebens wird nun hinsichtlich des Gerichts noch einmal betont, dass der Vater dem Sohn „gegeben“ hat. Der Sohn handelt nicht selbstmächtig. Fragt man, wo dieses Geben seinen Ort hat, woher Johannes denn weiß, dass der Vater dem Sohn solche Macht gegeben hat, wird man gewiss wieder auf das genannte Grundzeugnis verwiesen sein, „dass Gott Jesus von den Toten aufgeweckt hat“. Die Gabe an den Sohn, Gericht zu halten, wird damit begründet, dass er „der Menschensohn“ sei. Johannes nimmt hier eine Tradition auf, die aufgrund des Auferweckungszeugnisses Jesus als den zum Gericht kommenden Menschensohn erwartete.

Obwohl Johannes Wengst zufolge diese Erwartung des Menschensohnes „im Vorangehenden neu gedeutet“ hat, indem er nämlich „das Gericht als Scheidung ausgelegt“ hat „zwischen denen, die in einem qualifizierten Sinn ‚leben‘, und denen, die es nicht tun, die – obwohl sie am Leben sind – doch ‚im Tod bleiben‘ und als längst schon Tote sterben werden“, lässt er nun doch (W175f.)

auch ihren ursprünglichen Inhalt anklingen. Der wird von seiner Interpretation nicht aufgesogen. Wie sollte sie das auch vermögen? Denn einmal bleibt das Leben im Glauben angefochtenes und immer auch wieder verfehlendes und dann also auch nicht „ewiges“ Leben. Zum anderen würde eine solche Sicht, wird sie absolut, sich die Ohren zustopfen vor den Schreien der Opfer.

In diesem Zusammenhang (W176, Anm. 266) verweist Wengst auf seine Ausführungen zu Johannes 3,18-21, wo die Durchführung des Gerichtsverfahrens durch den Menschensohn schon einmal Thema gewesen ist.

In Vers 28 wird nach Wengst (W176) die Formulierung von Vers 25 aufgenommen und umakzentuiert, indem „sehr schlicht vom Aufwecken der in den Gräbern liegenden Gestorbenen … und der Auferstehung der Guttäter zum Leben und der Übeltäter zum Gericht (vgl. Dan 12,2)“ geredet wird. Merkwürdig finde ich, dass Wengst von einer schlichten Umformulierung von Vers 25 redet, obwohl er die Hauptbelegstelle für jüdische Auferstehungshoffnung doch selber in Klammern anführt; sie ist es, auf die Johannes hier Bezug nimmt.

Aber genau mit dieser Bibelstelle tut Wengst sich schwer, da sie „völlig idealtypisch“ zwischen Guttätern und Übeltätern unterscheidet:

Aber wer ist in der Wirklichkeit schon nur Guttäter und nur Übeltäter? Die allermeisten, wenn nicht alle, liegen dazwischen.

Die Überlegungen, die Wengst daran anknüpft, zeigen deutlich, wie sehr es bei der Auslegung darauf ankommt, die Kontexte zu berücksichtigen, innerhalb derer biblische Aussagen ursprünglich geäußert und später ausgelegt werden. Die folgenden Sätze setzen voraus, dass das Weltgericht über die Zutrittsberechtigung zum ewigen Leben im Himmel entscheidet; was aber geschieht dann mit denjenigen, denen dieser Zutritt verweigert wird? Vor diesem Hintergrund meint Wengst:

So konnte es nicht ausbleiben, dass sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition die Vorstellung von der Hölle bzw. dem Fegefeuer und unterschiedlich lange Aufenthalte darin ausgedacht wurden.

In diesem Zusammenhang findet es Wengst (Anm. 268) „bemerkenswert…, dass es nach Ansicht der Schule Hillels, die sich im Judentum durchgesetzt hat, keinen ewigen Aufenthalt in der Hölle gibt.“ Doch seine grundsätzliche Frage bleibt (W176):

Aber wird hier nicht spekuliert und etwas ausgedacht, was unausdenkbar ist? Nimmt man hinzu, wie mit diesen Vorstellungen Angst und Geschäfte gemacht und dass sie zur Herrschaftsausübung instrumentalisiert worden sind, kann man schon verstehen, dass Ausleger die Interpretation verabsolutieren, die Johannes in V. 24f. vornimmt.

Stark finde ich, dass Wengst dann doch zu Einsichten gelangt, die mit den ursprünglichen Kontexten sowohl des Danielbuchs als auch des Johannesevangeliums mehr zu tun haben als mit den eben geäußerten:

Aber die Vorstellung eines Endgerichts eröffnet einen Raum, der es nicht zulässt, die erfahrbare Wirklichkeit mit all ihren Schrecken und Grausamkeiten, dem Unrecht und der Gewalt, der lauten oder auch stillen Freude derer, die über Leichen gegangen sind, als letzt- und endgültig zu denken. Das soll hier als undenkbar gelten. Stattdessen wird gehofft und gewiss darauf vertraut, dass Gott in allem das letzte Wort zukommt.

Was ist aber, wenn sowohl Daniel als auch Johannes das Gericht gar nicht in dem Sinne als Endgericht verstehen, dass mit ihm alles Leben auf der Erde endet und das Leben im Himmel oder in der Hölle beginnt, sondern als den Beginn eines Lebens der kommenden Weltzeit in Freiheit, Recht und Frieden, das auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes stattfindet? Eine solche Möglichkeit zieht Wengst nicht einmal in Erwägung.

In Vers 30 betont Jesus Wengst zufolge noch einmal, „dass er nicht selbstmächtig handelt“, sondern (W177) in der „Tradition vom rechten Propheten“ sein Richten daran orientiert, wie er es von Gott hört. Dass Jesus sein Gericht als „gerecht“ bezeichnet, verbindet Wengst mit 5. Mose 16,18:

Es geht darum, eine unabhängige und unparteiische Gerichtsinstanz zu haben, die nicht eigene Interessen verfolgt. Genau das betont Jesus am Schluss: „Denn ich trachte nicht nach meinem Willen, sondern nach dem Willen dessen, der mich geschickt hat.“ Das ist das Ziel, dass der Wille Gottes zum Zuge komme – schon jetzt bei denen, die auf die Stimme Jesu hören, und endgültig im Endgericht.

Ganz anders geht Hartwig Thyen (T315) mit den Versen 27-30 um, in denen davon die Rede ist, dass Gott dem Sohn nicht nur „das Amt des Totenerweckers übertragen hat“, sondern ihn auch „als den endzeitlichen Weltenrichter“ eingesetzt hat. Während Wengst den Bezug der Verse 28-29 auf das Danielbuch (12,2) wenigstens am Rande erwähnt hat, konzentriert Thyen (T315) seine exegetischen Anstrengungen zunächst auf den Nachweis, dass die Bezeichnung Jesu in Vers 27 als hyios anthrōpou, „Menschensohn“, nicht auf Daniel 7,13f. als „unmittelbare Quelle“ zurückzuführen ist, was aber „viele Ausleger“ behaupten:

Als untrüglicher Beleg dafür gilt ihnen der Umstand, daß die von Johannes sonst stets mit dem doppelten Artikel gebrauchte Selbsbezeichnung Jesu als ho hyios tou anthrōpou nur hier, ebenso wie Dan 7,13, artikellos als hyios anthrōpou erscheint. <474> Doch der vermeintlich ,untrügliche Beleg‘ trügt, denn weder die Grammatik noch der Kontext erlauben diese Verbindung von 5,27 mit Dan 7,13.

Wie bereits zur Auslegung von Johannes 1,51 und Johannes 3,13 beruft sich Thyen in der Beweisführung für seine Auffassung auf Delbert Burkett [41ff.]. <475> Dieser „unterscheidet drei Typen der Erklärung“.

Nach der ersten wird „die artikellose Wendung hyios anthrōpou {Menschensohn} als gleichbedeutend mit dem artikulierten ho hyios tou anthrōpou {der Sohn des Menschen}“ angesehen, wobei jedoch (T316) „das Fehlen auch des zweiten Artikels tou vor anthrōpou“ nicht erklärt werden kann. Hier will ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, da meine Aramäisch-Kenntnisse nur schwach ausgeprägt sind. Ich wage aber doch die Vermutung, dass die griechischen Übersetzer von Daniel 7,13 die aramäische Wortverbindung bar ˀenosch einfach wortwörtlich ohne den im Griechischen eigentlich erforderlichen bestimmten Artikel mit hyios anthrōpou wiedergegeben haben, was sich im Deutschen zwar mit „Menschensohn“, aber nicht wörtlich mit „Sohn Menschen“ wiedergeben lässt. Im Griechischen ist auch in der artikellosen Form immerhin die Genitivform anthrōpou klar zu erkennen.

Zweitens ist es nach Burkett auch inhaltlich „höchst problematisch“,

die artikellose Form unmittelbar auf Dan 7,13f und den dortigen Kontext zurück[zuführen], wo von dem Menschenähnlichen gesagt wird: kai edothē autō exousia ktl. {und ihm wurde gegeben Macht usw.} … Denn zum einen ist bei Daniel gar nicht von einem „Menschensohn“ die Rede, wie in Joh 5,27, sondern von einem Himmelswesen, das wie ein Mensch aussieht. Was Daniel da sieht, könnte man geradezu als die Umkehrung von Gen 1,27 bezeichnen: Heißt es da nämlich, Gott habe die Menschen „nach seinem Bilde“ geschaffen, so sieht Daniel jetzt dieses göttliche Ur- und Vorbild selbst. Und zum anderen ist bei Daniel gerade nicht dieser ,Menschenähnliche‘ der Weltenrichter, sondern der ,Alte der Tage‘. Richterliche Funktionen werden ,jenem Menschensohn‘ erst in den Similitudines {Bilderreden} des äthiopischen Henochbuches zugeschrieben.

Dieser Argumentation ist eine Menge entgegenzuhalten. Wenn sich bis in unsere heutigen Bibelübersetzungen hinein das Stichwort „Menschensohn“ auf Daniel 7,13 zurückverfolgen lässt, dann darf man wohl davon ausgehen, dass das dort erwähnte „Himmelswesen, das wie ein Mensch aussieht“, eben unter der Bezeichnung „Menschensohn“ in vielen späteren Schriften immer wieder als eine von Gott besonders beauftragte Gestalt aufgegriffen wird, so bereits im Henochbuch, so in den synoptischen Evangelien und so auch an verschiedenen Stellen im Johannesevangelium. Dabei wird natürlich nicht einfach 1:1 übernommen, was in Daniel 7 stand, sondern jede spätere Rezeption passt die Vorstellung an ihren eigenen Kontext und die eigenen Aussageabsichten an. So verkündigt Johannes abweichend von Daniel 7 den Abstieg des Menschensohns in das irdische Fleisch des Messias Jesus (Johannes 1,14 und 3,13), und in seinen Augen gehört zur Übergabe von „Macht, Ehre und Reich“ des Uralten an den Menschensohn auch die Durchführung des Gerichts. Ob er damit auf das Vorbild des Henochbuches zurückgreift, lasse ich dahingestellt sein; dieses zeigt jedenfalls, dass man sich bereits vor Johannes so auf Daniel 7 beziehen konnte.

Interessant ist das Argument, dass der bar ˀenosch {Menschensohn} von Daniel 7,13 mit dem „Ur- und Vorbild“, nach dem Gott die Menschen gemäß 1. Mose 1,27 geschaffen hat, identifizieren werden könnte. Wenn das zutrifft, könnte Johannes sogar gedacht haben, dass Jesus als der Menschensohn genau mit diesem „Ur- und Vorbild“ identisch ist und eben deswegen auch in seinem Willen und Wirken ganz und gar eins mit Gott sein kann.
Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass der Menschenähnliche oder Menschensohn von Daniel 7,13 nicht im Zusammenhang mit 1. Mose 1,27 zu begreifen ist, sondern im engeren Kontext von Daniel 7 im Gegensatz zu den bestialischen Herrschern, die in 7,3-8 in der Gestalt verschiedener Tiere dargestellt werden. In dem Augenblick, in dem diese entmachtet werden (Vers 12), taucht die als menschenähnlich oder „Menschensohn“ dargestellte Gestalt auf, der sämtliche Macht übertragen wird.

Burkett selbst sieht drittens „in hyios anthrōpou (V. 27) weder einen Hoheitstitel noch eine Referenz auf Dan 7,13f, sondern vielmehr die Wiedergabe des geläufigen semitischen Idioms für ‚ein Mensch‘.“ Damit wird nach Thyen die seit Vers 22 offene Frage beantwortet (T316f.),

warum denn ausgerechnet der ,Sohn‘ anstelle des ,Vaters‘ das Amt des Richters ausüben soll. Darauf gibt V. 27 mit den Worten: „Weil er ein Mensch ist“, die Antwort…

Weil der fleischgewordene Gottessohn ein Mensch ist wie wir, hat der Vater diesem Sohn das Richteramt über die Menschen übertragen.

Das klingt sympathisch und nachvollziehbar, will auf der anderen Seite aber so gar nicht zu dem Bild passen, das Thyen immer wieder von Jesus zeichnet: Indem er eins mit Gott ist, soll er von Anfang an mit ihm gewesen sein und gewirkt haben, soll er als Mensch zugleich aus göttlicher Allwissenheit heraus handeln. Rückt er Jesus damit nicht doch in die Nähe eines Gottmenschen mit übermenschlichen Fähigkeiten?

Natürlich ist Thyen darin zuzustimmen, dass Jesus Mensch ist und Mensch bleibt, gerade indem er den Willen und das Wirken Gottes verkörpert. In meinen Augen interpretiert aber Johannes in genau dieser menschlich geerdeten Weise den Menschensohn von Daniel 7,13, indem er dessen Abstieg vom Himmel verkündet (3,13) und indem er von dessen Ehrung bzw. Erhöhung (12,23; 12,34; 13,31) in der paradoxen Form absoluter Entehrung des Menschen Jesus am römischen Kreuz erzählt. Ich kann mir keine normale Leserin, keinen Hörer des Evangeliums vorstellen, die die Worte hyios anthrōpou in Johannes 5,27 nicht in der gleichen Weise auf die Vorstellung des Menschensohnes beziehen würden wie dieselben Worte mit dem bestimmten Artikel. Thyen hatte allerdings auch die letzteren nicht von Daniel 7,13 her begreifen wollen. Wir werden sehen, wie er die weiteren Belegstellen auslegen wird.

Zum Vers 28 schreibt Thyen (T317), dass er unmittelbar an den eben ausgeführten Gedanken anschließt:

Dem Vorwurf gegenüber, daß Jesus Gott lästere, weil er – ein bloßer Mensch – sich selbst Gott gleich mache (V. 18), bildet er die Klimax {Höhepunkt} von Jesu Apologie {Verteidigungsrede}. Hieß es in Bezug darauf eben, daß Gott ihm das Amt, über alle Menschen zu richten, gerade deshalb übertragen habe, weil er ein Mensch unter den Menschen ist, so kann nun vom ,größten seiner Werke‘, nämlich vom Geschehen der endzeitlichen Erweckung aller Toten und vom ,jüngsten Gericht‘ selbst die Rede sein… Weil die endzeitliche Auferweckung aller Toten jenseits der erzählten Welt unseres Evangeliums liegt, heißt es von der ,kommenden Stunde‘ nun auch nur noch erchetai {sie kommt} und nicht mehr: kai nyn estin {und ist schon jetzt}, wie 4,23 und 5,25.

Mit keinem Wort geht Thyen an dieser Stelle auf die Nähe von Vers 29 zu Daniel 12,2 ein; vermutlich würde er zur Begründung auf das Fehlen wortwörtlicher Übereinstimmungen hinweisen, vielleicht auch den im Nachbarvers 12,1 erwähnten Bezug auf das Volk Israel als Widerspruch zu seiner Auffassung empfinden, dass Johannes im Blick auf das Endgericht eine weltweite Perspektive vertritt:

Die beiden V. 28 und 29 sind nicht nur innerhalb unserer Erzählung unentbehrlich, sondern sie sind auch theologisch insofern notwendig, als die Sendung des Sohnes ihren Grund ja in der Liebe Gottes zum kosmos und ihr Ziel darin besteht, daß der kosmos durch ihn gerettet werde (3,16f).

In diesem Zusammenhang ist es Thyen wichtig, den Begriff kosmos möglichst weit zu definieren. Zwar gibt auch ihm zufolge (T317f.) „der Glaube denen, die Jesu Stimme hören, ein ‚neues Selbstverständnis‘ …, so daß von ihnen gilt: ei tis en Christō, kainē ktisis. ta archaia parēlthen, idou gegonen kaina {Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden} (2Kor 5,17)“, aber darin kann „ja nicht schon das verheißene Heil des Kosmos bestehen.“ Insbesondere fragt Thyen nicht nur (T318)

nach dem Heil der zahllosen ,Übergangenen‘ …, denn der Ausdruck pantes hoi en tois mnēmeiois {alle in den Gräbern} bezeichnet doch fraglos alle Toten ohne Ausnahme seit ,Adams Zeiten‘, mögen sie nun begraben, verbrannt, auf hoher See ertrunken, von wilden Tieren gefressen oder „verschwunden“ sein…

Darüber hinaus legt Thyen, „auch wenn in diesem Evangelium, das für Leser geschrieben ist, die in ihrem messianischen Glauben angefochten sind, natürlich die Menschen und ihre Reaktionen auf Jesu Wort und Sendung im Vordergrund des Interesses stehen“, hohen Wert darauf,

daß das Lexem kosmos aufgrund der dichten biblischen Intertextualität des gesamten Evangeliums und zumal der absichtvollen Verknüpfung seines Prologs mit Gen 1,1ff zugleich immer die gesamte geschaffene Welt umfassen dürfte…

Ich bezweifle, dass Johannes den kosmos so versteht wie Thyen; nirgends ist in seinem Evangelium wie bei Paulus vom Seufzen der Schöpfung (Römer 8,22) die Rede, nirgends kommt überhaupt nur das Wort ktisis, „Schöpfung“, bei Johannes vor. Und selbst der Bezug des Wortes kosmos auf die Menschenwelt muss kein Interesse des Johannes am Seelenheil für die gesamte Völkerwelt signalisieren, wenn das Leben der kommenden Weltzeit für Israel, an dem Johannes zentral interessiert ist, unter den römischen Bedingungen nur noch möglich ist in Gestalt der Befreiung der gesamten Menschenwelt von der Weltordnung, die auf ihr lastet (beides von Johannes mit kosmos bezeichnet).

Mit Vers 30 wird Thyen zufolge die kunstvolle „Ringkomposition“ der Verteidigungsrede Jesu beendet, indem Jesus, nunmehr in der Ich-Form, die Aussage wiederaufnimmt, „der Sohn könne nichts von sich selbst her unternehmen, sondern nur tun, was er den Vater tun sehe“.

Weil er auch nicht das Geringste von sich selbst her tun kann … und weil er nicht seinen eigenen Willen, sondern allein den Willen dessen zu verwirklichen trachtet, der ihn gesandt hat, und weil er endlich sein richterliches Amt im unablässigen Hören (Präsens!) auf dessen göttliche Stimme ausübt, handelt er als der Fleisch gewordene Weltenrichter und richtet darum „in Gerechtigkeit“.

Schon in meinen kritischen Bemerkungen zu Wengst und Thyen habe ich auf Einsichten zurückgegriffen, die ich Ton Veerkamp <476> verdanke. Seine Übersetzung von Vers 27b, „weil er bar enosch, der MENSCH, ist“, ist von derjenigen Thyens (T305), „weil er ein Menschenkind ist“, gar nicht so weit entfernt, setzt aber im Gegensatz zu Thyen den Bezug auf Daniel 7,13 voraus. Auch die Verse 28-29 können nach Veerkamp nur vom Buch Daniel her verstanden werden:

Johannes 5,29 beruht auf Daniel 12,1-2:

In dieser Zeit steht Michael, der Großfürst, der Beistand deines Volkes.
Diese Zeit wird eine Zeit der Bedrängnis sein,
wie sie noch nie geschah seit es eine Nation auf der Erde gab.
In dieser Zeit wird dein Volk entfliehen,
alle, die im Buch aufgeschrieben sind.
Alle, die im Bodenstaub schlafen, werden erweckt,
diese zum Leben der kommenden Weltzeit,
jene zur abschreckenden Strafe der kommenden Weltzeit.

Es geht um das Volk, das der NAME in seinem Buch aufgeschrieben hat. In der Szene vom Goldenen Kalb sagt der NAME zu Mosche: „Wer sich an mir versündigt hat, den wische ich weg aus meinem Buch“ (Exodus 32,25). Ganz Israel wird erweckt, eben jenes Israel aus der Zeit der makkabäischen Kriege, wo die einen der Tora treu blieben, die anderen sich dem Hellenismus auslieferten. Bei Johannes wird das Kriterium merkwürdigerweise nicht auf das Vertrauen im Messias hin zugespitzt, sondern wir haben einen ähnlichen Gedanken wie in der großen Urteilsszene bei Matthäus, 2,31ff. „Das Gute tun“ ist das Kriterium, in der negativen Gestalt „die törichte Praxis (ta phaula praxantes)“. Das ist nicht paulinisch; aber es ist evangelisch! <477>

Darin, dass Johannes nach Veerkamp ganz auf das Volk Israel konzentriert bleibt, besteht der Hauptunterschied von Wengst und Thyen. In der Einschätzung, dass die Verse über das Gericht nach dem Tun der Menschen keineswegs im Johannesevangelium fehlen dürften, ist Veerkamp mit den beiden anderen einig:

Jeschua versperrt hier die Möglichkeit, „symbolisch“ zu deuten. Die Toten in ihren Grabstellen werden die Stimme hören. Nun ist das für die Gegner, die Peruschim {Pharisäer, rabbinische Juden}, keine ungewöhnliche Vorstellung; sie kennen die Vision Daniels und sie kennen die Vorstellung des Gerichtes über Lebende und Tote. Diese sehr alte Vorstellung soll ausschließen, dass sich der Verbrecher, der in Würde beerdigt wurde, durch seinen Tod dem Recht entziehen kann. Über die durch keinen Tod beschränkte Vollmacht des Rechts reden wir hier. Die, deren Werke auf der Linie des Schöpfers liegen, „die das Gute tun“, erfahren die „Auferstehung des Lebens“. Die, deren Werke das absolute Gegenteil der Werke der Schöpfung sind, die nicht lebend machen, sondern töten und morden, erfahren die „Auferstehung des Gerichtsurteils“. Und deswegen bewährt sich sein Gerichtsverfahren.

Indem Veerkamp die Abhängigkeit Jesu vom Gott Israels betont, geht er auch auf den Zusammenhang des endgültigen Gerichts mit dem Sabbat des Gottes Israels ein, wie ihn Johannes sieht:

Jeschua ist nichts als der Ausführende: „So wie ich höre, so urteile ich.“ Das macht sein Urteil bewährt, wie der, der ihn sendet, der zadiq, dikaios, Bewährte oder der Wahrhaftige ist. Nein, hier waltet keine Willkür („nur die, die ich will“), sondern der Rechtswille des Gottes Israels, des ihn Sendenden. Das Werk, „die Toten in ihren Gräbern lebend machen“, ist das Werk des Rechts und des gerechten Richters. Dieses Werk steht noch aus, noch ist das Gericht nicht vollendet, weder an Lebenden noch an Toten. Erst wenn der gerechte Richter sich und sein Recht machtvoll durchsetzt, wird der Gott Israels „feierlich ruhen von allen Werken, die er getan hat“. Erst dann ist Schabbat.

Es bleibt noch zu klären, warum Veerkamp ziemlich oft Ausdrücke aus der deutschen Wortfamilie „wahrhaftig/bewährt“ verwendet, etwa für das griechische Wort dikaios, <478> das wir gewöhnlich mit „gerecht“ übersetzen. Er folgt damit einer Praxis des jüdischen Verdeutschers der Heiligen Schrift, Martin Buber:

Der Stamm dik– steht für die hebräische Wurzel zadaq, die nach Buber mit deutschen Wörtern vom Stamm „wahr-“ wiederzugeben sind. Dikaiosynē ist daher „Bewährung, Wahrhaftigkeit, Wahrheit“. Für das „Recht“ haben wir die hebräische Wurzel schafat, „Recht tun, Gerechtigkeit walten lassen“, krinein, krisis steht für hebräisch mischpat, „Recht und Gericht“.

In diesem Punkt kann ich mit Veerkamp nur bedingt mitgehen. Ich verstehe das Anliegen Bubers, gleiche Wurzeln im Hebräischen möglichst mit Wörtern gleicher Wurzeln im Deutschen wiederzugeben, aber gerade im Blick auf das Wortfeld „wahr-“ überzeugen mich die von ihm angebotenen Übersetzungen oft nicht wirklich, zumal im deutschen Wort „wahr“ oft mehr die Frage nach der Tatsächlichkeit eines Ereignisses wahrgenommen wird als etwa diejenige nach der Bewährung eines Menschen an den Maßstäben der Tora. Andererseits gibt auch das deutsche Wort „gerecht“ Anlass zu Missverständnissen, wenn man es nicht im Sinne der tätigen Bewährung in einem Leben nach der Tora versteht, sondern als wesensmäßige Rechtschaffenheit oder als Ausdruck der Gleichbehandlung aller Menschen. In meinen Augen muss in jedem Einzelfall nach der angemessenen Übersetzung Ausschau gehalten werden.

Johannes 5,31-32: Jesus beruft sich auf einen vertrauenswürdigen Zeugen

5,31 Wenn ich von mir selbst zeuge, so ist mein Zeugnis nicht wahr.
5,32 Ein anderer ist’s, der von mir zeugt;
und ich weiß, dass das Zeugnis wahr ist, das er von mir gibt.

[18. Juni 2022] Für Klaus Wengst (W177) geht es im gesamten Rest des Kapitels 5 um die „Legitimation“ Jesu. Mit welchem Recht kann Johannes behaupten, „dass im Wirken Jesu Gott wirkt, ja sogar sein endzeitliches Handeln, mit dem er Tote lebendig macht und Gericht hält, jetzt schon zum Zuge kommen lässt“?

Zu Beginn stellt Jesus heraus, dass ihn nicht sein eigenes Zeugnis ausweise, sondern dass „ein anderer“ gültig für ihn Zeugnis ablege (V. 31f.). Dieser „andere“ ist nicht Johannes der Täufer, dessen Zeugnis für Jesus zwar ein wahres Zeugnis ist, das ihn aber nicht zu legitimieren vermag (V. 33-35). Als „der andere“ wird „der Vater“ genannt, der sein Zeugnis im Wirken des Sohnes ablegt (V. 36-38). Das führt schließlich zu der Frage, wie sich dazu das Zeugnis der Schriften und des Mose verhält (V. 39-47).

Die Übersetzung „wahr“ für alēthēs in Vers 31 hält Wengst für unangemessen (Anm. 273):

Es ist ja nicht so, dass Jesu Zeugnis im Sinne des Evangelisten nicht „wahr“ wäre, aber als Zeugnis über sich selbst hätte es keinen juristischen Wert.

Jesus kann also nur meinen (W177), „dass ein von ihm selbst gegebenes Zeugnis nicht ‚beglaubigt‘ wäre“. Auch er (W178) „bedarf unabhängiger Zeugen, um den Verdacht abzuweisen, „eigene Interessen zu verfolgen und also befangen zu sein“. Von vornherein kann Wengst zufolge aber von einer wirklichen Unabhängigkeit des von Jesus genannten Zeugen nicht die Rede sein:

So führt Jesus auch einen „anderen“ an, der für ihn Zeugnis ablegt. Aber indem er sogleich hinzufügt, er wisse, dass dessen Zeugnis über ihn „beglaubigt“, „verlässlich“ sei, deutet sich schon hier ein enger Zusammenhang zwischen ihm und diesem anderen an.

Auch Hartwig Thyen (T319) überschreibt den „seiner ,Apologie‘ {Verteidigungsrede} folgenden Teil der Rede Jesu (5,31-40)“ mit dem Stichwort „Legitimation“. Dazu betont er,

daß der Erweis von ,Glaubwürdigkeit‘ oder ,Unglaubwürdigkeit‘ des Zeugen im Prozeß und in diesem Sinne seine ,Legitimation‘ der entscheidende Grundzug des gesamten jüdischen Gerichtswesens ist.

Den Unterschied „zu den uns geläufigen gerichtlichen Verfahren“ hat Thyen zufolge Anthony Harvey „treffend beschrieben und darin geradezu einen Schlüssel zur literarischen Struktur unseres Evangeliums entdeckt: <479>

„Die Reden der Parteien in einem solchen Streitfall unterschieden sich erheblich von dem, was man in einem abendländischen Gericht erwartet hätte. Es wurde nicht versucht, einen Fall Stück für Stück aufzuarbeiten, Beweise schrittweise zusammenzutragen und dem Ganzen eine eigene logische Schlüssigkeit zu verleihen. Vielmehr ging es darum, dass jede Partei ihren Fall immer wieder so vortrug, dass die Zweifel der Zuhörer ausgeräumt wurden. Es ging nicht so sehr darum, einen Fall zu präsentieren, der nicht widerlegt werden konnte, sondern sich selbst als eine Person darzustellen, die es verdiente, dass man ihr glaubte; und die wirksamste Methode, dies zu erreichen, bestand oft darin, immer wieder dasselbe zu sagen, mit nur kleinen Abweichungen im Detail und mit wiederholtem Beharren auf der eigenen Glaubwürdigkeit …“.

Daher ist es nach Thyen „kein Zufall, daß Jesu gesamte Legitimation als ,glaubwürdiger‘ (alēthēs) Zeuge von den forensischen Termini martyrein und martyria {Zeugnis ablegen und Zeugnis} beherrscht wird“.

Zu dem Widerspruch, der zwischen Johannes 5,31 und 8,14 besteht, dass Jesus hier sein eigenes Zeugnis als unglaubwürdig, dort aber als glaubwürdig bezeichnet, und der den Exegeten Barrett <480> zur Frage veranlasst hat, „ob ein Schriftsteller, der sein Werk vollständig durchgesehen hat, die zwei Aussagen in ihrer vorliegenden Form hätte stehen lassen“, betont Thyen (T319f.), dass

gerade in diesem gewiß nicht zufällig ,stehen gebliebenen‘, sondern absichtsvoll gesetzten Widerspruch … das Paradox der Sendung Jesu als des fleischgewordenen Logos [besteht]. Überall in unserem Evangelium und zumal in seinen egō eimi-{ICH-BIN-}Worten tritt Jesus ständig als Zeuge ,in eigener Sache‘ auf. Und doch steht all das unter der ständigen Prämisse, daß er nichts von sich selbst her tut noch überhaupt tun kann (5,19f.30f).

Damit ist auch die von Wengst angedeutete Frage nach der wirklichen Unabhängigkeit des anderen Zeugen, auf den Jesus in Vers 32 verweist, bereits beantwortet. Thyen legt diesen Vers folgendermaßen aus:

Auch wenn er [Jesus] bei der Nennung dieses ,Anderen‘ an Johannes den Täufer denken könnte und die folgenden Verse das sogar zunächst zu bestätigen scheinen, ahnt der Leser bereits, was explizit erst V. 37 erklären wird: Der ,Andere‘ – und darin besteht das Paradox – ist der Vater, der aber durch den Mund und durch die Worte und Werke eben dieses Sohnes für ihn zeugt. Darum kann und muß der Sohn dem Satz, daß sein Zeugnis, wenn es denn ein Zeugnis in eigener Sache wäre, unglaubwürdig ist, in 8,14 den anderen Satz hinzufügen, daß aber sein Zeugnis gleichwohl glaubwürdig ist, weil es nämlich gar nicht das Seine ist.

Das heißt, nicht als die Persönlichkeit Jesus ben Joseph von Nazareth, sondern als der vom VATER Gesandte beansprucht Jesus Glaubwürdigkeit:

Daß es nicht das Zeugnis jenes Sohnes Josephs ist, dessen Eltern und Milieu seine Ankläger zu kennen meinen (6,42), sondern das Zeugnis des Vaters, macht den grammatisch (und juristisch) korrekten Realis {der Wirklichkeit entsprechender Satz} von 5,31 zugleich zum logischen lrrealis {irrealer Satz}, weil von diesem egō gilt, monos ouk eimi, all‘ egō kai ho pempsas me patēr {ich bin nicht allein, sondern ich und der mich gesandt habende Vater} (8,16).

Auch Ton Veerkamp <481> sieht im Hintergrund von Vers 31 stillschweigend den

Einwurf der Gegner…, den sie in 8,13 offen vorbringen: ‚Du gibst Zeugnis über dich selbst; dein Zeugnis ist nicht vertrauenswürdig.‘

Auf diesen Einwurf antwortet Jeschua mit dem Eingeständnis, dass sein Zeugnis nicht vertrauenswürdig wäre, wenn er über sich selbst Zeugnis gäbe.

Auf die Widersprüchlichkeit zwischen 5,31 und 8,14 geht er hier nicht ein; wir werden sehen, dass er Jesu Argumentation in 8,14 nicht für geeignet halten wird, seine innerjüdischen Gegner zu überzeugen.

Johannes 5,33-35: Johannes als Zeuge und Leuchte für Gottes Treue und Befreiung

5,33 Ihr habt zu Johannes geschickt, und er hat die Wahrheit bezeugt.
5,34 Ich aber nehme nicht von einem Menschen Zeugnis an;
sondern ich sage das, damit ihr selig werdet.
5,35 Er war ein brennendes und strahlendes Licht;
ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein in seinem Licht.

[19. Juni 2022] In den folgenden Versen geht es zunächst noch einmal um das Zeugnis Johannes des Täufers. Wengst zufolge (W178) galt dieser zwar „schon zuvor im Evangelium als Zeuge schlechthin“, indem er „ein wahres, ein verlässliches“ Zeugnis abgelegt hat, das „weiterhin Bedeutung“ behält. Dennoch ist er nicht „dieser ‚andere‘“, den Jesus soeben als seinen glaubwürdigen Zeugen angekündigt hat.

Da ein menschlicher Zeuge wie der Täufer aber nicht legitimieren kann, „dass im Wirken Jesu Gott wirkt“, muss Jesus zwei Sätze mit gegenläufiger Bedeutung hart nebeneinanderstellen. Einerseits kann „menschliches Zeugnis“, „indem es zum Vertrauen auf Gott führt (vgl. 1,7), … sogar der ‚Rettung‘“ dienen, andererseits „muss Jesus feststellen: ‚Ich nehme aber nicht das Zeugnis von einem Menschen an‘“, denn es ist „dem Menschen unmöglich …, Gott und sein Handeln zu begründen“. Das muss er „aber auch gar nicht, weil Gott schon für sich selbst gesprochen und gehandelt hat und der menschliche Zeuge hier nur noch nachsprechen kann, darf und soll.“

In diesem Zusammenhang würdigt Jesus Johannes rückblickend als eine „Lampe“, lychnos, „die brannte und leuchtete“. Dass die Lutherbibel die Wörter lychnos und phōs in diesem Satz beide mit „Licht“ übersetzt, lädt zu Missverständnissen ein, da Johannes 1,8 ausdrücklich verneint hatte, dass „jener das Licht war“. Wengst verweist dazu auf eine rabbinische Quelle, <482> in der ebenfalls metaphorisch von „der ‚Lampe‘, der ‚Leuchte‘ im Unterschied zu größerem Licht“ die Rede ist:

Dort sagt Jitro, als Mose ihn zurückhalten will: „Die Lampe nützt doch nur etwas an einem dunklen Ort. Was nützt denn die Lampe zwischen Sonne und Mond? Du bist Sonne, und Aaron, dein Bruder, ist Mond. Was soll die Lampe zwischen euch tun? Pass auf! Ich will vielmehr zu meinem Land gehen, alle Kinder meines Bezirks zu Proselyten machen, sie zur Lehre der Tora hinführen und sie unter die Fittiche der sch‘chináh {Einwohnung Gottes} bringen.“

Den Vorwurf, den Jesus seinen Gegnern bezüglich Johannes des Täufers entgegenbringt, deutet Wengst folgendermaßen (W178):

Über das Licht dieser Lampe, die Johannes war – lautet nun der Vorwurf –, „wolltet ihr euch kurze Zeit freuen“. Damit soll wohl gesagt sein, dass die Adressaten im Blick auf Johannes eine gewisse Akzeptanz zeigten, aber ihm dann doch nicht folgten. Das könnte für den Evangelisten auch nur in der Akzeptanz Jesu bestehen, da er Johannes zum Zeugen schlechthin für Jesus gemacht hat.

Hartwig Thyen (T320) zufolge mag Jesus zunächst durchaus bewusst in der Schwebe lassen, ob nicht doch „der Täufer der bisher unbenannte ,Andere‘“ ist, „der für ihn als Zeuge eintritt“. Er erinnert „seine Antagonisten an die Delegation, die sie einst ausgeschickt hatten, Johannes den Täufer nahezu förmlich zu ,verhören‘“, und benennt „die einstige martyria des Johannes … als bleibendes ,Zeugnis für die Wahrheit‘“. Zu diesem Zeugnis betont Thyen (T321):

Wenn das feierliche Bekenntnis des Johannes, daß er weder der Messias, noch Elia, noch auch ,der Prophet‘ sei, nämlich der Dtn 18,18f verheißene Prophet ,wie Mose‘, aber impliziert, daß alle diese Verheißungen in Jesus erfüllt und überboten sind, dann hätten die, die Jesus hier der Gotteslästerung verdächtigen, zumindest offen sein müssen für seine Zeichen und Worte. Denn in den ,Schriften‘, die sie doch mit großem Eifer durchforschen, weil sie in ihnen mit ebenso viel Recht wie Unrecht das ,ewige Leben‘ zu finden hoffen (5,39), steht doch geschrieben: „Einen Propheten wie dich (nämlich wie Mose) werde ich ihnen ,erwecken‘ (anastēsō autois) aus der Mitte ihrer Brüder, und ich werde mein Wort in seinen Mund legen, und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm (zu sagen) gebiete. … (Dtn 18,18f). Gerade die Ioudaioi sollten wissen, daß kein Prophet sich je anders zu legitimieren vermag als dadurch, daß er auf seinen Auftraggeber verweist, der ihn der unentrinnbaren anankē {Zwang} seines Propheten-Daseins unterworfen hat.

Wie ist nun damit umzugehen (T322), dass sich Jesus mit Vers 34a von Johannes dem Täufer zu distanzieren scheint? In Karl Barths <483> umschreibender Wiedergabe von Vers 34 sieht Thyen den wohl einzigen Weg zur „Auflösung dieses Dilemmas“:

„Nicht als Menschenwort nehme ich sein Zeugnis als gültig an, anerkenne ich in ihm das Zeugnis des ,Anderen‘ peri emou. Kein Mensch als solcher kann einem Anderen das Zeugnis geben, das ich brauche. Auch Johannes konnte das nicht. Es ist aber auch nicht das ,Zeugnis von einem Menschen‘, das ich meine und anerkenne, wenn ich euch auf ihn verweise, sondern ich verweise euch auf ihn – ,damit ihr gerettet werdet!‘ Von wem kann man gerettet werden als von dem, der allerdings durch Johannes zu euch gesprochen, der aber nicht Johannes, sondern eben der ,Andere ist? Habt ihr diesen gehört, als ihr Johannes hörtet? Nein, antwortet V. 35 …“.

Zu Vers 35 weist Thyen anders als Wengst darauf hin, dass hier „Johannes nicht einfach mit einem brennenden Leuchter verglichen“ wird, „der seinen Schein verbreitet“. Stattdessen wird er „mit dem wiederholten Artikel beim Prädikatsnomen: ho lychnos ho kaiomenos kai phainōn {die Leuchte, die brennt und scheint}, als der (bekannte) Leuchter bezeichnet.“ Unter Berufung auf F. Neugebauer <484> sieht er „diese Artikel“ als ein Signal für „ein intertextuelles Spiel mit Psalm 131,16b-17“ (nach der LXX). Nach dem hebräischen Text entsprechen diese Verse Psalm 132,16b-17. Dort spricht der Gott Israels:

Und ihre Heiligen sollen fröhlich sein.
Daselbst lasse ich aufgehen das Horn Davids,
ich habe meinem Gesalbten eine Leuchte zugerichtet.

Unmöglich ist es nicht, dass der Evangelist Johannes sich in seiner Bemerkung über den Täufer auf diese Schriftstelle bezieht (T322):

Johannes war eben dieser Leuchter, den Gott aufgestellt hat, seinen Christus ins rechte Licht zu setzen. Das war sein Lebenszweck und der Inhalt der ,Wahrheit‘, die er bezeugt hatte. Aber nicht über den von Johannes beleuchteten messianischen Gottessohn sind die hosioi {Heiligen, Gerechten} in lauten Jubel ausgebrochen, sondern, blind für den wahren Zweck dieses ,von Gott als Leuchter gesandten Menschen‘ (1,6), haben sie sich nur kurzweilig an seinem flackernden Schein ergötzt.

In dieser Stelle sieht Thyen eine weitere

Bestätigung dafür, daß die vermeintliche Polemik unseres Evangeliums gegen eine ,Täufersekte‘ … sich in Wahrheit wohl gegen ein Judentum richtet, das Johannes als den ,Seinen‘ beansprucht und ihn „gegen Jesus ausgespielt“ hat. Im Hintergrund unserer um die Frage nach der Vollmacht Jesu kreisenden forensischen Szene scheint überdies Mk 11,27-32 zu stehen. Ebenso wie hier wird auch da auf den Täufer und seine Taufe als auf eine abgeschlossene Episode zurückgeblickt…

Ton Veerkamp <485> nimmt zunächst Johannes den Täufer als den „anderen Zeugen“, von dem Jesus spricht:

Die Gegner haben Zeugnis von ihm verlangt und dessen Zeugnis sei „für die Treue“. Das heißt, dieser habe bezeugt, dass Gott Israel die Treue hält. Jeschua weist auf Jochanan hin; alles, was er sagt und tut, diene der Befreiung Israels.

Zwei Dinge interpretiert Veerkamp demgemäß anders als Wengst und Thyen: Die Wendung martyrein tē alētheia, die nach Thyen (T320) „nur hier und Joh 18,37“ erscheint, spitzt er über ein Zeugnis „für die Wahrheit“ hinaus auf das Zeugnis für die Treue des Gottes Israels zu; zugleich nimmt er in dem Wort sōthēte die Grundbedeutung der Befreiung ernst, die dieser Gott Israel verheißt, und spricht nicht doppeldeutig oder den diesseitig-politischen Sinn völlig unterdrückend von der Rettung der Angesprochenen.

In Vers 35 setzt Veerkamp zufolge der Evangelist dem Täufer

ein Monument mit den Worten: „Dieser war wie eine Fackel, brennend, strahlend.“ Und fügt die rätselhaften Worte hinzu: „Ihr wolltet [bloß] kurze Zeit jubeln in seinem Licht.“

Zwei Rätsel sind hier zu lösen: erstens, ob tatsächlich diejenigen, „die ‚zu Jochanan sandten‘ (1,24)“, um ihn einem Verhör zu unterziehen, dieselben sind, die in seinem Licht jubelten, und zweitens, ob sich die Bedeutung der Worte pros hōran in der Übersetzung mit „kurze Zeit“ (Wengst) oder „kurze Weile“ (Thyen) erschöpft. Für „kurze Zeit“ verwendet Johannes nach Veerkamp (Anm. 203) sonst die Ausdrücke mikron chronon oder nur mikron, nämlich in Johannes 7,33; 12,35; 13,33; 14,19; 16,16.17.18.19. Die Wendung pros hōran, wörtlich: „auf die Stunde hin“, auf die Johannes hier zurückgreift (Anm. 202),

steht im Gegensatz zu „in Weltzeit“. Im Philemonbrief finden wir diesen Ausdruck: „Denn vielleicht war er deswegen kurze Zeit getrennt gewesen, damit du ihn in Weltzeit behältst“ (V.15).

Davon ausgehend stellt Veerkamp einem Bejubeln des Täufers „auf die Stunde hin“ die in Psalm 5,12 erwähnte messianische Freude gegenüber:

Psalm 5,12 lautet: „Freuen werden sich, die bei dir geborgen sind / in Weltzeit werden sie jubeln (eis aiōna agalliasontai)…“ Wenn Johannes auf Psalm 5,12 hindeutet, dann bedeutet agalliathēnai pros hōran, dass die Bewunderung für Jochanan nicht auf dem messianischen Aspekt seines Auftritts beruht, sondern auf der moralischen Wertschätzung seiner Person.

Für den Hinweis, dass in Psalm 132,16b-17 ein noch engerer Zusammenhang sogar mit der Leuchte hergestellt werden kann, die der NAME seinem Messias aufrichtet, wäre Veerkamp Thyen sicher dankbar gewesen, zumal auch diese messianische Rede in Vers 14 die Ruhe Gottes eis aiōna, „in Weltzeit“, als klares Ziel benennt.

Dafür, dass es in der Tat judäische Bewunderer Johannes des Täufers gab, benennt Veerkamp beispielhaft den

Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der in seinen Jüdischen Altertümern {Ant. 18, 5, 2} Jochanan als Moralprediger beschreibt:

… einen edlen Mann …, der die Juden anhielt, nach Vollkommenheit zu streben, indem er sie ermahnte, Gerechtigkeit einander und Frömmigkeit Gott gegenüber zu üben …

Mit der messianischen Predigt Jochanans, gar mit seinem messianischen Zeugnis hatten Leute wie Flavius Josephus nichts zu tun. Sie wollten ihn als geschätzten Ethiker, der die gegenwärtige Ordnung nicht wirklich in Frage stellt. „Jochanan? Ein edler Mensch, einer von uns. Er will die Menschen besser machen, nicht aber die herrschende Ordnung umstürzen. Aber dieser Jeschua? Ein Renegat. Diese Messianisten? Fanatiker!“ So ungefähr müssen die Argumente gewesen sein, mit denen sich Johannes und seine Gruppe auseinanderzusetzen hatten und die wohl manchen in seiner Gruppe zu schaffen machten. Die Bewunderung für Jochanan sei offenbar nur eine vorübergehende Sache gewesen.

In der Einschätzung, dass die jüdischen Gegner Jesu den Täufer als einen der Ihren für sich reklamieren, bestätigt Veerkamp also die Auffassung Thyens, während beide in der Betrachtung Jesu weit auseinanderstrebende Wege gehen.

Johannes 5,36-37a: Das Zeugnis der Werke des Sohnes und das Zeugnis des VATERS für den Sohn

5,36 Ich aber habe ein größeres Zeugnis als das des Johannes;
denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende,
eben diese Werke, die ich tue, zeugen von mir,
dass mich der Vater gesandt hat.
5,37a Und der Vater, der mich gesandt hat, hat von mir Zeugnis gegeben.

[20. Juni 2022] Nach Wengst (W178) soll nun „endlich genannt werden, was wirklich zu legitimieren vermag, soll der angekündigte ‚andere‘ sozusagen in den Zeugenstand treten.“ Die Verse Johannes 5,36-37a stellen in seinen Augen jedoch „ein höchst merkwürdiges Zeugnis“ dar (W178f.):

„Die Taten nämlich, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe – eben die Taten, die ich tue, legen Zeugnis für mich ab, dass der Vater mich gesandt hat. Ja, der Vater, der mich geschickt hat, der hat Zeugnis für mich abgelegt.“ Die Merkwürdigkeit besteht darin, dass „der andere“ sein Zeugnis gar nicht anders als im Handeln Jesu ablegt, dass also Jesus für sein Handeln beansprucht, es sei Vollzug des Willens Gottes.

Im einzelnen will Wengst (W179) bei Jesu Taten „nicht in besonderer Weise an das vorher erzählte Wunder und an weitere Wunder“ denken, „so gewiss sie einbeschlossen sind“. Vielmehr verweist die

Formulierung ‚dass ich sie vollbringe‘ … auf das Ende des Evangeliums, auf den Tod Jesu am Kreuz und auf das Zeugnis von seiner Auferweckung. Im Blick ist also das gesamte Wirken Jesu. Das – mit seinem Ende am Kreuz – kann nur so Zeugnis sein, dass es als Zeugnis beansprucht wird.

Wie kann ein solcher zeugnishafter Anspruch aber erhoben werden? Hier kommt er

darin zum Ausdruck, dass „die Taten“ als vom Vater „gegeben“ bezeichnet werden mit dem Ziel, sie zu vollbringen. Der „andere“ ist also keine neutrale Instanz, auf die man sich objektiv beziehen könnte, um dann das Handeln Jesu abwägend beurteilen zu können. Dementsprechend nennt ihn Jesus hier gewiss nicht zufällig seinen Vater.

Der Problematik (Anm. 278), dass auch Gottes Zeugnis, wenn er „als Vater über Israel als seinen Sohn Zeugnis ablegt“, als befangen verdächtigt werden kann, tritt nach Wengst auch in einer rabbinischen Tradition <486> zu Tage:

Nach ihr sagen die Götzendiener vor Gott: „,Herr der Welt, haben denn die Israeliten, die die Tora empfangen haben, sie auch ausgeführt? Der Heilige, gesegnet er, sagte ihnen: ,Ich bezeuge ihnen, dass sie die ganze Tora ausgeführt haben! Sie sagen vor ihm: ,Herr der Welt, darf denn ein Vater über seinen Sohn Zeugnis ablegen? Denn es steht geschrieben (Ex 4,22): Mein erstgeborener Sohn ist Israel.“

Dort ist es schließlich so, worauf Wengst allerdings nicht mehr eingeht, <487> dass sich „der Heilige“ schließlich auf genau die Völker als unabhängige Zeugen beruft, die seine Weisung nicht angenommen hatten:

Von euch sollen sie kommen und für Israel zeugen, daß sie die ganze Weisung erfüllt haben. Nimrod soll kommen und für Abraham zeugen, daß er keinen Götzendienst trieb. Laban soll kommen und für Jakob zeugen, daß er nicht des Raubes verdächtig war. Die Frau Potiphars soll kommen und für Joseph zeugen, daß er nicht der Übertretung verdächtig war. Nebukadnezar soll kommen und für Hananja, Misael und Asarja zeugen, daß sie sich nicht vor dem Bilde niedergeworfen haben. Darius soll kommen und für Daniel zeugen, daß er das Gebet nicht unterlassen hat. Bildad aus Suah soll kommen, Zophar aus Naema, Eliphas aus Teman und Elihu, Baracheels Sohn aus Bus, und sie sollen für Israel zeugen, daß sie die Weisung ganz und gar erfüllt haben, denn es heißt: Hergeben sollen sie ihre Zeugen, damit jene bewahrheitet werden.

Jesu Anspruch dagegen (W179), „in seinem Wirken als von Gott Beauftragter und Gesandter“ zu handeln, ist nicht auf eine solche Weise ableitbar:

Das, was legitimiert, ist identisch mit dem, was legitimiert werden soll. Es liegt hier ein geschlossener Kreis vor. Er könnte nur um den Preis aufgebrochen werden, dass an die Stelle des Zeugnisses Gottes ein menschliches Zeugnis träte. Ob Gott präsent ist, kann nicht objektiv demonstriert werden. Das muss sich schon in der Verkündigung dieses Zeugnisses selbst erweisen. Und es erweist sich, indem durch sie Gemeinde entsteht und lebt. Die Legitimation Jesu liegt in der Selbstevidenz der Verkündigung.

In der Argumentation von Hartwig Thyen zu Vers 36 fällt auf (T322), dass er sich viel weniger mit dem „Zeugnis der Werke Jesu, des messianischen Gottessohnes, der mit dem heiligen Geist tauft und die Toten lebendig macht“, beschäftigt, als dieses Zeugnis mit demjenigen des Johannes zu vergleichen (T323):

Wie der quantitative Komparativ meizō {größer} zeigt, sind … beider ,Werke‘ … insofern vergleichbar, als durch beider Mund und Werk jener in V. 32 genannte ,Andere‘ spricht und handelt. … Und vergleichbar sind diese beiden unvergleichlichen Zeugen auch darin, daß sie beide mißverstanden werden, daß sie beide auf Ohren stoßen, die taub sind für die Stimme jenes ,Anderen‘, die aus ihrem Munde erklingt, für sein Tun, das sich im Wirken dieses Sohnes vollendet.

Nur indirekt wirft Thyen ein deutendes Licht auf die Werke Jesu, indem er darauf verweist, dass seine jüdischen Gegner nicht nur den Täufer, sondern auch Jesus „für einen ihresgleichen“ halten, und dazu einmal mehr Karl Barth <488> zu Wort kommen lässt:

Daß aber „das geschichtliche Leben Jesu an sich, abgesehen von seinem Woher und Wohin, ohne Erkenntnis seiner theologischen und eschatologischen Bedeutung, das geschichtliche Leben Jesu bei Ablehnung des Zeugnisses des ‚Anderen‘, das da stattfindet, … so wenig selig (macht) wie irgend eine Geschichte“, das verkennen sie…

Indem Thyen diesem Zitat Barths „Hinweis auf Fichtes ,Anweisung zum seligen Leben‘“ hinzufügt: „Nur das Metaphysische, keineswegs aber das Historische macht selig; das letztere macht nur verständig“, macht er überdeutlich, mit dem hier ausgebreiteten Gegenüber des geschichtlichen Lebens Jesu einerseits und seiner theologisch/eschatologischen Bedeutung andererseits eine ausgesprochen metaphysische, religiös-jenseitsweltliche Zielsetzung zu verfolgen, mit anderen Worten: Jesu Werke stehen letzten Endes im Dienst der ewigen Seligkeit aller Menschen auf Erden, die auf ihn zu vertrauen vermögen.

Während Wengst den Vers 37a fast nur vom Vers 36 her ausgelegt hatte (W179), insofern nämlich der Vater „sein Zeugnis“ für den Sohn „gar nicht anders als im Handeln Jesu ablegt“, legt Thyen (T323) umgekehrt den Hauptakzent auf die Auslegung von Vers 37a. Das Zeugnis den „sendenden Vaters selbst“ erhält sein „besonderes Gewicht … durch den Einsatz des Demonstrativums ekeinos {jener} sowie durch das Perfekt memartyrēken {hat Zeugnis abgelegt}“. Unter Verweis „auf das heōs arti {bis jetzt} von 5,17“ erklärt dazu Robert H. Lightfoot: <489>

„Alles Leben, im und vom Anfang an, hat, wenn es richtig verstanden wird, als das Wirken des Vaters den Herrn bezeugt“.

In zweifacher Hinsicht widerspricht Thyen der Auslegung von Vers 37a durch Jürgen Becker. <490> Dieser erklärt nämlich zum einen,

das Perfekt memartyrēken {er hat bezeugt} könne „analog zu 3,11-13 vom Standpunkt der Gemeinde aus gesprochen sein“, die damit „auf das abgeschlossene Wirken Jesu“ zurückblicke und es „als ein Zeugnis des Vaters wie 1Joh 5,10“ interpretiere… Doch der Vorstellung, daß unser Erzähler derart unvermittelt aus der Zeit seiner Erzählung in die nachösterliche Zeit seines Erzählens hinübergesprungen sein könnte, haben wir bereits bei der Interpretation der vermeintlichen Analogie von 3,11-13 widersprochen.

Mit dem zweiten Gesichtspunkt kommt Thyen auf ein Anliegen zurück, dass auch mir besonders am Herzen liegt:

Erst recht müssen wir Becker widersprechen, wenn er V. 37 „dahingehend (deutet), daß vor und abgesehen von Jesus Gott sich überhaupt nicht offenbart“ habe und den Juden damit jeglicher Zugang zu Gott abgespochen werde. Dem Johannesevangelium sei vielmehr die Position eigen, „daß nur exklusiv der Sohn den unbekannten Vater offenbart mit den entsprechenden Konsequenzen“. Doch, wie unten zu 14,6 auszuführen sein wird, verhält es sich bei Johannes genau umgekehrt: Da tritt der bekannte Vater, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs als Zeuge für seinen unbekannten Sohn Jesus Christus vor die Schranken des vom Kosmos gegen diesen versammelten Gerichts und macht ihn als den bekannt und erkennbar, den er in seiner Liebe zum Kosmos zu dessen Erlösung gesandt hat.

Für Ton Veerkamp <491> sind die Werke, die für Jesus Zeugnis ablegen, klar erkennbar in den Zeichen der Befreiung, die er an einzelnen Menschen in Israel vollbringt:

Das entscheidende Zeugnis für Jeschua sind seine Werke. Und die Tatsache, dass Jeschua diese Werke vollbringt, führt er zurück auf die vollendete Tatsache, dass der Vater Zeugnis über Jeschua gegeben hat, Perfektum! Das hat er getan, indem er Jeschua alle Macht gegeben hat – und das, nur das, erweist sich in den Werken. Hier geht es um das Werk, durch das er dem achtunddreißig Jahre gelähmten, ums Gebirge Seïr kreisenden Israel den Gang ermöglicht.

Während Thyen auf eine selig machende Geschichte in metaphysischem Sinn hinaus will und Wengst (W179) von einer „Selbstevidenz der Verkündigung“ spricht, die sich sozusagen selbst bestätigt, „indem durch sie Gemeinde entsteht und lebt“, ist Johannes nach Veerkamp an der Zukunft Israels interessiert, dessen Leben der kommenden Weltzeit sich hier auf der Erde unter dem Himmel Gottes abspielen wird.

Johannes 5,37b-38: Stimme, Gestalt und Wort Gottes entgehen den Gegnern Jesu

5,37b Ihr habt niemals seine Stimme gehört noch seine Gestalt gesehen
5,38 und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnen;
denn ihr glaubt dem nicht, den er gesandt hat.

[21. Juni 2022] In den Versen 37b-38 ergänzt Johannes Wengst zufolge (W179) seine Aussage, „dass im Wirken Jesu ganz und gar Gott wirkt“, durch den harten „Umkehrschluss…, dass Gottes Wirken überhaupt nicht wahrnimmt, wer es hier nicht wahrnimmt.“ Reißt man die Aussagen dieser Verse aus ihrem Zusammenhang und spricht man sie unkritisch nach, so müssen sie Wengst zufolge zu antijüdischen Schlussfolgerungen führen, so etwa bei Rudolf Bultmann, <492> wenn er schreibt: „Den Juden ist Gott gänzlich verborgen; sie haben keinen Zugang zu ihm“, oder: „In Jesu Wirken begegnet Gottes Offenbarung; wer hier nicht glaubt, zeigt, daß er Gott nicht kennt“.

Demgegenüber muss nach Wengst beachtet werden (W179f.), dass diese Aussagen

die Form der Anrede haben, also auf ein bestimmtes Gegenüber in einer vorgestellten Situation bezogen sind, die zugleich transparent für die Situation des Evangelisten ist. Somit ergibt es sich keineswegs, dass er mit diesen Sätzen alles bestreiten will, was die Bibel und die jüdische Tradition über ein Sehen und Hören Gottes erzählen. Nimmt man sie jedoch aus der Anrede heraus und verallgemeinert sie, werden sie noch einmal verschärft.

In diesem Zusammenhang verweist nun auch Wengst (W180) kritisch auf Jürgen Becker (vgl. meine Anm. 490), der Johannes so versteht, „daß vor und abgesehen von Jesus Gott sich überhaupt nicht offenbart hatte“:

Eine solche auch nach rückwärts gehende Verabsolutierung ist jedoch ausgeschlossen. Denn Jesus behauptet gegenüber den von ihm Angeredeten, dass sie das Wort Gottes „nicht bleibend“ unter sich hätten. Das setzt voraus, dass es unter ihnen war und auch noch ist. Und dieses Wort Gottes wird nicht einfach mit Jesus identifiziert, wohl aber zu ihm in Beziehung gesetzt. Denn wie gleich der folgende Abschnitt zeigt, denkt Johannes bei dem Wort Gottes an „die Schriften“. Auf deren Beziehung zu Jesus geht er dort ein.

Nach Klaus Wengst muss man heutzutage aber auch „die Logik“ des johanneischen „Umkehrschlusses“ selbst hinterfragen:

Auch nach Johannes gilt ganz selbstverständlich, dass der in Jesus wirkende Gott der in „den Schriften“ bezeugte und also schon in Israel bekannte Gott ist. Dann aber ist es im Blick auf Juden nicht evident, dass Gott überhaupt nicht kenne, wer nicht seine Präsenz in Jesus wahrnehme. Diesen Umkehrschluss des Johannes können und dürfen wir nicht nachsprechen. Wie Juden Jesus wahrnehmen, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie sie Kirche erfahren – wenn anders Kirche „Leib Christi“, „Leib des Gesalbten“ ist: messianische Verkörperung.

Im Ergebnis ist dieser Bibelkritik des christlichen Theologen Wengst aus interreligiöser Verantwortung heraus zuzustimmen. Ob er mit ihr dem Evangelisten Johannes in seiner Situation gerecht wird, wird noch zu prüfen sein.

Hartwig Thyen (T324) will bei aller „Schärfe der Auseinandersetzung“ Jesu mit den Juden, die ihn „in unserer Szene … als Gotteslästerer zu töten trachten“, dennoch auch den „um Zustimmung werbenden Ton dieser Sätze nicht überhören“ und gibt zu

bedenken, daß hier ja nicht ein „Christ“ über die Juden urteilt, sondern ein Jude mit anderen Juden über die ihnen gemeinsame Überlieferung streitet. Eine dogmatische Aussage, die „den Juden“, von denen nach 4,22 doch „das Heil kommt“, generell jegliche Kenntnis Gottes und jede Erfahrung seiner heilvollen Offenbarung bestritte, wie sie Becker hier zu finden meint, liegt u.E. völlig jenseits des Horizonts unseres Evangeliums.

Im einzelnen meint Thyen unter Berufung auf Barnabas Lindars, <493> dass die Rabbinen mit der Aussage Jesu, „Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört noch seine Gestalt gesehen“, sicher einverstanden gewesen wären:

Denn zur Wahrung der absoluten Transzendenz Gottes hatten sie in der Zeit des Neuen Testaments alle alttestamentlichen Theophanie-Schilderungen längst der Vermittlung durch Engelwesen zugeschrieben und die göttlichen Worte auf das Erklingen einer bath qol (eines ,Echos‘ auf die göttliche Stimme) zurückgeführt…

Ulrich Wilckens <494> dagegen geht davon aus, dass die Behauptung Jesu:

„Ihr habt niemals seine ,Stimme‘ gehört!“, … für „jüdische Ohren“ ein unerhörter Affront [sei], weil doch „aller Glaube und alle Frömmigkeit Israels“ davon lebe, „daß Gott zu Mose ,wie mit einem Freunde‘ geredet hat (Ex 33,11) und daß er in der Tora sein Volk sein Wort verbindlich und verläßlich hören läßt: ,Höre, Israel‘ (Dtn 6,5) ist das Grundbekenntnis Israels!“

Damit verallgemeinert Wilckens jedoch Thyen zufolge (T325) in unzulässiger Weise „ein Wort, das der erzählte Jesus aus konkretem Anlaß zu seinen bestimmten Antagonisten in dieser singulären Szene sagt“, im Sinne „einer generellen Disqualifikation des Gottesvolkes, sowie seiner Väter und Moses.“ Außerdem greift Thyen nochmals die in Johannes 5,24-25 eingeführte Unterscheidung zwischen phōnē und logos auf und hält Wilckens vor:

Ganz abgesehen von dem, was einer sagt, bezeichnet phōnē den individuellen ‚Klang‘ seiner Stimme, sein unverwechselbares Sagen, das allem Gesagten vorausliegt. Die Schafe folgen dem guten Hirten, weil sie seine ,Stimme‘ kennen (10,4). logos dagegen ist dieses ,Gesagte‘, das entweder gehört und behalten, oder überhört und vergessen oder verleugnet wird. Als Signum einer individuellen Person entspricht dem hörbaren Klang ihrer Stimme das sichtbare Aussehen ihrer ,Gestalt‘ (eidos). Der jenseitige Gott aber ist weder durch den Klang seiner Stimme noch durch das Aussehen seiner Gestalt identifizierbar. Unverwechselbar macht ihn allein sein schöpferischer logos, von dem Jesus sagt, daß seine Ankläger „ihn nicht bleibend in sich haben“, weil sie dem nicht glauben, den der Vater gesandt hat. Erkennbar am Klang seiner ,Stimme‘ und an seiner durchbohrten ,Gestalt‘ ist allein dieser Sohn (20,19f). Nur wer den sieht, der sieht den Vater (14,9; vgl. 8,19).

Indem Thyen hier seine auf Hartingsveld gestützte Argumentation (vgl. seine Auslegung zu Johannes 5,24-25) ergänzt, verstehe ich besser, worauf es ihm dabei ankommt, nämlich die Jenseitigkeit des Einen Gottes von sinnlich erfahrbaren Merkmalen zu reinigen und auf den bloßen Inhalt seines Wortes zu reduzieren. Aber auch dieser Versuch der zusätzlichen Untermauerung seiner Annahme kann mich nicht überzeugen, da der Gott Israels ja gerade kein griechisch-philosophisch zu begreifender Allgemeingott ist, der vor allem anderen um die Bewahrung seiner reinen Geistigkeit und Jenseitigkeit bemüht ist; vielmehr trägt er einen NAMEN, der sehr konkret ausdrückt, dass er sich befreiend und Recht schaffend in die Geschichte seines geliebten Volkes Israel auf Erden inmitten der Völker einmischt. Insofern bekommt auch die Stimme des Guten Hirten nicht erst durch Jesus ihre Unverwechselbarkeit; vielmehr darf das Volk Israel in der Stimme Jesu die ihm aus seiner Befreiungsgeschichte vertraute Stimme des NAMENS wiedererkennen. Indem Thyen das Umgekehrte behauptet, verstößt er gegen seine eigene Einsicht, dass der bisher unbekannte Gottessohn Jesus durch den bekannten Gott Israels offenbart wird.

Letzteres zeigt sich in meinem Augen auch in der Frage, die Thyen an seine Annahme anschließt, dass „die bei Johannes singuläre Aussage über die nie gehörte phōnē Gottes und seine niemals gesehene Gestalt (eidos) … als ein absichtsvolles Spiel mit der biblischen Erzählung von der Sinai-Theophanie verstanden werden kann“ (T326),

ob es nicht – wie im Falle Abrahams und Jesajas – die doxa {Herrlichkeit} und das eidos {Bild} sowie die phōnē {Stimme} Jesu waren, die Mose einst am brennenden Dornbusch hörte und die er und die Israeliten am Sinai dann ,gesehen‘ und ,gehört haben‘ (s. u. zu V. 45ff).

In angemessener Weise zurechtgerückt wäre ein solches Spiel so zu verstehen, dass sich in dem vom Gott Israels Gesandten die Ehre, das Bild und die Stimme des NAMENS in vollkommener Weise verkörpern.

Ton Veerkamp <495> nimmt erst recht ernst, dass in Johannes 5,37b „ein neuer Gedanke“ beginnt, der auf Argumente aus den jüdischen Schriften zurückgreift:

Für die messianischen Gruppen ist der sogenannte Schriftbeweis wesentlich. Sie wollen auf keinen Fall in den Verdacht kommen, sie würden etwas völlig Neues anfangen, gar eine neue Religion stiften. Nein, das Fundament ihrer politischen, messianischen Überzeugung sind hai graphai, „die Schriften“.

Genau wie Thyen hält er 5. Mose 4,12 für die hier ausschlaggebende Stelle:

Johannes erinnert zunächst an Deuteronomium 4. Das Volk stand am Berg. Es gab viel zu sehen: „Den Berg brennend vor Feuer bis ans Herz des Himmels, Finsternis, Wolken, Gewitterdunkel.“ Dann heißt es, V.12:

Der Name redet zu euch mitten aus dem Feuer,
Stimme der Reden habt ihr gehört,
Gestalt habt ihr mitnichten gesehen,
nur Stimme!

Auf diesen Vers zielt Johannes und verkehrt ihn in einen bösen Vorwurf:

Nein, ihr habt die Stimme niemals gehört,
sowenig wie ihr eine Gestalt gesehen habt,
denn seine Rede ist nicht fest in euch,
weil ihr dem, den er gesandt hat, nicht vertraut.

Nach Veerkamp ist aber keineswegs die Stimme Gottes wesentlich von seinem Wort bzw. seiner Rede zu unterscheiden, als ob sie erst in Jesus als unverwechselbar zum Ausdruck käme; gerade, dass seine Gegner das Wort des NAMENS nicht in der Stimme Jesu wiedererkennen, führt ihn zu dem Vorwurf, sie hätten auch nie die Stimme des NAMENS gehört, nie seinen befreienden Willen ernstgenommen.

Johannes 5,39-40: Jesu Gegner finden in den Schriften nicht Jesus als das Leben

5,39 Ihr sucht in den Schriften,
denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin;
und sie sind’s, die von mir zeugen;
5,40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen,
dass ihr das Leben hättet.

Die jüdischen Schriften setzt Klaus Wengst zufolge (W180) in Johannes 5,39 auch Jesus für seine Gegner als „eine vorgegebene und anerkannte Autorität“ voraus. Als „eine Instanz, die nach der Legitimation Jesu befragt werden kann“ und durch die „aus dem vorher genannten Zirkel herauszukommen ist“, können aber auch sie nicht dienen, wie sich gleich zeigen wird. Zwar hält Jesus die Erwartung, die die Gegner mit den Schriften verbinden (W180f.), nämlich „durch sie ewiges Leben zu haben“, für durchaus gerechtfertigt, zugleich aber (W181) „betont er sofort im nächsten Satz, dass die Schriften für Jesus Zeugnis ablegen.“ Ob „das im Sinne der konkret angeführten Einzelstellen“ gemeint ist, die bisher im Evangelium angeführt wurden, oder in dem Sinne, „dass die Schriften überhaupt nicht anders zu lesen sind denn als Zeugnis für Jesus“, darauf will Wengst „bei der Besprechung von V. 45-47“ eingehen.

Hinter dem griechischen Wort eraunan, „erforschen“, dürfte nach Wengst (Anm. 284)

das hebräische Verb darásch stehen, von dem auch das Nomen „Midrasch“ gebildet ist. Das Verb hat neben „untersuchen“, „fragen“ vor allem auch die Bedeutung von „fordern“. So wäre ein Midrasch eine dem Bibeltext abgeforderte Auslegung. Der Text hat ein großes Potenzial. Er will gefordert werden, damit es zur Auslegung komme – mindestens zu zweien.

Das Zugeständnis (W181), „dass die angeredeten Juden in Erwartung wirklichen Lebens die Schriften durchforschen“, und der „Anspruch, dass die Schriften für Jesus Zeugnis ablegen“, führt aber nicht zu dem Ergebnis, „dass die Schrift“ eine „Instanz“ ist, „die objektiv und neutral über die Legitimation Jesu befragt werden könnte. Denn Jesus sagt seinen Gegnern:

„Aber ihr wollt nicht zu mir kommen.“ Die Lektüre der Schrift führt die Angeredeten – und die jüdische Mehrheit außerhalb der Gruppe des Johannes – nicht zu Jesus. Sie lesen in ihr kein Zeugnis über ihn. Zu erkennen, dass sie Jesus bezeugt, setzt offenbar schon die Anerkenntnis voraus, dass in seinem Wirken Gott wirkt.

Erneut wirft Wengst Jesus eine Unterstellung vor, der gegenüber er das Judentum in Schutz nimmt:

Der unterstellt den Angeredeten, sie schlügen Leben aus: „Aber ihr wollt nicht zu mir kommen, um Leben zu haben.“ Es ist gewiss Erfahrung von Gemeinden – nicht nur in neutestamentlicher Zeit -, durch Jesus wirkliches Leben zu haben. Aber es ist doch auch Erfahrung des Judentums, in der Tora Leben zu haben.

Im Gottesdienst am Schabbatmorgen wird nach der Toralesung die noch offene Torarolle der Gemeinde entgegengehalten, die daraufhin sagt: „Dies ist die Tora, die Mosche den Söhnen Jisrael vorlegte, gemäß dem Ausspruch Gottes, durch Mosches Hand.“ Der Vorbeter fährt fort: „Ein Baum des Lebens ist sie denen, die an ihr festhalten, wer sich auf sie stützt, ist beglückt. Ihre Wege sind Wege der Anmut, all ihre Pfade (führen zum) Frieden. In ihrer Rechten (trägt sie) lange Tage, in ihrer Linken Reichtum und Ehre. Der Ewige will Seiner Gerechtigkeit wegen die Tora großmachen und sie verherrlichen.“ (Übersetzung nach Siddur Schma Kolenu)

Dieser Kritik gegenüber einem christlich interpretierten johanneischen Jesus, der den religiösen Glauben an sich selbst als allein selig machend verabsolutiert und das jüdische Vertrauen auf die Leben spendende Kraft der Tora verneint, stimme ich von ganzem Herzen zu.

Dennoch wird Wengst dem Setting, innerhalb dessen sich Jesus im Johannesevangelium äußert, in keinster Weise gerecht, weder dem Umstand, dass es sich um eine innerjüdische Auseinandersetzung handelt, innerhalb derer Jesus die Tora keineswegs außer Kraft setzen will, noch dem politischen Kontext, innerhalb dessen es um die Frage geht, ob unter römischen Bedingungen noch ein Leben nach der Tora geführt werden kann. Johannes bestreitet das und proklamiert – eben im Gehorsam gegenüber der Tora! – die Überwindung der römischen Weltordnung durch das Vertrauen auf den vom NAMEN gesandten Messias Jesus.

Hartwig Thyen (T326) versteht wie Wengst das Wort „eraunan, das in der LXX noch fehlt und im gesamten NT nur sechs mal vorkommt“, im Sinne des „seit Esra 7,10 geläufigen und bei den Rabbinen dann überaus häufigen „Fachausdrucks“ … darasch (vgl. ,Midrasch‘)“:

Der Kontext fordert eraunate hier als präsentischen Indikativ und nicht als Imperativ zu lesen: „ihr durchforscht die Schriften“. Das ist durchaus positiv gemeint und entspricht dem in Ps 1 gezeichnete Bild des Frommen, der seine Freude an der Tora JHWHs hat und Tag und Nacht darüber nachsinnt.

Trotzdem enthält „der Nachsatz“ den „Ton einer Verurteilung“:

Statt das ewige Leben bei dem zu suchen und zu dem zu ,kommen‘, von dem die Schriften ,zeugen‘, suchen sie es unmittelbar in diesen selbst und verfehlen es damit ebenso, wie sie sich zwar im Lampenschein des Johannes erfreut, darüber aber übersehen haben, den Täufer als die Leuchte wahrzunehmen, die Gott seinem Christus bereitet hat (Ps 131,16f…).

Unter Verweis auf Johannes 1,45 will Thyen „dieses biblische Zeugnis für Christus nicht auf die wenigen sogenannten ‚messianischen Weissagungen‘ reduzieren“, sondern „auf die gesamte Schrift“ beziehen:

Darum ist es im Blick auf Johannes gewiß eine unzulässige Relativierung des Alten Testaments, wenn von Campenhausen <496> dazu erklärt: „Der Christusglaube wird durch Christus begründet; er lebt durch seinen Geist und von seinem Wort. Die alte Bibel zeugt wohl von ihm und kann zu ihm hinführen. Aber entscheidend ist doch immer nur Christus selbst und Christus allein. Neben ihm verliert alles andere seinen Glanz, auch die Schrift hat nur noch um seinetwillen einen gewissen „Wert“. Denn Christus und die Schrift gewordene Geschichte seines Volkes gehören untrennbar zusammen, beide erschließen sich wechselseitig. Ein „Christus allein“, neben dem auch die Schrift ihren Glanz verliert und nur noch „einen gewissen Wert“ behält, ist eine blutleere Abstraktion. Beide gehören vielmehr so zusammen, daß der messianische Glanz Jesu ebenso von der Schrift herrührt, wie diese ihren Glanz von jenem her gerade gewinnt und nicht etwa verliert. <497>

Ton Veerkamp <498> nimmt die Verbform eraunate als Imperativ:

Dann kommt die Aufforderung: „Erforscht die Schriften, weil ihr meint, mit ihnen zum Leben der kommenden Weltzeit zu kommen.“ „Ihr seid der Mei­nung“ (dokeite), sagt Jeschua. Die Meinung kann, muss aber nicht falsch sein: „… denn die [Schriften] legen Zeugnis über mich ab.“ Sie wollten sich nicht auf Jeschua zu bewegen, deswegen bleibt ihnen der Sinn der Schriften verborgen.

Wie Wengst wird auch Veerkamp „auf das Problem der Schriftdeutung am Schluss des Kapitels zurückkommen.“ Hier will ihm zufolge Jesus zunächst belegen, dass seine Gegner „die Stimme nie gehört“ haben. Seine „erste These, V. 39-40“, führt er folgendermaßen aus:

Das rabbinische Judentum meint, durch das Studium der Schrift zum Leben der kommenden Weltzeit zu gelangen. Tatsächlich ist das lebenslängliche Studium der Schrift und der mündlichen Überlieferung sowie der Protokolle dieses Studiums (Talmud) das lebendige Herz des rabbinischen Judentums, ja des Judentums überhaupt gewesen. Gegen dieses Selbstbewusstsein des rabbinischen Judentums richtet sich der Vorwurf des Johannes. Es verfehlt den wesentlichen Punkt der Schriften, die fixierte Gestalt der Stimme, den Messias. Nicht nur die Werke, auch die Schriften sind Zeugnis über Jeschua. Wer nicht versteht, dass die Schrift über Jeschua redet, verstehe nichts, sein Schriftstudium sei also hohl. Sie, die Gegner, wollen nicht zu Jeschua gehen, und deswegen wollen sie nicht das Leben erhalten.

Johannes 5,41-44: Wer Ehre unter Menschen will, sucht nicht die Ehre des VATERS

5,41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen an;
5,42 aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.
5,43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen,
und ihr nehmt mich nicht an.
Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen,
den werdet ihr annehmen.
5,44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt,
und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?

Neben die erste These, seine Gegner hätten die Stimme Gottes nicht gehört, weil sie nicht zu ihm kommen, stellt Jesus Ton Veerkamp <499> zufolge eine „zweite These“, die „sich polemisch auf die Gruppenstruktur des entstehenden rabbinischen Judentums“ bezieht. Damit vertritt er ähnliche Gedanken wie Matthäus in seinem 23. Kapitel, allerdings (Anm. 210) mit dem „Unterschied, dass Matthäus im Gegensatz zu Johannes die Autorität der Rabbinen anerkannt: ‚Tut, was sie sagen.‘ Ihre Lebensart lehnt er freilich ab: ‚Tut nicht nach ihren Werken‘ (23,3).“

Was konkret wirft der johanneische Jesus nach Veerkamp den Rabbinen vor? Indem sie den Messias Gottes nicht anerkennen, verweigern sie dem Gott Israel selbst die Ehre, die ihm zusteht, ja, die im Hauptbekenntnis Israels geforderte Liebe bzw. Solidarität:

Zunächst wird der Vorwurf erhärtet: „Ich habe euch erkannt; ihr seid nicht wirklich solidarisch mit Gott.“ Ihr predigt Deuteronomium 6,4ff. „Höre, Israel, … du sollst mit dem Namen deines Gottes solidarisch sein, mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Leidenschaft.“ Genau bei euch fehlt jedoch der Kern der Sache, und der Kern ist Messias. Man kann, so Johannes, nicht mit Gott solidarisch sein, wenn man nicht mit dem Gesandten Gottes, Jeschua, solidarisch ist. … Würden sie die Ehre des Namens suchen, würden sie ihn akzeptieren, denn „ich bin mit dem Namen meines Vaters gekommen“.

Bis dahin entspricht die zweite These inhaltlich noch ganz der ersten: Da Jesus ganz und gar den NAMEN und damit die Ehre seines VATERS verkörpert, kann man dem Gott Israels nur noch seine Liebe oder Solidarität erweisen, indem man auf Jesus vertraut. Das können Jesu Gegner jedoch nicht, „weil sie die Ehre der Menschen suchen.“ Nach Veerkamp ist dieser Vorwurf auf die Art und Weise zu beziehen, wie sich die rabbinische Gelehrsamkeit auf die Autorität namhafter Rabbinen berief:

Was macht ihr? Ihr akzeptiert solche, die mit ihren eigenen Namen kommen. Ihr akzeptiert das, was der große Rabbi (Jochanan ben Sakkai, Gamaliel usw.) sagt, nur weil er es ist, der es sagt. Ihr akzeptiert „Honoratioren“, ihr treibt „Personenkult“, um mit den russischen Kommunisten zu reden. Aber es geht euch nicht um die Sache, um die Ehre und die Wucht (kavod) des Einzigen.

Hartwig Thyen (T327) unterscheidet die nun folgenden Verse insofern von den vorangegangenen, als in „dieser Passage … der Angeklagte zum Richter“ wird „und seine Legitimation …zur Anklage derer, die ihn zu verurteilen trachten.“

Dazu nimmt Jesus mit V. 41 zunächst variierend den V. 34 wieder auf. Hatte er dort gesagt: „Ich nehme kein Zeugnis von einem Menschen an“, so erklärt er Jetzt: „Ehre von Menschen nehme ich nicht an. Euch aber habe ich durchschaut (vgl. 2,25): Ihr habt nämlich keine Liebe zu Gott in euch“.

Aus dieser „Entgegensetzung“ geht hervor,

wer und welcher Art die anthrōpoi {Menschen} sind, deren Ehrerweisungen Jesus sich verschließt. Es sind nämlich diejenigen, von denen er zuvor gesagt hatte: ēgapēsen hoi anthrōpoi mallon to skotos ē to phōs {die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht} (3,19). Daß das weder von Johannes dem Täufer noch von Mose noch auch von irgendeinem anderen Autor der Schrift gilt, versteht sich von selbst, denn in deren ,Stimmen‘ wurde ja das für diesen ‚Sohn‘ zeugende ,Wort‘ seines jenseitigen ,Vaters‘ laut. Das ,Sagen‘ dieser Stimmen war von der Liebe zu Gott bestimmt, und nur, wer in gleicher Weise von solcher Liebe zu Gott beseelt war, vermochte das von diesen Stimmen ,Gesagte‘ zu hören und sich seiner mit Abraham zu freuen.

In welcher Weise Thyen zufolge die Liebe zu Gott für die Bezeugung des johanneischen Jesus die alles entscheidende Rolle spielt, das bringt er mit folgendem Zitat seines Lehrers Karl Barth <500> zum Ausdruck (T328):

„Nicht der Täufer, nicht seine eigenen Werke, nicht die alttestamentliche Heilsgeschichte, nicht die Schrift als solche treten für ihn ein. Er sucht und begehrt nicht die doxa, die Herrlichkeit und Verherrlichung, die auf diesem Wege etwa zustande kommen könnte. Wenn die Juden meinen, er habe einen geschichtlichen Beweis für seine geschichtliche Sendung und Bedeutung führen wollen, er wolle sich als Mensch unter Berufung auf Menschliches vor Menschen rechtfertigen, so täuschen sie sich. Wollten sie einen derartigen Anspruch zurückweisen, so würden sie ganz recht haben. Er will nur auf das Zeugnis, das Zeugnis des ,Anderen‘ sich berufen, und nur deshalb hat er die Zeugnisse zur Sprache gebracht, um sie zu erinnern, daß jenes ganz andere Zeugnis wirklich, nämlich in diesen menschlichen Zeugnissen, vorliegt… Ihr könnt wohl Johannes den Täufer bewundern, meine Werke sehen, der alten Offenbarungen gedenken, Theologie treiben – aber ihr liebt Gott nicht; das Subjekt aller dieser Zeugnisse ist euch gleichgültig. Sonst (V. 43) wäre es nicht möglich, daß ihr mich, der ich im Namen dieses Subjektes, im Namen Gottes gekommen bin – nicht wiederum als ein Zeuge, sondern als der, von dem alle diese Zeugnisse zeugen – nicht annehmt“.

Zum Kommen Jesu „im Namen meines Vaters“, wie er in Vers 43 sagt, hebt Thyen „die einzigartige Sohnschaft dessen, der so spricht“, hervor: „Darum ist hier mit der biblischen Wendung vom ,Kommen im Namen Gottes‘ wohl mehr als das Gesandtsein und die Bevollmächtigung eines Propheten ausgedrückt.“ Indem er auf Johannes 17,6: „Ich habe den Menschen, die du mir aus der Welt gegeben hast, deinen Namen kundgetan“, vorausblickt, sieht Thyen

diese Offenbarung des Gottesnamens in spezifischer Weise mit Jesu egō eimi-Sagen verknüpft…, das seinerseits in dem Mose aus dem brennenden Dornbusch zuteil gewordenen Gotteswort gründet: ˀehjeh ˀascher ˀehjeh {ICH WERDE SEIN, DER ICH SEIN WERDE, wörtlich: ich geschehe, als der ich geschehe} (Ex 3,14; LXX: egō eimi ho ōn {ICH BIN DER SEIENDE}…

Damit bestätigt Thyen die Auslegung Veerkamps, die in ihrem Kern darauf aufbaut, dass Jesus genau den befreienden NAMEN repräsentiert, mit dem sich der Gott Israels in 2. Mose 3,14 dem Mose in grundlegender Weise zu erkennen gibt.

Zu den Spekulationen über jenen „‚Anderen‘…, der ,in seinem eigenen Namen kommen und denen willkommen sein wird, die den im Namen des Vaters zu ihnen gekommenen Gottessohn die Aufnahme verweigern“, legt sich Thyen nicht fest, da die „Sprache von V. 43b“ allgemein gehalten ist und „der folgende V. 44“ Jesu „Ankläger generell als solche charakterisiert, die gar nicht glauben können, weil sie Ehre ausschließlich einander erweisen (vgl. Mt 23,5-12) und darüber die dem einzigen Gott geschuldete Verehrung aus den Augen verloren haben“.

Auch nach Klaus Wengst (W181) nimmt das scheinbar neue Thema in Vers 43: „Ehre von Menschen nehme ich nicht an“, die Formulierung von Vers 34 wieder auf:

„Ich nehme aber nicht das Zeugnis von einem Menschen an.“ Die sprachlich-formale Parallele weist auch auf inhaltliche Nähe hin: Zeugnis geben und Ehre erweisen gehören zusammen. Das eine erfolgt jeweils auch im anderen. Wenn jetzt der Aspekt der Ehre akzentuiert und weiter ausgeführt wird, so geschieht das deshalb, weil damit deutlicher gemacht werden kann, was Leben, Liebe zu Gott, glauben und vertrauen heißt.

Zunächst aber muss Wengst mit dem „scharfen Angriff“ umgehen, in dem „Jesus den von ihm Angeredeten … die Liebe zu Gott radikal“ abspricht:

„Ich habe vielmehr erkannt, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt.“ Dieser Satz lässt sich nur aus der hier konstruierten Situation verstehen, nach der die angeredeten Juden die Absicht hätten, Jesus zu töten (V. 18). Er entspräche damit der Logik, wie sie prägnant in 1. Joh 4,20 formuliert wird: „Wer sagt: ‚Ich liebe Gott‘, aber seine Geschwister hasst, lügt.“

Johannes redet allerdings ganz allgemein (W182) von „den Juden“; das „könnte Re­flex der Situation der eigenen Gruppe sein, die sich als bedrängte Minderheit gegenüber der jüdischen Mehrheit erfährt“. Exegeten wie Rudolf Bultmann, die den Vers 42 „aus der Anredeform und damit aus dieser Situation“ lösen und nachsprechen, als sei er ein „allgemein gültiger Satz“, wirft Wengst vor, ihn im Sinne „einer grundsätzlichen Negativaussage über ‚die Juden‘“ zu verstehen. So formuliert Bultmann: <501>

„Der Vorwurf (von V. 42) läuft dem von V. 38 par(allel): wie die Juden Gottes Wort nicht als bleibendes in sich haben, so haben sie die Liebe zu Gott (deren Möglichkeit durch das Schriftwort erschlossen würde) nicht in sich. Wie sie wähnen, der Schrift treu zu sein, so bilden sie sich natürlich auch ein, Gott zu lieben. Aber dies ist Lüge wie jenes“. Natürlich versteht Bultmann die Juden als Repräsentanten der ungläubigen Welt, wie aus dieser Stelle seines Kommentars implizit daraus hervorgeht, dass er vorher und nachher von „den Menschen“ spricht. Aber die Festlegung der Juden auf einen Negativ-Typ macht die Sache nicht besser.

Zur Auslegung von Vers 43a: „Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, aber ihr nehmt mich nicht an“, die „die gerade aufgestellte Behauptung erläutern“ soll, beschränkt sich Wengst auf die knappe Bemerkung:

Die Logik funktioniert hier wieder in der Verabsolutierung: Wer den nicht akzeptiert, der im Namen des Vaters kommt, kann den Vater nicht lieben.

Wieder zeigt Wengst nicht das geringste Interesse an der Frage, in welcher Weise Jesus den NAMEN des Gottes Israels repräsentieren könnte und ob sich daraus eventuell eine Verstehensmöglichkeit für diese johanneische Verabsolutierung in seinem konkreten befreiungstheologischen Kontext ergibt.

Bei „dem ‚anderen, der im eigenen Namen kommt‘ und akzeptiert wird“, in Vers 43b, muss nach Wengst „nicht an eine bestimmte Person gedacht sein. Es liegt eine Gegensatzbildung vor, die die fehlende Beauftragung durch Gott zum Ausdruck bringt“, möglicherweise (Anm. 286) beeinflusst von Jeremia 29,24-32.

Viel ausführlicher als mit Vers 43 beschäftigt sich Wengst mit Vers 44, in dem

Jesu Rede das Stichwort ‚Ehre‘ wieder auf[nimmt] und versucht, die Vorwürfe an die Angeredeten durch einen weiteren Vorwurf zu konkretisieren, sie würden nicht das Leben wollen und Gott nicht lieben: „Wie könnt ihr Vertrauen gewinnen, wenn ihr Ehre voneinander nehmt? Aber nach der Ehre, die von dem einzigen Gott kommt, trachtet ihr nicht.“

Wengst interessiert sich bei diesem Vers vor allem für die Frage, warum es unmöglich sein soll, Vertrauen zu gewinnen und „nach der von Gott kommenden Ehre“ zu trachten, wenn Menschen „Ehre voneinander“ nehmen, und stellt skeptische Fragen (W183):

Gilt nicht unter Menschen zu Recht: „Ehre, wem Ehre gebührt“? Brauchen das nicht Menschen auch, Ehre voneinander zu nehmen – als Bestätigung in dem, was sie sind und haben, können und leisten? Man muss nicht gleich an große Ehrungen denken, an Preisverleihungen oder die Vergabe von Doktorhüten ehrenhalber. Schon die kleinen Ehrbezeugungen im Alltag tun gut und richten auf. Was muss das auch für ein Mensch sein, dem überhaupt keine Ehre erwiesen wird?

Wieder muss man jedoch „beachten, dass der johanneische Jesus hier keinen Satz allgemeiner Anthropologie formuliert, sondern in konkreter Anrede spricht“. Wengst vergleicht unsere Stelle mit Johannes 12,42f., wo „hochgestellte Sympathisanten im Blick“ sind,

die aber kein offenes Bekenntnis wagen, weil sie Nachteile für sich selbst befürchten. Johannes kommentiert so: „Denn sie liebten die Ehre der Menschen mehr als die Ehre Gottes.“ Was er also an beiden Stellen angreift, wäre die Kumpanei der Starken, die sich eingerichtet haben und sich durch Ehrbezeugungen im weitesten Sinn gegenseitig bestärken und bestätigen – und im schlimmsten Fall, der doch der Normalfall sein könnte, am Struktur gewordenen Unrecht profitieren.

Auch wenn die hier in 5,44 Angeredeten sich von den dort in 12,43 Erwähnten unterscheiden sollten, führt von solchen Erwägungen durchaus eine Brücke hinüber zu den Auslegungen Thyens oder auf jeden Fall Veerkamps; denn wer dem befreienden NAMEN die Ehre gibt, verabschiedet sich vom Kreisen um die eigene Ehre oder von der Anbetung des Mammon oder anderer Götter der Unterdrückung und des Eigennutzes. Dazu passt auch, was Wengst seinen Ausführungen hinzufügt:

In diesem Zusammenhang gelesen, bekommt die Aussage Jesu, dass er Ehre von Menschen nicht annimmt, noch einen anderen Klang. Als am Kreuz Hingerichteter war er ein Mensch ohne Ehre, ohne „Herrlichkeit“. Da war nichts mehr, was imponierte. Zur Kehrseite dessen, dass er Ehre von Menschen nicht annimmt, wird dann die Aussage, dass er im Namen seines Vaters gekommen ist: Er wirft sich und sein Schicksal ganz allein auf Gott, erwartet alles von ihm; von ihm erhofft er „Ehre“. Und das ist das im Johannesevangelium immer wieder gegebene Zeugnis, dass Gott seine Ehre im gekreuzigten Jesus gesucht hat. <502> Auf Gott, der im gekreuzigten Jesus seine Ehre gesucht hat, sein Vertrauen zu setzen, ihm zu glauben, hieße dann, diesem Zug Gottes nach unten zu folgen. Glauben gewönne konkrete Gestalt in der Solidarität der Bedrängten und mit den Bedrängten.

Dafür, dass dieser „Zug Gottes nach unten … keine Besonderheit des Johannesevangeliums oder des Neuen Testaments“, sondern „der Bibel im Ganzen eigentümlich“ ist, führt Wengst zu Recht Jesaja 57,15 an:

Fürwahr, so hat er gesprochen, der Hohe und Erhabene, ewig wohnend und heilig sein Name: ‚Hoch und heilig wohne ich – und bei dem Geschlagenen und Erniedrigten, um zu beleben den Geist der Erniedrigten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen.‘“

Bedauerlich finde ich es, dass Wengst darauf verzichtet, diese biblische Grundausrichtung mit einer ihr entsprechenden Auslegung des NAMENS zu verbinden, dessen ganze Ehre darin besteht, eben diesen Erniedrigten und Geschlagenen Befreiung und Recht zu verschaffen.

Johannes 5,45-47: Mose, der von Jesus geschrieben hat, klagt die Gegner Jesu an

5,45 Meint nicht, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde;
der euch verklagt, ist Mose, auf den ihr hofft.
5,46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir;
denn er hat von mir geschrieben.
5,47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt,
wie werdet ihr meinen Worten glauben?

[22. Juni 2022] Am Schluss seiner Rede, die auch das Kapitel 5 des Johannesevangeliums abschließt, kehrt Jesus Wengst zufolge (W184)

so zum Thema ‚der Schriften‘ zurück, dass er Mose als vorgestellten Verfasser der Tora ausdrücklich anführt und als Zeugen für sich beansprucht. Er benennt ihn als Ankläger der Angeredeten: „Meint nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde. Euer Ankläger ist Mose, auf den ihr Hoffnung gesetzt habt.“

Zur „herausragenden Stellung des Mose schon in der Tora selbst und dann im Judentum“, an der „es keinen Zweifel“ gibt, verweist Wengst auf Johannes 9,28f. und auf eine rabbinische Stelle, <503> die über „Mose als Ankläger und Fürsprecher Israels“ folgende Geschichte erzählt:

„Mose klagt Israel an. Denn es ist gesagt (Ex 32,31): Ach, die Verfehlung dieses Volkes ist eine große Verfehlung. Als die Engel des Verderbens sahen, dass er sie anklagt, sagten sie: ,Wir brauchen uns nicht mehr ums Anklagen zu bemühen. Solange dieser anklagt, werden sie in seine Hand fallen, sodass ihre Vorfahren nicht gegen uns aufstehen: Warum habt ihr unsere Kinder angeklagt?‘ Die Engel des Verderbens entfernten sich. Als Mose sah, dass sie sich entfernten, sagte er zum Heiligen, gesegnet er (Ex 32,32): ‚Jetzt aber: Trage doch ihre Verfehlung!‘

Inwiefern sieht Jesus Mose als den Ankläger seiner Gegner? Da „von Mose Geschriebenes Jesus bezeugt“, müsste „die dem Zeugen entgegengebrachte Zustimmung zugleich dem von ihm Bezeugten gelten“:

Da letzteres aber offenkundig nicht der Fall ist, ergibt sich einmal, dass der Zeuge zum Ankläger wird, und zum anderen führt die Konsequenz, dass sie dann also auch nicht den Schriften des Mose glauben, zu der rhetorischen Frage: „Wie solltet ihr meinen Worten glauben?“

Ist nun aber nach Vers 46 „die Schrift nur als Zeugnis Jesu zu lesen“? Nach Wengst lässt sich diese Frage

von hier aus nicht eindeutig beantworten. Der Text erzwingt eine solche Engführung nicht, wenn auch eine Tendenz auf sie hin angelegt scheint – eine Engführung, die jedenfalls alsbald in der Völkerkirche vorgenommen wird und die dem Judentum schon im Barnabasbrief jedwedes angemessene Verstehen der Schrift abspricht, dort sogar auch für die Vergangenheit.

Aber schon im Johannesevangelium scheint „bei der Frage nach der Legitimation Jesu“ der Verweis „auf die Schrift“ in einen „Streit um ihre Auslegung“ zu führen (W185), in dem „sich für die Situation, in der es geschrieben wurde, eine Alternative“ widerspiegelt,

die jeden Dialog von vornherein unmöglich macht. Auf der einen Seite, bei der jüdischen Mehrheit, wird – wie besonders aus 9,28f. hervorgeht – jeder positive Bezug der Schrift bzw. des Mose auf Jesus ausgeschlossen. Auf der anderen Seite, bei der Minderheitsgruppe, werden „die Schriften“ bzw. Mose in solcher Weise für Jesus vereinnahmt, dass denjenigen, die Jesus nicht glauben, auch ein positiver Bezug auf sie abgesprochen wird. Gibt es ein Entkommen aus dieser Alternative?

Wengst verweist dazu auf die Gemeinsamkeit, dass sowohl Johannes „vom Glauben gegenüber Jesus und gegenüber Mose“ redet als auch „das rabbinische Judentum … vom Glauben gegenüber Mose“:

Beide Male geht es nicht erstens um den Glauben an Gott und zweitens um den an Mose oder Jesus, sondern durch Mose und durch Jesus um den Glauben an den einen Gott. Der erschöpft sich nicht in einem abstrakten Lehrsatz, sondern gewinnt – wie die Besprechung von V. 44 gezeigt hat – Gestalt in einem in bestimmter Weise ausgerichteten Lebensvollzug. Auch dabei gibt es, wie die angeführten Texte gezeigt haben, mehr Gemeinsames zu entdecken, als die vordergründige Polemik zunächst vermuten lässt.

Für einen kirchlichen Umgang mit dem Johannesevangelium, der sich nicht davor scheut, dem Evangelisten und erst recht seiner christlichen Auslegungstradition kritisch zu begegnen, ist das ein hervorragender und beherzigenswerter Vorschlag.

Die Frage, aus welchen Gründen Johannes und seine Gegner in dieser ausweglosen Sackgasse ihrer Konfrontation festgefahren bleiben, kann so allerdings nicht beantwortet werden.

Nach Hartwig Thyen (T329) hoffen die Jesus „anklagenden Juden“ auf Mose nicht „etwa als künftigen Erlöser“, sondern vielmehr darauf,

daß er als der treue Paraklet und Fürsprecher seines Volkes beim künftigen Weltgericht ebenso für Israel eintreten werde, wie er durch seine Fürbitte einst am Sinai den Zorn Gottes von ihnen gewandt hatte (Ex 19,11-14.30-35… Doch diese Hoffnung trügt. Mose steht nicht da als ihr Advokat, sondern als ihr Ankläger… Denn – so begründet das nun V. 46 mit seinem gar – wenn ihr Mose glaubtet, dann müßtet ihr ja auch mir glauben, hat er doch über mich geschrieben!“

Keineswegs ist Thyen zufolge deswegen jedoch Walter Bauer <504> Recht zu geben, der zur „Rolle des Alten Testaments und namentlich zur Bedeutung Moses in unserem Evangelium“ behauptet:

„Für unseren Evangelisten ist das AT völlig in den Besitz der christlichen Gemeinde übergegangen. Er sieht in ihm eine Sammlung von Weissagungen auf Jesus Christus, die ebensosehr die Ansprüche der Christen bestätigt, als sie den Unglauben der Juden verdammt.“

Nach Thyen ist stattdessen die Schrift für Johannes

von ihrem ersten bis zu ihrem letzten Wort die Erzählung der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Und wie Jesus ,eines ist mit dem Vater‘ (10,30), so ist der Vater von Ewigkeit her ,eines mit diesem Sohn‘, den er schon pro katabolēs kosmou {vor Grundlegung der Welt} geliebt hat (17,24). Nicht zufällig spielen darum gleich die ersten Zeilen des Prologs mit der biblischen Schöpfungsgeschichte. Und daß ,Mose von Jesus geredet hat‘, bezieht sich keinesfalls nur auf einzelne ,Weissagungen‘, wie etwa Dtn 18,18f, die als dicta probantia {Hauptbelegstellen} „ebensosehr die Ansprüche der Christen“ bestätigten, wie sie „den Unglauben der Juden“ verdammten.

Tiefgründiges hat Hartwig Thyen (T330) zur Auslegung des die Szene abschließenden Satzes Jesu in Vers 47 beizutragen: „Wenn ihr schon den grammata {den geschriebenen Worten} des Mose nicht glaubt, wie wollt ihr dann meinen rhēmata {gesprochenen Worten} glauben?“ Zunächst macht er aufmerksam auf eine „paradoxe Dialektik“, die in seinen Augen „unhintergehbar“ ist:

War nach 5,39 das von keinem geringeren als von Gott selbst bezeugte und bekräftigte Verstehen Jesu die Voraussetzung und der Schlüssel für das rechte Verstehen der Schrift, so scheint nach dem nun Gesagten zugleich das Umgekehrte zu gelten. Denn in dem [eben zitierten] Satz … erscheint das rechte Verständnis der Schrift nicht mehr als die Folge des wahren Verstehens Jesu, sondern seinerseits als dessen Voraussetzung.

Aus dem Unterschied zwischen dem geschriebenen Wort des Mose und dem gesprochenen Wort Jesu sollte man aber „keine tiefsinnigen Schlüsse ziehen“, da „nach der Kreuzigung Jesu“ auch Jesu „rhēmata nur noch in der Gestalt ihres ‚grammatischen Verfaßtseins‘ in Texten begegnen“ können (vgl. Johannes 20,31). Hier geht es nicht um „die paulinische Dialektik von ,tötendem Buchstaben‘ und ‚lebendigmachendem Geist‘“.

Als einen Versuch, Vers 47 in angemessener Weise und Mose in diesem Text nicht lediglich als den Vermittler notwendiger Vorkenntnisse „für das Verständnis Jesu“ zu begreifen, zitiert Thyen zustimmend Friedrich-Wilhelm Marquardt: <505>

„Mose, indem er das Gottesgesetz niederschreibt und deutet und es in den Zusammenhang der Urgeschichte der Menschheit und der Vätergeschichte Israels stellt, hat eben damit auch über Jesus gesprochen. Jesus war dem Mose schon bekannt: indirekt nur, anonym noch – aber doch so, daß er implizit auch schon von Jesus sprechen konnte. Denn wie jeder lsraelit, Mose entsprechend, im dramatischen Spannungsfeld von Gottes Gesetz, Israels Erwählung und dem Zeugnis für die Völker lebt, so auch Jesus, und Jesus freilich besonders bewährt, so daß eine innere Bekanntschaft und Verwandtschaft zwischen Mose und ihm sich aus der ,Sache‘ ergibt. Natürlich kann man das kein ,historisches‘ Verhältnis nennen, aber ein sachliches Erkennungsverhältnis: Wer Mose wirklich versteht und ihm folgt, der muß eben damit auch Jesus verstehen können. Johannes hat die gleiche Verstehensmöglichkeit auch zwischen Jesaja und Jesus offengesehen“.

Diese Art der Auslegung erscheint mir derjenigen von Veerkamp sehr nahe, insofern Jesus als der Repräsentant des NAMENS genau das verkörpert, was Mose und Jesaja verkündigen.

In diesem Zusammenhang versteht Thyen das „Verhältnis Moses zu Jesus“ als

das des Zeugen zu dem, für den als Zeuge einzutreten, er berufen ist. Diese Differenz zwischen dem Zeugen und dem von ihm Bezeugten wird man sich nach Analogie der Beziehung zwischen Jesus und Johannes dem Täufer denken müssen. Wie sich Johannes als der von Gott gesandte Zeuge (1,6f) und „Freund des Bräutigams“ darüber freut, dessen „Stimme zu hören“ (3,29f), so ist auch Moses Verhältnis zu Jesus ein freundschaftlich-verbindliches zwischen dem Zeugen und dem von ihm Bezeugten. Diese Differenz darf weder durch eine völlige Parallelisierung der beiden Gestalten nivelliert noch in einen Gegensatz zwischen ihnen verkehrt werden. <506>

Zur Vermeidung solcher Irrwege (T331) erinnert Thyen daran,

daß Johannes Jesus als den fleischgewordenen logos, der im Anfang bei Gott war und ohne den kein Geschöpf geworden ist, in sein Evangelium eingeführt hat. Das heißt aber, daß der in den Texten der Bibel ,Schrift‘ gewordene Logos die ,transsubjektive Bestimmung‘ aller Wirklichkeit ist und als solche jeglicher ‚intersubjektiven Verständigung‘ der Menschen untereinander, über die Welt sowie über deren Natur und Geschichte als die Bedingung von deren Möglichkeit vorausgeht.

Mit dieser „Unterscheidung zwischen ,transsubjektivem Bestimmtsein‘ unseres In-der-Welt-Seins und ,intersubjektiver Verständigung‘“ ist allerdings nichts erklärt, so lange diese Begriffe selbst unerklärt bleiben. Thyen verdankt sie Johannes Fischer, <507> der sich mit ihrer Hilfe aus den „verhängnisvollen Verstrickungen der christlichen Theologie in ontologische Aussagen über das ,Wesen‘ Gottes und des Gottmenschen Jesus Christus sowie seine ,Naturen‘, die Unmögliches beanspruchen, nämlich intersubjektiv zu sagen, was der Fall ist“, zu befreien versucht. Fischer zufolge ist

„das christologische Dogma der Einheit von Menschheit und Gottheit Jesu … so zu interpretieren, daß der, welcher als historischer Jesus im Zusammenhang unserer intersubjektiv erschlossenen Welt in Erscheinung getreten ist, zugleich der ist, dessen textgewordene Geschichte die Wirklichkeit im Ganzen auf transsubjektiver Ebene qualifiziert, was bedeutet, daß die Wirklichkeit im Ganzen von dieser seiner Geschichte her zu lesen ist. Christus ist Mensch, sofern er als historischer Jesus in den Zusammenhang unserer ,story‘ gehört, und er ist Gott, insofern wir, was die transsubjektive Bestimmtheit unserer Welt betrifft, in den Zusammenhang seiner ,story‘ gehören.“

Ist das mehr als theologisch-philosophisches Wortgeklingel? In meinen Ohren hört sich zumindest dieses Zitat nicht nach einer zureichenden Erklärung des Unterschieds zwischen einer Deutung Jesu auf „inter-“ und „transsubjektiver“ Ebene an. Vielleicht gibt es zeitgenössische Philosophen, die mit diesen Begriffen mehr anfangen können als mit den ontologischen Kategorien der griechischen Philosophie, auf die die Kirchenväter zur Zeit der Konzilien angewiesen waren, um die Beziehung zwischen Jesus und Gott zu beschreiben. Dennoch scheinen mir auch diese mehr der konzilstheologisch-christlichen Dogmatik zu entsprechen als der jüdisch-messianischen Haltung des Johannesevangeliums, derzufolge Jesus das befreiende Wort bzw. den NAMEN des Gottes Israels verkörpert.

Thyen selbst zieht aus Fischers Einsichten folgende Schlussfolgerung für die Auslegung unserer Stelle:

Ist Jesus aber der alles Wirkliche transsubjektiv qualifızierende Logos, dann wird man sich Sängers Diktum: „Ohne Christus keine Gotteserkenntnis“, johanneisch wohl so denken müssen, daß in der Begegnung mit Jesus herauskommt, ob einer einst am Sinai, in der Wüste oder wo auch immer die Worte des Ewigen recht gehört hat und in der Begegnung mit Jesus wie Philippus (1,45) den wiedererkennt, von dem Mose geschrieben hat.

Offen bleibt in diesen Worten, ob damit eine Umdeutung schon der damaligen Erkenntnis Gottes in dem Sinne gemeint sein soll, dass ein Mensch immer und überall nur durch das Vertrauen auf Jesus die ewige Seligkeit erhalten kann. Damit würde aber, wie gesagt, Thyen seiner eigenen Einsicht widersprechen, dass der unbekannte Jesus von dem bekannten Gott Israels her offenbart wird. Umgekehrt kommt es darauf an, in Jesus denselben befreienden Gott wahrzunehmen, der bereits zu Abrahams, Jakobs, Moses und Jesajas Zeiten befreiend gehandelt hat und an diesem Ziel unter veränderten Bedingungen auch in der Jetztzeit mit seinem ganzen Willen und Wirken festhält.

Das ist die Überzeugung, von der Ton Veerkamp <508> ausgeht, die er jedoch an dieser Stelle nicht noch einmal ausdrücklich ausbreitet. Allerdings macht er unmissverständlich deutlich, dass hier messianische Juden mit rabbinischen Juden streiten; es geht nicht um eine Auseinandersetzung zwischen christlicher und jüdischer Religion:

Die Anklage der Gegner bei Gott führt nicht Jeschua selbst, sondern Mosche. „Ihr“, so sagt er, „setzt eure Hoffnung auf Mosche.“ Tatsächlich ist der Kern des rabbinischen Selbstverständnisses Mosche rabbenu, Mosche, unser Lehrer; wir werden darauf bei der Auslegung von 9,27 ausführlich zu sprechen kommen. Das werden die Peruschim {Pharisäer}, die Vorläufer des rabbinischen Judentums, in der Auseinandersetzung mit dem Blindgeborenen klarstellen: „Wir dagegen sind wirklich Mosches Schüler, wir wissen, dass zu Mosche Gott [und nur ER und niemand anders] redete“, 9,28. Johannes dreht den Spieß um; er lässt Jeschua sagen: „Wenn ihr Mosche vertrautet, solltet ihr auch mir vertrauen, denn über mich hat jener geschrieben.“ Hat er wirklich?

Zur Klärung der Frage, ob tatsächlich Mose über Jesus geschrieben hat, holt Veerkamp zu einem ausführlichen Exkurs unter dem Titel „Christozentrismus und Enterbung des Judentums“ <509> aus. Dabei geht er davon aus, dass die Gruppe, die sich um Johannes geschart hat, „eine Minderheit“ ist, „die Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt war“. Ein solche Gruppierung „neigt nie zu Toleranz“, daher ist es nicht verwunderlich, dass Johannes seine Lektüre der Heiligen Schriften „für die einzig legitime hält“.

Zunächst greift Veerkamp auf seine Interpretation der jüdischen Bibel als der schriftlichen Dokumentierung einer „Großen Erzählung“ zurück, die er in seinem Buch „Die Welt anders“ <510> vorgelegt hat und die nach meiner unmaßgeblichen Auffassung zur Pflichtlektüre jedes Theologen gehören sollte. Hier schreibt er zusammenfassend:

Ursprünglich waren die Schriften (graphai) die schriftlich fixierte gesellschaftspolitische Ordnung eines kleinen Bauernvolkes im südlichen Teil Palästinas, in Juda. In der hellenistischen Zeit ist die Ordnung zu einer Menschheitsvision geworden, nachdem im späten 3. Jh. v.u.Z. die Tora in die Weltsprache Griechisch übersetzt wurde. Sie wurde zur Großen Erzählung, also zu jener kulturstiftenden universellen Erzählung, in denen Menschen und Völker ihre eigenen Lebenserzählungen aufgehoben wissen. In allen kulturellen, politischen und ökonomischen Zentren des alten Orients, von Mesopotamien bis nach Anatolien und Nordafrika, gab es Gruppen von Menschen, die ihr Leben um diesen schriftlichen Kern der alten Ordnung zentrierten.

Als die „judäischen Bevölkerungsgruppen in den hellenistischen Reichen“ nicht nur durch „die biologische Fruchtbarkeit der von den Babyloniern verschleppten Menschen…, sondern sicherlich auch durch den Zulauf von Menschen nicht judäischer Herkunft“, stark anwuchsen, mag dies

wohl der Anlass dafür gewesen sein, die Schrift ins Griechische zu übersetzen. Das weist auf die ideologische Inklusivität der Großen Erzählung Israels hin. Die Entwicklung von der Ordnung des alten Judäa zu einer Menschheitsvision ist also nicht das Werk jener Messianisten, aus denen später das Christentum hervorgehen würde.

Das bedeutet aber Veerkamp zufolge, dass die „Schrift Israels … schon entfremdet“ war, „lange bevor das Christentum auftrat:

In dem Augenblick, wo die Große Erzählung Israels in eine Hauptsprache der Gojim übersetzt wird, verselbständigt sich die Erzählung. Jeder Autor gibt im Augenblick der Veröffentlichung seinen Text in fremde Hände, er bestimmt nicht länger allein über die Ausrichtung der Lektüre.

Eine griechisch-philosophische Überformung der ursprünglich prophetisch-befreiungstheologisch ausgerichteten jüdischen Schriften begann also bereits mit der Transkulturellen Höchstleistung ihrer Übersetzung aus dem Hebräischen oder Aramäischen ins Griechische; man denke nur an die Übertragung des dynamisch zu begreifenden hebräischen Gottesnamens von 2. Mose 3,14 (ˀehjeh ˀascher ˀehjeh, wörtlich: „Ich geschehe, als der ich geschehe“) in die statisch missverstehbare Wesensaussage egō eimi ho ōn, „Ich bin der Seiende“.

Vor diesem Hintergrund stellt Veerkamp klare Forderungen auf:

Die Dialektik des Ausdrucks Schrift Israels in fremden Händen ist auszuhalten. Was immer die fremden Hände auch mit der Schrift Israels anrichten, sie bleibt die Schrift Israels, die schriftlich fixierte Gesellschaftsordnung dieses und keines anderen Volkes. Andererseits können die Kinder Israels, unsere jüdischen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, die Entfremdung ihrer Schrift, die im 3. Jh. v.u.Z. in Alexandrien begann, nicht rückgängig machen. Den Kindern der Entfremdung, den Gojim, ist die Große Erzählung von den Kindern Israels sprachlich zugänglich gemacht worden.

Zum Evangelisten Johannes vertritt Veerkamp folgende Auffassung:

Johannes ist kein Goj {Nichtjude, Angehöriger der Völker, Heide}, er ist ein Kind Israels, seine Lektüre der Schrift ist eine jüdische Lektüre der Schrift, freilich eine, die in den Augen des jüdischen Mainstreams seit der Mitte des 2. Jh. u.Z. ziemlich bizarr ist. Es ist unmöglich, sich mit Juden über die Lektüre des Johannes zu verständigen. Für Juden ist es schlicht hanebüchen, dass Mosche über Jeschua ben Joseph als den ultimativen Gesandten Gottes geschrieben haben soll. Die Lektüre des Johannes, nach der Tora, Propheten und die übrigen Schriften – TeNaK – auf den Messias (Christus) ausgerichtet sein sollen, nennen wir eine christozentristische Lektüre.

Damit steht für ihn fest, dass eine Verständigung zwischen dem rabbinischen Judentum und allen Gruppierungen, die Jesus als den in den Schriften vorausgesagten Messias Israels proklamierten, von vornherein aussichtslos bleiben musste. Im „Kampf um die Lektüre der Schriften“ richten sich die „großen Rabbinen und ihre Schüler … auf eine spezifische Traditionsreihe“ aus:

Wir finden sie am Anfang des Mischnatraktats Avot: „Mosche empfing die Tora vom Sinai und tradierte sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, die Propheten den Männern der großen Versammlung (ha-knesset ha-gedola).“ Letztere sind die Gewährsleute der Rabbinen. Für das rabbinische Judentum ist jene traditionelle, auf die Tradition von Mosche her ausgerichtete Lektüre die einzige maßgebliche, weil so die Lektüre in eigenen Händen bleibt, gerichtet gegen die Lektüre in fremden Händen.

Dieses rabbinische, auf Mose zentrierte, „Monopol der Schriftdeutung“ wird um das Jahr 100 nicht nur von Johannes angegriffen, sondern auch durch den „Brief an die Hebräer“ und den „Barnabasbrief“, die beide „eine ähnliche, also christozentrierte Lektüre wie Johannes“ vertreten:

Diese Lektüre wird Schule machen. Nachdem die christliche Kirche der Versuchung widerstanden hat, auf Anraten des Ketzers Marcion (um 150 u.Z.) die Große Erzählung Israels gleich auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, hat sie konsequent nach der Maxime des Johannes zu lesen versucht: „Über mich [‚Christus‘] hat Mosche geschrieben.“

Dieser Weg führt am Ende konsequent „zu einem Muster, die Schrift so zu lesen, dass dem Judentum (‚Israel nach dem Fleisch‘) die Schrift genommen wird.“ Von der Absicht einer solchen „Enterbung“ kann bei Johannes und den anderen Evangelisten jedoch noch keine Rede sein:

Die Messianisten wollten mit ihrer Lektüre ausschließen, dass dieser Messias ein hellenistischer Heiland war. Für sie war er ein Kind Israels. Der Nachweis der Messianität Jeschuas konnte nur mit der Schrift Israels geführt werden.

Von dieser „messianischen Lektüre der Großen Erzählung“, durch die noch fast alle Schriften geprägt sind, die wir das Neue Testament nennen, ist die spätere das Judentum enterbende und beide Testamente der Bibel umdeutende Lektüre sorgfältig zu unterscheiden. Mit ihr einhergehend entsteht nach Veerkamp „eine andere ideologische Formation…, die sich durchweg von ihrem Ursprung eben dieser Großen Erzählung entfernte und sie in ihre eigene Ideologie auflöste, in das Christentum“. So begreift Veerkamp das Glaubensbekenntnis der Kirche als eine verwandelte Große Erzählung.

Seine Auslegung von Johannes 5 beschließt Ton Veerkamp mit folgenden Sätzen:

Natürlich hat Mosche nicht über Jeschua Messias geschrieben; insofern bleiben auch wir „historische Kritiker“. Jeschua ist und bleibt aber nur von Mosche her verständlich – und eben nicht umgekehrt. Wenn Johannes das gemeint haben soll, wäre der Satz richtig, Mosche habe über Jeschua geschrieben.

Pascha: Die Ernährung Israels durch Jesus als das Brot vom Himmel (Johannes 6,1-71)

[25. Juni 2022] Wie das 5. Kapitel des Johannesevangeliums, ausgehend vom Zeichen der Heilung eines Gelähmten anlässlich eines unbestimmten jüdischen Festes, den Konflikt des Messias Jesus mit dem antimessianischen Judentum beschreibt, so ist der Ausgangspunkt des 6. Kapitels die Speisung der Fünftausend am Ufer des Galiläischen Meeres, woraufhin Jesus am anderen Ufer dieses Meeres in Kapernaum in erneut ausführlicher Rede sich selbst als das Brot vom Himmel proklamiert, und zwar zeitlich in der Nähe des Passafestes.

Wengst, Thyen und Veerkamp sind sich einig darin, dieses Kapitel als einen so abgegrenzten Zusammenhang aufzufassen und auszulegen, und verzichten auf seine Verschiebung innerhalb des Evangeliums oder literarkritische Operationen im Inneren seines Textes. Zu diesem Verzicht beschränke ich mich darauf, die Begründung Ton Veerkamps <511> anzuführen:

In der Nachfolge Rudolf Bultmanns haben viele Kommentatoren dieses Kapitel verschoben. Nunmehr sollte es nach der Erzählung über die Genesung des Sohnes des königlichen Beamten eingefügt werden, um so das plötzliche Auftreten Jeschuas in Galiläa zu erklären. Nun haben Erzähler aus der Antike nicht unsere Erzähllogik. Unsere abendländische Logik der chronischen und topografischen Ordnung ist ein Erzählkorsett, das übrigens in vielen Romanen des 20. Jh. aufgeschnürt wurde. <512> Es geht in unserem Text um eine Ort/Zeit-Struktur, die nicht durch das Chronometer und die Landkarte, sondern durch die Feste strukturiert wird.

So wie in Veerkamps Augen das „unbestimmte Fest von 5,1 … das Fest der Feste“ ist, das auf „die Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit Israels, sprich, seine Autonomie“, verweist, die „der eigentliche Inhalt aller Feste“ ist, steht im Kapitel 6 „ein neuer Inhalt für das Paschamahl“ im Mittelpunkt der Erzählung, denn „ein autonomes Israel“, das von jeglicher Unterdrückung und interner Ausbeutung und Entrechtung frei ist, braucht den Messias als seinen „Ernährer“, weil er selbst seine „Ernährung“, sein Brot, darstellt:

Der Ausgangspunkt ist eine Erzählung über die Ernährung Israels durch den Propheten Elisa, 2 Könige 4,42ff. Diese Erzählung war in vielen messianischen Gruppen beliebt. Sie muss auch bei Johannes in der Peripherie Galiläas stattfinden. Bei Johannes dient sie dazu, den Messias als Lebensprinzip Israels darzustellen, ohne Messias nutzt die ganze Autonomie nichts. Das Werk der Erneuerung läuft über die Reihe Brot (das neue Paschamahl) – Licht (die Überwindung der Verblendung, Sukkot) – Leben (die Überwindung der Verwesung, Chanukka).

Ton Veerkamp betrachtet Johannes 6 als „eine Komposition aus einer Einleitung und vier Teilen, die durch die zwei Stichworte chiastisch (über Kreuz) verknüpft sind und sich so gegenseitig erklären“. Nach der „Einstimmung“ auf die Nähe des „Pascha“ als dem „Fest der Judäer“ in 6,1-4 folgen die beiden Abschnitte 6,5-15 und 6,25-59 zum Stichwort „Brot“, während die Abschnitte 6,16-24 und 6,60-71 durch die Stichworte „ICH BIN ES“ bzw. „DU BIST ES“, also die Bezugnahme auf den heiligen NAMEN des Gottes Israels aufeinander bezogen sind.

Sowohl Wengst als auch Thyen grenzen das Kapitel 6 zunächst (W185) auf Grund von „Zeit- und Ortsangaben … als besondere Einheit“ ab (T331): „Joh 6 ist durch die beiden Wendungen meta tauta {danach} in 6,1 und 7,1 von seinem Kontext deutlich abgehoben.“

Zum Inhalt des Kapitels weist Klaus Wengst (W185) auf „einen dem Evangelisten in gewisser Weise schon vorgegebenen Zusammenhang der einzelnen Teile von Kap.6“ hin, der sich in „Entsprechungen“ seiner „thematischen Abfolge“ zu den synoptischen Evangelien zeigt, beispielhaft belegt durch „die Parallelen bei Markus“:

Speisung (Joh 6,1-15 / Mk 6,32-44 [8,1-9]); Seewandel/Überfahrt (Joh 6,16-25 / Mk 6,45-52 [8,10]); Zeichenforderung (Joh 6,30f. / Mk 8,11-13); Brotrede/Gespräch über den Sauerteig (Joh 6,27-58 / Mk 8,14-21); Petrusbekenntnis (Joh 6,66-69 / Mk 8,27-30); Teufelswort (Joh 6,70f. / Mk 8,32f.).

Zur Erklärung neigt Wengst dazu (W186), eine „vorjohanneische und vorsynoptische Tradition“ anzunehmen, die Johannes „sehr eigenständig zu einer Gesamtkomposition ausgestaltet“ hat. Da nämlich (W189) „die johanneische Darstellung die stärksten Übereinstimmungen mit der markinischen hat“, aber auch „kleine Übereinstimmungen mit Mt und Lk gegen Mk“ vorliegen“, ist Wengst zufolge

zu schließen, dass Johannes entweder alle drei Synoptiker gekannt hat oder keinen und seine Fassung auf einer vorsynoptischen Tradition beruht. Für letzteres spricht m. E. die Beobachtung der Unterschiede, die sich kaum alle als Redaktion des Johannes erklären lassen: a) Sehen es die Schüler nach Mk V. 37 als eine Möglichkeit an, für 200 Denare genug Brot für die Menge zu bekommen, reicht diese Summe nach Joh V. 7 nicht aus. Damit wird das dann erzählte Wunder der Speisung gesteigert. b) Auf derselben Linie liegt die hinsichtlich der vorhandenen Speise am Schluss von V. 9 gestellte Frage: „Aber was ist das schon für so viele?“ c) Eine Präzisierung liegt vor, wenn in V. 9 als Inhaber der Speise „ein Bursche“ genannt wird. d) Dasselbe gilt für die Kennzeichnung der Brote als „Gerstenbrote“ (V. 9). e) Am Beginn der Erzählung treten zwei namentlich genannte Schüler auf (V. 5-8). Da Andreas und Philippus auch in Kap. 1 und 12 begegnen, könnte hier auch Redaktion des Evangelisten vorliegen. Das ist zwar auch für die anderen genannten Punkte nicht schlechterdings auszuschließen, lässt sich aber noch weniger wahrscheinlich machen. So spricht m. E. mehr dafür, dass Johannes eine gemeinsame Tradition benutzt, die sich unabhängig weiter entwickelt hat.

In meinen Augen spricht jedoch überhaupt nichts gegen die von Thyen vorausgesetzte Annahme, dass Johannes alle synoptischen Evangelien kennt und auch hier nicht einfach eine vorgegebene Überlieferung mehr oder weniger übernimmt und ein wenig redigiert, sondern bewusst mit ihr spielt. Für seine Punkte a), b) und e) nimmt das ja auch Wengst an; die Unterschiede c) und d) können sehr einfach dadurch erklärt werden, dass Johannes nicht nur auf die Synoptiker, sondern auch direkt auf deren ursprünglichen Bezugstext, nämlich 2. Könige 4,38-44 zurückgreift.

Hartwig Thyen wird in seiner Auslegung vor allem (T333) auf Einzelheiten des johanneischen „Spiels mit dem Markustext“ zurückkommen, insbesondere auf das, was er „die markinische ‚Brotrede‘“ nennt (Markus 8,14-21):

Obwohl sie {die Jünger Jesu} doch das unerschöpfliche eine Brot, nämlich Jesus selbst, bei sich im Schiff haben, sind sie darüber besorgt, daß sie es vergaßen, Brote mitzunehmen. Darum müssen sie sich als Blinde, Taube und Unverständige tadeln und denen draußen gleichstellen lassen, denen das mystērion tēs basileias {Geheimnis des Königreichs} (Mk 4,10f) entzogen ist. Erst die hochsymbolische, mühsame und doppelte Kur Jesu an dem Blinden öffnet ihnen halbwegs die Augen: Sie begreifen, daß sie mit dem Messias unterwegs sind (Petrusbekenntnis), begreifen aber nicht, daß dieser Messias seinen Weg im Sterben vollenden muß (Satanswort). Johannes hat verstanden, daß der Mysterion {Geheimnis} der Gottesherrschaft ebenso wie das geheimnisvolle eine Brot Jesus selbst in Person ist, und expliziert das auf seine Weise in unserem Kapitel…

Wengst teilt das Kapitel in drei Teile auf. Der erste (6,1-25) erzählt „die Geschichten von der wunderbaren Speisung sehr vieler Leute und von der nächtlichen Überfahrt der Schüler, denen Jesus auf dem Wasser gehend begegnet, sowie dem Nachkommen der vielen Leute am folgenden Tag“, der zweite (6,26-58) besteht aus „einer langen Rede“ Jesu, in der er die Speisung deutet, und im dritten (6,69-71) werden „die Folgen der Rede für die schon in V. 3 erwähnten Schüler“ beschrieben:

Von ihnen ziehen sich viele zurück; nur „die Zwölf“ bleiben, für die Simon Petrus stellvertretend ein Bekenntnis abgibt. Der abschließende Hinweis geht auf Judas und lässt die Passion in den Blick kommen.

Zum langen Mittelteil legt Wengst (W197) folgenden „Versuch einer Einteilung in Abschnitte“ vor:

a) Exposition: Das als Zeichen zu verstehende Speisungswunder soll zum Glauben an Jesus führen (V. 26-29)

b) Erste Gegenüberstellung mit dem Mannawunder: Jesus ist das Brot des Lebens (V. 30-35)

c) Exkurs: Reflexion über den Glauben als Wirken Gottes und Entscheidung des Menschen (V. 36-46)

d) Zweite Gegenüberstellung mit dem Mannawunder: Variierung und Bekräftigung der These, dass Jesus selbst das Brot des Lebens ist (V. 47-50)

e) Konkretion: Die Gabe Jesu als des Lebensbrotes ereignet sich in der Eucharistie (V. 51-58)

Thyen verzichtet „darauf, unser Kapitel in mehrere kleine Szenen zu zerlegen, weil darüber seine Einheit und Kohärenz aus dem Blick geraten könnte“. Allerdings folgt er G. A. Phillips (T331f.), <513>

der innerhalb unserer Szene je nach den wechselnden Diskurspartnern Jesu die folgenden sieben Episoden voneinander unterscheidet: (1) 6,1-13: Jesus mit seinen Jüngern, als deren Sprecher Philippus und Andreas mit Namen genannt werden – (2) 6,14-15: Jesus mit einer undefinierten Menschenmenge (hoi anthrōpoi {die Menschen}) – (3) 6,16-21: Jesus mit seinen Jüngern – (4) 6,22-40: Jesus und die von ihm zuvor gespeiste Menschenmenge (ochlos) – (5) 6,41-58: Jesus und die Juden (hoi Ioudaioi) – (6) 6,59-65: Jesus und polloi ek tōn mathētōn autou {viele von seinen Jüngern} – (7) 6,66-71: Jesus und die ,Zwölf ‘ mit Simon Petrus als ihrem Sprecher.

Indem (T332) die „beiden Eckstücke dieser Reihe, nämlich 6,1-13 und 6,66-71“, in denen „Jesus von der definierten Gruppe ‚seiner Jünger‘ umgeben“ ist, „von denen jeweils zwei mit ihren Namen genannt werden“, die gesamte Szene einrahmen, hebt Johannes den Zusammenhang der Szene hervor. Zugleich führt er „die Zwölf“, deren Berufung und Einsetzung er nicht ausdrücklich erzählt, aber als aus den Synoptikern bekannt voraussetzt, dadurch in unser Evangelium ein, dass erstens Philippus und Andreas als ihre Sprecher auftreten, zweitens durch die „zwölf Körbe“ (6,13) symbolisch auf sie angespielt wird, drittens sie „durch das artikulierte Lexem hoi dōdeka {die Zwölf} und mithin als bekannte Größe ausdrücklich“ genannt werden und viertens sie von Jesus „an ihre Erwählung“ erinnert werden (6,70).

Johannes 6,1: Jesus geht weg – jenseits des Meeres von Galiläa, von Tiberias

6,1 Danach ging Jesus weg
ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt.

Nach seiner erfolglosen Rede, die Jesus in Jerusalem an seine judäischen Gegner gerichtet hat, scheint er möglichst weit weg zu gehen, nicht nur wieder nach Galiläa, sondern dort auch noch auf das von Judäa aus gesehen jenseitige Ufer des Sees Genezareth im Ostjordanland.

Klaus Wengst weist zunächst (W187) auf „die doppelte Bezeichnung des Sees als „das Meer von Galiläa, von Tiberias“ hin, die in „mehrfacher Hinsicht auffällig ist“:

Die hebräische Bibel spricht vom „Meer von Kinneret“ (Num 34,11; Jos 13,27) bzw. „Meer von Kinrot“ (Jos 12,3). „Kinneret“ ist im Übrigen die heute in Israel übliche Benennung. Während im Hebräischen in der Bezeichnung für Meer und See nicht unterschieden wird – für beide steht der Begriff jam -, kennt das Griechische sehr wohl eine Differenzierung zwischen límne („See“) und thálassa („Meer“).

Nur der Evangelist Lukas bezeichnet wie der Historiker Josephus „den Kinneret immer nur als ‚See‘“; beide (W188) „sind ‚erfahrene‘ Leute, die das Mittelmeer kennen und befahren haben“, während „die drei anderen Evangelisten“ ihn ein „Meer“ nennen: „Ihre Perspektive der Wahrnehmung ist offenbar eine binnenländische.“ In meinen Augen geht es jedoch kaum nur um eine Frage des Lokalkolorits, wie Wengst unter Berufung auf Gerd Theissen anzunehmen scheint. <514> Viel näher liegen vor allem für das Markusevangelium, das in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Jüdischen Krieg verfasst wurde, andere Gründe für die Verwendung dieses scheinbar unangemessenen Ausdrucks. Nach Andreas Bedenbender <515> [216f.] ruft Markus „dort, wo er über den See Genezareth schreibt, die biblischen ‚Meer‘-Traditionen“ auf:

Die Jünger, die teils mit Jesus, teils ohne ihn auf dem See unterwegs sind, erfahren in poetischer Verdichtung, wie sich Grunderfahrungen der glaubend erinnerten Geschichte Israels neu aktualisieren. (Die zwölf [!] Jünger im kleinen Ruderboot – das ist, wenn man so will: Israel „in a nutshell {in einer Nussschale}“.) Daß Jesus beispielsweise in Mk 4,39 das Meer „schilt“ (epitiman), um es zur Raison zu bringen, verweist auf das „Schelten“, mit dem Gott die Chaoswasser bändigt <516> und Israel einen Weg durch das Schilfmeer bahnt <517> – Formulierungen von stärkster Bildgewalt, die in der Bibel darauf angelegt sind, aktuell-politisch verstanden zu werden. Der Ozean ist hier häufig ein Bild für die Völkerwelt, die Israel und den Zion nach biblischer Wahrnehmung permanent zu überfluten drohte, <518> und er besitzt eine Affinität insbesondere zur jeweiligen Hegemonialmacht. Das „Meer“ des Mk-Ev gehört in den traditionsgeschichtlichen Bogen, der von Dan 7,2f. bis zu Offb 13,1 reicht: von den vier Weltreichen, die in Gestalt von vier Tieren aus dem Meer aufsteigen, hin zu jenem einen „Tier aus dem Meer“, dem römischen Staat. <519>

Hinzu kommt aber Bedenbender zufolge [219], dass das Stichwort „See Genezareth“ aus dem „Spätsommer des Jahres 67“ den Autoren der Evangelien in ähnlich traumatischer Erinnerung gewesen sein muss wie Menschen des 20. Jahrhunderts eine Ortsbezeichnung wie „Auschwitz“ oder „Dachau“, hatte dort doch „bei der Eroberung der am See Genezareth gelegenen Stadt Tarichea durch die Römer“ ein Massaker an 6700 jüdischen Flüchtlingen auf diesem See stattgefunden, wie Josephus (Bell. 3, 10, 9) berichtet. Aber selbst wenn [220] „die hier genannte Zahl der Toten … in ihrer Höhe zweifelhaft“ sein und „die Darstellung … noch weitere Übertreibungen enthalten“ mag, „wird Josephus das Massaker auf dem See“ keinesfalls [220f.]

komplett ersonnen haben – ebensowenig wie seinen unmittelbar nachfolgenden Bericht {Bell. 3, 10, 10}, dem zufolge Vespasian in Tarichea einer großen Zahl von überlebenden Aufständischen – Josephus spricht von über 30 000 – zunächst freien Abzug vorgaukelte, sie nachträglich aber wieder gefangennehmen ließ. Ein Teil von ihnen wurde im Stadion von Tiberias exekutiert, die meisten fanden sich anschließend in der Sklaverei wieder. Damit war für eine rasche Verbreitung der Ereignisse von Tarichea gesorgt, und zwar aus der Sicht von Opfern römischer Grausamkeit und römischen Wortbruchs. Es gibt kaum einen Grund für die Annahme, eine aus solcher Perspektive gegebene typische Schilderung werde hinsichtlich ihrer Drastik hinter der bei Josephus zu findenden Version zurückgeblieben sein oder die Zahl der Toten deutlich niedriger geschätzt haben. Drei Jahre noch würde es dauern, bis die Kunde vom Untergang Jerusalems die Schreckensbotschaft aus Galiläa überdecken konnte, das dürfte ausgereicht haben, damit sie sich zumindest bei der jüdischen Bevölkerung des Römischen Reiches und in ihrem sozialen Umfeld fest einprägen konnte.

Wenngleich dieses traumatische Ereignis zur Zeit des Johannes bereits drei Jahrzehnte zurücklag und in seiner niederschmetternden Wirkung sicherlich durch die Zerstörung Jerusalems und die in diesem Zusammenhang erfolgten Massenkreuzigungen noch übertroffen wurde, ist es nicht ausgeschlossen, sondern eher wahrscheinlich, dass sich in der umständlichen Benennung des Meeres von Galiläa mit den zusätzlich angehängten Worten tēs Tiberiados bei Johannes durchaus eine absichtsvolle Anspielung auf das mit grausamer Gewalt und mörderischen Betrug herrschende römische Imperium widerspiegelt. Bedenbender schreibt dazu ergänzend an anderer Stelle [434]:

Der Ausdruck zielt darauf, das „Meer“, das zu Galiläa gehört und damit zur irdischen Region und primären Wirkungsstätte Jesu (vgl. Joh 2,11 u.ö.), jenes Meer, auf dem Jesus seine Herrlichkeit erweist, als ein zugleich römisches Gewässer zu kennzeichnen – oder zumindest: als ein Gewässer, das Rom als „mare nostrum“ {unser Meer} für sich reklamiert. Denn wie der Namenspatron „Tiberius“, also der Kaiser zur Zeit Jesu, in das engere sprachliche Umfeld von „Tiberias“ gehört, so auch der Fluß „Tiber“ – und damit ist der Gedanke an die Tiberstadt nicht mehr weit.

Dass Ton Veerkamp <520> auf diese Gedanken nicht zurückgreift, ist dadurch zu erklären, dass sie erst Jahre nach seiner Johannesauslegung veröffentlicht wurden. Er selbst verweist zu Johannes 6,1 lediglich auf die komplizierten politischen Verhältnisse, die zur Zeit Jesu in der Gegend des „Sees von Galiläa“ herrschten:

Die Erzählung findet „am anderen Ufer des Sees von Galiläa“ statt. In der Zeit Jeschuas ben Joseph war das Land geteilt; die Gebiete an beiden Seiten des nördlichen Jordangrabens standen auch später, in der Entstehungszeit unserer Texte, unter jeweils anderer politischer Verwaltung. Das Westufer unterstand Herodes Antipas, die Nordhälfte des Ostufers Herodes Philippus, die Südhälfte der Provinzverwaltung Syriens.

Zurück zu Klaus Wengst. Ihm zufolge (W188) findet sich in

der rabbinischen Tradition … häufig die Bezeichnung „das Meer von Tiberias“. Sie kann nicht ganz alt sein, da die Stadt erst 26 n. Chr. von Herodes Antipas als seine Hauptstadt neu gegründet und ausgebaut und zu Ehren des Kaisers Tiberius benannt wurde. Da sie zum Teil auf Grabanlagen errichtet war, galt sie frommen Juden als unrein. Die Evangelien erzählen nicht, dass Jesus sie betreten hätte. Nach der rabbinischen Tradition hat Rabbi Schimˁon ben Jochaj um 150 für rein erklärt. Die Bezeichnung des Sees nach Tiberias findet sich aber, wie gesagt, schon bei Josephus.

Da er die von Bedenbender angeführten Darstellungen des Josephus jedoch außer Acht lässt, kann Wengst nur zu der Einschätzung kommen: „Warum Johannes in 6,1 eine doppelte Bezeichnung gegeben hat, lässt sich nicht sagen.“

Hartwig Thyen (T333) weist im Blick auf die „schwerfällig-doppelte Ortsbestimmung“ des Sees auf Handschriften hin, die entweder tēs Galilaias oder tēs Tiberiados weglassen, manche (T333f.)

fügen zwischen die beiden Genitive eis ta merē {in die Gegend von} ein: „über den galiläischen See in die Gegend von Tiberias“. Das ist zwar stilistisch besser, aber sicher weder ursprünglich noch sinnvoll. Denn dann müßte sich Jesus in 6,1 ja am Ostufer des Sees befunden haben und die nächtliche Überfahrt der Jünger nach Kapharnaum würde unverständlich. Darum ist gerade diese Lesart ein Indiz für die Ursprünglichkeit der doppelten Ortsbestimmung.

In seinen Augen (T334) ist der Name „thalassa tēs Tiberiados {Meer von Tiberias} in der Zeit und Umgebung unseres Evangeliums zur quasi offiziellen Bezeichnung des Sees geworden“, was für ihn durch Johannes 21,1 bestätigt wird, während die Bezeichnung tēs Galilaias in Johannes 6,1 durch den Evangelisten hinzugefügt wurde,

um damit so knapp wie irgend möglich zu sagen, daß Jesus dem feindlichen Judäa und der Tötungsabsicht der Ioudaioi glücklich entronnen und wieder die Nähe Galiläas, des Landes des Glaubens und der Jüngerschaft, erreicht hat (Petrusbekenntnis!).

Diese allzu glatte Schlussfolgerung verliert allerdings einiges von ihrer Plausibilität, wenn man sich vor Augen hält, dass die Jesus entgegenstehenden Judäer auch in Galiläa auftauchen (6,41.52) und dass mit dem Petrusbekenntnis nur ein kläglicher Rest von zwölf (ohne Judas eigentlich sogar nur elf) Schülern an Jesus festhält, während alle anderen Nachfolger sich von ihm abwenden.

Die (T335) „vermeintlichen Spannungen im Text“ und den angeblichen harten Übergang zwischen den Kapiteln 5 und 6 hält Thyen zu Recht für „bloße Scheinprobleme“:

Denn der Ausgangspunkt von Jesu ,Weggehen‘: meta tauta apēlthen ho Iēsous ktl. {Danach ging Jesus weg usw.}, ist ja Jerusalem und keinesfalls das Westufer des galiläischen Sees. Darum kann Schenke <521> denn auch ebenso treffend wie bündig erklären: „Die Abgrenzung bereitet keine Probleme. In 6,1 wird gesagt, daß Jesus (von Jerusalem) nach Galiläa geht … diesmal aufs jenseitige, nämlich das Ostufer des ,Sees von Tiberias“.

Von daher ist auch Wengst zu widersprechen (W132), wenn ihm zufolge Johannes in „örtlicher Hinsicht … einen Aufenthalt Jesu westlich vom See Gennesaret an[nimmt]. Von dort geht er ‚weg auf die andere Seite‘.“

Erst recht fehlt Walter Bauers <522> folgender Einschätzung von Johannes 6,1 jegliche Logik, wie Thyen anschließend erweist:

„Ohne ein Wort der Aufklärung finden wir uns … am Ufer des Sees Gennezaret. Als Ausgangspunkt für das, übrigens aus Mk 6,32 stammende, apēlthen {ging weg} müßte man doch nach dem Vorhergehenden Jerusalem ansehen. Aber nach 17.24.59 ist Jesus aus Kapernaum gekommen“. Nun, u.E. „müßte man“ nicht nur, sondern muß man Jerusalem als „Ausgangspunkt“ für das apēlthen ansehen. Und davon, daß Jesus nach den Versen 17, 24 und 59 „aus Kapernaum gekommen“ wäre, kann doch ebenfalls nicht die Rede sein. V. 17 sagt nur, daß Kapharnaum das Ziel der nächtlichen Überfahrt der Jünger ist; V. 24, daß der ochlos {Volksmenge} am Jesus folgenden Tage dort sucht; und V. 59 endlich, daß Jesus seine Lebensbrotrede in der Synagoge von Kapharnaum gehalten hat. Kapharnaum mag also von Anfang an das galiläische Ziel dieser Reise Jesu gewesen sein, die er am wüsten Ostufer des Sees wegen der wunderbaren Speisung der hungrigen Menge unterbrochen hatte. Daß Kapharnaum jedoch zugleich auch der Ausgangspunkt eines bloßen ,Abstechers‘ in die östliche Wüste gewesen wäre, sagt keiner der dafür von Bauer angeführten Texte.

Johannes 6,2-4: Eine Volksmenge folgt Jesus wegen seiner Zeichen auf den Berg

6,2 Und es zog ihm viel Volk nach,
weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
6,3 Jesus aber ging hinauf auf einen Berg
und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
6,4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.

[26. Juni 2022] Hatte sich Jesus in Johannes 5,13 angesichts des während der Heilung des Gelähmten anwesenden ochlos, also eines „Haufens“ von Menschen oder einer „Volksmenge“, von dem Ort der Heilung zurückgezogen, so ist nun am Galiläischen Meer zum zweiten Mal von einem solchen ochlos die Rede, der mit dem Wort polys, „viel“, als eine große Menschenmenge bezeichnet wird und Jesus wegen eben seiner Krankenheilungen nachfolgt. Diese Erzähllogik mag nahelegen, dass sich Jesus eine immer größer werdende Zahl von Menschen anschließt, einschließlich von Zeugen seiner Heilungen im judäischen Jerusalem und im galiläischen Kana.

Klaus Wengst zufolge (W188) muss man die Angabe, das „die Menschen Jesus aufgrund der von ihm gewirkten Zeichen folgen“, zwar

nicht als negative Aussage über sie verstehen (vgl. 2,11). Aber die Formulierung erinnert an 2,23 und das dort Folgende. Diese Erinnerung erzeugt bei der Leser- und Hörerschaft keine positive Erwartung im Blick auf das Publikum.

Hartwig Thyen (T335) stellt „sich diese erneute Reise nach Galiläa auf einer Route durch Peräa und die Dekapolis bis ans gaulanitische Ostufer des ,galiläischen Sees‘“ vor:

Die große Volksmenge (ochlos polys), die ihm auf diesem Weg ,nachfolgte‘ (ēkolouthei autō), weil sie ,die Zeichen gesehen hatten, die er an den Kranken tat‘, könnten dann galiläische Festpilger sein, die Jesus schon auf seinem Weg ,hinauf nach Jerusalem‘ begleitet hatten. Dazu würde auch der Plural der an „den Kranken“ getanen Zeichen passen (ta sēmeia ha epoiei epi tōn asthenountōn). Denn in der erzählten Welt unseres Evangeliums geschahen ja bisher nur die Fernheilung des Sohnes des basilikos in Kana (4,46 ff) und die des Lahmen am Teich Bethesda in Jerusalem. Zwar können diese beiden Heilungen für den intertextuell beschlagenen impliziten Leser als partes pro toto für alle Krankenheilungen Jesu stehen – und das Imperfekt epoiei {tat} legt nahe, daß er es tatsächlich so verstehen soll -, doch die Akteure der Erzählung können ja nur gesehen haben, was auch erzählt wurde.

Da Johannes diese vielen Menschen „als ‚Nachfolger‘ Jesu bezeichnet“, findet er es im Übrigen naheliegend (T336),

in ihnen die polloi ek tōn mathētōn autou {viele von seinen Schülern} zu sehen, die Jesu sklēros logos {hartes Wort} nicht zu ertragen vermögen und ihn darum im Unterschied zu den ,Zwölf‘ am Ende verlassen (6,60ff).

Wengst dagegen (W188) nimmt nicht diese Nachfolger als „Schüler Jesu in den Blick“, sondern nur diejenigen, die in 6,3 ausdrücklich als mathētai, „Schüler“, bezeichnet werden:

Sie werden beim Handeln Jesu – in bescheidenem Rahmen – mitwirken und mittelbare Adressaten seiner Rede sein, vor allem aber im letzten Teil des Kapitels das entscheidende Gegenüber bilden. „Jesus ging den Berg hinauf und setzte sich dort mit seinen Schülern.“ Auch wenn hier nicht ausdrücklich vom Lehren Jesu gesprochen wird, stellt das Geschilderte, dass ein Lehrer sich mit seinen Schülern setzt, doch eine Lehrszene dar. Die Schüler Jesu werden im Folgenden – wenn auch nicht an diesem Ort und Selbst nicht direkt angesprochen – Entscheidendes zu hören bekommen, zu dem sie sich am Schluss, in Ablehnung oder Zustimmung, zu verhalten haben.

Obwohl er also die Szene mit einer Lehrtätigkeit Jesu in Verbindung bringt, meint Wengst seltsamerweise zu dem mit bestimmtem Artikel bezeichneten Berg (Anm. 297):

„Der Berg“ begegnet im Johannesevangelium nur hier und in V. 15, spielt also keine besondere Rolle.

Thyen zufolge (T336) ist „,der Berg‘ hier und in V. 15 durch den Artikel als ein bekannter Platz Jesu markiert“, was er „als ein Intertextualitäts-Signal begreifen“ will, das an verschiedene synoptische Stellen erinnert (Mt. 5,1; 14,23; 15,29; 28,16; Mk. 3,13; 6,46; Lk 6,12…), und zugleich auch (T337) in „seiner inneren Nähe zum Sinai als Offenbarungsort“ ernst nimmt.

Nach Ton Veerkamp <523> wird hier insbesondere der Hintergrund der matthäischen Bergpredigt aufgerufen:

Das Setting der Erzählung ist vergleichbar mit Markus 3,7-13, aber auch mit Matthäus 5,1, wo die „Bergpredigt“ beginnt. Johannes setzt die Kenntnis der synoptischen Tradition voraus. Er sagt: „Jeschua ging den Berg hinauf“, einen Berg, den wir also kennen. Und setzt sich hin, wie Matthäus 5,1; die Schüler kommen zwar nicht auf ihn zu, sondern sie sind auf dem Berg mit Jeschua. Wir erwarten „Bergpredigt“; wir bekommen sie in der Form eines Zeichens. Die Deutung des Zeichens geschieht in der Synagoge von Kapernaum, eine Rede, die nicht weniger programmatisch ist als die „Bergpredigt“ bei Matthäus.

Das nun erzählte Zeichen wird nun mit dem folgenden Satz in die „Nähe des Paschafestes“ gestellt:

Nahe bedeutet: „noch nicht“. Aber die Nähe des Pascha wirft das Licht über das, was jetzt erzählt wird. In 6,4 zeigt sich die Nähe des Paschafestes in der Ernährung des Volkes mit Brot, das zwar sättigt, aber wieder hungrig macht. In Aussicht wird dem Volk das Brot des Lebens gestellt, das den Hunger „bis zur kommenden Weltordnung“ vertreiben wird. Am Ende, 6,70f., ist die Nähe des Pascha der Schatten des Verrats, der Auslieferung des Messias.

Für Klaus Wengst (W187) lässt die „Erwähnung von Pessach“ zwar ebenfalls „wieder die Passion Jesu anklingen (vgl. zu 2,13)“, aber hauptsächlich spekuliert er im Zusammenhang der „Nähe von Pessach“, verbunden „mit der Notiz in V. 10…, dass es ‚viel Gras‘ gab“, hauptsächlich über „einen inzwischen verstrichenen größeren Zeitraum“, über den Johannes „nichts berichtet, nämlich etwa zehn Monate, wenn er bei dem Wallfahrtsfest in Kap. 5 an Schavuot gedacht hat.“ Derartige Gesichtspunkte spielen jedoch für einen Evangelisten, der sich so wenig als Historiker versteht wie Johannes, wohl kaum auch nur eine nebensächliche Rolle.

Hartwig Thyen weist nicht nur darauf hin (T336), dass wir den Satz über die Nähe des Passa „fast wörtlich schon aus 2,13“ kennen:

Joh 11,55 wird er ein drittes Mal begegnen und genau wie 2,13 lauten: „Es war aber nahe das Passa der Juden“. Wilkens <524> spricht deshalb geradezu von „der Passa-Gliederungsformel“ und nennt das johanneische Werk in seiner überlieferten Endgestalt mit guten Gründen ein Passa-Evangelium.

Daher muss nach Thyen „alles Folgende in der Perspektive des Passa gelesen“ werden, denn „der hier Handelnde“ ist

derjenige…, von dem Johannes der Täufer gesagt hatte: „Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünden beseitigt“ (1,29). So muß Jesus denn auch in der Stunde der Schlachtung der Passalämmer am Kreuz sterben und allein ihm darf, wie es die Passa-Halacha verlangt, „kein Bein gebrochen werden“ (19,31ff; s.u. z. St.).

Zu Recht betont Thyen in diesem Zusammenhang, dass Johannes nicht deswegen „von drei Passafesten auf dem Weg des irdischen Jesus redet“, weil er etwa „über andere oder bessere Quellen verfügte als seine synoptischen Vorgänger“. Stattdessen erzählt er „in intertextuellem Spiel mit deren Passionserzählung und Passamahl-Bericht aus kompositorischen und dramatischen Gründen unter je verschiedenen Aspekten gleich dreimal von diesem einen Todes-Passa Jesu“:

Denn im Zentrum des Geschehens aller dieser drei Szenen steht unübersehbar jeweils der Tod Jesu: Als Folge dessen, daß sein Eifer für das Haus seines Vaters ihn verzehren und der „Tempel seines Leibes“ abgebrochen werden wird (2,17-22); als die im Spiel mit dem synoptischen Passamahl-Bericht erfolgende Ankündigung der Hingabe seines Fleisches für das Leben der Welt (6,51ff) und endlich als die Vollendung seiner Liebe zu den Seinen in seinem Sterben als das ,Lamm Gottes“ (13-19).

Aus der näheren Bestimmung (T337) des „Passa (to pascha)“ als „hē heortē tōn Ioudaiōn {das Fest der Juden}“ kann Thyen zufolge nicht geschlossen werden, als wolle sich Johannes

dadurch von den Juden und ihrem Passa distanzieren oder als stelle er damit dem jüdischen Passa-Fest stillschweigend die christliche Osterfeier entgegen. Das ist jedoch in der Erzählung von dem Leben, Sterben und Auferstehen des Juden Jesus, der zu den „Festen der Juden“ ,hinaufzieht nach Jerusalem‘ (vgl. auch 7,2), der zu der Samaritanerin gesagt hatte: „Das Heil kommt von den Juden“, und der als das Lamm Gottes am ,Passa der Juden‘ stirbt, wenig wahrscheinlich.

Der einzig erlaubte Schluss kann sein, „daß der Autor seinen Text zumindest auch für Nicht-Juden geschrieben hat, während die Frage nach seiner eigenen jüdischen oder nichtjüdischen Identität offen bleibt“.

In der Art, wie Thyen die Ausgerichtetheit des Johannes auf das Passafest schildert, zeigt sich jedoch wieder sehr klar seine eingeengte Perspektive auf die Befreiung von der persönlichen Sünde jedes einzelnen Menschen, während er das mögliche Ziel der Befreiung Israels aus der Unterjochung durch die weltweit herrschende Sklaverei des römischen Imperiums nicht in den Blick nimmt. In diesem Zusammenhang ist auch verständlich, dass er eine jüdische Identität des Johannes nicht für unbedingt gegeben annehmen will.

Johannes 6,5-9: Jesus fragt Philippus nach Brot für das Volk, Andreas verweist auf wenig Brot und Fisch

6,5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt,
und spricht zu Philippus:
Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6,6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen;
denn er wusste wohl, was er tun wollte.
6,7 Philippus antwortete ihm:
Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie,
dass jeder auch nur ein wenig bekomme.
6,8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
6,9 Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische.
Aber was ist das für so viele?

Klaus Wengst (W189) betont, dass „Johannes die Situation, die zum Wunder führt, aus der Perspektive Jesu“ erzählt. Um seinen Schüler Philippus zu erproben, fragt er ihn „wovon Brot für so viele gekauft werden soll“, aber der „Schüler besteht die Probe nicht“, da er auf die Unmöglichkeit verweist, selbst mit einer unerreichbaren Summe wie „200 Denare“ all diese Menschen zu versorgen. Dieser Betrag würde Wengst zufolge (Anm. 299), „dem Jahreslohn“ entsprechen, „den ein Tagelöhner im besten Fall verdienen kann, wenn man von einem Denar Tageslohn und etwa 200 möglichen Arbeitstagen in der Landwirtschaft im Land Israel ausgeht.“

Eine Besonderheit (189) gegenüber „den synoptischen Versionen“ der Geschichte besteht nun darin, dass ein zweiter Schüler, nämlich Andreas, „auf einen Burschen“, paidarion, hinweist, „der fünf Gerstenbrote und zwei Fische hat.“ Sowohl der paidarion als auch die Gerstenbrote erinnern an (W189f.) „die biblische Speisungsgeschichte in 2. Kön 4,42-44“ (W190):

Dort wird während einer Hungersnot dem Propheten Elischa Erstlingsbrot gebracht: zwanzig Gerstenbrote. Er fordert seinen Diener auf, sie dem Volk zu geben, Der aber fragt: „Wie soll ich das an hundert Mann ausgeben?“ Elischa antwortet: „Gib‘s dem Volk, dass sie essen! Fürwahr, so hat der Ewige gesprochen: Man isst und hat übrig.“ Und so wird abschließend festgestellt: „Da gab er an sie aus; und sie aßen und ließen übrig – gemäß dem Wort des Ewigen.“ Die unmittelbar vorangehende Erzählung bezeichnet den Diener Elischas als náˁar (V. 38), in der Septuaginta mit paidárion übersetzt. Damit ist nicht ein „Knabe“ gemeint, sondern ein jugendlicher Sklave.

Außerdem verweist Wengst auf die Gerste als „das Nahrungsmittel der armen Leute“ und meint, dass „bei dem paidárion in V. 9 am ehesten an einen Bauchladenverkäufer zu denken“ wäre. „Der Anklang an 2. Kön 4 lässt Jesus in biblischer, prophetischer Tradition stehen.“

Nach Hartwig Thyen (T337) überblickt Jesus vom Berg aus „alles, was da auf ihn zukommt“ und führt sofort „mit seiner ersten Frage an Philippus … das Lexem artos {Brot} ein, das bis hin zu V. 58 seine Rede beherrschen wird.“ Ihm ist es wichtig zu betonen, dass Jesus nicht nur seinen Jünger „versuchen“ will, sondern dass er „sich durch das ‚Wir‘ des agorasōmen artous {kaufen wir Brot} mit seinen Jüngern solidarisch in der Verantwortung für das physische Wohl der nachfolgenden und jetzt auf ihn zukommenden Menschenmenge“ erweist. Darin sieht er eine sachliche Parallele zu „dem esplanchnisthē ep‘ autous {sie jammerten ihn} von Mk 6,34 = Mt 14,14.“

Zum Spiel mit den Synoptikern nimmt Thyen in diesem Fall an, dass Johannes „die beiden Speisungs-Episoden, nämlich die Speisung der Fünftausend in Mk 6,35ff und die Sättigung der Viertausend (Mk 8,1-9) zu der einen Erzählung in unserer Szene verdichtet“ hat. Während „Markus aus der einen Speisungsgeschichte seiner Tradition aus bestimmten Gründen diese beiden gemacht hat“, hatte „Johannes seinerseits Gründe…, aus diesen beiden Erzählungen wieder eine zu machen. Als die Gründe des Markus sieht Thyen das „auffällige Interesse des Markus an der jeweiligen Zahl der Körbe voller übriggebliebener Brocken – hier zwölf und da sieben (8,14ff, von uns oben seine ‚Brotrede‘ genannt)“:

Steht die Speisung der Fünftausend mit den zwölf Körben voller Reste bei ihm für die Sammlung des Zwölf-Stämme-Volkes Israel, so könnte die Speisung der Viertausend die aus den ,vier Winden‘ zusammenkommende und durch die vollkommene Siebenzahl der Körbe voller Brocken repräsentierte Völkerwelt symbolisieren. Da deren Sammlung nach Joh 20f aber erst die Aufgabe der durch den Auferstandenen mit dem Geist begabten und dazu ausgesandten Jünger ist, könnte Johannes deshalb die beiden Erzählungen in unserer Szene miteinander verschmolzen haben.

Noch näher liegt meines Erachtens die Annahme, dass Johannes die weitreichende Öffnung für die Völkerwelt durch Markus, Matthäus und Lukas wie bereits zuvor durch Paulus grundsätzlich eher skeptisch beurteilte und sich daher in seinem Evangelium fast ganz auf die Sammlung und Wiederherstellung ganz Israels unter Einschluss allenfalls einiger Griechen (12,20) konzentrierte.

Ganz selbstverständlich weist auch Thyen auf 2. Könige 4,42-44 als die ursprüngliche Grundlage der synoptischen und johanneischen Speisungserzählungen hin:

Da, wo die ,Schrift‘ mit solchem Nachdruck als die verläßliche Zeugin Jesu aufgeboten wird (5,39), können diese Anklänge kein bloßer Zufall sein (vgl. die Gerstenbrote, die wiederholte Aufforderung den Leuten, zu essen zu geben, und das durch katelipon {es blieb übrig} bestätigte kataleipsousin {es wird übrig bleiben} der göttlichen Verheißung).

Zu den Verkleinerungsformen paidarion {Knabe, Bursche, Diener} und opsaria {Zukost, Fische} bemerkt Thyen, dass sie auf die Worte „pais und opson“ zurückgehen und der johanneischen „Vorliebe für Deminutiv-Formen“ entsprechen. „paidarion begegnet im gesamten Neuen Testament nur hier; opsarion ebenfalls nur bei Joh 6,8.11; 21,9.10 und 13“.

Erneut ist es Ton Veerkamp, <525> der die Wundergeschichte nicht nur formal mit der jüdischen Heiligen Schrift in Verbindung bringt, sondern daraus auch befreiungstheologisch-politische Konsequenzen zieht:

„Jeschua erhob seine Augen.“ So beginnt das große Gebet des Messias, Johannes 17,1, aber dort heißt es: „zum Himmel“. Hier bleibt sein Blick auf die Erde gerichtet, „er schaut, dass eine große Menge von Leuten auf ihn zukommt“. In der Katastrophenzeit der Periode um das Jahr 70 verhungert Israel, und die Führung der Messianisten sieht keinen Ausweg, ja behindert mit „realpolitischen“ Argumenten das Werk des Messias. Diese Art von realpolitischer Bremserei ist traditionell. So heißt es in 2 Könige 4,42ff.:

Es kam ein Mann aus Baal-Schalischa.
Er brachte dem Mann Gottes Erstlingsbrot, zwanzig Gerstenbrote,
dazu frisches Obst in seinem Beutel.
Er sagte:
„Gib es dem Volk, dass sie essen.“
Sein Amtmann sagte:
„Wie kann ich das ausgeben an hundert Leute?“
Er sagte:
„Gib es dem Volk, dass sie essen,
denn der NAME sagt: essen und übriglassen.“
Er gab es ihnen aus, sie aßen und ließen übrig,
nach der Rede des NAMENS.

Dies ist eine Erzählung aus der Zeit des Hungers: „Elisa saß im Gilgal; der Hunger war im Land“, heißt es 2 Könige 4,38 . Diese Erzählung haben alle Evangelien mit Jeschua verknüpft, zwei von ihnen sogar zweifach. Die Schüler nehmen in der Erzählung strukturell den gleichen Platz ein wie der meschareth, Amtmann, Elisas, also nicht einfach ein Knecht, sondern sein Vertreter, der diakonos. „Geht nicht“, sagt er, sagen sie alle. „Geht doch“, sagen zwei, Elisa und Jeschua, weil der NAME, der Gott Israels, es sagt. Elisa hatte zwanzig Gerstenbrote für hundert Leute zur Verfügung. Hier muss man noch deutlicher werden. Jeschua hatte fünf Gerstenbrote für fünftausend Menschen. Dazu die zwei Stück Zukost, wahrscheinlich getrockneter Fisch. Die Ausgangslage für die messianische Bewegung ist hoffnungslos, hoffnungslos angesichts der Übermacht des Feindes.

Weiter beschäftigt sich Veerkamp mit der Rolle der berufenen Schüler:

Zum ersten Mal nach ihrer Berufung treten die Schüler auf. Andreas kommt im Evangelium fünfmal vor. Er ist der Bruder des Simon Petrus und tritt zweimal mit Philippus auf. Alle drei kamen aus Bethsaida, einem Ort in Galiläa. Philippus kommt zwölfmal vor. Er ist zusammen mit Andreas Vermittler zwischen Jeschua und der hellenistischen Diaspora (Johannes 12,21f.) und er, die „Entdeckung“ Jeschuas (1,43), vermittelt Jeschua den Nathanael, den „Israeliten ohne Tücke“. Die Drei aus Bethsaida spielen hier eine Schlüsselrolle. Andreas und Philippus als die skeptischen Realpolitiker, Simon als der, der bei aller Skepsis am Ende (6,68) keine Alternative zum Messias Jeschua sieht.

Die skeptischen Argumente der beiden Realpolitiker Andreas und Philippus bringt Veerkamp mit weiteren Schriftstellen aus dem Buch Jesaja und dem 1. Buch Mose in Verbindung. Ohne ihren Hintergrund wäre nicht zu begreifen, an welchen Kriterien Jesus seinen Schüler Philippus prüft. Jedenfalls geht es dabei nicht, wie Wengst und Thyen meinen (T338), um rein formale „Steigerungen des Wunderbaren“ als „typischer Zug unseres Evangeliums“:

Zunächst treten Andreas und Philippus auf. Sie tragen als einzige griechische Namen, obwohl sie aus Galiläa stammten. Wir erwähnten bereits, dass sie zur hellenistischen Diaspora gute Verbindungen hatten. Beide nun bezweifeln, ob der Messias mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln Israel ernähren, also am Leben erhalten kann. Die Mittel sind fünf Gerstenbrote und zwei getrocknete bzw. gebratene Fische, Zukost (opsarion). Das Wort werden wir im letzten Kapitel erneut finden; es kennzeichnet 21,1ff. als Zwillingserzählung zu 6,5ff. Hier ist der Messias der Ernährer Israels, dort der Ernährer der messianischen Gemeinde (21,10). Auf die Zahl fünf kommen wir noch zu sprechen (vgl. unten zu 6,32, dem „wirklichen Brot“). Der Realpolitiker sagt, zweihundert Denare würden nicht einmal ausreichen, genug Brot kaufen zu können. Man sollte den Text Jesaja 55,1ff. kennen, wenn man verstehen will, wie Jeschua Philippus „prüft“. Es heißt:

Oh, ihr Dürstenden alle, kommt zum Wasser!
Wer kein Geld hat, kommt und kauft, esst,
kommt und kauft, aber nicht für Geld,
nicht für den Preis von Wein und Milch.
Warum zahlt ihr Geld für Unbrot,
eure Mühe für das, was nicht sättigt?

Jeschua fragt: „Woher sollen wir Brot kaufen (agorazein, schavar)?“ Mit dieser Frage quält sich Jakob = Israel, als er hörte, dass es in Ägypten Getreide gibt. Er schickt seine Söhne, um es zu kaufen (schavar, agorazein), Genesis 42. Beide Stellen, Jesaja 55 und Genesis 42, klingen hier mit. Jesaja 55 spielt eine Rolle, wenn es in der Brotrede um die Frage geht, was wirkliches Brot (lechem ˀemeth) und nicht Unbrot (lo-lechem) ist. Mit den von den Realpolitikern als völlig unzureichend eingeschätzten Mitteln von fünf Broten und zwei Fischen für fünfmal tausend Menschen wird der Messias Israel ernähren.

Johannes 6,10-13: Jesu Speisung der 5000 und die Sammlung von Israels Rest

6,10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern.
Es war aber viel Gras an dem Ort.
Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
6,11 Jesus aber nahm die Brote, dankte
und gab sie denen, die sich gelagert hatten;
desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten.
6,12 Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern:
Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
6,13 Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe
mit Brocken von den fünf Gerstenbroten,
die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.

[27. Juni 2022] Zum Wunder der Speisung der 5000 hebt Klaus Wengst (W190) vor allen „das souveräne Handeln Jesu“ hervor, der wie „ein Hausvater beim Mahl“ über dem Brot „den Segensspruch“ spricht und „bei Johannes Jesus allein als Verteilender erscheint, während in allen synoptischen Versionen seine Schüler als Helfer fungieren“. Zugleich meint er, dass es

bei einer Leser- und Hörerschaft, die das Abendmahl feiert und der die Abendmahlsüberlieferung vertraut ist, … beim Lesen und Hören dieses Textes nicht ausbleiben [kann], dass sie sich an das Abendmahl erinnert, dass also für sie das hier erzählte Handeln Jesu auch eine eucharistische Dimension gewinnt.

Das anschließende Einsammeln der übrigen Brocken, das ebenfalls „jüdischer Tischsitte“ entspricht, „bestätigt das erfolgte Wunder und hebt zugleich seine Fülle hervor. Die gegessen haben, ‚so viel sie wollten‘, sind ‚satt geworden‘.“ Eine weitere (W191)

Dimension des Textes … klingt schon in der Aufforderung Jesu an, wenn dort als Ziel erscheint, „damit nichts verloren gehe“. Dieses Motiv wird er in der folgenden Rede (V. 39) und noch öfter im Evangelium (10,28f.; 17,12; 18,9) aufnehmen. Es ist ein ekklesiologisches Motiv: Diejenigen, die ihm der Vater gegeben hat, wird er nicht verloren gehen lassen. Die ekklesiologische Dimension kommt auch mit den „zwölf Körben“ ins Spiel. Denn die Zahl Zwölf kann nicht gut ohne Beziehung auf das Zwölfstämmevolk Israel gedacht werden, sodass Johannes die Gemeinde Jesu als Repräsentanz des endzeitlich restituierten Israel verstünde. Das Einsammeln der Brocken wird zum Symbol der Einheit der Gemeinde, „damit nichts verloren gehe“.

Interessant ist, was Wengst dazu anmerkt (Anm. 303):

Dabei muss man sich aber bewusst machen, dass Johannes in jüdischem Kontext schreibt. Wird dieses Modell in nichtjüdischen Kontext übernommen, kann es nur die Vorstellung von der Ersetzung Israels durch die Kirche aus den Völkern zur Folge haben. Für uns käme es stattdessen darauf an, Israel als Gottesvolk außerhalb der Kirche wahrzunehmen.

Gerade diese Erläuterungen lassen jedoch einen Widerspruch erkennen. Nähme Wengst tatsächlich ernst, „dass Johannes in jüdischem Kontext schreibt“, und zwar als ein Jude, der sich immer noch als Jude und zugleich als glühender Anhänger des Messias Jesus versteht, dann ginge aus dem Verweis auf die zwölf Körbe einfach hervor, dass Jesus die Wiederherstellung und Befreiung ganz Israels im Sinn hat und nicht etwa eine von Israel unterschiedene christliche Gemeinde, die dann sogar noch in der Gefahr steht, Israel ersetzen zu wollen.

Diesen Schritt überspringt Wengst jedoch und liest bereits das ursprüngliche Johannesevangelium so, wie es eine heidenchristlich dominierte Kirche schon bald nur noch lesen konnte, nämlich als christlichen Text über eine christliche Gemeinde Jesu, die sich selbst in Analogie zu Israel als das wahre endzeitliche Gottesvolk betrachtete. Geht man von diesem Hintergrund aus, vor dem bis heute das Johannesevangelium fast ausschließlich gelesen wird, konnte es kaum ausbleiben, dass sich die Vorstellung von der Enterbung Israels als Gottesvolk schon bald durchsetzte.

Anerkennenswert ist allerdings, dass Wengst trotz seines Festhaltens an einer christlich adaptierten Lektüre des Johannesevangeliums dessen jüdische Wurzeln wahrnimmt und Israels bleibende Erwählung als Gottesvolk verteidigt.

Trotz der erwähnten symbolischen Dimensionen, auf die Johannes Wert legt, verliert die Wundergeschichte auch bei ihm nicht „ihre eigene Bedeutung“:

Über diese Geschichte, die von einer erstaunlichen Vermehrung bis zum Überfluss von wenig Brot und noch weniger Fisch zu erzählen weiß, mag man in einer technisierten Wohlstandsgesellschaft überlegen lächeln. Aber sie hat einen anderen Klang in den Ohren von Menschen, für die das tägliche Brot keine Selbstverständlichkeit ist, die sich ständig darum abmühen müssen und doch immer wieder Hunger leiden. In ihr artikuliert sich deren Sehnen nach genug Brot für alle, ja mehr als genug. Dieses Sehnen macht sich hier an Jesus fest, von dem man – als Beauftragtem des biblisch bezeugten Gottes – Erfüllung erhofft. Das mit ihm verbundene Heil Gottes übersieht nicht den Leib und seine Bedürfnisse. Das stellt gerade die Massivität der johanneischen Wundergeschichten heraus.

Das stimmt alles; das einzige Fragezeichen, das hier zu setzen ist, bezieht sich auf Jesus als den Beauftragten „des biblisch bezeugten Gottes“: Das erklärte Ziel des befreienden NAMENS ist ja zunächst einmal nicht ein allgemeines „Heil“, neben dem er „den Leib und seine Bedürfnisse“ übersehen könnte, sondern in diesem Zusammenhang ganz zentral die Ernährung seines erwählten Volkes Israel, die Beseitigung seines Elends und Hungers unter den Bedingungen der weltweiten römischen Versklavung. Diesen Fokus verschiebt Wengst in die Richtung einer sozialen Verantwortung christlicher Gemeindemitglieder füreinander:

Im Erzählen der Geschichte von der wunderbaren Speisung innerhalb der weitergehenden Schülerschaft Jesu, in seiner Gemeinde, wird sie auch in der elementaren Hinsicht, dass genug Brot für alle da sei, zu einer Verheißung und zugleich zu einer Verpflichtung.

Nach Hartwig Thyen (T339) mag der „selbständige Hauptsatz aus dem Munde des Erzählers“, dass „an dem Ort ‚viel Gras wuchs‘“, symbolisch etwa an Psalm 23,1-2 erinnern. An der ungeheuren „Zahl der Mahlteilnehmer“, die „ein Mehrfaches von Fünftausend“ beträgt, interessiert Thyen vor allem für die gegenüber Matthäus und Markus dramatisch gesteigerte Erzählweise, dass Johannes wie Lukas „diese unglaubliche Zahl schon mitten in die Ratlosigkeit der Jünger hinein“ nennt, „noch ehe alle diese Menschen von den fünf Broten und den zwei Fischen satt geworden sind und am Ende ein Vielfaches dessen übriggelassen haben, was zu Anfang da war.“

Allein aus dem „Segensspruch über dem Brot (eucharistēsas {er dankte})“, der eine „feste jüdische Tischsitte“ war, „ein absichtsvolles Spiel mit den Einsetzungsworten der Eucharistie“ zu erkennen, geht für Thyen zu weit, obgleich er für unser Kapitel nicht „jeglichen Anklang an das Herrenmahl … rigoros bestreiten“ will. Ihm scheint

eine „eucharistische Bedeutung“ nicht erst von der „späteren Kirche“ in unseren Text „hineingelesen“ worden zu sein. Durch seine enge Intertextualität mit den synoptischen Prätexten ist sie vielmehr von vorneherein in ihm selbst angelegt.

Bestätigt wird diese Sicht (T340) „durch die rückblickende Bezeichnung des Speisungsortes als topos hopou ephagon ton arton eucharistēsantos tou kyriou {wo sie das Brot gegessen hatten, über dem der Herr das Segensgebet gesprochen hatte} (6,23…)“, und dadurch, dass „Joh 21,12f, als österliche ,Wiederholung‘ der Speisung am See fraglos eucharistische Obertöne hat“.

Andere Wege der Auslegung als Wengst geht Thyen zu den Versen 12-13, in denen vom Sammeln der übrigen Brocken die Rede ist, „damit nichts umkomme“. Er setzt sich mit Ludger Schenkes <526> Frage auseinander, „ob die ,zwölf Körbe‘ etwa zum Ausdruck bringen sollen, daß es sich hier um Dinge handele, die auf natürliche Weise satt machen und von neuem Hunger entstehen lassen, ‚so daß sich ihre Bevorratung lohnt‘“, was zur folgenden seltsamen Deutung der „wunderbaren Speisung“ führt:

„In ihr gibt Jesus nicht sich selbst als das Brot. Sie hatte somit keinerlei Heilskraft. Die Speise, die er hier gibt, ist vielmehr vergänglich und muß vor dem Verderben geschützt werden“.

In Thyens Augen dagegen sieht „die Menge der durch das Wunder Gesättigten … das Geschehen im Lichte des Mannawunders in der Wüste und gleichsam als dessen messianische Wiederholung“, wozu Schenke mit Recht „erklärt, ‚Die Leser sollen also bei dem Geschehen an die Eucharistie denken, wie sie sich überhaupt an das nahe Passa erinnern sollen‘“, obwohl

die „wunderbare Speisung“ noch keine Eucharistie sei. Aber das ist darum richtig, weil die Eucharistie für Johannes den Tod Jesu als die Hingabe seines Fleisches für das Leben der Welt (6,51) voraussetzt. … [I]n rechter Weise als ,Zeichen‘ begriffen, das auf den zeigt, der hier handelt, gab Jesus sich in dieser Speise proleptisch {vorwegnehmend} durchaus selbst. Insofern sind die zwölf Körbe voller Brocken keine pragmatische Mahnung zu kluger Vorratswirtschaft, sondern ihrerseits ein Zeichen, das hinweist auf die Speise, die gerade nicht vergänglich ist, sondern bleibt zum ewigen Leben (V. 27).

Worauf Thyen hier gar nicht eingeht und Wengst in der oben skizzierten zwiespältigen Weise, das ist für Ton Veerkamp <527> die zentrale symbolische Bedeutung der zwölf Körbe als Versinnbildlichung der zwölf Stämme Israels. Entscheidend ist für ihn die Verbindung der übrig bleibenden Brocken mit dem „Rest Israels“, aus dem nach den Verheißungen der jüdischen Schriften ein Neuanfang für ganz Israel hervorgehen soll:

Genau zwölf Körbe mit Brotbrocken sind es, die übrigbleiben. Auf alle Fälle bedeutet zwölf Israel, jenes Restisrael der zwölf Schüler Jeschuas. Das Verb perisseuein (übrigbleiben) kommt vom Adjektiv perissos und das steht wiederum für jether, „Rest“. Johannes verwendet ein Wort, das in der Erzählung über das Manna in Exodus 16 fehlt; dort haben wir pleonazein, „Überschuss haben“. Der Messias produziert keinen Überschuss, sondern er ernährt den Rest Israels, jenen Rest, der bei den Propheten immer der Ausgangspunkt für einen Neuanfang war. Es geht um Rest-Israel. Die Schüler können das Problem nicht lösen. Der Messias ist der Ernährer Israels, und die Schüler können es nur sein, solange sie sich an diesen Messias halten. Erklärt wird das in der Brotrede (6,26ff.) und in der Rede, in der sich der Messias von den Schülern verabschiedet (15,1ff.).

Liest man das Speisungswunder vor diesem Hintergrund und versteht man (Anm. 216) den Schluss von Vers 13 nicht im Sinne von „Für die, die gegessen haften, war es zuviel gewesen“, sondern: „Die, die gegessen hatten, ließen einen Rest“, dann verliert die Geschichte den Anschein, als ginge es Johannes vor allem um eine ins Unermessliche gesteigerte Wunderkraft Jesu. Tatsächlich ist Johannes daran interessiert, ganz Israel in der messianischen Gemeinde zu versammeln, wofür er in den Versen 12 und 13 nicht zufällig zwei Mal das Wort synagein verwendet, und niemand aus den zwölf Stämmen Israels soll für das Leben der kommenden Weltzeit verloren gehen, apolētai!

Im Horizont Israels und nicht als vorweggenommenes christliches Abendmahl begreift Veerkamp auch die eucharistischen Anklänge des Speisungswunders:

Jeschua spricht das traditionelle Dankgebet, eucharistēsas. Was hier geschieht, ist wirklich Eucharistie, aber das ist weder das Urbild des protestantischen Abendmahls noch der römischen bzw. orthodoxen Messe. Jeschua eröffnet Israel eine neue Perspektive und genau das stimmt ihn dankbar. Das Wort eucharistein kommt außer an der Stelle 6,23, wo direkt auf 6,11 Bezug genommen wird, nur noch in 11,41 vor, wo Jeschua dem VATER dankt, bevor er Lazarus = Israel aus der Verwesung zum Leben zurückruft.

Johannes 6,14-15: Jesus als Prophet lässt sich nicht zum König machen, sondern entweicht allein auf den Berg

6,14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat,
sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
6,15 Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden
und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen,
entwich er wieder auf den Berg, er allein.

Nach Klaus Wengst (W192) reagieren die „beteiligten Menschen“ durchaus angemessen auf das „Zeichen“ Jesu, indem sie ihn als den in 5. Mose 18,15.18 verheißenen „Propheten wie Mose“ verstehen:

Trotz dieser formalen Richtigkeiten zeigt Jesus eine abwehrende Reaktion. Weil er „erkannte, dass sie kommen und ihn ergreifen würden um ihn zum König zu machen, zog er sich wiederum auf den Berg zurück, er allein“. Schon in 1,49 bekannte Natanael Jesus als „König Israels“. Als „König“ wird er in der Passionsgeschichte auftreten, die Inschrift am Kreuz ihn als „König des jüdischen Volkes“ bezeichnen. Von daher ergibt sich als Aussageabsicht des Evangelisten, dass erst der Gekreuzigte „der König“ ist.

Die Frage ist aber, ob diese arg verknappte Definition des Königtums Jesu ausreicht, um zu bestimmen, in welcher Weise Johannes tatsächlich Jesus als den König Israels begreift. Wengst scheint andeuten zu wollen, dass Jesus jedenfalls nicht politisch herrscht, sondern in seiner Kreuzigung auf jede äußerlich erkennbare menschliche Macht verzichtet. Worin aber besteht dann seine königliche Macht? Ist sie rein religiös, geistig, moralisch und letztlich jenseitsbezogen zu verstehen?

Immerhin warnt Wengst davon, die von ihm formulierte

Einsicht in Polemik gegen „die“ jüdische Messiasvorstellung umzumünzen – die es nicht gibt. Es besteht vielmehr eine Vielfalt messianischer Vorstellungen. Liest man die hier beschriebene Reaktion Jesu im Zusammenhang mit der Speisung im zeitgeschichtlichen Kontext, wird eine ganz andere Polemik erkennbar, nämlich gegen die Praxis von Kaiser, Königen und anderen Potentaten, ihre Herrschaft durch Spenden von Nahrungsmitteln zu legitimieren. Die Bereitstellung dessen, was zum Leben und Überleben nötig ist, darf nicht zur Legitimation von Herrschaft missbraucht werden.

In diesen Worten stellt Wengst nun doch dem Königtum Jesu übliche politische Praktiken gegenüber, ohne allerdings wahrzunehmen, dass Johannes den Messias Jesus als entscheidenden endzeitlichen Akteur in genau diesem politischen Gegenüber zum römischen Kaiserreich sehen könnte.

Auch nach Hartwig Thyen (T341) sehen zwar „die Leute ganz richtig“, dass „mit dem fleischgewordenen Logos auch der verheißene ,Prophet wie Mose‘ (Dtn 18,15.18) ‚in die Welt gekommen ist‘“, aber er bestreitet kategorisch jede politische Interpretation seines Königtums, die sie damit verbinden:

[W]enn sie ihn mehr oder weniger gewaltsam (harpazein auton {ihn ergreifen, rauben}) jetzt zum König proklamieren wollen, mißverstehen sie sein spezifisches Königtum. Denn zum einen gilt: So wenig Jesus sich selbst ,Gott gleich‘ oder zum ,Gottessohn‘ machen kann oder will, weil er das ja schon von Ewigkeit her ist (5,18ff), so wenig vermögen sie ihn jetzt zum basileus tou Israēl {König von Israel} zu machen, denn auch der war er schon en archē {im Anfang} (vgl. 1,49). Und zum andern begreifen sie nicht, daß seine basileia {Königtum} nicht ek tou kosmou toutou {von dieser Welt} ist. König ist er nicht als politischer Befreier Israels vom Joch der Römer und damit als Konkurrent des Caesar, sondern er ist „dazu geboren und in die Welt gekommen, daß er Zeuge sei für die Wahrheit“ (18,36f).

Hier wird deutlich, mit welch geringem argumentativen Aufwand Thyen die in meinen Augen durchaus zu erwägende Annahme als abwegig abtut, Jesus könne möglicherweise doch „als politischer Befreier vom Joch der Römer“ betrachtet werden. Den angeführten Argumenten liegen Voraussetzungen zu Grunde, die hier mit keinem Wort begründet werden:

Erstens hinterfragt Thyen nicht seine Definition von kosmos als der diesseitigen Welt, auf Grund derer der Ausdruck „nicht aus diesem Kosmos“ sich zwangsläufig auf irgendetwas beziehen muss, das jenseits der für uns wahrnehmbaren Welt liegt, also vielleicht in einem geistig-religiösen Bereich oder im Himmel, aber nicht im Bereich irdischer Politik. Dass sich der Ausdruck „nicht von dieser Welt“ auch auf diese Weltzeit unter einer dem Königtum Gottes nicht entsprechenden Herrschaft im Gegensatz zur kommenden Weltzeit des Friedens beziehen kann, kommt Thyen dabei nicht in den Sinn.

Zweitens setzt Thyen zu Unrecht als selbstverständlich voraus, dass Jesu Zeugnis für die alētheia Gottes im Gegensatz zu politischen Ambitionen Jesu stehen muss. Dabei kommt ihm entgegen, dass er alētheia grundsätzlich mit „Wahrheit“ übersetzt, was in religiös-spiritualisierter Weise verengt verstanden werden kann. Nimmt man jedoch wahr, dass die alētheia des Gottes Israels vor allem die Treue zu seinem Volk Israel bezeichnet, dann sollte man zumindest überlegen, ob sich diese Treue nicht auch darin äußern könnte, dass er Israel, wie er es damals aus Ägypten und Babylon befreite, nun auch durch den Messias Israel dem Joch der Römer entreißen will, und zwar indem dessen Hingabe seines Lebens am römischen Kreuz den Sieg der göttlichen Treue und Liebe über dieses verbrecherische System besiegelt und das Leben der kommenden Weltzeit anbrechen lässt.

Drittens trifft Thyens Bemerkung, dass Jesus König nicht „als Konkurrent des Cäsar“ ist, nur insofern zu, weil Jesus als sein Gegenspieler nicht auf dessen politische Mittel von Betrug und Menschenmord (Johannes 8,44) zurückgreifen und sich dementsprechend auch nicht zu einem König nach Art der gewaltsam agierenden Zeloten im Jüdischen Krieg ausrufen lassen will. Das ist der Grund, weshalb er sich „solchem Zugriff entziehen“ und – wie schon 5,13 „vor der Menge“ weichen muss, um „sich jetzt ganz allein“ auf den Berg zurückzuziehen.

Anders als Wengst und Thyen führt Ton Veerkamp <528> eine konsequent politische Auslegung der Verse 14 und 15 durch. Zunächst stellt er die Einschätzung Jesu als des Propheten in einen Zusammenhang mit ähnlichen Bekenntnissen im Johannesevangelium:

Die Menschen sehen, was hier geschieht. Keine Zauberei, sondern ein Zeichen. Sie deuten das Zeichen richtig: dieser hier sei „der Prophet, der in (besser vielleicht gegen!) die Weltordnung kommt“. Sie sagen also mehr als das, was die Frau am Jakobsbrunnen gesagt hat: „Ich durchschaue es, ein Prophet bist du!“ Sie sagen aber weniger als Martha: „DU bist es, der wie-Gott, kommend in (gegen) die Weltordnung“, 11,27. Jeschua sei der Prophet, wirklich Prophet, wie Elisa, wie der Prophet, den die Leute aus Samaria erwarten, den Israel erwartet, wie jener Elia, den der NAME schicken wird, Maleachi 3,23. Ein Prophet, der den Leuten „Brot“ geben wird, das endgültig sättigt, der Messias.

Wie aber interpretiert Veerkamp die zurückweichende Reaktion Jesu gegenüber dem Wunsch der Leute, ihn zum König zu machen? Zunächst stellt er sie insofern in einen schriftgemäßen Zusammenhang, als er auf den Unterschied prophetischer und königlicher Verantwortung in Israel aufmerksam macht:

Was liegt den Leuten näher, als Jeschua zu zwingen („rauben“, steht hier wortwörtlich), als König die politische Verantwortung zu übernehmen. Elisa setzte Könige ein (und in blutiger Weise ab), weil das zu seinem Auftrag gehört. Aber niemals war in Israel der Prophet selber König. Jeschua handelt also, wie ein Prophet in Israel handeln muss. „Er wich aus, zum Berg hin, er allein.“

Ganz folgerichtig argumentiert Veerkamp hier allerdings nicht, indem er weiß, dass Jesus eben nicht nur als Prophet handelt, sondern sich doch auch als König versteht. Davon ist auch sofort die Rede, indem Veerkamp die „drei Dinge“ beschreibt, die hier „geschehen“. Erstens geht es um Jesu Ausweichen:

„Er wich aus (anachōrēsen)“, er war zwar ein Anachoret, aber kein frommer Einsiedler. Er geht nicht auf den Berg, „um zu beten“, wie es bei den Synoptikern heißt. Der Messias ist ein König, wie wir in Kapitel 12 hören werden, aber eben nicht ein König unter – und nach! – den herrschenden Verhältnissen. Sein Ausweichen war eine politische Aktion.

Dass Jesus vor seiner Ausrufung zum König zurückweicht, bedeutet also nicht die Ablehnung jeglicher politischer Zielsetzung, wohl aber die Kritik einer bestimmten messianischen Vorstellung vom Königtum:

Jedenfalls wird hier mit einer Art von Messianismus abgerechnet, die sich vom politischen Ziel einer von Rom unabhängigen Monarchie leiten lässt. Eine unabhängige Monarchie ist es unter den Königen aus dem Haus des Judas Makkabäus gewesen. Sie konnte nichts anderes werden als ein Königreich wie alle anderen auch. Solange sich am Zustand der Weltordnung als solcher nichts wirklich ändert, konnte man realpolitisch auch gar nichts anderes erwarten als königliches business as usual. Das Katastrophenjahrhundert 63 v.u.Z. (Einnahme Jerusalems durch die Römer unter Pompeius) bis 70 u.Z. (Zerstörung der Stadt durch die Römer unter Titus) muss immer die notwendige Folge einer Politik sein, die die Menschen von Johannes 6,14 vom Messias erwarten: ein König und alles wird gut. Nichts wurde gut, auch mit einem König Jeschua würde nichts gut geworden sein.

Zweitens vollzieht sich Jesu Ausweichen in Richtung auf den Berg:

Wir hatten den Messias als Propheten, als Elia. Hier haben wir den Messias als Mosche. Jetzt wissen wir, um welchen Berg es sich handelt, warum hier ein bestimmter Artikel steht: „Zu dem Berg hin (eis to oros)“, heißt es. Der Berg von Vers 6,3 war auch dort schon bekannt.

Es ist also der Berg Sinai, den Jesus hier, symbolisch gesehen, besteigt, und zwar tut er das drittens „allein“, monos:

„Der Messias besteigt den Berg allein. Er ist Mosche, Exodus 24,2.

Was tut Israel, wenn Mosche allein auf dem Berg ist? Israel wirft sich vor das goldene Kalb hin. Was tut die messianische Gemeinde, wenn Jeschua allein auf dem Berg ist? Sie müht sich ab, vergebens, sieht kein Land. Die andere Seite des Schilfmeers, des Jordans ist unerreichbar.

Es ist dieser Ausgangspunkt, den wir als Horizont voraussetzen müssen, um die nun folgende Erzählung von Jesu Wandel auf dem Meer begreifen zu können.

Johannes 6,16-21: Jesus geht den Gang auf dem Meer, den NAMEN verkörpernd

6,16 Am Abend aber gingen seine Jünger hinab an das Meer,
6,17 stiegen in ein Boot und fuhren über das Meer nach Kapernaum.
Und es war schon finster geworden
und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen.
6,18 Und das Meer wurde aufgewühlt von einem starken Wind.
6,19 Als sie nun etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gerudert waren,
sahen sie Jesus auf dem Meer gehen und nahe an das Boot kommen;
und sie fürchteten sich.
6,20 Er aber spricht zu ihnen: Ich bin‘s; fürchtet euch nicht!
6,21 Da wollten sie ihn ins Boot nehmen;
und sogleich war das Boot am Land, wohin sie fahren wollten.

[28. Juni 2022] Klaus Wengst (W192) sieht „die Erzählung von der Begegnung des auf dem See gehenden Jesus mit seinen im Boot fahrenden Schülern“ zusammen mit den anschließenden Versen 22-25 als „eine Überleitung im wahrsten Sinne des Wortes, indem die am Speisungswunder am Ostufer Beteiligten nach Kafarnaum am Westufer verschafft werden, wo die Brotrede Jesu erfolgt.“

Schon in der Tradition des Johannes war das „Wunders des Seewandels Jesu … mit dem Speisungswunder verbunden“. Bei Matthäus (14,24-27) und Markus (6,47-50) wird jedoch „deutlich anders“ als hier im Johannesevangelium

von der Mühe der Schüler im sturmbewegten See erzählt und ihre Furcht bei der Begegnung mit Jesus darin begründet, dass sie ihn für ein Gespenst halten. Danach gibt Jesus sich zu erkennen, steigt ins Boot und der Sturm hört auf.

Johannes dagegen stellt, bevor „er das von einem starken Wind aufgewühlte Meer erwähnt“, zunächst „fest, dass ‚es schon finster geworden war‘“ und (W193) „dass ‚Jesus noch nicht zu ihnen gekommen‘ war“. Aber erst, als die

Schüler sehen – nachdem sie schon fast fünf bis sechs Kilometer gefahren sind –, „wie Jesus auf dem Meer ging und nah ans Boot gelangte“[, …] packt sie Angst. Anders als die Synoptiker begründet Johannes die Angst der Schüler nicht damit, dass sie den ihnen Erscheinenden für ein Gespenst halten. Da er Jesus ausdrücklich „nah ans Boot gelangen“ lässt, setzt er voraus, dass sie ihn erkennen. Dennoch ist von ihrer Angst die Rede.

Diese Angst erklärt Wengst unter Hinweis auf eine spätere Johannes-Stelle:

In 12,26 fordert Jesus, der seine Passion im Blick hat, zu Nachfolge und Dienst auf und verheißt: „Wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein.“ Das ist ja die Erfahrung der Gemeinde: Gerade die Nachfolge – und also die Gegenwart Jesu – setzt Stürmen und Bedrängnissen aus und gibt so selbstverständlich auch Anlass zu Angst. Dem entspricht es, dass Johannes hier auch nichts davon sagt, dass Sturm und Wellen aufhören; sie bleiben.

Obwohl Jesus die Angst der Schüler und seiner Gemeinde selber hervorruft, fordert er sogleich „die Sturm und Wellen ausgesetzte Gemeinde mit den Schülern Jesu“ auch wieder auf:

„Habt keine Angst!“ Worin ist diese Aufforderung begründet? Vor ihr sagt Jesus: „Ich bin‘s.“ Man kann diesen Text so lesen, dass man darin nicht mehr als eine „einfache Selbstidentifizierung“ sieht. Vordergründig gelesen, liegt auch in 18,5 eine solche Selbstidentifizierung vor, wenn Jesus das auf ihn zukommende Verhaftungskommando fragt, wen sie suchen, und auf deren Antwort: „Jesus aus Nazaret“ sagt: „Ich bin‘s“. Dass Johannes darin jedoch sehr viel mehr anklingen lässt, wird gleich anschließend in V. 6 deutlich, wenn die bewaffneten Häscher auf dieses „Ich bin‘s“ des wehrlosen Jesus zurückweichen und zur Erde fallen. Und hier sagt es Jesus als der, der auf dem Wasser geht. Damit stellt ihn Johannes in der Dimension Gottes dar, der seinen Weg auch auf dem Meer nimmt, und denen, die er retten will, einen Weg durchs Wasser gibt.

Zum Beleg führt Wengst eine rabbinische Stelle <529> an, die „die Aussage von Ps 86,8 begründet, dass unter den Göttern niemand dem Ewigen gleiche und nichts seinen Taten“. Dazu heißt es unter anderem:

„Nach der Ordnung der Welt macht sich Fleisch und Blut (= der Mensch) einen Pfad auf dem Weg. Kann er sich vielleicht einen Pfad auf dem Meer machen? Aber bei dem Heiligen, gesegnet er, verhält es sich nicht so, sondern er macht sich einen Pfad durchs Meer. Denn es ist gesagt (Ps 77,20): Auf dem Meer ist Dein Weg und Dein Pfad auf großem Gewässer und Deine Spuren werden nicht erkannt.“ In Jes 43,16 wird Gott in Anspielung auf das Schilfmeerwunder – einer Situation größter Bedrohung und doch erfolgender Rettung – als der bezeichnet, „der im Meer einen Weg gibt und in starkem Gewässer einen Pfad“.

Aber man muss nicht einmal auf entlegene rabbinische Quellen verweisen, um diese „Dimension Gottes“ in biblischen Texten wiederzufinden, denn nach Wengst spielen zahlreiche Stellen etwa im Buch Jesaja, auf das schlichte „Ich bin‘s“ an (W193f.):

Nicht weit von der eben zitierten Stelle heißt es in Jes 43,10f. in einer Gottesrede: „Ihr seid meine Zeugen, Spruch des Ewigen, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und mir glaubt und einseht, dass ich‘s bin (ki aní hu {(Anm. 308): die Septuaginta übersetzt: hóti egó eimí, „dass ich es bin“}); vor mir wurde kein Gott gebildet und nach mir wird keiner sein. Ich, ich, der Ewige, und außer mir gibt es keinen Retter.“ In Jes 48,12 steht als Gotteswort: „Höre auf mich, Jakob, und Israel, mein Berufener: Ich bin‘s (aní hu), ich der Erste, ich auch der Letzte“ (vgl. weiter Jes 41,4; 46,4; 52,6; Dtn 32,39). An diesen Stellen ist das von Gott gesprochene „Ich bin‘s“ Ausdruck seiner Einzigkeit. Dafür ist Israel als Gottes Knecht Zeuge vor den Völkern der Welt. Diese Stellen klingen an, wenn der über das Wasser gehende Jesus gegenüber seinen Schülern sagt: „Ich bin‘s“.

All diese Stellen sollen aber nach Wengst bei Johannes nur anklingen, aber auf keinen Fall in folgendem Sinn interpretiert werden dürfen:

Dabei liegt keine Übertragung des göttlichen „Ich bin‘s“ auf Jesus vor, so dass dieser damit als vergöttlicht erschiene.

Das heißt: Wie bereits bei der Auslegung von Johannes 4,26 wehrt sich Wengst mit Händen und Füßen dagegen, dass Johannes zufolge Jesus den befreienden NAMEN des Gottes Israels voll und ganz verkörpern könnte. Dabei ist Wengst durchaus darin Recht zu geben, dass Jesus nicht zu Gott selbst gemacht wird, indem er dessen NAMEN als der von Gott Gesandte und Beauftragte repräsentiert:

Im Kontext von 8,24.28, wo dieses absolute „Ich bin‘s“ im Munde Jesu wieder erscheint, ist wiederholt die Kategorie der Sendung gebraucht. Jesus erscheint damit als Gottes Beauftragter, der in seinem Handeln den Auftraggeber repräsentiert. Indem Johannes in dem „Ich bin‘s“ Jesu das göttliche „Ich bin‘s“ der biblischen Tradition anklingen lässt, macht er damit also deutlich, dass sich Gott mit Jesus und seinem Geschick identifiziert, sich so damit verbindet, dass er in ihm präsent ist.

Äußerst problematisch ist es jedoch, dass Wengst aus dem berechtigten Anliegen heraus, Jesus nicht mit Gott zu identifizieren, zugleich darauf verzichtet, Jesu Willen ganz und gar vom befreienden und Recht schaffenden NAMEN Gottes her zu interpretieren. Das „von Gott gesprochene ‚Ich bin‘s‘“ ist nämlich nicht nur, wie Wengst in seiner Auslegung der von ihm genannten Jesajastellen meinte, „Ausdruck seiner Einzigkeit“ in diesem recht formal-exklusiven Sinn, sondern es enthält seit seiner Offenbarung an Mose in 2. Mose 3,14 immer und überall den klaren und eindeutigen Inhalt der Befreiung und des Rechts für Israel inmitten der Völker.

Zu Recht erinnert Wengst hier nochmals an „die zu 1,14 angeführten Texte…, die von der sch‘chináh in jedem Exil sprechen. Sie zeigen, dass sich Gott bis in schlimmste Erfahrungen hinein mit Israel identifiziert.“ Aber es gilt nicht nur, wie Wengst meint, dass „im Johannesevangelium von Jesus ausgesagt wird“, was im Judentum „von Israel im Ganzen gilt“. Vielmehr verkörpert Jesus gerade, indem er Israel als Gottes erstgeborenen Sohn bzw. Isaak als den Einziggezeugten Gottes verkörpert, zugleich auch den befreienden NAMEN dieses Gottes.

Den abschließenden Vers 21 der Erzählung vom Seewandel legt Wengst wieder im Sinne einer tröstlichen Botschaft an eine christliche Gemeinde aus, und zwar nicht ohne allerhand Ermahnungen im Blick auf volkskirchliche Versuche, Jesus für eigene Zwecke zu vereinnahmen oder sich der Gegenwart Jesu allzu sicher zu sein:

Die in dem „Ich bin‘s“ anklingende Präsenz Gottes begründet die Aufforderung an die Schüler – und über sie an die Gemeinde –, sich trotz allem nicht zu fürchten. Darin werden sie bestärkt, wie die Geschichte zu Ende erzählt wird. „Da wollten sie ihn ins Boot nehmen.“ Aber dass er ins Boot ginge, wird nicht erzählt. Jesus lässt sich nicht „ins Boot nehmen“. Es muss seiner Schülerschaft genügen, dass er in der Nähe ist und sie der Gegenwart Gottes vergewissert. Dass Sturm und Wellen aufhören, wird – wie schon angemerkt – ebenfalls nicht erzählt. Wohl aber heißt es dann am Schluss: „Sogleich gelangte das Boot an Land, auf das sie zugefahren waren“ (V. 21b). Dass die in der Nachfolge lebende Schülerschaft Jesu in Sturm und Wellen und trotz ihrer sicher ans Ziel gelangt, ist die Verheißung, die diese Geschichte an ihrem Schluss vermittelt. Sie ist in der Tat nur als Wunder zu glauben und als Dennoch! zu erhoffen.

Hartwig Thyen (T341) erzählt hauptsächlich die „nächtliche Begegnung der allein gelassenen Jünger mit ihrem Herrn in der Mitte des Sees“ einfach nach und geht dabei (T342) auf Übereinstimmungen und Unterschiede zum „markinischen Prätext“ ein. So kehrt Johannes „den nächtlichen Kurs des Bootes und des ,Seewandels‘ Jesu“, der bei Markus vom „galiläischen Ufer des Sees … an das Ostufer ins gaulanitische Bethsaida führte“, um.

Gegenüber dem Verdacht der Jünger der Markuserzählung, daß da ein ,Gespenst‘ über den See wandele, hat Jesu absolutes egō eimi {Ich bin es} in unserem Text alle Ambivalenz verloren und ist, wie Joh 8,24.28.58; 13,19 und 18,5.7.8, zur reinen Epiphanieformel geworden, die nachher in dem sy-ei{Du bist es}-Bekenntnis des Petrus ihre sachgemäße Entsprechung finden wird (6,69).

Für Thyen steht außer Frage, dass „dieses absolute, und das heißt göttliche, egō eimi Jesu“ vom „ˀani huˀ {dass ich es bin} der Gottesrede des Alten Testaments“ her zu interpretieren ist, die insbesondere im „biblischen Jesajabuch“ zu vernehmen ist:

Einerlei, ob die verängstigten Jünger das volle Gewicht dieses egō eimi jetzt schon begreifen oder nicht, so weiß doch der Leser am Ende seiner Lektüre dieses Evangeliums, daß das egō eimi, das da im Sturm auf dem nächtlichen See laut wurde, kein anderes ist, als das der Stimme, die Mose einst aus dem brennenden Dornbusch sagen hörte: „Ich werde sein, wer immer ich sein werde“ (ˀehjeh ˀascher ˀehjeh – LXX: egō eimi ho ōn: Ex 3,14).

Interessant sind Thyens Überlegungen zum Versuch einer Durchnummerierung der Zeichen Jesu im Johannesevangelium, von dem er aber Jesus Seewandel ausnimmt:

Da die viel erörterte „Zählung“ der beiden ersten Wundertaten Jesu im galiläischen Kana immer schon dazu angeregt hat – und das wohl auch soll -, auch die weiteren Semeia Jesu zu zählen, wird man darauf zu achten haben, daß dieser Seewandel Jesu samt der wunderbaren Landung des Bootes der Jünger, anders als zuvor die Speisung der Fünftausend (6,14) nicht ausdrücklich als sēmeion bezeichnet wird. Dazu fehlt dabei wohl auch das öffentliche Publikum, das durch die Wunder und Zeichen zu dem Glauben geführt werden soll, daß Jesus der messianische Gottessohn ist (20,31). Zählt man also weiter, dann war die Heilung des Lahmen das dritte und die wunderbare Speisung das vierte Zeichen. Das fünfte wird dann die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9), das sechste die Auferweckung des Lazarus (Joh 11) und endlich, darin bereits vorabgebildet, wird Jesu eigenes Sterben und Auferstehen als letztes und siebtes das vollkommene Zeichen aller Zeichen sein (s. u. z. St.).

Mit diesem Vorschlag widerspricht Thyen allerdings seiner eigenen Parallelisierung der beiden ausdrücklich gezählten Zeichen zu Kana mit den beiden Zeichen von 2. Mose 4,8 (siehe die Auslegung von Johannes 2,11) und seiner Annahme, auch etwa die Tempelreinigung unter die Zeichen Jesu zu rechnen.

Ton Veerkamp <530> geht in seiner Auslegung von dem Ausgangspunkt aus, den er am Ende des vorigen Abschnitts markiert hatte. Zugleich geht er ausführlich auf einen Gesichtspunkt ein, den Wengst und Thyen nur am Rande erwähnen, die Finsternis:

Was geschieht mit Israel ohne den Messias? Es wird finster. Diese Finsternis ist nicht die normale Folge von Tag und Nacht. In diesem Zusammenhang ist es unsinnig, abzuwinken und zu sagen, es sei spät geworden, und sie haben halt schlechtes Wetter. Die Synoptiker meiden das Wort skotia, Finsternis. Johannes hatte einen Grund, gerade das bei ihm so wichtige Wort einzusetzen. Zwei wichtige Handschriften ahnen die Gefahr der Verharmlosung und ersetzen „Finsternis war schon“ durch „Finsternis hat sie überwältigt“ (katelaben, nach 1,5). Für diese Handschriften war die Finsternis eine feindliche, aktive Macht. Auch wenn wir ihre Lesart nicht übernehmen, leitet der hinter der Lesart stehende Gedanke weiter. Wir denken an Genesis 1,2:

Die Erde war zum Tohuwabohu geworden (hajetha, egeneto):
Finsternis über Chaos (choschekh ˁal pene thehom, skotos epanō tēs abysson),
Gotteswind brütend über dem Antlitz der Wasser.

Die Schüler befinden sich in einer Lage, die aussichtsloser war als die, in die Israel während der Abwesenheit Mosches geraten war. Sie sind in jenem Zustand, in dem die Erde war, bevor das erste Wort erklang und das erste Licht erschien. Dieser See ist ihnen zu jenem thehom von Genesis 1,2 geworden, einem brodelnden Chaos, aufgepeitscht durch den Sturm. Auf diesem See, durch dieses Chaos, ging Jeschua seinen Gang. Die Halakha des Messias findet nur durch dieses brodelnde Chaos der herrschenden Weltordnung (kosmos) statt, in der Nähe ihres Bootes. Er beruhigt sie nicht, er sagt vielmehr: „ICH WERDE DASEIN, habt keine Angst.“

Weiter beschäftigt sich Veerkamp mit der unterschiedlichen Art, wie „Matthäus, Markus und Johannes … in der für sie jeweils typischen Weise“ erzählen. Dabei betont er die Gemeinsamkeit, dass „alle drei … das unbändige Meer, d.h. die völlig chaotischen politischen Zustände nach der Zerstörung Jerusalems im Blick“ haben:

Sie beobachten die ganz und gar verunsicherten messianischen Gemeinden; bei Matthäus und Markus unterschätzt Simon Petrus die Lage, er zeigt sich ihr nicht gewachsen. „Wenig vertrauensvoll“ heißt das, oligopistos. Bei Johannes spielt Simon Petrus ebenfalls eine wichtige Rolle. Bevor Johannes ihn ins Spiel bringt, muss aber noch vieles klargestellt werden, bis Simon Petrus in 6,69 sagen kann: „DU BIST ES!“

Matthäus und Markus lassen Jeschua das Meer beruhigen: „Ducke dich“, sagt er, und damit zeigt sich, was Schöpfung immer heißt: das stets drohende Chaos nicht zum Zuge kommen lassen. Für Johannes ist das offenbar zu blauäugig. Es wird nicht hell, der Wind legt sich nicht, und das Meer tobt wie gehabt. Es herrschen römische Verhältnisse und daran wird sich sobald wenig ändern.

Es sind diese in der Zeit des Johannes noch immer und auf lange Sicht andauernden römischen Verhältnisse, die den Evangelisten nach Veerkamp dazu veranlassen, den Seewandel Jesu anders zu beschreiben als Matthäus und Markus: weniger blauäugig und doch hoffnungsvoll, indem der Messias zwar nicht in ihr Boot einsteigt, aber dennoch aus der bleibend befreienden Macht des NAMENS heraus wirkt:

Die Schüler sind fünfundzwanzig oder dreißig Stadien – sechs Kilometer – vorangekommen, kein Land zu sehen. Aber sie beobachten, wie auf diesem tosenden Chaosmeer der Messias Jeschua „seinen Gang geht“. Das macht ihnen Angst. Nicht, weil sie glauben, er wäre ein Gespenst, ein phantasma, wie Markus und Matthäus sagen; Johannes vermeidet das Wort. Angst macht ihnen die Vorstellung, dass der Messias „seinen Gang geht“, ohne dass sich an den äußeren Umständen etwas ändert.

Jeschua sagt: „ICH WERDE DASEIN, habt keine Angst.“ Was auch immer geschieht, das, was in Exodus 3,14 zu Mosche gesagt wurde, bleibt. Der NAME lautet: „ICH WERDE DASEIN!“ Deswegen ist die Angst zwar verständlich, aber unbegründet. Sie wollten ihn ins Boot nehmen, aber erzählt wird nicht, dass Jeschua zu ihnen ins Boot stieg. Trotzdem kommen sie sofort und genau dort ans Land, wohin sie wollten, ohne den Messias!

Johannes 6,22-25: Die Volksmenge gelangt mit Booten aus Tiberias nach Kapernaum

6,22 Am nächsten Tag sah das Volk, das am andern Ufer des Meeres stand,
dass kein anderes Boot da war als das eine
und dass Jesus nicht mit seinen Jüngern in das Boot gestiegen war,
sondern seine Jünger waren allein weggefahren.
6,23 Es kamen aber andere Boote von Tiberias nahe zu der Stätte,
wo sie das Brot gegessen hatten,
nachdem der Herr die Danksagung gesprochen hatte.
6,24 Als nun das Volk sah, dass Jesus nicht da war und seine Jünger auch nicht,
stiegen sie in die Boote und kamen nach Kapernaum und suchten Jesus.
6,25 Und als sie ihn fanden am andern Ufer des Meeres, fragten sie ihn:
Rabbi, wann bist du hergekommen?

Die Verse 6,22-25 haben Klaus Wengst zufolge „die Funktion, die inzwischen von Jesus getrennten Leute wieder mit ihm zusammenzubringen“, denn für „die Ausdeutung des Speisungswunders in der Rede Jesu braucht Johannes als Publikum dieselben Menschen, die dort beteiligt waren“. Damit wendet sich Wengst (W310) gegen die Annahme, hier könne es sich um die „Wiedergabe tatsächlichen historischen Geschehens“ handeln; vielmehr muss „eine literarische Konstruktion“ vorliegen, innerhalb derer

der Evangelist das Volk ungerührt die Nacht am Ostufer im Freien verbringen lässt und sich über die vorher genannte Zahl der Menge und die dafür notwendige Masse der „anderen Boote“ keine Gedanken macht. Für die Erzählung ist das auch völlig unerheblich.

Die am folgenden Tag „noch ‚auf der anderen Seite des Meeres‘ stehenden Leute“ wundern sich darüber,

dass nur ein Boot am Ostufer zur Verfügung stand und die Schüler ohne Jesus abgefahren waren, und sie stellen nun fest, dass weder Jesus noch seine Schüler dort sind. So nehmen sie „andere Boote“ – wie und warum auch immer aus Tiberias gekommen – und setzen ebenfalls auf die andere Seite nach Kafarnaum über.

Was will Johannes inhaltlich in diesem Abschnitt sagen? Wengst verweist dazu erstens auf

ein dieses Zwischenstück übergreifendes Signal, wenn er die Anlegestelle der aus Tiberias gekommenen Boote charakterisiert als „nahe an dem Ort, wo sie – nach dem Segensspruch des Herrn – das Brot gegessen hatten“. Die singularische Formulierung vom „Brot essen“, die Bezeichnung Jesu als „des Herrn“ und die Erinnerung an sein Sprechen des Segensspruches (eucharisteín) rufen bewusst die eucharistische Dimension des erzählten Speisungswunders hervor und bereiten seine ausdrückliche Ausdeutung in dieser Hinsicht vor.

Zweitens machen die „ans andere Ufer Gekommenen“ mit ihrer Frage an „Jesus…: ‚Rabbi, wann bist du hierher gelangt?‘“ deutlich, dass sie seinen Seewandel nicht mitbekommen haben und daher nicht wissen, wer er eigentlich ist.

Hartwig Thyen (T344) bezeichnet die Verse 22-24 mit Peder Borgen <531> als „auf den ersten Blick ‚sehr verworren‘, und ihre ‚offenkundige Undurchsichtigkeit‘ habe darum in den Handschriften eine Fülle von Varianten verursacht“. Er selbst hält aber doch den von Nestle/Aland, Auflage 26 und 27, vorausgesetzten Text für ursprünglich und übersetzt ihn umschreibend folgendermaßen (T343):

22 Am folgenden Tag stand die Volksmenge (immer noch) am jenseitigen Ufer. Sie machten sich klar, daß dort (am Vortag) kein anderes Boot als nur das eine gewesen war und daß Jesus nicht zusammen mit seinen Jüngern dieses Boot bestiegen hatte; daß (damit) vielmehr allein seine Jünger (ohne ihn) abgefahren waren. 23 Doch aus Tiberias näherten sich andere Schiffe dem Ort, wo sie das Brot gegessen hatten, über dem der Herr das Segensgebet gesprochen hatte. 24 Als die Leute sich nun klar darüber wurden, daß Jesus nicht mehr dort war und auch seine Jünger nicht, da bestiegen sie die Boote und fuhren nach Kapharnaum, um Jesus dort zu suchen.

Zur Begründung führt er an (T344), dass in Vers 22 „das Ostufer, wo Jesus die Menschen wunderbar gespeist hatte…, aus der Erzählerperspektive das ‚jenseitige‘“ sein muss, „weil der Erzähler unter den mit Jesus nach Kapharnaum gekommenen Jüngern gesucht werden muß.“ Außerdem müssen die Worte eidon {sie machten sich klar} und ēn {gewesen war} „dem Perfekt-Partizip hestēkōs {stand} gegenüber, das die Volksmenge als eine gegenwärtig noch am jenseitigen Ufer weilende beschreibt, den Charakter der Vorzeitigkeit, also gewissermaßen plusquamperfektischen Sinn haben“. Alle Spekulationen darüber, ob die Volksmenge vielleicht doch „am Abend nach Kapharnaum zurückgewandert“ sein und ob der Evangelist eine von ihm übernommene Quelle missverstanden haben könnte, sind in seinen Augen daher über­flüssig.

Darüber hinaus macht sich Thyen über diesen Text keine inhaltlichen Gedanken. Auf solche konzentriert sich dagegen Ton Veerkamp <532> ausschließlich. Er nimmt die Boote, die aus Tiberias kommen, nicht einfach nur als zufällig verfügbare Transportmittel für die Volksmenge, sondern stellt die Erwähnung dieser Stadt in den Zusammenhang mit der Absicht der Volksmenge, Jesus zum König auszurufen:

Jene anderen, vor denen Jeschua ausgewichen war, ließen sich nicht für dumm verkaufen. Sie hielten an ihrem Königsprojekt fest, sahen, dass seine Schüler sich ohne Jeschua davon machten, und schlossen, dass sich die Schüler und Jeschua wohl in Tiberias verabredet hatten. Aber Leute aus diesem Ort, die mit Booten gekommen waren, meldeten, dass weder Jeschua noch seine Schüler da waren. Tiberias wurde von Herodes Antipas gegründet und zu seiner Hauptstadt gemacht. Tiberias kommt nur bei Johannes vor. Nur er nennt den großen See in der Jordansenke östlich von Galiläa „Meer von Tiberias“.

Andreas Bedenbender, <533> der zu Johannes 6,1 vorschlug, Tiberias als Anspielung auf die Tiberstadt Rom zu verstehen, steuert weitere erhellende Gesichtspunkte zu den aus Tiberias kommenden Booten bei. Indem er davon ausgeht, dass das Kapitel Johannes 6 in „transformierter Gestalt … die Konkurrenz zwischen dem Gott Israels auf der einen Seite und dem Herrn der Fleischtöpfe, dem Pharao, auf der anderen“ widerspiegelt, greift er die auch von Wengst (W192) im Zusammenhang mit der Auslegung von Johannes 6,14-15 erwähnte „Praxis von Kaiser, Königen und anderen Potentaten“ auf, „ihre Herrschaft durch Spenden von Nahrungsmitteln zu legitimieren“ [437]:

Gott/Mose werden bei Johannes durch Jesus vertreten, Ägypten und sein Pharao durch Rom und den Kaiser. Indem Jesus das Volk sättigt, macht er dem Kaiser eine seiner Zentralkompetenzen – die Sicherstellung der Versorgung mit Lebensmitteln – streitig; und so ist die Absicht des Volkes, einen Jesus, der es in puncto Brot mit dem Kaiser aufnehmen kann, zum König zu machen, zunächst einmal folgerichtig. – Jedoch liegen die Dinge dann doch etwas komplizierter, Jesus will die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht einfach erfüllen, und so bleiben die Menschen zwar an ihm interessiert – auf der Suche nach ihm überqueren sie sogar das Meer –, aber sie sind nun bereit, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Als Boote aus Tiberias in die Nähe des Ortes der Brotvermehrung kommen, steigen die Menschen ein und fahren mit ihnen nach Kapernaum. – Wird „Tiberias“ durch „Rom“ substituiert, dann läßt die Stichwortverbindung „Boote aus Tiberias“ und „Brot“ an die römischen Kornschiffe denken, die das Getreide Ägyptens nach Italien transportierten. Der Kaiser ließ das Brot über das Meer kommen, und wo ihm dies gelang – was häufig ja der Fall war –, wo die Menschen unter seiner Herrschaft also ihr Auskommen fanden, da wirkten die Verhältnisse annähernd so wie bei der Speisung, die Jesus vorgenommen hatte. In der Sprache des Joh-Ev: Die „Boote aus Tiberias“ kommen „in die Nähe des Ortes, wo sie das Brot gegessen hatten“ (V. 23). Im Glauben, so groß sei der Unterschied zwischen dem messianischen Reich und einer funktionierenden pax Romana … ja offenbar nicht, lassen sich die Menschen mit dem römischen System ein. „Fleischtöpfe“ und „Brot die Fülle“ – was kann man mehr wollen?

Vermutlich reagiert der Text hier auf Menschen, die sich selbst in der Nachfolge Jesu sahen, aber mit Rom ihren Frieden gemacht hatten – eine Kombination, die bereits Anfang des 2. Jh. n.Chr. sehr verbreitet war und zweifellos schon im 1. Jh. existiert hat. In jedem Fall haben derart gesinnte Menschen von Jesus nach Ansicht des vierten Evangeliums so gut wie nichts verstanden, seine Wege und seine Mittel sind ihnen verborgen, das zeigt schon ihre erstaunte Frage in V. 25: „Rabbi, wann bist du hier angekommen?“ – Der johanneische Jesus ist bei seinem Weg über das Meer weder auf das Boot seiner Jünger angewiesen, noch benötigt er die „Boote aus Tiberias (d.h. Rom)“. Am Ende begreift die Menge, daß sie mit einem solchen König nichts anfangen kann, und verläßt Jesus.

Diese weiterführenden Gedanken scheinen mir mit Veerkamps Auslegung kompatibel zu sein. Allerdings bleibt der Bezug auf Rom bei Johannes ausschließlich im Bereich einer bloßen Anspielung. Ausdrücklich kommt er mit keinem Wort auf die politische Bedeutung der Stadt Tiberias zu sprechen. Für ihn ist nach Veerkamp

Tiberias „in der Nähe des Ortes, wo sie das Brot gegessen und der Herr das Dankgebet gesprochen hatten.“ Wenn der Ort erwähnenswert sein soll, dann nur wegen des Zeichens der Ernährung Israels.

Jeschua war nicht da, also – so tippten die Leute – müsste er in Kapernaum sein, im „Ort der Vertröstung“, dem Ort, wo der sterbende Sohn des königlichen Amtmanns wieder auflebte. Sie fanden Jeschua und wollten nun wissen, auf welche wunderbare Weise er an das andere Ufer gekommen war. Das erzählt er ihnen nicht. Er hat etwas ganz anderes zu sagen.

Zur Stadt Kapernaum erinnere ich daran, dass nach Andreas Bedenbender [433] (worauf ich zur Auslegung von Johannes 2,12 eingegangen bin) dieser Ort, zu dem im Johannesevangelium immer hinabgestiegen wird, den absoluten „Tiefpunkt in der Welt des Joh-Ev“ darstellt und auf „seine eigene Weise“ ebenfalls Rom repräsentiert. Wenn Johannes die synoptischen Evangelien kannte, muss es Bedenbender zufolge [434] „dem vierten Evangelisten geläufig gewesen sein, daß Fragen, die Rom betrafen, gut unter dem Stichwort ‚Kapernaum‘ erörtert werden konnten.“ <534> Anders als Veerkamp bezieht Bedenbender den Namen der Stadt Kapernaum nicht auf das hebräische kɘfar nachum, „Dorf des Trostes“, sondern auf das biblische Prophetenbuch Nahum [430f.]:

Markus wählt seine topographischen Angaben im allgemeinen mit Bedacht… Und gerade auch die Ortsnamen seines Werkes erweisen sich als sinntragend… „Kapernaum“ aber, oder „Kefar Nachum“, heißt seinem aramäischen Wortsinn nach „Dorf Nahums“. Es ist nicht abwegig, darin einen Bezug auf die biblische Schrift des Propheten Nahum zu sehen. Das Nahumbuch wird ganz von der Erwartung des Gerichts beherrscht, das über das assyrische Großreich (= Ninive) hereinbrechen wird, und Nahum glaubt damit auf seine Weise ein Evangelium zu verkünden {Nahum 2,1}; das kann einem schriftgelehrten Autor wie Markus, der den Wortstamm euangel- {Gutes verkünden} mit großer Macht und großer Originalität zu Ehren brachte, nicht entgangen sein. Die Annahme, „Kapernaum“ stehe als metonymischer {durch ein Ersatzwort getragener} Verweis auf die Botschaft Nahums für die Erwartung, Rom gehe seinem Untergang entgegen, paßt zu allen drei synoptischen Evangelien gleichermaßen.

Johannes 6,26-27: Von der Speise, die ins Leben der kommenden Weltzeit bleibt

6,26 Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt,
sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid.
6,27 Müht euch nicht um Speise, die vergänglich ist,
sondern um Speise, die da bleibt zum ewigen Leben.
Dies wird euch der Menschensohn geben;
denn auf ihm ist das Siegel Gottes des Vaters.

[29. Juni 2022] Mit Johannes 6,26 beginnt ein langes Gespräch Jesu mit Menschen der Volksmenge, die ihm von der anderen Seite des Galiläischen Meeres nach Kapernaum gefolgt sind. Dabei geht er (W198) auf „die Frage der Leute…: ‚Rabbi, wann bist du hierher gelangt?‘, … in seiner Antwort nicht ein“, vielmehr lenkt seine erste Reaktion Wengst zufolge (W197)

sofort auf den Sinn des Speisungswunders hin. Es soll als Zeichen verstanden werden, das von sich weg auf Jesus hinweist. Das Wunder als Zeichen hat demnach dieselbe Funktion wie der menschliche Zeuge. Das Zeichen wie der Zeuge gelangen zum Ziel, wenn es zum Glauben an den Bezeichneten und Bezeugten kommt.

Dabei (W198) geht es „nicht um einen isolierten Glauben an Jesus…, sondern dass das auf ihn gesetzte Vertrauen zugleich und in eins damit sich auf Gott bezieht. Das sollte bei der Lektüre dieses Kapitels keinen Augenblick vergessen werden.“

Im Blick auf die erste Äußerung Jesu, in der er „auf die Speisungsgeschichte zurückgreifend, dem Suchen der Leute eine falsche Motivierung vor[wirft]: ‚Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid‘“, warnt Wengst vor der Folgerung,

also werde der Aspekt der Sättigung in dem vorher erzählten Speisungswunder durch den Evangelisten gering geschätzt. Eine solche Geringschätzung könnte auch nur von denen erkannt werden, die sich um ihre materielle Versorgung keine Sorgen machen müssen. Indem Jesus den Leuten vorwirft, dass sie den Zeichencharakter seines Handelns nicht erkannt hätten, kritisiert er, dass sie dessen Sättigungscharakter schon für alles hielten und ihn so gleichsam als einen Geber von „Brot und Spielen“ ansähen.

In Wengsts Augen ist bei „Jesu Wundertaten … nicht gleichgültig, was erzählt wird. Aber indem es als Zeichen gilt, ist das Erzählte auch nicht schon alles; es hat Verweischarakter. Das Zeichen verweist auf Jesus als seinen Täter“, und zwar nicht nur auf den, „der in der Vergangenheit gehandelt hat“, sondern „durch den und in dem Gott in der Gegenwart ‚das Brot des Lebens‘ gibt. Damit bewahrt Johannes die Erzählung der Wundergeschichte davor, nur noch Anekdote zu sein.“

Auch die Gegenüberstellung in Vers 27: „Verschafft euch nicht die Speise, die vergeht, sondern die Speise, die zum ewigen Leben bleibt!“ will Wengst nicht in dem Sinne verstanden wissen, als ob „das für die Lebensfristung nötige ‚tägliche Brot‘“ verächtlich gemacht würde. Gleichwohl verweist Jesu „positive Formulierung von der ‚Speise, die zum ewigen Leben bleibt‘“, das heißt, „die ‚ewiges Leben‘ vermittelt“ (W199),

auf eine andere Dimension hin. Ginge es ausschließlich um das Erreichen der Speise, die vergeht“, bedeutete das die egoistische Selbstbegrenzung des Horizonts durch den eigenen Bauch. Das in der Erzählung am Anfang des Kapitels wunderbar geschenkte Brot, das der Nahrung des Leibes diente, soll den Blick weiten auf das, was über die bloße Lebensfristung hinaus wirklich „Leben“ zu geben vermag.

Dazu führt Wengst als „sachliche Analogie“ eine rabbinische Geschichte <535> an, die sich auf 1. Mose 28,20 bezieht:

„Aquila, der Proselyt, trat bei Rabbi Elieser ein. Er sagte ihm: ,Ist das denn die ganze Auszeichnung des Proselyten? Denn es ist gesagt (Dtn 10,18): Und er liebt den Proselyten, ihm Brot und Gewand zu geben.‘ Er sagte ihm: ,Ist das etwa gering in deinen Augen – eine Sache, derentwegen jener Alte (Jakob) sich betend niederwarf? Denn es ist gesagt (Gen 28,20): Dass er mir Brot zu essen gibt und Kleidung anzuziehen. Und dieser da kommt und man reicht es ihm mit einem Rohr (d. h. mit geringem Aufwand)!‘ Er trat bei Rabbi Jehoschua ein. […] Er begann, ihm freundlich zuzureden: ,Brot – das ist die Tora. Denn es steht geschrieben (Spr 9,5): Kommt, esst Brot von meinem Brot!‘ Gewand – das ist der Tallit (Gebetsmantel). Hat ein Mensch die Tora erlangt, hat er den Tallit erlangt. Und nicht nur das; man verheiratet vielmehr auch ihre Töchter mit der Priesterschaft, sodass deren Söhne Hohepriester werden und Brandopfer auf dem Altar darbringen.‘“ Brot und Kleidung sind nichts Geringes. Aber den Willen Gottes zu tun, wie er sich in der Tora ausspricht, ist „Brot“, das wirklich Leben gibt. In Joh 4,32.34 hatte es Jesus als seine „Speise“ bezeichnet, den Willen dessen zu tun, der ihn geschickt hat.

Bereits in Vers 27 kommt nach Wengst „das Problem“ zur Sprache, über das Johannes in den Versen 36-46 eingehender nachdenken wird, nämlich „das Ineinander vom Tun Gottes und Tun der Menschen.“ Einerseits ist nämlich vom „Erarbeiten“ der Speise die Rede, „die wirklich Leben zu geben vermag“, zugleich aber davon, dass sie „euch der Menschensohn geben wird“:

Es gilt sich um wirkliches Leben im Tun des Willens Gottes zu bemühen. Aber als Leben, das trägt und durchträgt, kann es nur als Geschenk erfahren werden.

Was meint Johannes aber damit, dass Gott „Jesus als Lebensspender bestätigt“, indem er ihn „mit seinem Siegel beglaubigt hat“? Wengst meint, dass „die hier gebrauchte Bezeichnung ‚Menschensohn‘ auf die Antwort“ hinweist:

Sie ist im Johannesevangelium vor allem mit den auf das Kreuz bezogenen Begriffen „erhöhen“ und „verherrlichen“ verbunden: Die „Bestätigung“ des Menschensohnes Jesus als Lebensspender durch Gott ist seine als Erhöhung und Verherrlichung verstandene Kreuzigung. Das ist allerdings eine recht eigenartige „Bestätigung“, ein höchst seltsames „Siegel“, das als Siegel Gottes nur der Glaube identifizieren kann, der sich darauf einlässt, dass in diesem Kreuz tatsächlich Gott präsent war und gerade in der Ohnmacht des hingerichteten Jesus seine neuschöpferische Macht erweist.

Auch nach Hartwig Thyen (T345) werden in Vers 26

die Leute nicht dafür getadelt, daß sie gegessen haben und satt geworden sind, denn gerade dazu hatte Jesus die wenigen Brote ja so wundersam an die Vielen verteilt. Ein ,Zeichen‘ bedarf stets eines materiellen Substrats, das dazu in Dienst genommen wird, über sich hinauszuweisen. Getadelt werden die Leute also allein darum, weil sie unfähig sind, in der Fülle der irdischen Gaben deren göttlichen Geber wahrzunehmen. Über der glücklichen Wiederholung des Mannawunders haben sie vergessen, daß Gott einst das Manna ebenso wie jetzt dieses Brot gab, „um ihnen kundzutun, daß der Mensch nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort lebt, das aus dem Munde Gottes hervorgeht“ (Dtn 8,3). Statt zu begreifen, daß ihnen das Brot dazu gegeben ist, die Beraka darüber zu sprechen: „Gepriesen seist du, Herr unser Gott, du König der Ewigkeit, der du das Brot hervorbringst aus der Erde“, reduzieren sie das Wunder am See auf den flüchtigen Aspekt ihrer Sättigung und machen so ihren Bauch zu ihrem Gott.

Weder Wengst noch Thyen gehen jedoch auf einen Zusammenhang ein, der für Johannes noch wichtiger ist und untrennbar mit den Zeichen verbunden ist, die Jesus vollbringt. Denn wozu gab der Gott Israels als der befreiende NAME einst das Manna und wirkte viele andere Zeichen? Damit sein Volk Israel überlebt und ernährt wird und das Land der Freiheit erreicht, hier auf der Erde. Im Gegensatz zum NAMEN mag man zwar auch den „Bauch“ als Symbol egoistischer Bedürfnisbefriedigung auf Kosten anderer betrachten, aber der NAME wäre nicht der NAME, wenn er nur ganz allgemein ein Geber des Brotes wäre wie ein beliebiger Fruchtbarkeitsgott; er muss als Geber der Befreiung für Israel ernst genommen werden.

Nach Ton Veerkamp <536> ist in der Auslegung von Johannes 6,26 davon auszugehen, dass die Zeichen im Johannesevangelium grundlegend von den jüdischen Schriften her zu begreifen sind. Was passiert, als die Volksmenge Jesus fragt: „Rabbi, wann bist du hierhergekommen?“

Eigentlich wollen die Leute wissen, was sie an Jeschua haben. Dieser schneidet ihnen sofort das Wort ab. Sie haben in dem, was geschah, nicht das Zeichen der Befreiung Israels gesehen. Die Sättigung verweist auf das Brot in der Wüste, Deuteronomium 8,3:

Er (der NAME) erniedrigte dich, ließ dich hungern,
ließ dich das Manna essen,
das du nicht kanntest, das deine Väter nicht kannten,
damit er dich erkennen lässt,
dass der Mensch nicht von Brot allein lebt,
vielmehr lebt der Mensch von all dem, das aus dem Mund des NAMENS kommt.

Auch Thyen bezieht sich auf diesen Bibelvers, nimmt aber nicht ernst genug, dass das Wort des NAMENS darauf gerichtet ist, die Freiheit und das Recht Israels zu erreichen und immer wieder neu zu bewahren und wiederherzustellen. Veerkamp konzentriert sich ganz und gar auf die handfeste diesseitige Art und Weise, wie Gott sein Volk Israel dauerhaft ernähren will, und zwar so, dass niemand durch Ausbeutung und Unterdrückung verhungern muss:

Was Jeschua hier sagen wird, ist ein Midrasch über diese Stelle. Das Manna zeigt Israel, dass nur der NAME das Leben sichert. Israel bleibt am Leben nicht nur, weil es die Produktion des täglichen Lebens (Brot) organisiert. Die Erfahrung lehrt, dass unter den vorherrschenden Produktionssystemen die meisten Menschen nicht satt werden, auch dann nicht, wenn Jeschua statt Herodes Antipas König werden würde. Nur wenn die Tora die Produktionsordnung organisiert, ist das Leben derer, die des Brotes bedürfen, gesichert. Das ist unvergänglich, alles andere ist vergänglich, geht vorbei, kann durch Besseres ersetzt werden.

Veerkamp zufolge besteht „das Missverständnis in bezug auf den Messias“ also nicht darin, dass die Menschen ihn nicht als eine neue religiöse Autorität erkennen, die den Gott Israels völlig neu offenbart. Stattdessen müssen seine „Zeichen“ von den befreienden Zeichen der Mose-Zeit her auf den Anbruch des Lebens der kommenden Weltzeit hin begriffen werden:

Sie haben kein „Zeichen“ gesehen. Sie haben ein mirakulöses Spektakelstück gesehen, aber eben kein Zeichen, eben nicht das, was über sich selbst hinaus weist. Das ist das Wesen des sēmeion, des Zeichens: Es weist in eine völlig andere und neue Richtung. Alles, was Jeschua tut, ist sēmeion, es verweist auf das, was kommt, auf „größere Werke“ (14,12).

Sie sehen nur das Brot und fühlen nur die Sättigung. Brot wird verdaut, Sättigung vergeht schnell, „vergängliches Essen“. Jeder König wird unter den gleichen herrschenden Zuständen nichts anderes als ein Herodes Antipas sein können, und wenn er auch sein Amt mit den erhabensten Vorsätzen beginnen würde. Arbeiten, „Werke tun“ (erga-zesthai) sollte man dagegen für das Bleibende, nicht für das Vergehende. Damit ist das tägliche Brot nicht diffamiert; die Menschen müssen für das tägliche Brot arbeiten, ergazesthai. Trotz dieser Arbeit bleiben die meisten Menschen im Elend stecken. Das Bleibende ist das, was die Menschen lebend aus dem Elend in die kommende Weltzeit führt (zōē aiōnios {ewiges, äonisches Leben}). Was das ist, hat Jeschua zunächst Nikodemus (3,14), der Frau aus Samaria (4,14) und schließlich den Judäern in Jerusalem (5,24ff.) erklärt. Das „Leben der kommenden Weltzeit“ ist unlöslich verknüpft mit der Gestalt und dem Werk dessen, den unsere Übersetzungen „Menschensohn“ nennen (der Mensch, bar enosch).

Zurück zu Thyen, der eine solche politische Auslegung für abwegig halten würde und auf dessen Auslegung von Vers 27 ich noch nicht eingegangen bin. Er gibt ihn mit folgenden Worten wieder:

„Verschwendet eure ‚Arbeitskraft‘ (ergazesthe mē) doch nicht auf den Erwerb vergänglicher und verderblicher Speise. Empfangt vielmehr die ins ewige Leben bleibende Nahrung. Die wird euch ,der Sohn des Menschen‘ geben, denn (dazu) hat ihn Gott, der Vater, ,versiegelt‘“.

Hier fragt Thyen „zunächst nach der Bedeutung dieser dreimaligen Bezeichnung Jesu als ,der Sohn des Menschen‘ in unserem Kapitel“, die vorher bereits in „1,51, sowie 3,13 und 14“ verwendet worden war und die mit „der artikellosen Wendung in Johannes 5,27 ihm zufolge nichts zu tun haben soll. Um auch weiterhin der Verbindung der Menschensohnvorstellung im Johannesevangelium mit Daniel 7 aus dem Wege zu gehen – in meinen Augen zu Unrecht –, wiederholt er seine Interpretation von Johannes 1,51, dass in dem, der sich dort „zum ersten Male ‚der Sohn des Menschen‘ nannte“, die Himmelsleiter, „die Himmel und Erde, Gott und die Menschen miteinander verbindet, jene Leiter, von der Jakob einst in Bethel nur geträumt hatte, jetzt ,Fleisch‘ und damit wirklich begehbar geworden ist“, und erinnert (T346) an seine fragwürdige Erklärung des zum und vom Himmel auf- und absteigenden Menschensohns in Johannes 3,13 vor dem Hintergrund des geheimnisvollen Namens „der Sohn des Mannes“ in Sprüche 30,1-4, den er als „Kryptogramm von ho hyios tou theou {der Sohn Gottes}“ begreifen will.

Auf die gleiche Szene kommt er er (T349) in seiner Auslegung von Vers 27c zurück. Dort ist der zusätzlich durch ho patēr {der Vater} bezeichnete ho theos {der Gott} als derjenige genannt, der den Menschensohn besiegelt, esphragisen, also „mit göttlicher Vollmacht“ ausstattet. Sonst aber steht patēr {Vater} „stets nur mit hyios {Sohn], nie aber mit ho hyios tou anthrōpou {Sohn des Menschen}“ in Verbindung. Das bringt Thyen auf die Idee zu fragen:

Soll hier an die im Hintergrund von 3,13 stehende biblische Szene von Gott als dem ,Mann‘ und seinem Sohn von Prov 30,1-4 erinnert werden…? Dann würde sich auch der Aorist esphragisen auf dieses vorzeitige Geschehen en archē {im Anfang} beziehen und noch dem panta di‘ autou egeneto {alles ist durch ihn geworden} von 1,3 vorausgehen.

Was erfahren wir außerdem Neues über den Sohn des Menschen in Johannes 6? Nach Thyen (T346) ist auch

in Jesu Lebensbrotrede von Joh 6 … seine dreimalige Selbstprädikation {Selbstbezeichnung} als ,der Sohn des Menschen‘ fest verbunden mit dem Thema von dessen Abstieg aus dem Himmel und endlichem Aufstieg, dahin, „wo er zuvor war“ (6,62). Die neue Information gegenüber dem, was der Leser bisher über den Menschensohn weiß, besteht darin, daß Jesus als der ,Menschensohn‘ sich hier zunächst als der Geber einer unverderblichen und noch im ewigen Leben sättigenden Speise bezeichnet (6,27). Doch dabei beläßt er es nicht: Indem er nämlich alsbald sich selbst „das Brot des Lebens“ nennt, das vom Himmel herab gekommen ist (6,35.48.51), macht er offenbar, daß er nicht nur der Geber, sondern als der Fleisch gewordene logos zugleich auch die Gabe ist, die in Ewigkeit nährt. Und wie bei den bisher erörterten Menschensohn-Passagen, scheint auch hier ein intertextuelles Spiel mit biblischen Texten den Hintergrund zu bilden.

Die spannende Frage ist nun, welche Texte hier in Frage kommen. Zunächst geht Thyen auf die Annahme vieler Exegeten ein, „der Evangelist habe Jesus mit der personifizierten ,Weisheit‘ der jüdischen Tradition identifiziert“:

Besonders genannt wird in diesem Zusammenhang immer wieder Sir 24,21, wo die Weisheit tatsächlich von sich selbst sagt, daß sie ,gegessen‘ und ,getrunken‘ werde (hoi esthiontes me eti peinasousin, kai hoi pinontes me eti dipsēsousin {Wer von mir isst, den hungert immer nach mir; und wer von mir trinkt, den dürstet immer nach mir}: vgl. Prov 9,5 und Sir 15,3).

Dass aber dort „das ,Essen‘ und ,Trinken‘ der ,Weisheit‘ gerade erneuten und unstillbaren Hunger und Durst nach dieser Nahrung erzeugt und auch erzeugen soll“, widerspricht eindeutig Johannes 6,35: „lch bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, der wird nimmermehr hungern (ou mē peinasē) und wer an mich glaubt, den wird niemals wieder dürsten (ebenfalls mit ou mē als dem stärksten Modus der Verneinung)“.

Zu Jesaja 55,1-3.10-11 steht Johannes Thyen zufolge „in viel engerer Beziehung als zu diesen Weisheitstexten“, wozu er (T347f.) die Angaben „einer eindrucksvollen Tabelle“, die Delbert Burkett <537> zusammengestellt hat, ausführlich zitiert. Vor (T349) diesem „Hintergrund von Jes 55“ zeigt sich nach Burkett deutlich, dass sich „‚Wort‘ und ,Menschensohn‘ auf ein und dieselbe präexistente Person beziehen, die als Jesus inkarniert ist.“ Damit begründet Thyen seine Annahme (T349f.), dass „der Name ,Menschensohn‘“ im „Corpus des Evangeliums das den Prolog bestimmende Logos-Prädikat“ {die Benennung Jesu als den logos, das Wort} ersetzt, „wie dieses denn auch kaum zufällig in dem Satz: kai ho logos sarx egeneto {und das Wort ward Fleisch}, zum letzten Mal erschien.“

Warum aber bezieht sich Thyen hier auf Jesaja 55, um Aussagen über Jesus als den präexistenten Logos und Menschensohn zu treffen, während er im Zusammenhang mit der Frage des Philippus nach dem Kaufen des Brotes (Vers 5) nicht auf das Un-Brot von Jesaja 55,2 eingegegangen war, das Geld kostet und nicht satt macht? Immer wieder ist er an der himmlischen Präexistenz Jesu mehr interessiert als an der Frage, in welcher Weise die Worte und das Wirken Jesu von biblischen Texten wie Jesaja 55,1-3 her inhaltlich zu verstehen sind. Veerkamp hatte in seiner Auslegung von Johannes 6,5 diese Verse als den Maßstab hervorgehoben, an dem Jesus seinen realpolitisch denkenden Schüler Philippus prüft.

Weiter setzt sich Thyen (T348) im Zusammenhang mit der Frage, warum in Vers 27 der Menschensohn „als der von Gott autorisierte alleinige Geber der bleibenden Speise eingeführt“ wird, mit Ulrich Wilckens <538> auseinander. Zustimmend bezieht er sich darauf, dass Wilckens hier einen „hintergründigen Widerspruch“ sieht, mit dem zur Sprache kommen soll,

daß man Jesu Ruf nur befolgen kann, „indem man auf alles „Sich-verschaffen“ (ergazesthai) von Grund auf verzichtet und sich die Gabe des Lebens vom Menschensohn schenken läßt“.

Thyen widerspricht aber Wilckens, insofern dieser im Blick auf das zukünftige Geben des Menschensohns an gleicher Stelle erklärt:

„,Menschensohn‘ nennt der johanneische Jesus sich nicht als den Menschen gleich gewordener Mensch. Es ist hier wie durchweg sonst im Joh der Hoheitstitel dessen, der aus dem Himmel stammt, vom Himmel herabgekommen ist (3,13) und zum Himmel zurückkehrt (6,62), Jesus als der Erhöhte (3,1; 12,34) und Verherrlichte (12,23; 13,31; s. o. zu 1,51). Darum ist das Futur streng zu fassen: Der Menschensohn wird diese ,bleibende Speise zum ewigen Leben‘ geben – nämlich als der Erhöhte im eucharistischen Mahl nach Ostern“.

Thyen zufolge ist

der von Wilckens konstruierte Gegensatz zwischen Jesus als dem „den Menschen gleichgewordenen Menschen“ und Jesus als dem vom Himmel gekommenen und dahin zurückgekehrten „Erhöhten“ jedoch verfehlt. Denn wenn der „Menschensohn“ nach 3,14 ans Kreuz erhöht werden muß, und wenn Jesus 6,51 erklären kann, das Brot, das er geben werde (auch hier das Futur dōsō), sei hē sarx mou … hyper tēs tou kosmou zōēs {mein Fleisch … für das Leben der Welt}, dann muß in unserem Evangelium „Menschensohn“ ja wohl der geheimnisvolle Name gerade des fleischgewordenen logos sein. Ist aber die Hingabe des „Fleisches“ des Menschensohns die Bedingung der Möglichkeit des „Lebens der Welt“, dann kann man schwerlich sagen, nicht als den Menschen gleichgewordener Mensch nenne sich der johanneische Jesus ,Menschensohn‘. Hier ist Wilckens doch wohl noch allzusehr dem „Phantom des apokalyptischen Menschensohns“ <539> verhaftet.

Ich zitiere Thyen so ausführlich, weil hier noch einmal deutlich wird, warum er sich so sehr gegen die Verbindung der Menschensohn-Vorstellung des Johannes mit Daniel 7 wehrt: Das Problem liegt darin, dass er Wilckens darin folgt, die dortige Vision dessen, der die bestialischen Weltherrscher als ein Herrschender mit menschlichem Gesicht ablösen wird, ausschließlich auf eine mit herrlicher Machtfülle ausgestattete himmlische Gestalt zu beziehen, die nach seiner Erhöhung wieder in den Himmel zurückkehrt. Beide können sich nicht vorstellen, dass nach Johannes gerade dieser bar ˀenosch, „Mensch, Menschenkind, Menschensohn“, das geschundene jüdische Fleisch des Jesus von Nazareth annimmt, also dieser konkrete Mensch ist.

Zu Recht meldet Thyen Bedenken an auch

gegen Wilckens Deutung des Futurums dōsei {wird geben} auf die künftige Gabe der Elemente Brot und Wein beim Herrenmahl. Abgesehen davon, daß in unserer Passage nicht das Essen von Brot und Wein, sondern der Glaube an den, den Gott gesandt hat, als „bleibende Speise“ und Gott geschuldetes „Werk“ definiert wird…, wird auch hier nicht von einem künftigen Zeitpunkt der Gabe „bleibender Speise“, sondern davon geredet, daß der Menschensohn sie dem geben wird, der sie sucht, statt für verderbliche Speise zu arbeiten.

Johannes 6,28-29: Gott will das Werk des Vertrauens auf den Gesandten Gottes

6,28 Da fragten sie ihn: Was sollen wir tun, dass wir Gottes Werke wirken?
6,29 Jesus antwortete und sprach zu ihnen:
Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.

Nach Klaus Wengst (W199) hat Jesus mit „der Aufforderung sich ‚die Speise‘ zu verschaffen, ‚die zum ewigen Leben bleibt‘, … gleichnishaft gesprochen.“ Einem antijüdischen Vorurteil entspricht es, wenn man die anschließende Frage der Leute: „Was sollen wir tun, damit wir die Taten wirken, die Gott will?“ (Anm. 313) wie Rudolf Schnackenburg <540> als „das jüdische Mißverständnis“ einschätzt: „Sie mißverstehen das ,Erarbeiten‘ (ergádsesthaí) und denken nach ihrer jüdischen Mentalitat sogleich an ,Werke (érga)‘ (51)“. Wengst selbst versteht die Frage (W200) „als Bitte um Präzisierung“:

Denn die Fragenden haben verstanden, dass sie selbst zu einem bestimmten Handeln herausgefordert sind und dass es dabei um den Anspruch Gottes geht. Die Wendung „die Taten Gottes“ (so wörtlich) bezeichnet hier nicht das, was Gott tut, sondern meint die Taten, von denen Gott will, dass sie getan werden.

In seiner Antwort auf die Frage nach „den Taten“ spricht Jesus „im Singular von ‚der Tat‘…, die er mit dem Glauben identifiziert“. Auch in diesem Zusammenhang tritt Wengst der Unterstellung entgegen, hier habe Johannes „den – vermeintlichen – jüdisch-christlichen Gegensatz markant ausgedrückt“, die Josef Blank <541> folgendermaßen formuliert: „Den vielen Werken im Sinn des jüdischen Gesetzes wird das eine Werk des Glaubens gegenübergestellt“:

Doch ist vor solcher Schlussfolgerung Vorsicht geboten. Denn einmal ist zwar mit der Angabe des Glaubens als der einen von Gott geforderten Tat gewiss eine Konzentration beabsichtigt. Aber diese eine Tat steht nicht in einem ausschließenden Gegensatz zu „den Taten“, sondern entfaltet sich in ihnen. Deshalb gebraucht Johannes Singular und Plural nebeneinander.

Abgesehen davon verweist Wengst auf „das jüdische Selbstzeugnis…, das die Hingabe an Gott vor und neben das Tun des in der Tora Gebotenen stellt und das alle Gebote der Tora im Vertrauen auf Gott konzentrieren kann“, und kommt zu der Schlussfolgerung (W201):

In Hinsicht auf das Verhältnis zwischen dem Vertrauen auf Gott und dem von Gott gebotenen Tun gibt es keinen Gegensatz zwischen dem rabbinischen Judentum und Johannes – nur dass sich für ihn das Vertrauen auf Gott in und durch Jesus erschließt. Auf ihn verweist das als Zeichen verstandene Speisungswunder. Wie der so als Spender von Brot zum Leben Bezeichnete gegenwärtig wirksam ist, das zu zeigen, unternimmt der folgende Abschnitt.

Nach Hartwig Thyen (T349) bleibt in der Schwebe, ob „Gottes Werke“ in der Frage an Jesus einfach „die von Gott geforderten Werke“ sind, denn

die erga {Werke} oder das ergon tou theou {Werk Gottes} sind und bleiben auch als vom Menschen geforderte dennoch Gottes eigene Werke, die kein Sterblicher von sich selbst her bewirken kann, sie seien ihm denn von Gott gegeben. Und das gilt nicht nur von dem hier im Singular genannten ,Werk‘, an den zu glauben, den der Vater gesandt hat, sondern von allen Werken des Menschen.

Weil das so ist (T349f.), darf Thyen zufolge

auch die in Jesu Antwort implizierte Summierung und Verdichtung der Werke auf das eine jetzt notwendige ,Werk des Glaubens‘ keinesfalls umstandslos mit der im Kontext der paulinischen Heidenmission entwickelten Antithese von „Werken des Gesetzes“ und „Glauben an Christus“ identifiziert werden.

Das verbietet sich um so mehr (T350), als Thyen „selbst im Blick auf Paulus“ bestreitet, dass dieser in Römer 10,4 Christus als „das Ende des Gesetzes“ verkündigt hätte. In dem Satz „telos gar nomou Christos“ ist nicht etwa Christus als Subjekt zu verstehen, das dem Gesetz sein Ende bereitet; vielmehr ist umgekehrt „das Subjekt des Satzes … telos gar nomou im Sinne von ‚Ziel des Gesetzes‘“, und genau als dieses Ziel der Tora ist Christus zu verstehen.

Die Haltung der Jesus gegenüberstehenden Leute beurteilt Thyen als zwiespältig: Zwar scheinen sie

immerhin begriffen zu haben, daß die bleibende und noch im ewigen Leben nährende Speise nur das verheißende und gebietende ,Wort‘ sein kann, ,das aus dem Munde Gottes hervorgeht‘ (Dtn 8,3; Sap 16,26; Jes 55,3). Dennoch aber bleiben sie ihrem Mißverstehen darin verhaftet, daß sie immer noch wähnen, die Werke Gottes durch ihr eigenes ergazesthai {wirken} tun zu können.

Ton Veerkamp <542> stellt bei seiner Auslegung von Johannes 6,28-29 die Frage in den Mittelpunkt, was für einen Genitiv die „Werke Gottes“, ta erga tou theou, darstellen – einen genitivus subjectivus, also die Werke, die Gott selbst tut, oder einen genitivus objektivus, die Werke, die für Gott getan werden müssen:

Die Leute sind nicht dumme und verbiesterte Gegner. Sie wollen wirklich wissen, was sie tun sollen, um die Sache Gottes voranzubringen, die „Werke Gottes“ zu tun. Sie fragen: „Was müssen wir tun, um die Werke für Gott zu wirken, ergazesthai ta erga tou theou?“ Das ist eine schwierige Frage, solange wir den Genitiv hier als genitivus subjectivus auffassen. Denn die Werke Gottes sind die Schöpfung (Genesis 2,2), die Befreiung Israels (Psalm 73,28; 90,16) und der Bund mit Israel (Exodus 24,3-8). Paulus kennt die messianische Gemeinde als „Werk Gottes“ (Römer 14,20).

Die frommen Judäer kennen die Werke als „Werke für Gott“ (genitivus objectivus), die Werke, die der Gott Israels verlangte, die Erfüllung „der Gebote, Gesetze und Rechtsverordnungen“, eben der Tora, die „aus dem Mund Gottes“ stammt. Die „Werke für Gott“ sind auf menschlicher Ebene das, was den Werken Gottes, Schöpfung, Befreiung, Bund, entspricht.

An dieser Stelle geht Veerkamp nun davon aus, dass der Evangelist Johannes zwar nicht die Geltung der Tora aufhebt, aber er hält (wie auch schon Paulus und die anderen Messianisten) ein Leben Israels in Recht und Freiheit nach der Tora unter den Bedingungen einer weltweit herrschenden gottfeindlichen Ordnung nicht mehr für möglich. Das rabbinische Judentum strebt nach wie vor ein eigenständiges Leben Israels nach der Tora an, das in gewisser Weise wie in der Zeit der Torarepublik Esras und Nehemias auf der Trennung von den Völkern beharrt, wenngleich der Spielraum dafür in den Nischen, die die herrschende Weltordnung bietet, sehr begrenzt ist.

Aber genau das kann heute, so meint Johannes, nicht mehr funktionieren. Das Werk also, das Gott heute von Israel verlangt, ist das Vertrauen auf den, den Gott gesandt hat, der die heutige Weltzeit für beendet und besiegt erklärt und die kommende Epoche verkörpert. Genau das ist es, was mit zōē aiōnion angedeutet wird, nicht mit einem ewigen, zeitlich unbegrenzten Leben, sondern mit einem neuen Leben unter völlig neuen Bedingungen.

Der tiefgreifende und hart ausgetragene Konflikt zwischen dem rabbinischen Judentum und den messianischen Juden um Johannes ist also politischer Natur und hat noch nichts mit den späteren Vorwürfen des Christentums gegenüber dem Judentum zu tun, die unter den Stichworten Gesetz und Evangelium verhandelt werden:

Jeschua ist kein Lutheraner, er spielt nicht den Glauben an den Gesandten gegen die Werke Israels aus. In den messianischen Schriften ist „Gesetz und/oder Evangelium“ nirgendwo ein Widerspruch. Damit die Werke Israels nicht ins Leere gehen, damit Israel nicht ohne eine wirkliche radikale Perspektive für sich hin „werkelt“, ist das Vertrauen auf den Messias eine notwendige Bedingung.

Johannes 6,30-31: Die Forderung eines Zeichens und die Erinnerung an das Manna in der Wüste

6,30 Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen,
auf dass wir sehen und dir glauben? Was wirkst du?
6,31 Unsre Väter haben Manna gegessen in der Wüste,
wie geschrieben steht (Psalm 78,24):
„Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.“

[30. Juni 2022] Mit Vers 30 beginnt nach Klaus Wengst (W201) „die Tendenz“, dass die Gesprächspartner Jesu ihn mehr und mehr ablehnen. Sie folgen nicht einfach der Forderung Jesu, „an den von Gott Gesandten zu glauben“, sondern verlangen ein Zeichen zur „Legitimation“. Nach ihrer Frage in Vers 28, was sie tun sollen, fragen sie jetzt: „Was wirkst du?“

Diese Darstellung zeigt sie keineswegs als solche, die nichts verstehen würden. Obwohl das Jesus gar nicht direkt ausgesprochen hatte, haben sie durchaus verstanden, dass der Gesandte Gottes, für den er Glauben fordert, er selbst ist. Aber genau an diesem Punkt, an dem es um Jesus als den Beauftragten geht, in dem Gott präsent ist, markiert Johannes die Wende auf Ablehnung hin, die dann in V. 41 hervortritt. Das ist offenbar der neuralgische Punkt, um den der Streit in seiner eigenen Zeit geht.

Indem Jesu Gesprächspartner auf die „Erfahrung Israels nach dessen Auszug aus Ägypten“ hinweisen, „in der Wüste das Manna gegessen“ zu haben (W202) „fordern sie ein Zeichen, wie es Jesus gerade schon getan hat“. Die Ironie, die darin liegt (W201), interpretiert Wengst in der Richtung, dass die Zeichen „den Anspruch Jesu letztlich nicht legitimieren“ können,

und wenn er noch so viele vollbrächte. Für den Glauben sind die Wunder hilfreiche Zeichen; deshalb erzählt sie Johannes. Aber seine Begründung geht „tiefer“. Es ist nicht zufällig, dass die Wunder bei Johannes immer wieder Passionssignale enthalten. Ein solches Signal leuchtet auch in der Forderung der Gesprächspartner Jesu nach einem Wunder auf, „damit wir sehen und dir vertrauen“. Das weist voraus auf den Schluss des Evangeliums, wo Johannes als letztes Wort Jesu mitteilt: „Glücklich, die nicht gesehen haben und doch zum Glauben kommen!“ (20,29) Das sind diejenigen, die weder Wunder des Irdischen noch Erscheinungen des Auferstandenen gesehen haben, sondern nur Erzählungen darüber kennen. Sie setzen jedoch gerade im Blick auf den, den Pilatus gefoltert und gedemütigt vorführen und schließlich kreuzigen ließ, ihr Vertrauen auf Gott, der als hier Gegenwärtiger Leiden, Tod und Sünde überwindet und so neuschöpferisch Zukunft eröffnet.

Auf genau welche Bibelstelle das Zitat der Volksmenge anspielt (W202), das „nicht wörtlich“ ist, lässt Wengst offen. Er verweist wie auch Hartwig Thyen (T351) auf „drei mögliche Quellen“, wozu Letzterer ausführt:

Entweder handelt es sich um eine Kombination der V. 4 und 15 von Ex 16 oder um eine freie Wiedergabe von Neh 9,15 oder endlich um ein intertextuelles Spiel mit Ps 78,24f. … Da aber ja in jedem Fall unübersehbar die Erzählung von Ex 16 im Hintergrund steht und sich sowohl Neh 9,15 als auch Ps 78,24f darauf beziehen, braucht die Frage, welcher der drei Texte hier denn nun zitiert werde, nicht entschieden zu werden, zumal die Synopsie {Zusammenschau} derartig homonymer {gleichlautender} Texte durchaus jüdischer Praxis entspricht…

Eine Deutung von Vers 31, wie Wengst sie voraussetzt (T350f.), dass die Volksmenge „von Jesus“ fordere, „das einstige Manna-Wunder zu wiederholen“, lehnt Thyen ab:

Denn ganz gegen seine Gewohnheit und weit über das seinem impliziten Leser Zumutbare hinaus müßte der Erzähler seine Ironie hier ins Absurde gesteigert haben, wenn er ausgerechnet diejenigen die abermalige Wiederholung des Manna-Wunders fordern ließe, die doch am Vortag die wunderbare Speisung als dessen eschatologische Wiederkehr am eigenen Leibe erlebt und diese nach Ausweis der V. 14f auch als solche begriffen hatten.

In Thyens Augen (T351) hat die Volksmenge ja tatsächlich erfahren, dass sie „wie ihre Väter ,jenseits des Jordan‘ und außerhalb des verheißenen Landes mit ,Brot vom Himmel‘ gespeist worden“ sind, und im Vers 31 „deuten“ sie nun

ihre Erfahrung vom Vortag im Lichte der biblischen Manna-Erzählung. Man könnte also sagen, das ihnen unerbeten gewährte und von ihnen dankbar aufgenommene Zeichen der wunderbaren Speisung, an dem sie Jesus als den von Gott gesandten Propheten wie Mose erkannt hatten, hat sie ermutigt, Jesus nun darum zu bitten, ihnen doch ein weiteres Zeichen zu gewähren, und damit seine unerhörten Behauptungen zu legitimieren, daß ,bleibende Speise‘ einzig diejenige sei, die der ,Sohn des Menschen‘ ihnen geben werde, weil der ,Vater‘ ihn eigens dazu ,versiegelt‘ habe, und daß das einzige Werk (ergon im Singular!), das Gott von ihnen fordere, dieses sei: „An den zu glauben, den jener gesandt hat“ (6,27-29)…

Ist es dem Johannesevangelium aber überhaupt angemessen, die Volksmenge, die Jesus über das Galiläische Meer nach Kapernaum gefolgt ist, als eine derart homogene Größe aufzufassen? Ton Veerkamp <543> zufolge vertritt sie keineswegs so einheitliche Auffassungen, wie es Thyen voraussetzt, und verfolgt durchaus unterschiedliche Ziele. Dazu merkt Veerkamp grundsätzlich an (Anm. 227):

Die Schwierigkeit bei Johannes ist immer die Heterogenität der Gegner: mal das entstehende rabbinische Judentum, mal die Zeloten, mal enttäuschte Anhänger, oft mit dem gleichen Wort Ioudaioi, Judäer, bezeichnet.

Das heißt für die jetzt beginnende Diskussion, dass Jesus sich nicht mehr mit denen auseinandersetzen muss, die ihn gegen seinen Willen zum zelotisch verstandenen König machen wollen, sondern mit Vertretern des rabbinischen Judentums:

Für die lokalen Gegner der Messianisten, die wohl Anhänger des rabbinischen Judentums waren, war Jeschua bestenfalls ein Wirrkopf, schlimmstenfalls ein Betrüger, aber immer Inbegriff einer verhängnisvollen Politik. Hier ist die Frage schlicht: „Was bewirkst du? Was bringt diese ganze messianische Aufgeregtheit?“ Und sie verweisen gleich auf den Unterschied zwischen dem Spektakelstück Jeschuas am anderen Ufer des Sees und der Speisung des Volkes auf seinem vierzigjährigen Zug durch die Wüste, wie es sich gehört, mit einem Schriftzitat (Psalm 78,24).

Die Gegner sind jetzt andere. Waren die, die Jeschua zum König machen wollten, zelotische Kurzsichtige, jetzt sprechen die, die jedem Messianismus mit größter Skepsis gegenüber treten. Was wäre die Ernährung der Fünftausend verglichen mit der Ernährung Israels in der Wüste?

Während Wengst die Zeichenforderung als Wiederholung eines letztlich nicht beweiskräftigen Wunders versteht und Thyen als die Forderung eines andersartigen Zeichens, das Jesu Behauptung legitimieren soll, für „bleibende Speise“ zu sorgen, stellt Veerkamp also die Zeichenforderung in den Zusammenhang der rabbinisch- messianischen Auseinandersetzungen zur Zeit der Evangelisten:

Die, die am anderen Ufer des Sees kein Zeichen gesehen haben wollen, verlangen jetzt ein Zeichen. Mit dieser Forderung werden die Schüler in allen Evangelien konfrontiert (Markus 8,11 par.). Offenbar verlangt das sich formierende rabbinische Judentum von den Messianisten den Nachweis, dass ihre Politik tatsächlich für Israel Gutes bewirkt hat. Mit dieser Forderung gehen die Evangelisten in unterschiedlicher Weise um. Bei Johannes wird diese Forderung geradezu eine Obsession. Immer wieder muss Jeschua sich legitimieren.

Auf die Zeichenforderung geht Jesus nicht ein. Stattdessen folgt „eine heftige Auseinandersetzung unter den Lehrern Israels um die Deutung zentraler Schriftstellen wie Psalm 78,24 und Exodus 16.“

Johannes 6,32-34: Jesus verspricht wahres Brot vom Himmel, die Leute wollen es

6,32 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben,
sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel.
6,33 Denn dies ist das Brot Gottes,
das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.
6,34 Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.

Auf die Frage der Volksmenge nach einem weiteren Zeichen, nach seinem Wirken und der Erinnerung an das Manna der Väter als Brot vom Himmel antwortet Jesus, wie Klaus Wengst übersetzt (W202): „Nicht Mose gab euch das Brot vom Himmel, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel.“ Damit nimmt Johannes in seinen Augen

keine typologische Gegenüberstellung zwischen Mannawunder und Brotwunder vor. Beide liegen für ihn auf derselben Ebene, nämlich der des Zeichens. So stellt er dem Manna – und implizit auch dem von Jesus in der Erzählung gegebenen Brot – das wirkliche Himmelsbrot gegenüber. Die ausdrückliche Identifizierung dieses Brotes mit Jesus selbst wird erst am Schluss dieses Abschnittes vollzogen, aber darauf drängt die Gedankenführung jetzt hin.

Dass „Johannes hier nun Mose ins Spiel“ bringt, obwohl „die Gesprächspartner Jesu Mose nicht erwähnt haben und obwohl an allen möglichen Bezugsstellen des Zitates Gott der Geber des Brotes vom Himmel ist“, sieht Wengst darin begründet, dass er

Gott nicht Gott gegenüberstellen will. So stellt er in der Rede Jesu dem Mose „meinen Vater“ gegenüber, der Vergangenheitsaussage „er gab“ die Gegenwartsaussage „er gibt“ und dem Manna „das wahre Brot vom Himmel“. Der entscheidende Gesichtspunkt ist der der Gegenwärtigkeit. Johannes legt hier das Manna – wie das Brot der Speisungsgeschichte in der den Leuten zugeschriebenen Sicht (V. 26) – darauf fest, „Speise, die vergeht“ (V. 27), zu sein, Nahrung, die nur der Fristung des vergänglichen Lebens diente.

Dazu betont Wengst, dass nicht nur die Väter in der Wüste (Vers 49) als „diejenigen, die damit ihr Leben fristeten, … längst gestorben“ sind, sondern (Anm. 318) „auch diejenigen, die Brot und Fisch der wunderbaren Speisung Jesu gegessen haben. Für Johannes liegt dieses Wunder auf derselben Ebene wie die biblische Mannageschichte.“ Nun (W202) kündigt Jesus etwas an, das darüber hinausgeht, nämlich das „‚wahre Brot vom Himmel‘, das ‚der Vater gibt‘“ und das „Leben vermitteln“ würde, „das nicht wieder vom Tode zunichte gemacht wird.“

Indem (W203) Johannes in Vers 33 als das „Brot Gottes“ den benennt, „der vom Himmel herabsteigt und der Welt Leben gibt“, bezeichnet er seine „Herkunft von Gott als seinem Geber“. Dabei ist klar, dass es

nicht um die bloße physische Lebenserhaltung geht, sondern um die Gabe wirklichen Lebens, das auch vom Tod nicht mehr zerstört werden kann. Diese Gabe ist „Brot für die Welt“, das „der Welt Leben gibt“. Hier öffnet Johannes wieder eine Dimension, auf die er schon mehrfach hingewiesen hat (vgl. 1,9f.29; 3,16f.; 4,42). Man kann sie auch in der Erzählung der Wundergeschichte in dem Zug entdecken, dass genug Brot für alle da ist – und mehr als genug.

Im Klartext geht Wengst also auch hier davon aus, dass das von Jesus dem kosmos zugesagte Leben im Sinne einer Ausweitung der Verheißungen Israels auf die gesamte Völkerwelt zu verstehen ist: Indem auch die Menschen der Völker zum Glauben an Jesus kommen, können sie unzerstörbares Leben erlangen. Die Frage ist aber, ob Johannes tatsächlich, wo er vom kosmos spricht, eine solche generelle Heidenmission im Sinn hat, oder ob er nicht viel mehr das Leben der Welt im Sinne der Befreiung der Menschenwelt von der Weltordnung, die auf ihr lastet, zu allererst als die notwendige Voraussetzung für Israels Leben der kommenden Weltzeit betrachtet. In ganz ähnlichem Sinn wird bereits der zweite Jesaja (49,6) vom Gott Israels zum „Licht der Völker“ (ˀor gojim, phōs ethnōn) gemacht, damit „seine Befreiung“ (jɘschuˁathi) bis an die Enden der Erde reicht. Die Völker sind dabei aber nicht als solche von Interesse, sondern ihr Wechselspiel dient dem NAMEN als Werkzeug zur Befreiung Israels; das gilt etwa für den persischen König Kyros, den er sogar seinen „Gesalbten“ (maschiach, christos) nennt. Da Johannes sehr gerne auf Gedanken aus dem Buch Jesaja zurückgreift, halte ich solche Erwägungen für nicht zu weit hergeholt.

Die Bitte der „jetzigen Gesprächspartner Jesu“ in Vers 34: „Herr, gib uns immer dieses Brot!“ entspricht Wengst zufolge der Reaktion der „Samariterin“, die in Johannes 4,15 um das „Wasser“ zum ewigen Leben bittet. Einschränkend sagt Wengst jedoch:

Die jetzt bitten, haben mit dem Verlangen nach Legitimation reagiert, als sie sich der Glaubensforderung im Blick auf die Person Jesu konfrontiert sahen. Jesu Antwort ging nicht ausdrücklich auf seine Person ein, sondern sprach in dieser Hinsicht verhüllt. Sie verhieß von Gott her wirkliches Leben. Wer sollte das nicht haben wollen? Und wenn Jesus es vermitteln kann, so soll er es tun. So ist die Bitte verständlich: „Herr, gib uns immer dieses Brot!“

Auf die Wiedergabe der ausführlichen Auseinandersetzung Hartwig Thyens (T351ff.) mit der unter den Exegeten umstrittenen Auslegung von Vers 32 verzichte ich. Die betonte Aussage Jesu (T353), dass „es nicht Mose, sondern Gott war, der seinem Volk mit dem Mannaregen der Wüstenzeit ‚Brot aus dem Himmel‘ zu essen gab“, stimmt mit der Schrift überein, denn

es ist ja JHWH (LXX: kyrios), der zu Mose sagt: idou egō hyō hymin artous ek tou ouranou {Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen} (Ex 16,4). Und wenn Jesus mit seiner Antwort darauf dringt, hier die Subjekte, nämlich Gott und Mose, nicht zu verwechseln, so versteht sich daraus auch die Richtigstellung des Modus der Prädikate. Denn im Unterschied zu dem Präsens didōsin {gibt}, das es nicht zuläßt, den Geber von seiner Gabe zu trennen oder diesen mit jener zu verwechseln, redet das Perfekt dedōken {hat gegeben} von einer in der Vergangenheit erfolgten Gabe, die zum dauernden und gegenwärtigen Besitz der damit ,Begabten‘ geworden ist.

Auf jeden Fall will Jesus Thyen zufolge „schwerlich bestreiten, daß das Manna von Gott gegebenes ,Brot vom Himmel‘ war“. Allerdings ist in seinen Augen darauf zu „achten, daß Jesus den Geber des Himmelsbrotes nicht ,Gott‘, sondern ‚mein Vater‘ nennt und damit eine Nähe zu diesem ,Vater‘ anzeigt, die seinen Hörern unerschwinglich ist…“.

Zu Vers 33 weist Thyen auf eine von Johannes bewusst eingesetzte Ambivalenz hin, die „im Deutschen schwer wiederzugeben“ ist, „weil artos im Gegensatz zum neutrischen ,das Brot‘ im Griechischen ein Maskulinum ist“. Wörtlich müsste man übersetzen: „Denn der ,Artos‘ Gottes ist derjenige, der vom Himmel herabsteigt und der Welt Leben verleiht“. Damit nimmt Jesus seine Selbstidentifikation mit diesem Brot von Vers 35 „verborgen schon vorweg“. Diejenigen, die ihn um dieses Brot bitten, scheinen jedoch „immer noch das Brot von seinem Geber trennen zu wollen und zu meinen, dieses ohne jenen haben zu können.“

Ton Veerkamp <544> geht zunächst auf die Frage ein, warum Jesus von sich aus Mose erwähnt. Das hat mit seinen Gegnern zu tun, die er als „getreue Schüler Mosches“ erkennt. Nachdem diese Jesus nach seinem eigenen Werk gefragt haben, dass sich mit der Ernährung Israels in der Wüste durch das Manna messen kann, verweist auch er

auf einen Unterschied; er dreht den Spieß um. Zunächst stellt er fest, dass dieses Brot des Himmels, das Manna, nicht von Mosche, sondern vom VATER, dem Gott Israels stammt. Die Antwort Jeschuas enthält ohne Zweifel einen Gegensatz. Nur muss man diesen Gegensatz vollständig ausschreiben: „Nicht Mosche hat gegeben (Perfekt), … mein VATER gibt (Präsens).“

Dann geht Veerkamp noch einmal auf das von seinen Gegnern angeführte Schriftzitat „Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“ ein:

Vielfach wird angemerkt, das Zitat sei nicht wörtlich. Es ist nötig, dass wir die Stelle Exodus 16,4 in ihrem Kontext hören; alle weiteren Stellen, auch unser Ausgangstext Deuteronomium 8,3, beziehen sich auf diese Stelle. Das Volk ist in die Wüste Sin gekommen, dann heißt es, 16,2-4:

Sie murrten, die ganze Gemeinschaft (der Söhne) Israel(s),
gegen Mosche und gegen Aaron in der Wüste.
Sie sagten zu ihnen:
Wären wir doch durch die Hand des NAMENS gestorben im Land Ägypten,
als wir am Fleischtopf saßen, Brot zur Sättigung zu essen hatten;
statt dessen habt ihr uns in diese Wüste geführt,
um die ganze Versammlung Israels zu töten.
Der NAME sagte zu Mosche:
„Da, ich werde euch Brot vom Himmel regnen lassen …“

Indem Veerkamp den Zusammenhang hinzunimmt, in dem sich das Manna-Wunder ereignete, nämlich den Protest der Israeliten gegen den befreienden NAMEN und gegen alle Zumutungen, die mit dem Weg in die Befreiung verbunden waren, kann deutlich werden, in welcher Weise der johanneische Jesus das damalige Himmelsbrot des Manna und das heutige Himmelsbrot des Messias in eine Beziehung zueinander setzt:

Nicht Mosche hat euch das Brot vom Himmel gegeben,
sondern mein VATER gibt euch das Brot vom Himmel, das wirkliche.

Wenn seine Zuhörer den Messias nicht annehmen, verschmähen sie das, was sie am Leben hält, das „Brot vom Himmel“. Und zwar das wirkliche Brot, das, was heute wirklich funktioniert. Wir übersetzen das Adjektiv alēthinos hier mit „wirklich“, weil es einem Brot entgegensetzt wird, das das Problem nicht wirklich löst, nicht wirkt.

Wirklich ist nach Johannes nur „das Brot, das vom Himmel herabsteigt und der Welt [den Menschen in ihrem Lebensraum] Leben gibt“, will heißen: der Welt eine Ordnung ermöglicht, durch die Menschen wirklich leben können.

Der Unterschied zwischen damals und heute ist nach Johannes, dass unter den Bedingungen der weltweiten Sklaverei, des kosmos, kein Leben mehr nach der Tora in einem Gelobten Land getrennt von den Völkern geführt werden kann; notwendig ist vielmehr die Überwindung des kosmos durch den Messias des NAMENS, um das Leben der kommenden Weltzeit herbeizuführen:

Das Manna steht für die „fünf Brote“ aus 6,9. Es geht um Mosche, um die Tora – daher „fünf“; „Mosche“ kann heute nicht länger die Antwort sein. So wie die fünf Brote die Menge nur vorübergehend sättigen kann, wie das Manna das Volk damals vorübergehend gesättigt hat, so ernährt die Tora Israel heute unter den herrschenden, römischen Zuständen nicht länger. Genau diese Auffassung lehnte das rabbinische Judentum und lehnt das Judentum heute vehement ab. Unter den gegebenen Umständen ist Tora unwirklich, meint Johannes, meint auch Paulus. Unter denen, die diese messianische Auffassung vehement ablehnen, ist auch der Messianist Matthäus! Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Vorliebe für Johannes oder für Matthäus auszusprechen. Wir müssen Johannes deuten.

Zu Vers 34 nimmt Veerkamp an, dass die Jesus zuhörenden Menschen durchaus

wissen, wovon Jeschua redet: Es geht um eine neue, Leben ermöglichende Ordnung; dieses Brot wollen die Menschen, denn sie leiden unter der herrschenden Weltordnung. Es geht um Politik, und die Menschen wissen es. Es geht buchstäblich um das definitive Brot, um die neue, definitive (pantote, für immer) Weltordnung des Messias Israels, um die definitive Lösung definitiver Probleme. Das wollen die Leute.

Als ich diese Auslegung zum ersten Mal auf mich wirken ließ, hielt ich sie für an den Haaren herbeigezogen. Wie kann Veerkamp behaupten, so genau zu wissen, dass die Menschen hier politisch denken und dass diese politische Zielsetzung bis zu einem gewissen Punkt sogar den Absichten des johanneischen Jesus entspricht?

Vergleiche ich damit allerdings die seit dem 2. Jahrhundert üblich gewordene christliche Auslegung des Johannesevangeliums, wie sie in unterschiedlichen Schattierungen auch Wengst und Thyen vertreten, so frage ich mich, ob eine in die diesseitige politische Weltsicht der jüdischen Propheten und Messianisten eingebettete Interpretation des Johannes nicht mindestens genau so erwägenswert ist wie eine Auslegung, die Jesus als einen Bringer ewigen Lebens im religiösen Sinn versteht, der in irgendeiner Weise das Judentum als Religion letzten Endes dann doch übersteigt oder sogar ablöst und enterbt.

Johannes 6,35: In Jesus offenbart sich der NAME als das Brot des Lebens

6,35 Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens.
Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.

[1. Juli 2022] Ton Veerkamp <545> legt die Reaktion Jesu auf die Bitte der Leute um das Brot vom Himmel in Johannes 6,35 kurz und bündig folgendermaßen aus:

Jeschua schenkt ihnen reinen Wein ein, sagt klar und unzweideutig: „ICH BIN ES: das Brot des Lebens.“

Indem er das egō eimi Jesu in Großbuchstaben schreibt, nimmt er ernst, dass Jesus mit diesen Worten den heiligen NAMEN Gottes aufruft, dessen Willen und Wirken er ganz und gar verkörpert. Und überall da, wo dieses „ICH BIN ES“ nicht allein für sich, sondern bezogen auf einen anderen Ausdruck erscheint, in diesem Fall: ho artos tēs zōēs, „das Brot des Lebens“, muss darauf geachtet werden, beides so aufeinander zu beziehen, dass Jesus als das Prädikat dessen verstanden wird, was vom Gott Israel her zu begreifen ist. Das heißt: der befreiende NAME, der „das Brot des Lebens ist“, der wirkt im Wirken Jesu, den verkörpert Jesus. Es ist nicht etwa umgekehrt, dass nunmehr Jesus den Gott Israels dadurch umdefinieren würde, dass dieser sich durch Jesus völlig neu als „das Brot des Lebens“ offenbart, was zuvor nicht der Fall gewesen wäre.

Den Bedingungssatz, den Jesus erläuternd seiner Selbstidentifikation mit dem NAMEN als dem Himmelsbrot hinzufügt, erkennt Veerkamp als den ersten einer langen Reihe solcher Aussagen Jesu über sich selbst:

Johannes führt jenen berühmten Konditionalsatz ein, den wir Dutzende Male in seinem Text hören, meistens nach gut aramäischer Art mit einem Partizip konstruiert: „Wenn jemand zu mir kommt (ho erchomenos {der Kommende}), wird er nicht hungern, wenn jemand mir vertraut (ho pisteuōn {der Vertrauende}), wird er nicht dürsten, niemals!“

Veerkamp bezieht die Erfüllung dieser Verheißung darauf, dass durch den Messias Jesus die kommende Weltzeit auf Erden anbrechen wird, in der kein Mensch mehr verdursten wird und jede Hungersnot aufhört; das darf an dieser Stelle vorausgesetzt werden, ohne dass er es ausdrücklich erwähnen muss.

Auch Hartwig Thyen (T353f.) versteht Vers 35 als das erste

der sieben prädizierten egō-eimi-Worte unseres Evangeliums: „lch bin der ,Artos‘ des Lebens, wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie wieder dürsten“. Daß sich Jesus als der Geber des Lebensbrotes Schritt um Schritt mit seiner Gabe identifiziert, haben wir in den vorausgegangenen Passagen bereits beobachtet. Mit diesem Satz ist nun ein erster Gipfel dieses Identifikationsprozesses erreicht.

Indem Thyen (T354) „die gesamte Lebensbrotrede“ als „eine Auslegung nicht irgendeines speziellen Bibelverses, sondern des sēmeion {Zeichens} der vorausgegangenen wunderbaren Brotvermehrung“ versteht, begreift er den darauf bezogenen

Satz: egō eimi ho artos tēs zōēs {Ich bin das Brot des Lebens}, … – wie alle übrigen prädizierten egō-eimi-Worte auch – [als] eine poetische Metapher. Weil das von dem Satz, und nicht etwa nur von dem isolierten Lexem artos {Brot} gilt, ist zumal auch seine Kopula eimi {bin} metaphorischer Natur, d. h. sie versetzt ihren Sprecher in den Bereich der Ähnlichkeit mit dem eschatologischen Lebensbrot und damit zugleich in die unauflösbare Spannung zwischen einem „Ich bin“ und „Ich bin nicht“. <546>

Von Ton Veerkamps Auslegung her frage ich mich allerdings, ob die poetische Metapher des Brotes durch das ebenso metaphorisch verstandene Bindewort eimi tatsächlich einfach nach den Ricoeurschen Regeln auf Jesus bezogen werden darf, ohne zu berücksichtigen, dass die Wortverbindung egō eimi durch die jüdischen Schriften bereits eindeutig mit dem NAMEN des Gottes Israels verknüpft ist. Wenn allerdings die Spannung zwischen dem „Ich bin“ und dem „Ich bin nicht“ darauf verweisen soll, dass Jesus zwar den NAMEN verkörpert, aber dies ganz und gar als der jüdische Mann aus Nazareth tut und nicht in irgendeinem Status der Vergöttlichung, dann wäre Thyen zuzustimmen.

Da ich Eduard Schweizers <547> „Ego eimi“-Buch bisher nicht kenne, kann ich die folgende Argumentation von Thyen nicht ganz nachvollziehen. Er wehrt sich nämlich gegen Schweizers Deutung, „daß Jesu egō hier Prädikatsnomen wäre“ und besteht darauf, dass es „eindeutig Subjekt“ sei. Zur Begründung führt er an, dass „Jesu Lebensbrotrede aus der Erzählung von dem Zeichen der wunderbaren Speisung erwächst“ und dass die Ich-Bin-Worte 6,35.41.48.51 „aus diesem Zusammenhang nicht gelöst werden dürfen“:

Nachdem der ochlos {Volksmenge} das Lexem artos durch das Schriftzitat, „Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“, artikellos eingeführt hat (V. 31), muß, wenn von demselben Brot die Rede sein soll, nach den Regeln narrativer Grammatik bei der Wiederaufnahme von artos, der Artikel stehen. Erst recht ist der Artikel in Jesu Ich-Bin-Wort als Antwort auf die Bitte der Menge: pantote dos hēmin ton arton touton {immer gib uns dieses Brot}, grammatisch natürlich unvermeidbar (vgl. dazu 4,15). Mit irgendwelcher Polemik gegen die Ansprüche anderer, das wahre Brot zu sein, hat das nichts zu tun.

Aus dem letzten Satz schließe ich, dass Schweizer die Ich-Bin-Worte so versteht, dass sie auf die Frage antworten sollen, wer denn das Brot, das Licht, der Gute Hirte usw. sein soll, und dass die Antwort darauf (als das Prädikatsnomen) eben Jesus und kein anderer wäre. Thyen setzt dagegen, dass doch von keinen Konkurrenten Jesu die Rede ist, sondern dass vielmehr Jesus hier mit eben dem Brot identifiziert wird, von dem die ganze Zeit die Rede war. Je mehr ich aber über dieses Problem nachdenke, desto ungewisser wird mir in diesem Zusammenhang die genaue Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikatsnomen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt übrigens auch Thyen, wenn er zwar betont, dass Jesu egō nicht als Prädikatsnomen zu betrachten ist, aber dennoch fortfährt:

Weil sich aber dieses egō metaphorisch mit seiner Leben stiftenden Gabe identifiziert, ist es zugleich auch das Objekt dieses Gebens. Ja, mehr noch: Hatte Jesus die Meinung der Menge durch den Satz korrigiert: „Nicht Mose gab euch das Brot aus dem Himmel, sondern mein Vater gibt euch des Brot aus dem Himmel, das echte (ton alēthinon)“ (V. 32), so erscheint in dem egō eimi in der Einheit mit dem Sohn zugleich der Vater als der Geber des Himmelsbrotes.

Damit kommt Thyen zumindest in die Nähe meiner Auffassung, Jesus als die Verkörperung all dessen zu verstehen, was der NAME des Gottes Israels in seinem befreienden und Recht schaffenden Wirken für Israel bedeutet.

Klaus Wengst (W203) hebt zu Johannes 6,35 hervor, dass Jesus diejenigen, die ihn um Himmelsbrot bitten, nun „wieder mit der Glaubensforderung im Blick auf seine Person“ konfrontiert, indem er sich „selbst als dieses Brot“ vorstellt: „So wird es von ihrer Seite auch wieder zur Distanzierung kommen, sobald Johannes sie wieder in der Szene auftreten lässt, was allerdings erst in V. 41 geschieht.“

Zur Metapher „Ich bin das Brot des Lebens“ zitiert er zunächst (Anm. 322) Malina und Rohrbaugh: <548>

„Da Brot 50 % der Kalorien bereitstellte, die den meisten Menschen außerhalb der Elite zur Verfügung standen, stellt die Metapher etwas sehr Fundamentales dar. Jesus ist Lebensnahrung auf ihrer fundamentalsten Ebene“.

Dann kommt Wengst (W204) auf den „Kontext der biblischen Tradition des „Ich bin‘s“ Gottes“ zu sprechen, in dem er bereits Johannes 6,20 verstanden hatte: „Auch die Ich-bin-Worte mit Prädikat, von denen hier das erste vorliegt, verweisen letztlich auf Gott selbst.“ In diesem Zusammenhang verweist Wengst auf Thyens oben erwähnte Arbeit über die Ich-bin-Worte, wobei ihm dessen Einsicht am wichtigsten ist, dass diese

nicht aus ihrem Kontext im Evangelium gelöst werden dürfen. Für die Richtigkeit dieser Option spricht auch die folgende Beobachtung: Was Jesus hier in Kap. 6 im Blick auf „Brot“ sagt, unterscheidet sich sachlich nicht von dem, was er in Kap. 4 im Blick auf „Wasser“ – und zwar ohne ein Ich-bin-Wort – ausgeführt hat, obwohl ein solches (etwa: „Ich bin das Wasser des Lebens“) leicht denkbar wäre.

Auch bei Wengst fällt es mir nicht leicht, diese Argumentation bezüglich der Ich-bin-Worte nachzuvollziehen, weil sich mir nicht erschließt, worauf genau ihre Kontextgebundenheit im Johannesevangelium hinauslaufen soll. Zur Parallele in Kapitel 4 erinnere ich daran, dass auch dort (in Johannes 4,26) ein Ich-bin-Wort Jesu vorkommt, in dem Jesus das versöhnende Wirken, das innerhalb seines Redens mit der Frau geschieht, vom befreienden NAMEN des Gottes Israels her auf den Punkt bringt. An jener Stelle hatte Wengst das „Ich bin“ Jesu aber nicht als Anspielung auf den Namen Gottes begreifen wollen.

Im zweiten Teil von Johannes 6,35 bezieht Wengst „das Kommen zu Jesus“ auf das „in der Zeit des Evangelisten“ stattfindende „Kommen in die Gemeinde“. Auf diese Weise kann gesagt werden: „Jesus in Person ist ‚Brot‘, das Leben gibt, wirkliches Leben.“ In die Gemeinde kommt nur,

wer auf Jesus vertraut; und dieses Vertrauen ist nichts anderes als das Vertrauen auf den in ihm präsenten Gott. Wer so „kommt“ und vertraut, wird Leben erfahren in der Gemeinschaft der ebenso Vertrauenden, muss nicht mehr nach Leben gieren und ständig „Erfüllungen“ nachjagen, die sich dann doch als Scheinerfüllungen herausstellen. Der Hunger und Durst nach Leben wird gestillt. Aber diese Erfahrung von Leben bleibt eine angefochtene, weil sie von Leiden und auch von Versagen nicht verschont bleibt und den Tod noch vor sich hat. So ist es sinnvoll, dass an anderen Stellen – wie Apk 7,15-18 – unter Aufnahme biblischer Traditionen das Aufhören von Hunger und Durst und das Abwischen aller Tränen als endzeitliche Verheißung steht. Auch Johannes wird in diesem Kapitel nicht darauf verzichten, diese endzeitliche Verheißung aufzunehmen.

Mit dieser Stufenabfolge – einer in allgemein-menschlichem Sinn interpretierten Lebenserfüllung in der christlichen Gemeinde und dem Aufhören von Hunger und Durst im Himmel – dient das Johannesevangelium der Grundlegung einer mir wohlvertrauten sympathischen christlichen Verkündigung. Die Frage ist nur, ob diese bereits johanneischem Denken entspricht. Wenn es ihm nur darum ginge, erfülltes Leben in religiöser Gemeinschaft zu erfahren und für das Ende des eigenen Lebens oder ein fernes Weltende auf das Aufhören von Hunger, Durst und Tränen zu hoffen, würde ihm dazu nicht sein jüdischer Glaube ausreichen, im Hören auf die Tora Gottes und im Vertrauen auf die Erweckung der Gerechten zum ewigen Leben nach Daniel 12,2? Wozu wäre dazu der Messias Jesus notwendig, wenn man wie Wengst ausschließt, dass Jesus die religiösen Verheißungen des Judentums überbieten oder gar ersetzen will? Wenn Johannes als jüdisch denkender Messianist auf Jesus vertraut, dann versteht er das Anbrechen der kommenden Weltzeit sehr diesseitig als das Aufhören von Hunger und Durst für ein Israel inmitten der Völker, das vom Joch der römischen Weltordnung befreit ist.

Johannes 6,36-40: Jesus verliert nichts von dem, was ihm der VATER gegeben hat

6,36 Aber ich habe euch gesagt:
Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.
6,37 Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir;
und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
6,38 Denn ich bin vom Himmel gekommen,
nicht damit ich meinen Willen tue,
sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
6,39 Das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat,
dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat,
sondern dass ich‘s auferwecke am Jüngsten Tage.
6,40 Denn das ist der Wille meines Vaters,
dass, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, das ewige Leben habe;
und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.

In den nun folgenden Versen 36 bis 46 sieht Klaus Wengst (W204) „einen Exkurs, veranlasst von der Erfahrung, dass viele dem gerade erhobenen hohen Anspruch nicht zuzustimmen vermögen“, in dem darüber nachgedacht wird, was den Glauben an Jesus möglich macht. Merkwürdig ist dabei, dass Jesus schon vor einer Reaktion auf seinen Anspruch, das Brot des Lebens zu sein, feststellt:

„Aber ich habe euch gesagt: Obwohl ihr mich gesehen habt, vertraut ihr doch nicht.“ Das hat er so vorher nicht gesagt. Aber der Sache nach ist es in dem Vorwurf von V. 26 enthalten, dass sie den Zeichencharakter des Wunders nicht verstanden haben. Zudem nimmt die Formulierung ihre Forderung aus V. 30 nach einem Zeichen auf, „damit wir sehen und dir vertrauen“. Wenn Johannes demgegenüber Jesus hier feststellen lässt, dass sie schon gesehen haben, dann macht er deutlich: Es gibt nicht mehr zu sehen, als was schon gesehen worden ist: Jesus selbst.

Und dieser Blick auf „Jesus selbst“ wird durch das, was es später „tatsächlich mehr zu sehen gibt“, nämlich (W205) „seinen Gang ans Kreuz“,

das Ärgernis nur noch vergrößern. Wenn Jesus noch so viele Wunder vollbrächte, sie würden als Zeichen letztlich doch immer nur wieder auf ihn hinweisen. Wieso es im Blick auf diese menschliche Person und ihr elendes Geschick Vertrauen auf Gott gibt, wie es überhaupt zu solchem Glauben kommen kann, das ist die Frage, der Johannes hier nachgeht.

Es ist also nach Wengst völlig normal, dass das bloße „Sehen Jesu“, also „dieser menschlichen Person und ihres schlimmen Geschicks“ noch nicht allein „zum Vertrauen auf Gott, zum Glauben führt“. Der Entschluss, sich der Gemeinde anzuschließen, kann nach Vers 37 „nur als ‚Gegebenheit‘ von Gott selbst her“ verstanden werden und hat zugleich

die Verheißung, dass er nicht ‚hinaus‘, ins Abseits, führt, dass er nicht ins Leere geht, sondern ein Weg in der vollen Wirklichkeit ist. Er ist darum bei aller Weltfremdheit doch nie ein wirklichkeitsfremder Weg, weil er sich auf den wirklichen Gott einlässt.

Erneut bezieht Wengst also das Kommen zu Jesus auf die christliche Gemeinde, wobei mir seine Unterscheidung von Weltfremdheit und Wirklichkeitsfremdheit kaum zu irgendeiner Klärung beizutragen scheint.

Im folgenden Vers 38 sieht Wengst den Grund dafür, warum Jesus „niemanden von denen, die zu ihm kommen, ins Leere laufen lassen“ kann: Er kann nämlich „in seinem Handeln nichts sonst als den Willen Gottes“ tun; nur dazu ist er als Gesandter Gottes „vom Himmel herabgestiegen“. Da nun wiederum nur „diejenigen zu ihm“ kommen, „die ihm ‚der Vater gibt‘“, kann er laut Vers 39

nur in Entsprechung zu dieser „Gegebenheit“ handeln und wird sie „drin“ sein lassen und bewahren: „Das nun ist der Wille dessen, der mich geschickt hat, dass ich nichts von allem, was er mir gab, verloren gehen, sondern es aufstehen lasse am letzten Tag.“ Was Gott gegeben hat und was deshalb und daraufhin zu Jesus und in die Gemeinde kommt, von dem will er auch, dass es „bleibt“, dass es nicht verloren geht. Die Zusage, dass es nicht verloren geht, gilt auch dann, wenn es nach menschlichen Maßstäben verloren scheint, wenn es unterliegt, niedergemacht wird.

Diese Aussage wird in Vers 40 noch einmal „variierend wiederholt“, indem denjenigen, die auf den Sohn vertrauen, ewiges Leben und nochmals die Auferstehung am letzten Tag verheißen wird (W206):

Diejenigen, die im Blick auf ihn das Wagnis des Glaubens eingehen, sich darauf einlassen, dass in ihm, „dem Sohn“, sich Gott, „der Vater“, in seiner Wirklichkeit erschließt, haben schon Leben, „ewiges Leben“. Sie werden auch im Tode nicht endgültig „fallen“ und „liegen“. Ihnen gilt die Zusage: „Ich werde sie aufstehen lassen am letzten Tag.“

Konsequent geht Wengst damit weiter auf seinem Weg der gemeindebezogenen christlichen Auslegung der Worte des johanneischen Jesus, die in die Hoffnung auf die Auferstehung „am letzten Tag“ einmündet, wobei er allerdings darauf verzichtet, sich über die Bedeutung dieses letzten Tages Gedanken zu machen.

Auch nach Hartwig Thyen (T355) weist das „eipon hymin {ich habe euch gesagt}“ in Vers 36 auf Vers 26 zurück, aber da dort bestritten wird, dass „die Menge das Zeichen gesehen“ hat, wird jetzt „unter dem Gesichtspunkt des seit V. 26 Gesagten auf diesen Vers zurückgeblickt“:

Man könnte den Satz deshalb etwa so paraphasieren: ,Ich habe es euch ja gesagt (V. 26 aber) obwohl ihr mich als das damals von dem Zeichen bezeichnete Lebensbrot jetzt doch vor Augen habt, glaubt ihr immer noch nicht.

Vers 37 versteht Thyen nicht in dem Sinne, dass „Jesus keinen abweist, der zu ihm kommen will“ (so u. a. Schlatter oder Schnackenburg <549>),

sondern daß er keinen, der zu ihm gekommen ist, der an ihn glaubt und der zu ihm gehört, jemals ,hinauswerfen wird‘, wie das dem Blindgeborenen durch die Ioudaioi widerfährt (9,34f). Vielmehr redet unser Vers davon, daß Jesus alle, die zu ihm gehören, in Ewigkeit bewahren will, so daß die nächste Parallele zu unserem Vers die Aussage Jesu des ,guten Hirten‘ über ,seine Schafe‘ ist: kai ou mē apolōntai eis ton aiōna kai ouch harpasei tis auta ek tēs cheiros mou {und sie werden auf ewig nicht verlorengehen und niemand wird sie aus meiner Hand reißen} (10,28…).

Zu den Versen 38-39 ist Thyen allein daran interessiert zu betonen, dass die hier erstmals auftretende Wendung vom Auferwecken am Jüngsten Tage, „die kunstvoll wie ein Refrain, in den folgenden Versen 40.44 u. 54 wiederkehrt“, keine „nachträgliche Korrektur der vermeintlich ‚rein präsentischen Eschatologie‘ des Evangelisten durch einen ‚kirchlichen Redaktor‘“ darstellt, sondern „unentbehrlich“ ist (T355f.):

Denn nur auf dem als selbstverständlich vorausgesetzten Hintergrund dieser Eschatologie und als intertextuelles Spiel mit den entsprechenden synoptischen Prätexten ist die johanneische Betonung des Glaubens als des Sieges, der die Welt bereits überwunden hat, überhaupt zu begreifen, hat doch Gott seinen Sohn nicht gesandt, daß er die Welt verurteile, sondern dazu, daß sie (der kosmos und nicht allein die Glaubenden) durch ihn erlöst werde (3,17).

In Vers 40 wiederum kommt Thyen zufolge zum Ausdruck, dass der Vater in dem „präsent“ ist, „der das göttliche egō eimi spricht“ und sich in ihm „sichtbar“ macht:

Daß der Sohn von „alledem, was der Vater ihm gegeben hat, nichts verliert“ (V. 39), schließt allerdings nicht aus, daß sich viele von ihm abwenden werden (6,60ff), und daß Jesus gar von einem aus dem engsten Kreis der Zwölf, die er sich erwählt hat, sagen muß: kai ex hymōn heis diabolos estin {und einer von ihnen ist ein Teufel} (6,70).

Näher wird nach Thyen dieser „Abfall von Jesus“ in 1. Johannes 2,18ff. so erklärt, dass nur solche weggehen, die „nie wirklich zu uns“ gehörten, worin

eine unausgesprochene Warnung laut wird. Wohl können Autor wie Adressaten der göttlichen Zusage gewiß sein, daß keine Macht der Welt sie je der Hand Gottes zu entreißen vermag. Schwerlich aber können sie ihres eigenen Glaubens und der Überzeugung, daß sie, was immer ihnen widerfahren mag, bis zum Ende bei Jesus ,bleiben werden‘, jemals ebenso gewiß sein.

Mit Sören Kierkegaard <550> sieht Thyen „diese unüberwindbare Ungewißheit sogar als eine notwendige Bestimmung der Gewißheit des Glaubens“:

„Nehme ich die Ungewißheit weg – um eine noch höhere Gewißheit zu erhalten – dann erhalte ich nicht einen in Demut, in Furcht und Zittern Glaubenden, sondern einen ästhetischen Wildfang, einen Teufelskerl, der uneigentlich ausgedrückt mit Gott fraternisieren will, sich aber eigentlich überhaupt nicht zu Gott verhält. Die Ungewißheit ist das Merkmal, und die Gewißheit ohne sie das Kennzeichen dafür, daß man sich nicht zu Gott verhält“.

Wie sieht gegenüber diesen christlich-religiös geprägten Auslegungen von Wengst und Thyen die jüdisch-messianisch-politische Auslegung aus, die Ton Veerkamp <551> anbietet? Zu den Versen 36 und 37 schreibt er, anknüpfend an die Forderung Jesu in Vers 35, zu ihm als dem Brot des Lebens zu kommen und auf ihn zu vertrauen:

Freilich ist sehen und vertrauen zweierlei. Ein Mensch muss in der Lage sein, in dem, was er sieht, zu erkennen, was sich eigentlich abspielt. Das geschah während der Ernährung der Fünftausend nicht. Der, der das erkennt oder zumindest erkennen will, wird durch das, was der Messias darstellt, nicht „abgestoßen“ – oder besser „ausgeschlossen“, „hinausgeworfen“.

Jesu Hinweis auf seinen Abstieg vom Himmel in Vers 38 versteht Veerkamp erneut vor den Hintergrund der Vorstellung vom Menschensohn in Daniel 7:

Er wird deutlicher, er, der MENSCH, bar enosch, bleibe nicht, wie bei Daniel, vor dem Thron Gottes stehen, sondern steige vom Himmel herab. Nicht sein eigener Wille geschieht, sondern der Wille dessen, der ihn geschickt hat, und das heißt: ihn ausgewiesen hat aus dem Bereich der himmlischen Macht in die Ohnmacht eines Menschen, der kein Gehör findet. „Fleisch werden“ fasst der Prolog diesen schmerzlichen Gang, die Halakha Jeschuas, zusammen.

An dieser Stelle findet Veerkamp deutliche Worte gegenüber christlichen Auslegungen des Johannes, wie sie von Wengst und Thyen vertreten werden:

Wozu dieser ganze Zauber? Dass die Menschen aus dem Gefängnis des Fleisches befreit und zu geistigen Menschen gemacht werden? Das predigt das Christentum seit bald zwei Jahrtausenden. Nein, der Zweck ist, dass die Menschen nicht zugrunde gehen, nicht ein Leben führen müssen, das fast nichts als Elend bedeutet; vielmehr dass sie „das Leben der kommenden Weltzeit“ führen können.

Mit dem Verb apollesthai, „verlorengehen“, lässt Jesus an dieser Stelle „die Symbolhandlung des Sammelns der Brocken, ‚damit nichts verlorengeht‘, deutlich“ werden.“ Dann folgt ein weiterer seiner Bedingungssätze:

„Jeder, der den SOHN [den Sohn des Menschen, bar enosch] beachtet [theōrōn], ihn sieht, wie er wirklich ist, und ihm vertraut, wird das Leben der kommenden Weltzeit erreichen, und Jeschua wird ihn aufstehen lassen am Tag der Entscheidung“ – an jenem Tag, wo „das Gericht sich setzt und endlich die Bücher geöffnet werden“ (Daniel 7,10), dem Tag des Sohnes des Menschen am Tag, an dem endlich Recht geschieht. An diesem Tag können die, die sich durch die Vision dieses Sohnes leiten lassen, aufrecht stehen – alle, auch „die Toten in ihren Gräbern“ (5,28). Der Sinn des definitiven Gerichts ist, dass die Menschen aufgerichtet und nicht, dass sie zugrunde gerichtet werden. Das – und nur das – ist der Wille Gottes.

Eingehend beschäftigt sich Veerkamp mit dem „Ausdruck eschatē hēmera“, der „wörtlich ‚letzter Tag‘ oder, in gehobener Sprache, ‚jüngster Tag‘“ bedeutet:

Nur war die Vorstellung eines „letzten Tages“, nach dem kein weiterer Tag mehr kommt, bei den Judäern jener Tage unmöglich. Ewigkeit als Gegensatz zur befristeten Zeit (Tage) ist eine christliche, keine jüdische Vorstellung.

Im Koran ist jener Tag, der bei Johannes „letzter Tag“ heißt, der Tag des Gerichtes. In fast jeder der 114 Suren des Korans kommt dieser Tag vor. Danach beginnt eine neue Zeit, in der jene Probleme definitiv gelöst worden sind, die unser Leben bestimmen und belasten.

Im TeNaK ist dieser Ausdruck bekannt: be-ˀacharith ha-jamim, „in der Späte der Tage“, übersetzt Martin Buber, die Griechen übersetzen ep‘ eschatō(n) tōn hēmerōn bzw. en tais eschatais hēmerais. Und wenn es wirklich um einen „letzten Tag“ geht, dann einfach um den letzten Tag einer bestimmten Reihe von Tagen, etwa der Sukkotwoche, Nehemia 8,16. Einen absolut letzten Tag kennt der TeNaK nicht. Aber er kennt sehr wohl Tage, an denen sich Entscheidendes ereignen wird, zum Guten (Deuteronomium 4,30) oder zum Bösen (Ezechiel 38,16).

Weiter geht Veerkamp auf die „traditionelle Vorstellung“ der biblischen Überlieferung ein, dass „Tote wieder leben können“:

ein sehr drastisches Beispiel ist die Vision aus dem Buch Ezechiel. Der Prophet wurde gefragt, ob die vielen Knochen, die in einer weiten Ebene herumlagen, wieder aufleben können:

und es waren da sehr viele von ihnen, sehr verdorrt waren sie …
Menschenkind, werden diese Knochen leben?
Er sagte: „Mein Herr, EWIGER, du weißt es!“ (Ezechiel 37,2f.)

Es sind die Reste von Menschen, die nicht beerdigt wurden, Menschen, denen ein würdevoller Abschluss des Lebens verweigert wurde, Opfer der Vernichter Israels. „Werden diese Knochen leben?“ Es kann nicht sein, dass diese umsonst gestorben sind. Es ist die ewige Frage aller, die trauern müssen um die, die ermordet wurden, die lange vor ihrer Zeit sterben mussten.

Dieser Gedanke aus dem Buch Ezechiel hat seit der makkabäischen Zeit viele beschäftigt. Die Peruschim {Pharisäer} gehörten zu ihnen, sie rechneten fest mit der Auferstehung von den Toten. Und das geschieht an jenem Tag, wo das „Gericht sich setzt und Bücher geöffnet werden“, nach den Tagen der tierischen Herrschaft der Weltmächte. Dann kommen die Tage des Menschen, die völlig andere Tage sein werden, aber eben irdische Tage bleiben werden. Der letzte Tag ist der Tag jener Entscheidung, die alle Tage neu machen wird, er ist der letzte Tag in der Reihe der Tage der Unmenschlichkeit.

Indem Jesus in Johannes 6 allein viermal auf die Totenerweckung an diesem letzten Tag eingeht, beruft er sich also auf eine Vorstellung, die er mit seinen pharisäisch- rabbinischen Gegnern teilt – mit Ausnahme allerdings des für Johannes entscheidenden Punktes, dass es der Messias Jesus ist, der den Tag der Entscheidung schon bald herbeiführen wird. Ihnen gegenüber entfaltet Jesus eine messianische Theorie:

Wie gesagt, der Wille des VATERS sei es, dass jeder, der den Sohn in Betracht zieht (theōrōn), zum Leben der kommenden Weltzeit gelangt oder, anders gesagt, dieser Sohn ihn am Entscheidungstag aufstehen lässt – eben zu jenem „aufrechten Gang“, von dem Leviticus 26,13 redet und der erst wirklich Leben ist. Auferstehung zum Leben der kommenden Weltzeit hat also mit einer messianischen Theorie, von theōrein, genau in Betracht ziehen, zu tun. Freiheit ist eine Theorie, die eine Praxis ist, die Praxis dessen, der seinen Lebensgang, seine halakha, mit diesem Messias geht, ihn „in Betracht zieht“ bei allem, was er tut.

Ist die Annahme einer solchen politischen „Theorie“ des jüdischen Messias Jesu, die auf die Befreiung Israels auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes zielt, abwegiger als die beherzte Verlinkung der Worte Jesu mit kirchlichen Modellen des Gemeinde­aufbaus oder mit dogmatischen Spekulationen über die Frage, wer das ewige Leben im Himmel erhält oder aus ihm auf ewig verstoßen wird? Mit den diesseitsorientierten Vorstellungen der Tora und der Propheten Israels scheint mir Veerkamps Auslegung ein sehr viel größeres Ausmaß an Kompatibilität aufzuweisen.

Johannes 6,41-44: Murren über Josefs Sohn, zu dem kommt, wen der VATER zieht

6,41 Da murrten die Juden über ihn, weil er sagte:
Ich bin das Brot, das vom Himmel gekommen ist,
6,42 und sprachen: Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn,
dessen Vater und Mutter wir kennen?
Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel gekommen?
6,43 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Murrt nicht untereinander.
6,44 Es kann niemand zu mir kommen,
es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat,
und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.

[2. Juli 2022] Zum ersten Mal im Kapitel 6 werden die Gesprächspartner Jesu, obwohl wir uns in Galiläa befinden, als hoi Ioudaioi, „die Juden oder Judäer“, bezeichnet. Bisher war von ihnen als dem ochlos, der „Volksmenge“, die Rede. Nach Klaus Wengst (W206) hat dieser Wechsel damit zu tun, dass nun „die Konfrontation mit dem Anspruch Jesu unmittelbar und direkt hergestellt ist“:

Einmal mehr reflektiert sich damit die Auseinandersetzung um die Person Jesu zur Zeit des Evangelisten zwischen jüdischer Mehrheit und der sich zu Jesus bekennenden jüdischen Minderheit.

Mit Absicht kennzeichnet Jesus die Reaktion der Juden „als Murren“ und ruft damit in „diesem Kontext, in dem das biblische Mannawunder eingebracht wird, … das Murren des Volkes vor diesem Wunder und an anderen Stellen der Wüstenwanderung in Erinnerung“. Indem Wengst dieses Murren als „Ausdruck der Ungehaltenheit über den dornigen Weg aus der Knechtschaft und des fehlenden Vertrauens in Gottes Führung“ deutet, hätte er einen geeigneten Ansatzpunkt, um das Thema der Versklavung unter die römische Weltordnung zur Zeit des Johannes anzusprechen; aus diesem Fahrwasser hält er sich allerdings heraus, indem das Murren der Israeliten in seinen Augen sehr allgemein auf „akute Glaubensverweigerung“ hinausläuft.

Warum murren die Juden? Sie stoßen sich daran, dass „er gesagt hatte: ,Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist.‘“ Darin zeigt sich nach Wengst,

dass die Gesprächspartner Jesu dessen Anspruch verstanden haben, dass in ihm Gott begegnet und dass deshalb Leben hat, wer im Blick auf ihn glaubt. Aber sie vermögen diesem Anspruch nicht zuzustimmen.

Sie haben auch gute Gründe dafür, denn sie kennen Jesus „als Sohn Josefs, man kennt seine Eltern“. Für eine „messianische Gestalt“ gilt aber nach allem, was sie wissen, dass sie „bis zur Endzeit verborgen ist und dann hervortritt“. Und wenn zudem „vom Eintreten der Endzeit in der allgemeinen Wahrnehmung nichts zu spüren ist“, können sie Jesu Anspruch nur zurückweisen.

Gegen (W207) den „Einwand, dass er doch der Sohn Josefs sei und man seine Eltern kenne“, wehrt sich Jesus nicht. Diese offensichtliche Tatsache widerspricht nicht dem Anspruch, dass sich genau in ihm und seinem „am Kreuz endenden Weg“ tatsächlich „Gott erschließe“. Damit ist für Wengst auch klar (Anm. 327), dass Johannes „das ‚Herabsteigen vom Himmel‘ nicht mythologisch“ versteht; vielmehr „qualifiziert“ er „damit Jesus als Beauftragten Gottes schlechthin“. Daher gilt aber auch (W207):

Soll die Anerkenntnis dieses Anspruchs nicht Selbsttäuschung sein, muss sie ihrerseits zugleich als Tat Gottes gedacht werden. Das kommt anschaulich zum Ausdruck, wenn Jesus nach seiner Aufforderung, mit dem Murren aufzuhören, nun sagt: „Zu mir können nur kommen, welche der Vater, der mich geschickt hat, zieht.“ Derjenige, von dem ausgesagt wird, dass er in Jesus zum Zuge komme, Gott, muss das offenbar so tun, dass er damit zugleich auch die Anerkenntnis dieses Anspruchs bewirkt. Anders kommt es nicht zum Glauben. Die Bilder vom „Kommen“ und „Ziehen“ zeigen wieder sehr anschaulich das Ineinander von göttlicher und menschlicher Aktivität im Akt des Glaubens, wobei dem Handeln Gottes wiederum die Priorität zukommt. Es kann nur kommen, wer gezogen wird. Aber wer gezogen wird, kommt dann auch selbst und ist nicht Marionette. Wie aber „zieht“ Gott zu Jesus? Nicht anders als durch sein Wort, das Jesus vermittelt. Das Ziehen Gottes zu Jesus vollzieht sich darin, was Jesus sagt und was über ihn erzählt wird.

Parallelen zu diesem „Ziehen Gottes“ findet Wengst in „halachischen Midraschim“, <552> in denen die „Haggada, die erzählende Auslegung“ der Bibel „das Herz des Menschen (an)zieht“ oder die Haggadot „das Herz des Menschen (an)ziehen wie Wein“. Wenn aber das Herz „gezogen“ wird, das in „der hebräischen Bibel und in der jüdischen Tradition … das Personzentrum des Menschen“ bezeichnet, dann wird „der Mensch in ganzer Person“ gezogen,

und zwar zum Vertrauen auf den, den die Erzählungen bezeugen. So könnte man die Erzählung über Jesus, das Evangelium, als Haggada verstehen, die im wahrsten Sinn des Wortes „attraktiv“ ist, anziehend und ins Vertrauen zu dem ziehend, der in ihr als in Jesus präsenter Gott bezeugt wird. Sie ist – so wird man heute sagen müssen – „attraktiv“ für Menschen aus den Völkern, dagegen nicht für Juden. Letzteres gilt besonders für die Lektüre des Johannesevangeliums. Christen aus den Völkern sollten es akzeptieren, dass Gott hier offenbar nicht „zieht“ – weil er schon „gezogen“ hat.

Hier muss ich wieder einmal den Versuch von Wengst anerkennen, dass er das dem jüdischen Messianisten Johannes aus der Hand genommene und antijüdisch interpretierte Evangelium nun immerhin im Respekt gegenüber Juden auszulegen versucht, die sich von diesem Text nun einmal aus guten Gründen nicht angezogen fühlen können. Zugleich aber muss gefragt werden, ob schon Johannes das „Ziehen Gottes“ wirklich so auf Jesus bezieht, dass Gott seine Attraktivität für bestimmte Menschen bewirkt und für andere nicht. Warum sollte er dabei die Menschen aus den Völkern gegenüber den Juden bevorzugen?

Die Aussage „Und ich werde sie aufstehen lassen am letzten Tag“, die Jesus im „Blick auf diejenigen, die Gott ‚zieht‘ und die deshalb zu Jesus kommen“, nochmals wiederholt, ist Wengst zufolge „kein ‚abseitiger Schnörkel‘“, wie Jürgen Becker meint: <553>

Das Kommen zu Jesus ist zugleich damit und konkret das Kommen in die Gemeinde und das Leben in der Gemeinde ist in der Zeit des Johannes Leben an exponiertem und gefährdetem Ort. So hält er es für angebracht, dass Jesus gegen alles Fallen und Unterliegen die Zusage endgültigen Aufstehens wiederholt.

Hartwig Thyen (T357) setzt sich zunächst mit denjenigen Exegeten auseinander, die die „in galiläischem Milieu“ auffällige Benennung der Volksmenge, „des ochlos, der bisher die Szene beherrschte“, als „hoi Ioudaioi {die Juden}“ auf unterschiedliche Quellen des Johannes bzw. ihre redaktionelle Bearbeitung zurückführen wollen. In seinen Augen hat Judith Lieu <554> „überzeugend begründet“, dass genau diese Erwähnung der Juden in diesem Zusammenhang „auffallen soll und als ein Signal für die Intertextualität mit dem hier stets gegenwärtigen ,Prätext‘ der biblischen Manna-Erzählung verstanden sein will“ (T358):

„Die Anerkennung des biblischen Paradigmas verlangt, dass die Juden, die sich Jesus in diesem Kapitel widersetzen, eher dem biblischen als dem erzählerischen Kontext angehören: ihr ,Murren‘ (gongyzō) in Vv. 41-43 ist bestimmt durch das ,Murren‘ der Israeliten in der Wüste in Exod 16,2, ein Murren, das zur Gabe des Manna, dem Leitmotiv von Johannes 6, führte. Der Ernst dieser Aussage ist unübersehbar. In V. 49 erklärt Jesus: ‚Eure Väter aßen Manna in der Wüste, und sie starben‘; der Hinweis bezieht sich nicht auf den Tod, der alle Sterblichen ereilt, sondern erinnert an Num 14, wo Gott verfügt: ‚Von eurer ganzen Schar …, die gegen mich gemurrt haben, soll nicht einer ins Land kommen … eure Leichname sollen in dieser Wildnis verfallen‘ (Num 14,29f.32). Murren führte nicht nur zu Manna, sondern auch zum Tod“.

Bestätigt wird „diese treffende Beobachtung“ Thyen zufolge durch den gesamten Kontext, da einerseits „das gesamte sechste Kapitel“ demonstrieren soll, „daß ‚die Schriften von Jesus zeugen‘ (5,39) und daß ‚Mose von ihm geschrieben hat‘ (5,46)“ und andererseits „Jesu Lebensbrot-Rede“ in 6,59 als ein „in jeder Hinsicht sorgfältig gestaltetes Beispiel für Jesu öffentliches Lehren en synagōgē <555>“ dargestellt wird:

Johannes hat nicht nur das in den synoptischen Prätexten vielfach genannte öffentliche Auftreten Jesu in Synagogen, sondern auch Jesu synagogales „Lehren“ in dieser einen Erzählung verdichtet. … Lieu [53f.] macht darauf aufmerksam, daß Jesus bei Johannes – anders als in den Synoptikern, wo er auch ,unterwegs‘ (Lk 13,22), ,am See‘ (Mk 4,1), ,im Boot‘ (Lk 5,3), ,auf dem Berg‘ (Mt 5,1ff) ebenso wie ,in ihren Synagogen‘ (Mt 4,23) und ,im Tempel‘ (Mt 26,55) „lehrt“ – nie außerhalb von Synagoge oder Tempel „lehrt“. Von einem aktuellen didaskein Jesu ist nur Joh 6,59 (en synagōgē); 7,14.28; 8,20 (en tō hierō) und 18,20 (en synagōgē kai en tō hierō) die Rede; außerdem begegnet didaskein nur noch als Jesu ,Belehrtsein‘ durch den Vater (8,28), als das verheißene ‚Belehrtwerden‘ durch den Parakleten (14,26), sowie zweimal im Munde seiner Antagonisten 7,35 und 9,34.

Der „Grund für das ,Murren der Juden‘“ ist in Thyens Augen, dass

sie das in dem egō eimi {ICH BIN} ausgesprochene Geheimnis der göttlichen Gegenwart nicht begreifen können und wollen. Typisch ist, daß sie es nicht wagen, Jesus, der doch in ihrer Mitte ist, offen anzureden und ihn zu fragen. Statt dessen reden sie in dritter Person (houtos {dieser}) über ihn. … Den unbegreiflich Anderen, in dem Gott ihnen näher ist, als sie es sich je selbst sein können, nehmen sie nicht wahr.

Darin, dass die Juden „Jesus hier zunächst als den ‚Sohn Josephs‘ identifizieren – während der Name seiner Mutter ebenso wie in Joh 2,1ff und 19,25ff ungenannt bleibt –“, und in dem gesamten „Einwand der Ioudaioi gegen Jesu himmlischen Ursprung“ erkennt Thyen „ein intertextuelles Spiel mit Mt 13,54-58 (Mk 6,1-5 / Lk 4,16-30)“ mit einem „möglicherweise ironischen Unterton“, der auf die Infragestellung der Vaterschaft Josephs in den „,Vorgeschichten‘ Jesu bei Matthäus und Lukas“ anspielt. Interessant ist dabei, dass bei Matthäus wie „in unserer Szene von Joh 6“ Jesus ebenfalls in Kapharnaum in „‚ihrer Synagoge‘ … ‚lehrt‘“. Dort (Matthäus 13,55-57) nehmen die Leute unter Verweis auf seine Eltern und Geschwister Anstoß an ihm; hier bei Johannes werden schon bald, „nämlich Joh 7,3ff… auch die Mt 13,55 genannten leiblichen Brüder Jesu zur Stelle“ sein.

Thyens Auslegung (T361) der Antwort Jesu (Verse 43-44) auf die gar nicht an ihn gerichtete Frage der murrenden Juden: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn (zu mir) zieht…, und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage“, vollzieht sich als ein dogmatisches Lehrstück über die Prädestination, die Vorherbestimmung der Menschen zum Heil oder zur Verdammung. Ich beschränke mich dabei weitgehend auf die von Thyen selbst formulierten Auffassungen. Er widerspricht Bergmeier und Hofius, <556> die „im Anschluß an Calvins Lehre einer praedestinatio gemina {doppelte Prädestination} auch Johannes den Gedanken eines doppelten Vorherbestimmtseins der einen zum Heil und der anderen zum Verderben“ unterstellen und Bultmanns <557> Behauptung ablehnen, „daß es jedem Menschen frei steht, zu den vom Vater Gezogenen zu gehören“. Obwohl Thyen auch Einwände gegen Bultmann geltend macht, hält er dessen Aussage dann für „völlig korrekt“, wenn man

sieht, daß diese ,Freiheit‘, zu den vom Vater Gezogenen zu gehören, ihren Grund und ihre Möglichkeit nicht in irgendeiner menschlichen Autonomie, sondern – völlig diesseits jeglicher Autonomie oder Heteronomie – allein in der zugesagten Gnadenwahl Gottes selber hat…

Dem „synergistischen {auf die Zusammenwirkung von Mensch und Gott bedachten} Heilsverständnis Schnackenburgs <558>“, das dieser für Johannes folgendermaßen auf den Punkt bringt, widerspricht Hofius Thyen zufolge daher zu Recht:

„Der Glaube ist für Joh wirklich eine vom Menschen aufzubringende Haltung, das Grunderfordernis für die Heilserlangung, und es besteht für ihn kein Zweifel daran, daß es für jeden Menschen bei gutem Willen möglich ist, an Jesus zu glauben“. Nein, der Glaube ist kein bei gutem Willen leistbares „Grunderfordernis zur Heilserlangung“, sondern als das Werk und die unverdiente Gabe Gottes ist er „der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1Joh 5,4).

Das bestätigt Jesus, indem er „das hier en synagōgē Gesagte anschließend nach­drücklich noch einmal auch vor seinen ,Jüngern‘“ wiederholt:

dia touto eirēka hymin hoti oudeis dynatai elthein pros me ean mē ē dedomenon autō ek tou patros {Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben} (6,65). Erst durch dieses hymin {euch} erfährt der Leser, daß die Jünger unter den zunächst ochlos {Volksmenge} und danach hoi Ioudaioi {die Juden} Genannten waren.

Aus all dem schließt Thyen für die Auslegung von Vers 44, „daß Gottes ‚Ziehen‘ kein vorzeitiges und schon gar nicht ein ,doppeltes‘ Dekret, sondern aktuelles Geschehen ist.“ Mit einem Zitat von Wilfried Joest <559> betont er:

Gottes Gnadenwahl „ist so gegenwärtig wie Jesus Christus, in dem sie uns zugesprochen wird, gegenwärtig ist. In dem Wort, das uns Christus zuspricht, kommt Gottes Gnadenwahl je heute auf uns zu“. Allein dieses Wort vermag uns der tödlichen Herrschaft des archōn tou kosmou toutou {Fürsten dieser Welt} zu entreißen, der wir ohne Ausnahme alle unterworfen sind.

So sympathisch mir diese Ausführungen innerhalb des Bezugsrahmens christlicher Dogmatik auch sein mögen, hege ich doch tiefe Zweifel, ob bereits Johannes das Ziehen Gottes zu Jesus auf die Frage nach einem ewigen Heil oder einer ewigen Verdammnis aller Menschen bezogen haben kann.

Kommen wir zur Auslegung Ton Veerkamps. <560> Er beschäftigt sich zunächst mit dem Wort „Murren“, lun, gongyzein, diagongyzein, das Johannes „hier zum ersten Mal“ verwendet und mit dem er „diesen Passus mit den Auseinandersetzungen in Jerusalem (Kapitel 7-8)“ verbindet:

Das himmlische Brot in der Wüste Sin war die Antwort des NAMENS auf das „Murren“ der Kinder Israels gegen Mosche und Aharon. …

Das Verb murren qualifiziert die reale Berechtigung des Unmuts ab. Es richtet sich gegen die Führung durch Mosche in der Wüste, gegen die Führung durch den Messias in der Wüste Roms. Kann man von ewigen Notlösungen leben, „immer nur Manna vor unseren Augen“ (Numeri 11,6)? Kann man von messianischen Illusionen leben, ist das Brot, gar „Brot des Lebens“? Stieß das Murren in der Wüste auf ein gewisses Verständnis – immerhin geschah durch die Wachteln eine Linderung – Johannes hält sich bei solchen Einwänden nicht lange auf: es ist eben murren, verbiestertes Meckern. Jeschua spielt für Israel genau die Rolle wie das Manna in der Wüste: ohne dieses „Brot vom Himmel“ überlebt Israel die Wüste Sin und die Wüste Roms nicht.

Weiter geht Veerkamp auf den Einwand ein, den diejenigen vorbringen, die hier plötzlich Ioudaioi genannt werden, er übersetzt mit „Judäer“:

„Wir kennen dich“, sagen die Judäer, „du bist Jeschua ben Joseph, wir kennen deinen Vater und deine Mutter!“ Sie wissen, wo Jeschua herkommt – von wegen Himmel! Soll der darüber entscheiden, wer zum Leben der kommenden Weltzeit gelangt und wer nicht?

Johannes kennt keine Jungfrauengeburt, er kennt keine metaphysische Abkunft eines Gottwesens, das sich bloß in einer materiellen Hülle versteckt. Die irdische Mutter Jeschuas tritt an entscheidenden Stellen auf. Und dennoch ist er der, „der vom Himmel abgestiegen ist“. Einerseits irdischer Mensch mit irdischen Eltern zu sein, eine vergängliche und verwundbare Existenz zu führen, „Fleisch“ zu sein, und andererseits „abgestiegen vom Himmel“ zu sein, ist für Johannes kein Widerspruch. „Abgestiegen vom Himmel“ zu sein bedeutet, so vollkommen vom Willen Gottes durchdrungen zu sein, dass kein Raum mehr für eine Existenz ist, die von eigenen Anliegen angetrieben wäre.

An diesem Punkt berührt sich die Auslegung Veerkamps mit dem Anliegen Wengsts, Jesu Abstieg vom Himmel nicht mythologisch misszuverstehen. Veerkamp bringt Jesu Herkunft vom Himmel in engen Zusammenhang mit den Propheten Israels:

Das ist außergewöhnlich, aber nicht einmalig. Vom Propheten vom Berg Karmel erfahren wir nicht einmal jenen Namen des Vaters, der in Israel immer zum eigenen Namen gehörte. Der Name dieses Propheten hat den NAMEN als einzigen, alles bestimmenden Inhalt: ˀEli-jahu, „mein Gott ist der NAME“. Und der Sohn eines gewissen Josephs aus Nazareth, Galiläa, hat als Namen die Befreiung Israels durch den Gott Israels. Jeschua als Kurzform von Je-hoschuaˁ, „der NAME befreit“. Das bedeutet für einen Text, der sich von der Schrift Israels her verstanden wissen will, „abgestiegen vom Himmel“.

Wie geht Jesus nun auf diese judäischen Gegner ein, die gegen ihn murren, die seine Herkunft vom Gott Israels nicht anerkennen? Anders als Wengst und Thyen versteht er das Wort helkein, „ziehen, schleppen“, auf dem Hintergrund von biblischen Schriftstellen aus den Prophetenbüchern Hosea und Jeremia:

„Murrt nicht“, sagt Jeschua, „verhaltet euch nicht, wie eure Väter sich in der Wüste Sin verhalten haben.“ Und dann sagt Jeschua jenen Satz, der auf göttliche Willkür schließen lassen könnte: „Niemand kommt zu mir, es sei der VATER, der mich sandte, der schleppt ihn zu mir.“ Das Verb bedeutet etwas mehr als bloß ziehen. Wir denken an Hosea 11,4: „Mit menschlicher Bindung zog ich dich, mit Stricken der Liebe“, oder an Jeremia 31,2f. (LXX 38,2f.):

So sagt der NAME:
„Gunst hat das Volk in der Wüste gefunden,
das dem Schwert entkommene,
Israel ging – beruhigt.“
Von weitem ließ sich der NAME von mir sehen.
„Mit Weltzeitliebe liebte ich dich (ˀahavath ˁolam ˀahavthikh),
so schleppte dich meine Solidarität
(meschakhtikh chessed, heilkysa se eis oiktirēma).“

Aus dem Zusammenhang solcher Stellen geht hervor, dass Gott mit seinem Ziehen oder Schleppen nicht ganz allgemein um religiösen Glauben an sich wirbt. Religiös attraktiver sind, wie etwa Hosea 11,2 zeigt, oft die fremden Götter, durch die Israel seine Freiheit und sein Wohlergehen aufs Spiel setzt; dennoch hört der befreiende NAME nicht auf, Israel „mit Stricken der Liebe“ zu sich zu ziehen. Dieser gedankliche Zusammenhang ist auch für Johannes 6,44 vorauszusetzen. Es geht nicht um ewiges Heil oder Verdammnis, nicht um die Bekehrung zu Jesus als einem überlegenen Erlöser, sondern um das Leben Israels auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes:

Natürlich sieht die christliche Auslegung hier die „Gnade Gottes“, die allein die Bekehrung von Juden und Heiden bewirken soll. Die Auslegung des Johannes ist eine andere. So wie die Liebe und die Solidarität (ˀahavath, chessed) seines Gottes Israel in der Wüste durchgeschleppt hat (maschakhthi, heilkysa), so „schleppt“ oder „zieht“ (helkysē auton) der Name/Vater das Israel durch die Wüste Roms. Ohne ihn, ohne auf ihn zu hören, kann Israel die Wüste Sin nicht überleben, ohne den Messias nicht die römische Wüste. Jeschua „wird ihn aufstehen lassen am Entscheidungstag“, zum dritten Mal in dieser Rede hören wir es.

Johannes 6,45-46: Wer sich von Gott schulen lässt, kommt zu dem, der den VATER gesehen hat

6,45 Es steht geschrieben in den Propheten (Jesaja 54,13):
„Sie werden alle von Gott gelehrt sein.“
Wer es vom Vater hört und lernt, der kommt zu mir.
6,46 Nicht dass jemand den Vater gesehen hätte;
nur der, der von Gott ist, der hat den Vater gesehen.

Klaus Wengst zufolge (W207) erläutert Johannes „das ‚Ziehen‘ des Vaters weiter in Aufnahme und Auslegung eines Schriftzitates: ‚Bei den Propheten steht geschrieben: Und sie werden allesamt von Gott belehrt sein.‘“ Er bezieht sich damit (W208) auf Jesaja 54,13, wo „in einer Gottesrede Zion angesprochen und ihm unter anderem verheißen“ wird, „Gott mache ‚alle deine Kinder zu Schülern des Ewigen‘ (LXX: pántas toús hyioús sou didaktous theoú.)“ Indem im „Zitat, wie Johannes es bietet, … die Anrede an Zion weggefallen“ ist, wird daraus „eine auf alle bezogene Verheißung“, die Wengst „im Verständnis von Tod und Auferweckung Jesu als endzeitlicher Neuschöpfung“ begründet sieht. Damit sieht Wengst seine Auffassung bestätigt, dass das Johannesevangelium sich wie Paulus und die anderen Evangelisten über Israel hinaus an die gesamte Völkerwelt richtet.

Das von Wengst angeführte Argument, in Johannes 6,45 sei die „Anrede an Zion“ aus der Jesajastelle weggefallen, kann seine Annahme aber kaum überzeugend begründen. Zunächst einmal kommt das Wort „Zion“ im näheren Kontext von Jesaja 54,13 überhaupt nicht vor; angeredet wird das Volk Israel in verschiedensten Umschreibungen, und zwar von Gott als dem NAMEN, der sich in Jesaja 54,5 als der „Heilige Israels“ und goˀel, Löser“ oder „Befreier“, seines Volkes vorstellt. Indem in den Versen 54,11-12 „deine Mauern, Zinnen und Tore“ erwähnt werden, bezieht sich allerdings die von Johannes aus Jesaja 54,13 übernommene Aussage „alle deine Söhne“ ursprünglich wirklich auf Israel als die Kinder Jerusalems bzw. Zions.

Wie hätte Johannes aber nun diese als Anrede des NAMENS an Israel bzw. Zion formulierte Aussage exakt in sein Zitat übernehmen sollen? Bei Johannes ist weder Gott als der Redende noch Zion oder ganz Israel als sein Gegenüber vorausgesetzt; vielmehr redet Jesus zu den Judäern, die er zwar als einen wesentlichen Teil Israels umwirbt, aber sie sind nicht identisch mit Zion oder ganz Israel, die er auf ihre Kinder ansprechen könnte, die alle von Gott gelehrt sein werden. Von daher muss die Weglassung der Anrede an Zion nicht dadurch veranlasst sein, dass Johannes sein Interesse über ganz Israel hinaus auf alle Menschen aller Völker richten würde.

Indem Johannes nach Wengst das Jesaja-Zitat mit den Worten fortführt: „Alle, die auf den Vater hören und von ihm lernen, kommen zu mir“, wird das im vorigen Vers 44 angesprochene „Ziehen“ des Vaters „nun aufgenommen im ‚Hören und Lernen‘, das seinerseits das Belehrtwerden durch Gott konkretisiert. Wie aber kann man auf Gott hören und von ihm lernen?“ Dazu ist ein Vermittler notwendig, als der im folgenden Vers 46 „Jesus herausgestellt“ wird:

„Nicht dass jemand den Vater gesehen hatte – außer dem, der von Gott ist; der hat den Vater gesehen.“ Daher gilt: Wer den „Sohn“ hört, lernt vom „Vater“. Von Gott belehrt ist hiernach, wer Jesu Rede als Rede Gottes akzeptiert. Ein direktes Sehen und Hören Gottes – und damit ein direktes Lernen von ihm – gibt es nicht: „nicht dass jemand den Vater gesehen hätte“. Damit wird die Aussage von 1,18 wiederholt.

Kommt es mir nur so vor oder weicht Wengst hier einem Punkt aus, den er nicht klar ins Auge fassen will? Dass niemand den Vater gesehen hat, ist ja nur die eine Seite der Medaille in Vers 46, als Ausnahme wird ausdrücklich ho ōn para tou theou, der bei oder von Gott ist, genannt, „der hat den Vater gesehen“. Man kann das so umschreiben, wie Wengst es tut, dass Jesu Rede „als Rede Gottes“ zu verstehen ist, aber so glasklar, wie er es behauptet, wird hier nicht ausgeschlossen, dass Jesus in irgendeiner Weise tatsächlich Gott „gesehen hätte“.

Mit Vers 46 ist in den Augen von Wengst der Exkurs beendet, „in dem er über den Glauben als Wirken Gottes und Entscheidung des Menschen reflektierte“:

Der Glaube ist beides zugleich. Er ist ganz und gar anerkennende Entscheidung des Menschen. Ein Mensch „kommt“ zu Jesus, er kommt in die Gemeinde und muss dort seinem Leben als Glaubender Gestalt geben. Aber da es den Glauben nur im Hören auf das Wort gibt, können die Glaubenden ihren Glauben zuerst und vor allem nur als Wirken dessen selbst verstehen, der in diesem Wort zur Sprache und zur Wirksamkeit kommt.

Das bedeutet aber:

Wie bei der Frage nach der Legitimation des Anspruchs Jesu am Ende von Kap. 5, so liegt auch hier bei der Frage, wie es zur Anerkenntnis dieses Anspruchs, wie es zum Glauben kommt, ein in sich geschlossener Kreis vor.

Hartwig Thyen (T362) weist zum Schriftzitat, das Jesus jetzt anführt, darauf hin, dass es von Johannes mit voller Absicht dem Schriftzitat der Volksmenge in Vers 31 gegenübergestellt wird, indem beide durch dieselbe Formel

Formel estin gegrammenon {es ist geschrieben} eingeleitet sind. Die „Schrift“ ist also die für beide Parteien – dieses freilich völlig asymmetrischen und einseitigen „Dialogs“ – die verbindliche und sie verbindende Autorität.

Thyen hält es nicht für einen Zufall, dass Johannes mit Jesaja 54,13 Jesus „aus der Gottesrede des Jesajabuches zitieren läßt, die Jerusalem und seinen Kindern als didaktoi theou {von Gott Gelehrten} neues Glück verheißt (Jes 54f)“, denn in seinen Augen sind die Verse Jes 55,1-3.10f. im folgenden Kapitel ja „der ‚Grundtext‘ der Rede Jesu“ in Johannes 6:

In dem Jesajatext wird dem „trostlosen“ und elenden Jerusalem eine herrliche Zukunft verheißen, es soll in ,Heil‘ (dikaiosynē) gegründet und alle seine Söhne sollen von Gott Gelehrte sein, und alle seine Kinder in heilvollem Frieden leben.

Schon die Art, wie Thyen hier auf konkrete prophetische Verheißungen für Israel bzw. Jerusalem eingeht, verrät durch die Wiedergabe gleich zweier Wörter aus Jesaja 54,13-14 mit „Heil“ die Tendenz, diese Verse auf ein Seelenheil bzw. einen spirituellen Frieden zu beziehen. Besonders deutlich wird das bei dem Wort dikaiosynē, das sogar konventionell nicht mit „Heil“, sondern eher mit „Gerechtigkeit“ übersetzt wird; Veerkamp würde es, Martin Buber folgend, mit „Bewährung“ wiedergeben. Und der große Friede, rav schalom, in dem die Kinder Jerusalem leben sollen, ist mit Sicherheit ein umfassend erfülltes Leben in Freiheit, Frieden und Recht auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes. Leider geht Thyen über diesen Bezug auf Jerusalems friedvolle Zukunft ohnehin sehr schnell hinweg, indem er zur Auslegung der „Wendung pas ho akousas {jeder, der hört}“, übergeht, mit der (T362f.)

der folgende Satz das pantes {alle} des Zitats auf[nimmt] und … es auf seinen neuen Kontext hin aus[legt], so daß jetzt Jesu Stimme synchron mit derjenigen „der Propheten“ erklingt: „Jeder, der vom Vater gehört und gelernt hat, kommt zu mir“… Aber wie sich das „Ziehen“ des Vaters im Erklingen der Stimme des Sohnes und dem seinem Ruf antwortenden Glauben ereignet, so erfüllt sich die prophetische Verheißung vom neuen Glück Jerusalems hier en synagōgē {in synagogaler Versammlung} vor den Ohren der Ioudaioi, denn „das Hören (und Lernen) vom Vater und das Hören aus dem Munde Jesu fallen … in eins zusammen, weil Jesus und der Vater Eines sind (10,30)“. <561>

Tatsächlich interpretiert Thyen also das neue „Glück Jerusalems“ in einer Weise, die mit keinem Wort konkret auf Jerusalems Zerstörung im Jüdisch-Römischen Krieg und die Frage eingeht, ob Jerusalem durch den Messias Jesus auf eine Überwindung der römischen Fremdherrschaft hoffen darf. Will er den Glauben an Jesus als den, der mit dem göttlichen Vater eins ist, wirklich als Erfüllung der „Verheißung vom neuen Glück Jerusalems“ verstehen, dann kommt das in dieser abstrakt-religiösen Form einer Verhöhnung der in Jerusalem getöteten und um Jerusalems Untergang trauernden Juden sehr nahe.

Wie legt nun Thyen den schwierigen Vers 46 aus? In seinen Augen erweist Jesus „gerade in diesem sechsten Kapitel“, dass er „der allein bevollmächtigte ‚Exeget‘ des Vaters ist (1,18)“, und das bestätigt sich darin, dass nur er sagen kann:

ouch hoti ton patera heōraken tis ei mē ho ōn para tou theou, houtos heōraken ton patera {Denn den Vater hat keiner je gesehen außer dem Einen, der beim Vater ist, der hat den Vater gesehen} (V. 46). Die Tempora der Verben zeigen, daß es bei diesem „Sehen“ des Vaters nicht um eine quasi ,vorgeburtliche Erinnerung‘ Jesu an das präkosmisch-mythische Sein des logos geht, der pros ton theon {bei Gott}, ja, der theos {Gott} war (1,1f.) Das Perfekt heōraken {hat gesehen} zeigt vielmehr an, daß es der fleischgewordene logos, der jüdische Mann Jesus ist, der als einziger den Vater so ,gesehen‘ hat und sieht, daß er ihm ständig vor Augen steht, weil er, wie das präsentische Partizip ōn {seiend} es ausdrückt, ständig para tou theou {bei Gott} ist.

Nun wird es spannend: Wie interpretiert Thyen dieses Sehen Gottes, das allein Jesus möglich ist? Ihm zufolge kann „es sich bei diesem ‚Sehen‘ weder um physisches Wahrnehmen mit den Augen noch um mystische Schau handeln“, und das „wird aus dem exēgēsato {er hat ausgelegt} von 1,18 erkennbar“. Darin, dass Jesus der einzig wahre Exeget des Vaters ist, ist

nicht nur impliziert daß dieser Einzige allen anderen gegenüber Gott sehr wohl ,gesehen und vor Augen hat‘, sondern darüberhinaus, daß er solches ,Sehen‘ auch den zuvor davon Ausgeschlossenen vermittelt hat.

Zur Begründung verweist Thyen mit einem Zitat von W. H. Cadmann <562> darauf, dass in den Sätzen Johannes 14,7 und 14,9 die Worte „ginōskein und horaō {erkennen und sehen}“ gleichbedeutend sind „und die Wahrnehmung des Glaubens ausdrücken“:

„Aber aus all dem folgt eine offensichtliche Schlussfolgerung. Wenn nur Jesus den Vater gesehen hat und es nur durch ihn möglich ist, dass andere den Vater sehen, dann muss das Wort ‚sehen‘ in beiden Fällen dasselbe bedeuten. Das heißt, die Fähigkeit Jesu, den Vater zu sehen, muss ebenso eine Folge der Menschwerdung sein wie die Fähigkeit, die er den anderen vermittelt. Es kann sich nicht um das Sehen Gottes durch den Logos vor der Inkarnation handeln“.

Damit drückt Thyen deutlicher als Wengst aus, dass das „Sehen Gottes“ in Johannes 6,46 auf jeden Fall symbolisch verstanden werden muss. Warum und inwiefern aber Jesus durch seine Menschwerdung zunächst der einzige ist, der diese Fähigkeit hat, die er aber anderen übermitteln kann, das ist mir aus Thyens Erläuterungen bisher nicht wirklich klar geworden. Nimmt man Johannes 1,18 beim Wort und versteht Jesus als den einzig wahren Exegeten des Gottes Israels, dann kann man Jesus nur als die Verkörperung des NAMENS dieses Gottes verstehen und muss alles, was Jesus sagt und tut, als Auslegung der befreienden Wirksamkeit dieses NAMENS von den jüdischen Heiligen Schriften her begreifen.

Anders als Wengst und Thyen versteht Ton Veerkamp <563> den Satz Johannes 6,45: „und sie werden Geschulte Gottes sein“ im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem „Schulbetrieb des rabbinischen Judentums“. Der Satz ruft ihm zufolge nicht nur Jesaja 54,13: „Alle deine Söhne werden Geschulte des NAMENS sein“, sondern auch Jeremia 31,34 auf: „Niemand wird seinen Genossen schulen“; darum sagt Johannes: „Das steht ‚bei den Propheten‘“:

„Schulen“ (limed) und „Geschulte des Namens“ (limude JHWH, didaktous theou) rufen das Wort „Talmud“ auf, den Schulbetrieb des rabbinischen Judentums. Gegen ihn richtet sich der Satz: „Der auf den Vater hört und [so] geschult ist (mathōn, mathētēs), kommt zu mir.“

Damit ist nicht eine christliche Kritik an der jüdischen Religion gemeint, auch die Art des jüdischen Lehrens und Lernens greift Jesus mit dem Jesajazitat positiv auf: <564>

Die hebräische Wurzel lamad bedeutet sowohl „lehren“ als auch „lernen, schulen“ und „geschult werden“. Die Schulung ist praktisch, sie ist „Training“. Der Talmud (gleiche Wurzel lamad) ist das Lehrgebäude für die Halakha, den Lebensgang.

Die scharfe innerjüdische Kritik des Messianisten Johannes am Rabbinismus richtet sich aber gegen eine Schulung über Gottesfragen, die am Messias Jesus vorbeigeht und nicht bereit ist, sein befreiendes Wirken für Israel in Betracht zu ziehen.

Ganz ähnlich wie Thyen ist auch Veerkamp allerdings der Auffassung, dass die „Schrift … das einzige [ist], was ‚vom Vater zu hören‘ ist“, und wenn der Messias Jesus der einzig wahre Exeget des Vaters ist, dann muss es eine „Schulung“ geben, die dazu anleitet, das Wollen und Wirken dieses Messias Jesus von der „Schrift“ her angemessen auszulegen:

Die Schrift … verlangt Schulung, und wo Schüler sind, da sind auch Lehrer. Ohne Schriftgelehrte geht es nicht, und wer auf gut Glück oder auf Geheiß von Billy Graham die Schrift öffnet und allein liest, versteht höchstwahrscheinlich Unsinn und entnimmt ihr womöglich lebensgefährliche Anleitungen zum Handeln, wie z.B. den Irakkrieg. Ohne Rabbi, ohne die Lehre einer „kirchlichen Dogmatik“ (Barth!), geht es nicht. Johannes war ein Lehrer, ein Rabbi, wenn auch ein sehr eigentümlicher.

Mit der Erwähnung eines populistisch agierenden evangelikalen Erweckungspredigers und dessen Einlassungen über den Irakkrieg lässt Veerkamp erkennen, dass seine Exegese letzten Endes auf zeitgeschichtlich zugespitzte Konsequenzen abzielt, allerdings nicht auf kurzgeschlossene Übertragungen angeblich biblischer Erkenntnisse auf die heutige Politik. Seine Anspielung auf die „Kirchliche Dogmatik“ Karl Barths macht deutlich, dass Exegese nur die Grundlagen eines halbwegs angemessenen Verständnisses der biblischen und messianischen Schriften erheben kann; die sorgfältige Prüfung, wie daraus Konsequenzen für schriftgemäßes Denken und Handeln in der Gegenwart gezogen werden können, ist ein notwendiger weiterer Schritt.

Wie ist nach Veerkamp in diesem Zusammenhang der „polemische Satz“ in Vers 46 zu deuten: „Nicht, dass jemand den VATER gesehen hat, es sei denn der, der von GOTT her ist, der hat den VATER gesehen“? Er interpretiert ihn als Warnung vor einem verfehlten Umgang mit der Bibel, indem man in ihr auf gut Glück religiöse Erfahrungen sucht, ohne sich vom Messias Jesus als dem Gesandten des NAMENS so schulen zu lassen, dass man seinen Gang nach dem Willen des NAMENS geht:

Aber er warnt, die Schrift vermittle keine Gottesvision, oder, wie wir heute sagen würden, keine religiösen Erfahrungen. Eine „Gotteserfahrung“ hat nur der, der „bei Gott ist“, und das ist nur der von Gott Gesandte. Nur der hat den Vater gesehen. So überragt er Mosche, dem zwar eine Gottesvision gewährt wurde, aber nur „von hinten, im Vorübergehen“ (Exodus 33,18-23). Damit ist der polemische Satz relativiert.

Johannes 6,47-51: Das Brot vom Himmel ist Jesu Fleisch für das Leben der Welt

6,47 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer glaubt, der hat das ewige Leben.
6,48 Ich bin das Brot des Lebens.
6,49 Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen
und sind gestorben.
6,50 Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt,
damit, wer davon isst, nicht sterbe.
6,51 Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist.
Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.
Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch
– für das Leben der Welt.

[3. Juli 2022] Hartwig Thyen (T363) sieht in den vorangegangenen Versen geklärt, „welcher Art die bis ins ewige Leben ‚bleibende Speise‘ und ihr Geber sind“. Nun betont Jesus mit dem feierlichen doppelten Amen, mit der er bereits „seine Rede in V. 26 eröffnet hatte“, in den Versen 47 und 48 noch einmal, dass, wer an ihn glaubt, das ewige Leben hat, und dass er das Brot des Lebens ist, und mit

dem Gegensatz zwischen dem Sterben der ,Väter‘, die das Manna gegessen hatten, und dem ewigen Leben derer, die Jesus als das vom Himmel gekommene ,lebende Brot‘ (ho artos ho zōn) essen werden, erscheint in den folgenden V. 49-51 ein neuer Gedanke.

Dabei ist (T364) der Tod der Väter nicht etwa darauf zurückzuführen, dass das Himmelbrot des Manna „eine minderwertige Speise gewesen wäre“, sondern vielmehr darauf, dass sie sich mit ihrem ,Murren‘ aufgelehnt haben gegen den Gott ihrer Väter, der sie aus der ägyptischen Sklaverei gerettet hatte, und gegen Mose, seinen Gesandten“. Bezeichnend ist erneut, dass Thyen die Meuterei gegen den aus politischer Unterdrückung befreienden Gott zwar erwähnt, aber diesen Ungehorsam sofort wieder im Zusammenhang einer religiösen Sühnetheologie interpretiert. So gesehen geht es dem Messias Jesus nicht um die Befreiung und Aufrichtung Israels auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes, sondern um die Erlösung jedes einzelnen Menschen von seiner Sünde und seiner Errettung zum ewigen Leben im Himmel:

Nicht vom Sterben als dem natürlichen Ende allen kreatürlichen Lebens spricht also das apethanon {sie starben}, sondern vom „Tod als der Sünde Sold“ (Röm 6,23). Das muß dann umgekehrt auch für das kai mē apothanē {und nicht sterbe} des folgenden Satzes gelten: Weil der, der hier egō eimi {ICH BIN} sagt und durch die ,Hingabe seines Fleisches für das Leben der Welt‘ diesen ,Sold‘ ein für alle Mal bezahlt hat, als das ,Lamm Gottes, das die Sünde der Welt beseitigt‘ (1,29), werden alle, die von diesem ,Brot essen‘, das heißt, die an ihn glauben, ,in Ewigkeit leben‘. Daran wird auch ihr kreatürliches Sterben nichts ändern, denn er wird sie daraus ja auferwecken (V. 39.40.44.54).

Wie sehr sich Thyen auf das Leben nach dem Tod konzentriert, zeigt seine Auseinandersetzung mit John Dominic Crossan, <565> der annimmt, dass

sich die eschatē hēmera {der letzte Tag} dieser vierfältigen Verheißung nur auf den letzten Tag des Individuums beziehen lasse, denn „wie in Johannes 6 verwendet, scheint es nicht möglich zu sein, dass sich der ‚letzte Tag‘ speziell auf ein kosmisches Eschaton beziehen könnte, sonst müsste der Gläubige für die Zeitspanne vor seiner Ankunft ‚tot‘ sein“.

Unter Berufung auf Friedrich-Wilhelm Marquardt <566> geht Thyen jedoch davon aus, dass „der auferstandene Jesus ‚der Mensch (ist), dem Gott alle Zeiten sperrangelweit geöffnet hat‘“. Daher

sollte man nicht versuchen, sie ihm wieder zu verschließen, indem man über ‚die Zeitspanne vor seiner Ankunft‘ spekuliert. Seit er das Tor des Todes durchschritten hat, sind in ihm der letzte Tag eines jeden Individuums und der letzte Tag des Universums synchronisiert.

Natürlich ist Thyen innerhalb dieser Auseinandersetzung darin Recht zu geben, dass man sich Spekulationen darüber versagen sollte, wie Aussagen über ein Leben nach dem Tode einzelner Menschen oder gar das Ende des Universums miteinander in Einklang zu bringen sind. In meinen Augen kann jede dieser Aussagen nur bildhaft etwas von den Hoffnungen widerspiegeln, die Menschen im Vertrauen auf den lebendigen Gott gewinnen können.

Das ändert aber nichts daran, dass in meinen Augen das Denken des Johannes gar nicht um die Frage nach einem Leben jenseits der persönlichen menschlichen Lebenszeit oder gar dieses Universums im Ganzen kreist. Wenn nach Psalm 115,16 der Himmel allein dem NAMEN zugeordnet ist, die Erde aber den Menschenkindern gegeben ist, dann spielt sich für einen jüdisch denkenen Messianisten wie Johannes auch das ewige („äonische“) Leben der kommenden Weltzeit auf dieser Erde ab und nicht etwa im Himmel. Dann ist dieses „ewige“ Leben nicht etwa quantitativ durch seine unendliche Dauer gekennzeichnet, sondern es ist ein in qualitativem Sinn erfülltes Leben: erfüllt von Freiheit und Recht, Liebe und Frieden.

Zum letzten Teil von Vers 51: „Und das Brot, das ich geben werde, das ist mein Fleisch für das Leben der Welt“, hatte Thyen eben schon die „Hingabe seines Fleisches“ „primär auf Jesu erlösendes Sterben“ bezogen. Auch in der „Wendung hyper tēs tou kosmou zōēs {für das Leben der Welt}“ ist nach Barrett <567> (T365) ein „Verweis auf den Tod Jesu beabsichtigt“:

„Der Sinn des ganzen Satzes ist der von 3,15f: Gott liebte die Welt und gab in Christus die Mittel, durch welche sie ewiges Leben haben sollte.“

Zugleich sieht Thyen mit Morris <568> in „der Wendung hyper tēs tou kosmou zōēs {für das Leben der Welt}“

ein weiteres Hindernis, die Aussage auf die Eucharistie hin zu deuten: „Auf Golgatha hat sich Christus ‚für das Leben der Welt‘ hingegeben, aber im Sakrament gilt seine Gabe den dort anwesenden Kommunizierenden, nicht der Welt“.

Da nach Morris am Anfang von Vers 51 sowohl der Abstieg Jesu (katabas) als auch das Essen des Brotes (phagē) im der griechischen Form des Aorist stehen, kann dieses Essen nur „die ein für alle Mal vollzogene Aufnahme von Christus“ ausdrücken, die „auf den einmaligen Akt der Inkarnation ausgerichtet“ ist und ist deshalb Thyen zufolge „schwerlich auf das wiederholte Essen der eucharistischen Speise zu beziehen“. Daher muss der gesamte Vers 51

metaphorisch verstanden werden, das heißt: Wer immer (ean tis) Jesu Wort hört, der darf es sich nicht zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgehen lassen, sondern muß es sich ,einverleiben‘, so wie Ezechiel die ihm von Gott gereichte Buchrolle ,aß‘ (Ez 2,8-3,3).

Auf den ersten Blick scheint Klaus Wengst das Essen des Brotes, das vom Himmel kommt, in ähnlicher Weise bildhaft zu verstehen. Auch ihm zufolge (W208f.)

nimmt Johannes vorher Gesagtes in knapper Form auf und wiederholt es in leichter Variation. An einer Stelle findet sich jedoch eine Fortführung, die zugleich zum nächsten Abschnitt überleitet, indem Johannes nun das Stichwort „essen“ aus dem in V. 31 zitierten Schriftzitat ins Spiel bringt, das er bei der ersten Gegenüberstellung mit dem Mannawunder nicht aufgenommen hatte…

Auf den bildhaften Sinn dieses Essens (W209) weist Wengst mit einem Zitat von Rudolf Schnackenburg <569> hin, demzufolge „das phageín {Essen} des Schriftzitats“ jetzt

„an der Stelle [steht], wo vorher vom Kommen zu Jesus bzw. vom Glauben an ihn die Rede war, [es] bedeutet also in bildhaftem Sinn die Kommunikation mit Jesus durch den Glauben“.

Später geht Wengst jedoch weit über diese Deutung hinaus (W210), indem er sie folgendermaßen kommentiert:

Das trifft sicherlich zu. Aber wenn vom „Essen“ und vom „Brot“ gesprochen wird, dann klingt unüberhörbar die eucharistische Dimension an. So geht es auch um Kommunikation durch Kommunion und damit liegt hier zugleich eine deutliche Überleitung zum nächsten Abschnitt vor.

Aber zunächst noch einmal zurück (W209) zu Wengsts Auslegung der Verse 47-50. Zur der in Vers 47 erscheinenden prägnanten Zusammenfassung wesentlicher Aussagen des Evangeliums: „Wer vertraut, hat ewiges Leben“, betont er, dass „damit kein Allerweltsvertrauen gemeint“ ist,

sondern das Vertrauen auf den biblisch bezeugten Gott, den Jesus repräsentiert, für den er einsteht. Die so vertrauen, haben „ewiges Leben“, leben wirklich und unverlierbar, weil sie sich auf den wirklichen Gott einlassen und von ihm gehalten und bewahrt werden – auch wenn noch so viele Phänomene dem augenscheinlich widersprechen.

Mit der Wiederholung seiner zentralen Aussage: „Ich bin das Brot des Lebens“ in Vers 48 steht Jesus „dafür ein, dass das Vertrauen auf Gott Lebensgewinn ist und nicht Enttäuschung und Verlust, verlorenes Leben.“ Noch einmal stellt Johannes Jesus „dem biblischen Mannawunder“ gegenüber, indem er in Vers 49 feststellt: „Eure Vorfahren haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben.“ Anders als Veerkamp und Thyen interpretiert er diese Aussage in dem Sinne, dass das Manna „lediglich der vorübergehenden Lebenserhaltung“ diente. Für ihn kann lediglich am Rande „[m]itschwingen…, dass diejenigen, die durch das Manna wunderbar ernährt wurden, doch nicht in das verheißene Land gekommen, sondern vorher in der Wüste gestorben sind.“ Weder „das Mannawunder“ noch die „vorher erzählte wunderbare Speisung“ haben „letztgültige Bedeutung“; letztere weist vielmehr „als Zeichen… auf das endzeitliche Ereignis hin…: Jesus selbst“.

Indem in Vers 50 Jesus nochmals mit dem Brot identifiziert wird, „das vom Himmel herabsteigt, dass man von ihm esse und nicht sterbe“, wird einerseits „die sozusagen himmlische Qualität dieser ‚Nahrung‘ im Unterschied zum Manna als letztlich doch – trotz des Wunders – ‚gewöhnlicher Nahrung‘“ herausgestellt. Bestand diese Qualität nach Vers 35 „im Aufhören von Hunger und Durst, so nun im Nicht-Sterben.“ Diese Verheißung (W210), die

am prägnantesten in 11,25 formuliert werden wird: „Die an mich glauben, werden leben, auch wenn sie sterben“, … ist ein Dennoch!; sie übersieht und überspringt nicht schwärmerisch den Tod, sondern wird gegen ihn ausgesprochen im Vertrauen auf Gott, der sich gerade in Jesu Kreuzestod als lebendig machender Gott erwiesen hat.

Indem nun ab Vers 50 „vom ‚Essen‘ des ‚Brotes, das vom Himmel herabsteigt‘, die Rede“ ist, leitet Johannes zu den Versen über, in denen Wengst zufolge „unüberhörbar die eucharistische Dimension“ anklingt.

Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang die Kritik, die Wengst (Anm. 342) gegenüber Jan Heilmann <570> vorbringt, der „das Vorliegen von Anklängen an die Eucharistie in Joh 6 und einen Bezug auf sie in 6,51-58 im Besonderen“ unter Berufung auf „die Ergebnisse … der neueren Mahlforschung“ bestreitet, die sich am „hellenistischen Gemeinschaftsmahl“ orientiert, „während das Abendmahl/die Eucharistie für das 1. Jahrhundert im Nebel verborgen erscheint“. Demgegenüber weist Wengst

nur auf Folgendes hin: Bereits Paulus zitiert in 1. Kor 11,23-25 eine ihm überlieferte Tradition über eine praktizierte und weiter zu praktizierende Mahlfeier, zurückgeführt auf das letzte Mahl Jesu mit seinen Schülern. In ihr werden „Brot“ und „der (mit Wein gefüllte) Becher“ soteriologisch gedeutet unter Bezug auf Jesus („mein Leib“) und seinen Tod („mein Blut“). Diese Mahlfeier hat dieselbe Erinnerungsstruktur wie das Mahl am Beginn des Pessachfestes: lebendige Vergegenwärtigung eines bestimmten als Erzählung überlieferten – Ereignisses. Das – und nicht ein gemeinantikes Gemeinschaftsmahl – ist der entscheidende Bezugspunkt für die Eucharistie/das Abendmahl. Diese Mahlfeier, in welch unterschiedlichen Formen auch immer, wurde in den auf Jesus bezogenen Gemeinden weiter praktiziert, wie die entsprechenden Texte in den synoptischen Evangelien zeigen. Wenn das Johannesevangelium als in Gemeinden zu gebrauchender Lesetext geschrieben wurde, wie sollten bei Anklängen an diese Praxis die Rezipienten nicht an sie gedacht haben?

Damit ist Wengst ganz gewiss Recht zu geben, obwohl die Kenntnis eucharistischer Rituale noch nicht bedeutet, dass sie von Johannes auch positiv aufgenommen und in seinem Umfeld praktiziert wurden. <571>

Recht gebe ich Wengst auch darin (W210), dass er die folgenden Verse 51-58 als „einen integralen Bestandteil des Evangeliums“ betrachtet und nicht als „die sekundäre Hinzufügung einer ‚kirchlichen Redaktion‘…, die der Brotrede gleichsam von hinten her eine eucharistische Deutung überstülpt“. Auf jeden Fall (W211) „ist dieser Schlussteil der Rede Jesu ganz eng mit ihren vorangehenden Ausführungen verzahnt“.

Was Wengst als „eucharistische Dimension“ bezeichnet, vollzieht sich bei Johannes so, dass er „von Jesus selbst redet, von dem ‚gezehrt‘ wird, von seinem ‚Fleisch‘ und ‚Blut‘“, ohne die Abendmahlselemente Brot und Wein ausdrücklich zu nennen:

Jesus ist das Brot des Lebens gerade als der, der in den Tod gegeben wird. Dass er diesen Weg gegangen ist und dass dies zugleich der Weg Gottes war – davon wird im Abendmahl „gezehrt“. Darum geht es in diesen Versen und nicht reden sie einem „massiven Sakramentalismus“ das Wort. So verstanden, stehen sie nicht im Kontrast zur vorangehenden Brotrede, sondern ziehen von dort die Linie passionstheologisch aus und geben dem Glauben an Jesus als Brot des Lebens im Abendmahl einen Ort, an dem er sich „nähren“ kann.

Auf der Linie der christlichen Johannes-Interpretation, die Wengst vertritt, ist das einleuchtend. Dagegen spricht, dass Johannes von der Einsetzung des Mahls eben nicht berichtet, so dass es auch sein kann, dass Johannes zwar auf das Ritual anspielt, aber doch eher zurückhaltend und kritisch, bis hin zu provokativer Polemik. Aber dazu später mehr.

Vers 51 lässt sich Wengst zufolge zu Beginn „als Zusammenfassung der ganzen bisherigen Brotrede lesen: ‚Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist. Wer von diesem Brot isst, wird leben für immer.‘“ Der Ausdruck „lebendiges Brot“ erinnert an Johannes 4.10, wo „von ‚lebendigem Wasser‘ die Rede war“. Im weiterführenden Satz: „Das Brot nun, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt“, beginnt der

bisher mitschwingende eucharistische Ton…, dominant zu werden. Damit zugleich aber tritt die mit der Eucharistie verbundene Passionsthematik in den Vordergrund. Jesus erscheint hier als Geber und Gabe in einem. Er ist das, indem er sich für andere hingibt.

Obwohl das „Geben“ des Brotes durch Jesus hier nicht ausdrücklich (W212) „mit dem Wort ‚für‘ verbunden“ ist, interpretiert Wengst ähnlich wie Thyen (Anm. 338) den „Textzusammenhang, der vom Geben des Brotes durch Jesus spricht, dieses Brot mit seinem Fleisch identifiziert und das dem Leben der Welt zugutegekommen sein lässt“, vor dem Hintergrund der „Tradition stellvertretender Sühne“, wobei Wengst allerdings anders als Thyen darauf verweist, dass diese Tradition „ja auch ganz unmittelbar mit der Eucharistie verbunden ist“ (W212):

Mit der Identifizierung des Brotes, das Jesus geben wird, als seines „Fleisches“ kann die Gabe des Brotes als seine Hingabe kenntlich gemacht werden. Indem auf Jesus bezogen vom „Fleisch“ gesprochen wird, klingt damit auch die Aussage des Prologs in 1,14 an: „Das Wort ward Fleisch“ – und dieses „Fleisch“ geht den Weg in den Tod. Das „Brot Gottes“, das „der Welt Leben gibt“ (V. 33), wird nun kenntlich als Hingabe Jesu „für das Leben der Welt“. Wieder scheint hier die die Völker einbeziehende Dimension auf, die schon mehrfach im Johannesevangelium begegnet ist.

Ob allerdings tatsächlich schon Johannes mit dem Bezug auf das Leben der Welt „die Völker“ als Zielgruppe seines Evangeliums ansprechen wollte, bleibt in meinen Augen nach wie vor fraglich.

In recht knapper Form geht Ton Veerkamp <572> auf die fünf Verse Johannes 47-41 ein, wieder auf der Basis einer konsequent befreiungstheologischen Herangehensweise. Nach der Klärung der Frage, dass eine Schulung durch die Schrift nicht am Messias Jesus vorbei angemessen vorgenommen werden kann,

nimmt Jeschua das Brotthema wieder auf. Jetzt folgt ein Staccato von Lehrsätzen. Der Vertrauende in Jeschua erhält das Weltzeitleben. Dieser ist das Brot des Lebens. Heißt: wenn das „ICH WERDE DASEIN“ noch gilt, dann nur als jenes Brot, das der Messias ist. Die Väter haben das Manna gegessen und sind gestorben. Nicht von ungefähr sind sie gestorben, sondern weil sie sich geweigert hatten, in das Land Freiheit zu gehen, Deuteronomium 2,14. Sie haben zwar gegessen, aber auf die Worte Gottes durch Mosche nicht gehört, deswegen sind sie gestorben. Der Messias ist das Brot, das vom Himmel herabsteigende; wie damals das Manna das Leben Israels sicherte, so sichert jetzt das Brot Messias das Leben Israels. Dieses Brot Messias ist das lebende, das vom Himmel herabsteigende Brot, welches das Leben bis in die kommende Weltzeit sichert.

Bis zu diesem Punkt klingt das alles nach einer Wiederholung von bisher bereits Gesagtem. Dann aber taucht plötzlich das Wort sarx, „Fleisch“, auf, das bisher nur in Johannes 1,13-14 und 3,6 insgesamt viermal in unterschiedlicher Bedeutung vorgekommen war. Indem er an das Wort erinnert, das Fleisch wurde, konkretisiert Jesus, was mit dem Brot vom Himmel gemeint ist:

Jetzt wird Jeschua konkret. Der Messias ist das Brot und als lebensnotwendiges Brot führt er die irdisch-politische Existenz des Messias Jeschua ben Joseph, dessen Eltern die Leute ja kennen. Er führt diese politische, gefährdete und verwundbare Existenz. Fleisch nennt Johannes das Leben der Menschen unter der Weltordnung. Kurzformel für die Existenz des Messias ist: „Fleisch für das Leben der Welt.“ Welt lebt nicht; Menschen leben, Menschen in der Welt, das heißt, Menschen, lebend unter den Bedingungen einer real herrschenden Weltordnung. Menschsein ist immer in-der-Welt-sein, unter-der-Weltordnung-sein. Die Existenz des Messias ist Fleisch, ist in-der-Welt-sein, unter-der-Weltordnung- sein, und zwar für-die-Welt-sein, damit ihre Ordnung eine Ordnung des Lebens sein kann. Messianische Existenz ist politische Existenz, sonst ist sie gar nichts.

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, aber ich habe ausgehend von diesen Gedanken über Jesu Fleisch für das Leben der Welt in einem Gottesdienst die Bibelstelle Johannes 6,51 im Zusammenhang mit den Bibelstellen 4. Mose 11, Psalm 104,20-22 und Galater 5,14-15 für die heutige Zeit auszulegen versucht. Wer nach „Fleisch“ giert (4. Mose 11), lebt unter dem Einfluss der pharaonisch oder römisch geprägten Weltordnung, die am Ende sogar den Messias tötet. Der Messias Jesus dagegen gibt sein Leben freiwillig hin und überwindet auf diese Weise das System von „Fressen und Gefressenwerden“.

Johannes 6,52-58: Das Fleisch des Menschensohns kauen, sein Blut trinken

6,52 Da stritten die Juden untereinander und sprachen:
Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?
6,53 Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wenn ihr nicht esst das Fleisch des Menschensohns und trinkt sein Blut,
so habt ihr kein Leben in euch.
6,54 Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben,
und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.
6,55 Denn mein Fleisch ist die wahre Speise,
und mein Blut ist der wahre Trank.
6,56 Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut,
der bleibt in mir und ich in ihm.
6,57 Wie mich gesandt hat der lebendige Vater
und ich lebe um des Vaters willen,
so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen.
6,58 Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist.
Es ist nicht wie bei den Vätern, die gegessen haben und gestorben sind.
Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.

[4. Juli 2022] Jesu Wort, dass er sein Fleisch für das Leben der Welt geben werde, ruft in Johannes 6,52 einen Streit unter den Ioudaioi, Juden bzw. Judäern, hervor. Klaus Wengst meint dazu wie Rudolf Schnackenburg, <573>

„Wenn sich in der hebräischen Bibel an das ,Murren‘ des Volkes in Ex 16 (Manna- und Wachtelspeisung) das ,Streiten‘ anschließt (Ex 17,2 – Wasser aus dem Felsen) und die gleichen Ausdrücke in Joh 6,41 und 52 aufeinanderfolgen, ist das sicher kein Zufall.“

Auch (Anm. 340) kommt „das ‚Streiten‘“ in „Num 20,3.13“ vor:

An den genannten Stellen wird das hebräische Wort für ‚streiten‘, was Schnackenburg ebenfalls vermerkt, in der Septuaginta zwar mit loidoreísthai wiedergegeben, an anderen Stellen aber auch mit máchesthaí, das in Joh 6,52 gebraucht ist.

Da auch hier die „Juden“ als Streitende genannt werden, hält es Wengst für „unwahrscheinlich, dass sich die folgenden Ausführungen gegen eine völlig andere Front, nämlich eine gnostisch-doketische, wenden, also dagegen, in Jesus einen vom Himmel gekommenen Erlöser zu sehen, der nur zum Schein menschliche Gestalt angenommen hätte. Stattdessen geht es in seinen Augen um eine Auseinandersetzung mit der zur Zeit des Johannes schon seit langem überlieferten Abendmahlstradition:

Wie das Zeugnis des Paulus in 1Kor 11,23 zeigt, ist schon ihm die Abendmahlsüberlieferung als Tradition überkommen. Diese Tradition und die ihr entsprechende Praxis müssen daher ganz früh in den Gemeinden vorausgesetzt werden. Es ist gut denkbar, dass sie bei Außenstehenden von vornherein Fehldeutungen ausgesetzt waren.

Der Einwand gegen Jesus wird so „wenig wie in V. 41“ als „eine echte Frage“ vorgebracht, sondern als „ein ‚Unmöglich!‘ konstatiert“:

„Wie kann der da uns sein Fleisch zu essen geben?“ … Was diese Frage formuliert, hat Jesus in dieser Weise vorher nicht gesagt, ist aber der Sache nach ein zutreffender Schluss – ein Schluss, der bei Außenstehenden, die im Tod Jesu nicht eine Quelle zum Leben zu sehen vermögen, Befremden hervorrufen muss.

Wengst betrachtet (W212f.) die „folgenden Ausführungen Jesu“ als eine Bemühen darum, dieses Befremden zu überwinden. Da aber „diejenigen, die das Befremden äußerten, nur zu Beginn angeredet“ werden, sind nicht sie als „die eigentlichen Adressaten“ angesprochen,

sondern diejenigen, die das Evangelium lesen und hören. Sie sollen gegenüber der von außen kommenden Infragestellung vergewissert werden. So liegt der Ton nicht auf dem Ausschluss ohnehin Außenstehender, sondern auf der Bestärkung derer, die „drin“ sind und „bleiben“ sollen.

Noch einmal (W213) leitet Jesus seine „Antwort mit dem doppelten Amen gewichtig ein“. Er beginnt mit einer Aussage, die nach Wengst „wesentlich vielschichtiger“ ist, „als in der Auslegung meist wahrgenommen wird“. Dabei ist der „Bezug auf die Eucharistie … nur eine Dimension“. Jesus formuliert aus „einer nicht erfüllten Voraussetzung … eine negative These: ‚Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr kein Leben in euch.‘“

Ignatius von Antiochia wird später gegen „doketisch denkende Christen, nach denen Jesus nur einen Scheinleib gehabt und also auch nur scheinbar gelitten hat“, diese Aussage ins Feld führen. In seinem Brief an die Gemeinde in Smyrna 7,1 schreibt er, „dass die Eucharistie das Fleisch unseres Retters Jesus Christus ist, das für unsere Sünden gelitten, das der Vater in seiner Güte aufgeweckt hat.“ Und aus seinem Brief an die Römer zitiert Wengst die Stelle 7,3 als Beleg dafür, dass Ignatius keinen „Sakramentalismus“ im Sinne einer magischen Wirksamkeit der Abendmahlselemente vertreten hat:

„Ich freue mich nicht an verderblicher Nahrung noch an den Freuden dieses Lebens. Brot Gottes will ich, das ist das Fleisch Jesu Christi, der aus dem Samen Davids kommt, und als Trank will ich sein Blut, das ist die unvergängliche Liebe.“ Ignatius deutet das Blut Jesu als „die unvergängliche Liebe“. Das zeigt, dass er nicht an eine platte Identifizierung des Kelchinhalts mit dem Blut Jesu denkt.

Weder Johannes noch Ignatius nehmen nach Wengst die „in der bei Paulus und den Synoptikern überlieferten Abendmahlstradition“ vorherrschenden Vorstellungen „vom ‚Leib‘ als einem Äquivalent für die Person und vom ‚vergossenen Blut‘ als einem Ausdruck für gewaltsamen Tod“ auf, sondern beschränken sich auf den „Begriff ‚Fleisch‘ oder die Korrelatbegriffe ‚Fleisch‘ und ‚Blut‘“, womit einerseits auf die Passion angespielt wird und andererseits „die in der jüdischen Tradition außerordentlich häufige Wendung ‚Fleisch und Blut‘ eingewirkt haben“ kann, „die den Menschen, vor allem in seinem Unterschied zu Gott, umschreibt (vgl. Mt 16,17)“.

Das „Essen des Fleisches und Trinken des Blutes“ bringt nun aber Wengst zufolge „auf dem Hintergrund biblischer Tradition eine weitere Bedeutungsdimension“ ein. So ist (W213f.) in Hesekiel 39,17-20

im eigentlichen Sinn vom Essen von Fleisch und Trinken von Blut die Rede. Dazu werden dort die Vögel und wilden Tiere aufgefordert; die vorgestellte Szenerie ist die eines Schlachtfeldes. Dieselbe Szenerie steht in Sach 9,13.15 im Hintergrund, aber dort zeigt sich schon der Übergang zu einem metaphorischen Verständnis. In V. 13 hatte es in Gottesrede geheißen: „Deine Kinder, Zion, stachle ich auf gegen deine, Griechenland.“ Und in V. 15 wird dann gesagt, dass Gott über den Kindern Zions Schirm ist, und fortgefahren: Sie essen Griechenlands Kinder, wie Schleudersteine zwingen sie sie nieder, trinken ihr Blut wie Wein und lärmen, sind voll davon wie die Opferschale, wie die Ecken des Altars.“

Wie auch (W214) in Jesaja 9,19 ist hier symbolisch vom Sieg und von dem, „was man von ihm hat“, die Rede. Auch in 4. Mose 23,24 „wird von Essen und Trinken metaphorisch gesprochen“:

Dort vergleicht Bileam Israel mit einem Löwen und führt dann aus: „Es wird sich nicht legen, bis es Gerissenes isst und das Blut Erschlagener trinkt.“ Gemeint ist damit, dass Israel von dem profitiert, von dem „zehrt“, was ihm von besiegten Völkern zukommt.

In 2. Samuel 23,13-17 und 1. Chronik 11,15-19 schließlich weigert sich David, das „Blut der Männer“ zu trinken, „die unter Einsatz ihres Lebens gegangen sind“, um ihm Wasser aus Bethlehem zu holen. Tatsächlich verzichtet er auf das Wasser; „‚Blut trinken‘ hat also hier die metaphorische Bedeutung, vom Lebensrisiko anderer zu profitieren“. Ähnlich sagt „Josephus in seiner Darstellung des Jüdischen Krieges“ (Bell. 5, 8. 2) über die in seinen Augen verblendeten Verteidiger Jerusalems

im Jahr 70, als die Lage noch nicht völlig desaströs war, sondern es noch Vorräte gab…: „Noch war es möglich, vom allgemeinen Unglück zu zehren (wörtlich: essen!) und das Blut der Stadt zu trinken“. Der Kontext zeigt, dass diese Wendungen metaphorisch verstanden sein wollen, dass nämlich die Kämpfenden von der Not und vor allem vom Tod der übrigen Bevölkerung profitieren.“

Wengst ist nun der Ansicht, dass von „diesen Stellen her … die zunächst so befremdlich erscheinende Redeweise vom Essen des Fleisches Jesu und dem Trinken seines Blutes verständlich“ wird (W214f.):

Es liegt keineswegs magischer Sakramentalismus vor. Wessen Fleisch gegessen und wessen Blut getrunken wird, dessen Tod ist vorausgesetzt und davon profitieren die Essenden und Trinkenden. Die an der Eucharistie, am Abendmahl, Teilnehmenden „zehren“ vom Tod Jesu, gewinnen von ihm her Leben. Von den vom Tode Jesu Zehrenden gilt damit, was nach 5,26 vom Vater und vom Sohn gilt, nämlich lebensmächtig zu sein. Es gilt deshalb, weil nicht von einem beliebigen Tod geredet wird, sondern von dem, mit dem Gott sich identifiziert und in dem er neuschöpferisch gehandelt hat. Das zeigt sich an dieser Stelle daran, dass Johannes von Fleisch und Blut „des Menschensohnes“ spricht und damit auf die Erhöhung und Verherrlichung Jesu am Kreuz anspielt.

Damit ist (W215) die „Aussage von V. 53 … Anrede an diejenigen, die es für unmöglich halten, aus dem Tod Jesu Leben zu gewinnen. Sie konstatiert negativ, dass sie nicht Leben haben, wenn sie sie nicht von diesem Tod zehren.“

Dazu denke ich, dass Wengst wohl zu Recht erwägt, die provozierende Formulierung vom Essen des Fleisches mit dem von ihm zitierten metaphorischen Sprachgebrauch in Verbindung zu bringen. Zu wenig ernst nimmt er allerdings, dass es in allen Belegstellen darum geht, in verwerflicher Weise vom Tod der Feinde oder der Not anderer zu profitieren. Ob Johannes eine solche Vorstellung so reibungslos auf den Empfang des Abendmahls hat übertragen wollen, der im Johannesevangelium nicht einmal ausdrücklich erwähnt wird, halte ich doch für fraglich.

Das im folgenden Vers 54 erstmals auftretende Wort trōgein als Alternative für das Essen des Fleisches Jesu „kann auch die Bedeutung ‚beißen‘, ‚kauen‘ haben“. Aber nach Wengst weist „im Johannesevangelium … nichts darauf hin, dass es anders verstanden ist als im schlichten Sinn von ‚essen‘.“ Daher versteht er den „Wechsel von phágomai zu trógo in Joh 6,49-57“ lediglich „als stilistische Variierung“. Ich denke jedoch, dass schon die Metapher vom Essen des Fleisches als solche provozierend genug ist, um erst recht wie zum Beispiel Adolf Schlatter <574> zu „meinen, das Wort trógein verschärfe ‚absichtlich den aufregenden, das Gefühl verletzenden Stachel des Worts‘. Wengst dagegen bleibt bei seiner Einschätzung:

Denen, die an der Eucharistie teilnehmen und damit vom Tode Jesu zehren, wird wirkliches Leben zugesagt. Und in der Tat: Die Feier des Abendmahls ist eine spezifische Form von „Lebenserfahrung“. Nicht verloren zu gehen, sondern wirklich zu leben, war vorher (V. 39f.) denen verheißen, die Jesus von Gott gegeben sind, die vertrauen. Das sind keine anderen als diejenigen, die die Eucharistie feiern. Sie sind damit nicht der Vorläufigkeit dieser Welt mit der Erfahrung des Todes enthoben. Sie feiern auch nicht ununterbrochen, so dass sich das Abendmahl auch als Wegzehrung und Unterpfand erweist. So folgt wie dort nun auch hier die Verheißung endgültigen „Stehens“ und „Bestehens“: „Und ich werde sie aufstehen lassen am letzten Tag.“

Von einem „magisch wirkenden Sakramentalismus“ kann Wengst zufolge in Vers 54 nicht die Rede sein. Aber dass „ein eucharistischer Bezug in diesem Text“ vorliegt, ist für ihn nicht zu bestreiten, obwohl Thyen, wie oben erwähnt, „das Essen und Trinken im Sinne der von Ezechiel ‚einzuverleibenden‘ Buchrolle (Ez 2,8-3,3) als Verinnerlichung des von Jesus gesprochenen Wortes“ und „den gesamten Zusammenhang der Rede Jesu als ‚intertextuelles Spiel‘ mit Jes 55,1-3.10-11“ versteht:

Demgegenüber liegt ein Bezug auf die angeführten biblischen Texte und die Josephusstelle, die vom „Essen von Fleisch“ und „Trinken von Blut“ sprechen, ungleich näher. Sie zeigen zugleich, dass es biblisch und jüdisch alles andere als unmöglich ist, trotz des strikten Verbots von Blutgenuss metaphorisch vom „Trinken von Blut“ zu reden.

Dass Jesus in Vers 55 (W216) „Speise und Trank“ seines Fleisches und Blutes „als ‚wahr‘ charakterisiert“, bringt nach Wengst „eine Lebenserhaltung in den Blick, die über die Fristung des natürlichen Lebens hinausgeht“. Und in der Formulierung (Vers 56): „Welche mein Fleisch verzehren und mein Blut trinken, bleiben bei mir und ich bei ihnen“, macht die wechselseitige „Redeweise: ‚sie bei mir und ich bei ihnen‘“ deutlich, dass „es hier nicht um ‚Einverleibung‘ von ‚Unsterblichkeitsmedizin‘ geht“:

Jesus, der in den Tod geht, ist damit nicht „weg“, sondern „bleibt“. Er bleibt, bei denen, die ihrerseits dabei bleiben, dass aus seinem Tod Leben erwächst, und die das in der Feier des Abendmahls erfahren.

In Vers 57 wird diese Verheißung „an Gott zurück“ gebunden, und die „beiden Wendungen ‚mein Fleisch verzehren‘ und ‚mein Blut trinken‘ werden jetzt in der einen Formulierung aufgenommen: ‚mich verzehren‘.“ Das bedeutet nach Barrett: <575> „Dies stützt die These, daß ,Fleisch und Blut‘ die ganze Person Jesu bezeichnen.“

Davon kann gezehrt werden, weil der Weg Jesu in den Tod nicht willkürlich erfolgte und auch nicht einem blinden Schicksal unterworfen, sondern „Sendung“ von Gott war. Der wird hier betont als „der lebendige Vater“ bezeichnet, von dem allein her Jesus Leben hat, dessen Tod in diesem Abschnitt ständig im Blick ist. Er vermittelt denen Leben, die sich auf den in ihm präsenten Gott einlassen – die ihm im Leben und im Sterben vertrauen und deshalb nicht zuletzt auch das Abendmahl feiern.

Mit Vers 58: „Hier ist das Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist – nicht wie die Vorfahren gegessen haben und gestorben sind: Wer dieses Brot verzehrt, wird leben für immer“, beendet Jesus seine Rede, indem er sie durch die Variation einer „Aussage vom Anfang des Abschnitts“ einrahmt und zugleich „auf die wesentliche Aussage der Brotrede“ zurückgreift, „sodass sie einen betonten Schlusspunkt bildet.“

In den Augen von Wengst kann also der Abschluss von Jesu Lebensbrotrede in den Versen 51 bis 58 problemlos im Sinne einer johanneischen Aufnahme und Deutung der christlichen Abendmahlspraxis verstanden werden.

Von Hartwig Thyen (T365) wissen wir schon, dass er die in Vers 51 vollzogene „ldentifikation des ‚Brotes‘, das Jesus ‚geben wird‘…, mit ‚seinem Fleisch‘ … nicht auf die wiederholte Feier der Eucharistie und deren ,Mahlelemente‘ Brot und Wein, sondern auf Jesu einmaliges Sterben am Kreuz von Golgatha zum Heil der Welt“ bezogen hat. Insofern beruht ihm zufolge der Streit der Juden in Vers 52 über die Frage: „Wie kann der uns denn sein Fleisch zu essen geben?“ auch auf einem „der vielen und für unser Evangelium typischen ,Mißverständnisse‘ der Ioudaioi. Denn zu einem derartigen Akt von Kannibalismus hatte Jesus sie mit V. 51 ja keineswegs aufgefordert.“ Nochmals betont er die metaphorische Bedeutung dieses Verses (T365f.):

Das ,Brot‘, das Jesus als der fleischgewordene logos selbst ist, zu „essen“ heißt also, sich ihn ganz und gar ,einzuverleiben‘, an ihn, der mit dem Vater Eines ist, zu glauben und ihn ,von ganzem Herzen und mit allen Kräften der Seele‘ zu lieben“ (vgl. Dtn 6,5). So hatte schon das Deuteronomium den biblischen Mannaregen als Kundgabe dessen gedeutet, daß der Mensch nicht vom Brot allein, sondern vielmehr von allem lebt, das aus dem Munde Gottes hervorgeht (Dtn 8,3). Und Jeremia hatte erklärt: „Dein Wort ward meine Speise, da ichs empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und mein Trost“ (Jer 15,16).

Außerdem verweist er dazu auf Psalm 119,103 und Amos 8,11, vor allem aber auf Jesaja 55,1-3 u. 10-11.

In den Versen 53-55 scheint Jesus „auf den ‚Streit‘ der Juden und auf ihre absurde Unterstellung, er wolle ihnen buchstäblich sein Fleisch zu essen geben“, durch seine „drastische Redeweise“ den Eindruck zu erwecken,

als hätten die Juden Jesus gar nicht mißverstanden, und als wolle er ihnen tatsächlich und buchstäblich sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken geben. Aber dieser Anschein ist ein trügerischer Schein. Denn die in unserer Passage geradezu rhapsodisch wiederholte Forderung, „das Fleisch des Menschensohnes (oder ,mein Fleisch‘) zu essen und sein Blut (oder ,mein Blut‘) zu trinken“, offenbart gerade die Absurdität jenes wörtlichen Verständnisses.

Absurd ist dieses wörtliche Verständnis Thyen zufolge deswegen, weil Johannes „Jesus durchgehend als einen gerechten und toratreuen Juden“ darstellt:

Darum gibt es auch nicht den geringsten Grund dafür, daß der jetzt völlig unvermittelt nicht mehr metaphorisch vom ,Essen des Fleisches und Trinken des Blutes des Menschensohnes‘ als Ausdruck des Glaubens reden, sondern ausgerechnet von seinen jüdischen Antagonisten fordern sollte, ganz buchstäblich sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken. Kein denkbarer Jude könnte das je anders als metaphorisch verstehen. Denn wie schon der bloße Gedanke einer Anthropophagie {Menschenfresserei} für die gesamte zivilisierte Welt des Hellenismus einschließlich des Judentums ein unvorstellbarer Greuel ist, so ist zumal für die Juden jegliche Art von Blutgenuß eine unvergebbare Sünde vor Gott (vgl. Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26; Jub 6,12ff; Act 15,20.29; 21,25…). Zu solchem Frevel wird kein Jude einen anderen jemals auffordern.

Damit blendet Thyen allerdings aus oder es ist ihm nicht bewusst, dass es im hellenistischen Umfeld des Johannesevangelium durchaus religiöse Praktiken gab, sich durch den rituellen Verzehr eines Tieres die Kräfte eines in diesem Tier leibhaftig anwesenden Gottes, etwa des Dionysos, einzuverleiben (vgl. dazu meine Anm. 571). Insofern ist es vorstellbar, dass die Juden entsetzt eine Aufforderung Jesu in diesem Sinne von sich weisen. Warum Jesus durch eine bewusste Anspielung auf solche abstoßenden Rituale die Provokation seiner jüdischen Gegner auf die Spitze treiben sollte, müsste dann aber noch genauer geklärt werden.

Thyen sieht die „Unmöglichkeit eines wörtlichen Verständnisses“ als den

Grund dafür, daß zahlreiche Ausleger von V 51 an das ,Essen‘ und ,Trinken‘ nicht mehr als metaphorische Rede für die Verinnerlichung durch den Glauben begreifen, sondern die Rede vom Essen und Trinken von jetzt an vielmehr wörtlich nehmen, um nun umgekehrt gerade ,Fleisch‘ und ,Blut‘ zu Allegoremen für die eucharistischen Mahlelemente ,Brot‘ und ,Wein‘ zu erklären. Dazu sehen sie sich legitimiert durch das schon lange beobachtete Spiel mit eucharistischer Metaphorik, das unsere Passage offenkundig prägt.

Das wäre aber, so Thyen, „auf der Bühne der erzählten Welt angesichts des bis hierher erreichten Standes der Erzählung“ in plumper Weise anachronistisch (T368):

Solche Verbindungen zur Feier der Eucharistie mag allenfalls der damit vertraute implizite (christliche!) Leser assoziieren… Aber … eine Rede Jesu über die Eucharistie und ihre Heilsbedeutung [würde] in unserem sechsten Kapitel ja nicht nur am falschen Ort und zur Unzeit, sondern vor allem vor einem falschen Auditorium laut…

Thyen argumentiert hier allerdings nicht ganz konsequent, denn auch er geht ja davon aus, dass der Evangelist als „Kenner der synoptischen Evangelien und der urchristlichen Tradition … natürlich ebenso gut wie seine Leser“ weiß, „daß Jesus das Herrenmahl ‚in der Nacht, da er verraten ward‘, im engsten Kreis der Zwölf eingesetzt und es dann durch sein Sterben am Kreuz in Kraft gesetzt hat.“ Und so, wie er in Johannes 13 „fraglos ein absichtsvolles Spiel mit der synoptischen Abendmahlsszene“ wahrnimmt, so „könnte man auch in Joh 6,51-58 ein derartiges Spiel entdecken, so daß gerade dadurch in Joh 13 der Platz für die Fußwaschungsszene frei geworden wäre.“ Dazu ergänzt Thyen ein Zitat des Reformators Johannes Calvin: <576>

Ohne das so zu benennen hat Calvin diese Art von lntertextualität im Blick, wenn er zu V. 54 erklärt: „Und es wäre gewiß töricht und zur Unzeit geschehen, jetzt schon vom Abendmahl zu sprechen, das er noch gar nicht eingesetzt hatte. Deshalb spricht er hier sicher von der dauernden ,Speise des Glaubens‘. Zugleich aber gebe ich zu, daß alles Gesagte für die Gläubigen tatsächlich auch auf das Abendmahl vorausdeutet und zutrifft: Christus wollte das heilige Mahl gleichsam als Besiegelung dieser Lehre. Deshalb wird bei Johannes das Abendmahl nicht erwähnt“.

Thyen beharrt aber darauf, dass „die weithin üblich gewordene und gewissermaßen zur Alleinherrschaft gelangte eucharistische Interpretation unserer Passage“ nicht in den Vordergrund gerückt werden darf. Schon das Geben des Fleisches in Vers 51 brachte „den Tod Jesu zur Sprache“, insgesamt sind die Verse 51-58 „sachlich eher eine Analogie zu den Leidensweissagungen der Synoptiker“ als zur Einsetzung des Abendmahls, so dass Schlatter <577> in Thyens Augen zu Vers 53 mit Recht sagt (T369):

„Weil er der Menschensohn ist, hat er Fleisch, und deshalb ist Sterben die Weise, wie er zum Geber des Lebens wird. … Damit war der Blick der Galiläer auf seinen Tod gerichtet; Blut kann man nur trinken, nachdem es ausgeschüttet ist. … Diese Formeln, die zunächst den die völlige Vernichtung verlangenden Willen beschreiben, werden aber von Jesus in eine Verheißung verwandelt. Daß der Wille, der ihn vernichten will, geschieht, ist das Heil der Welt“. Und das von ganzem Herzen zu glauben, das heißt hier in der kühnen Metapher: sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken.

Damit folgt Thyen den „meisten der älteren griechischen und lateinischen Väter“ und den „meisten Reformatoren“, die „Joh 6 ohne jegliche Beziehung auf die Eucharistie als christologische Rede und das ,Essen des Fleisches‘ und ,Trinken des Blutes‘ dementsprechend als Metaphern für die Aneignung des gekreuzigten Jesus durch den Glauben verstanden“ haben. Dagegen erscheint ihm „der Gedanke, Johannes habe Jesus im galiläischen Kapharnaum ein jüdisches Auditorium über die Feier der christlichen Eucharistie, über deren Heilsnotwendigkeit und Leben verleihende Wirkung ‚belehren lassen‘ (didaskōn: 6,59), geradezu absurd“. Damit begreift Thyen (T369f.) „die gesamte Lebensbrotrede (6,26-59) innerhalb der erzählten Welt des Evangeliums als metaphorische Rede über die ,manducatio perpetua fidei‘ {beständige Einverleibung des Glaubens} (Calvin)“ (T370):

Während die V 26-50 das erzählte Auditorium dazu aufrufen, an den zu glauben, den Gott als Lebensbrot vom Himmel gesandt hat, steigern die V. 51-59 das Paradox und machen deutlich, daß es mit dem bloßen Glauben an seine Sendung nicht getan ist, sondern daß es gilt, sich den „einzuverleiben“, der ,sein Fleisch hingegeben und sein Blut vergossen hat für das Leben der Welt“, damit so aller Hunger ein für alle Mal gestillt und aller Durst auf ewig gelöscht werde (6,35). Das zur Sprache zu bringen, ist der jenseits des lexikalisch Erfaßten liegende, im biblischen Sprechen aber gleichwohl bereits erprobte metaphorische Gebrauch der Lexeme phagein bzw. trōgein und pinein {essen bzw. kauen und trinken} wohl am vorzüglichsten geeignet.

Nochmals bestätigt Thyen allerdings, dass er „eine Beziehung zum Sakrament der Eucharistie“ in unserer Passage nicht völlig ausschließt. Angemessen bestimmt in seinen Augen Karl Barth <578> die „Art ihrer Beziehung zum Sakrament der Kirche“:

„Also kein Bericht über die Einsetzung des Abendmahls und überhaupt keine Lehre vom Abendmahl soll hier geboten werden, sondern ein Äquivalent für beides, eine Darstellung des Gottesmysteriums, der ,manducatio perpetua fidei“ (Calvin), d. h. des Essens und Trinkens, der Speisung, von der der Glaube lebt, sofern er überhaupt lebt: der Ernährung durch den dahingegebenen Christus, durch die Kreuzigung seines Fleisches, durch das Vergießen seines Blutes (wir sahen ja, daß dies die von V. 51 an sichtbare Spitze des Satzes ,Ich bin das Brot des Lebens ist‘)“.

Zu Vers 56 macht Thyen darauf aufmerksam (T371), dass hier „als die Konsequenz“ des „,Essens und Trinkens von Fleisch und Blut Jesu als des Menschensohnes‘ nun erstmals die spezifisch johanneische, fast formelhafte Rede von der wechselseitigen und bleibenden lmmanenz des Glaubenden in Jesus und Jesu im Glaubenden“ erscheint. Da „diese reziproke Immanenzformel, die uns in 14,20; 15,4-7; 17,23.26 sowie 1Joh 3,6.24 wieder begegnen wird…, hier exakt an die Stelle der Wendung: echei zōēn aiōnion, von V 54 getreten ist, sind das ,wechselseitige In-Sein‘ und das ,Haben des ewigen Lebens‘ nahezu synonym.“ Sie mag „an die Praxis der Eucharistie erinnern“, hat jedoch

ihren Grund vielmehr in der wechselseitigen lmmanenz des Vaters im Sohn und des Sohnes im Vater (10,38; 14,10f; 17,21). Und wenn Jesus im folgenden V. 57 erklärt: kathōs apesteilen me ho zōn patēr kagō zō dia ton patera, kai ho trōgōn me kakeinos zēsei di‘ eme {Wie mich gesandt hat der lebendige Vater und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen}, so heißt das im Licht der eben genannten Passagen, daß er dem ho trōgōn me {der mich isst} nichts Geringeres als die Partizipation an seinem „Einssein“ mit dem Vater verheißt. <579>

Die Verwendung des Wortes trogein in Johannes 6,54.56.57.58 dient Thyen zufolge (T372) „schwerlich dazu, den Realismus des Essens als ‚Kauen mit den Zähnen‘ zu akzentuieren, und erst recht ist darin keine antidoketistische Intention zu erkennen“, worin er mit Wengst einig ist. Wie Wengst geht er davon aus, dass „im zeitgenössischen Griechisch trōgō als Präsens des Aorist ephagon {ich aß} das klassische esthiō {ich esse} längst ersetzt“ hat. Einig ist Thyen mit Wengst auch darin (T373), dass Vers 58 „das von der ,Menge‘ ins Spiel gebrachte Mannathema (6,30ff) wieder“ aufnimmt und „damit die Kohärenz der gesamten Lebensbrotrede Jesu nachdrücklich“ markiert.

Bevor ich Thyens Auslegung verlasse, möchte ich aber doch noch erwähnen (T372), wie er sich auf Hugo Odeberg <580> bezieht, der unter „einem ganz anderen Gesichtspunkt … gewichtige Einwände gegen die primär eucharistische Auslegung von Joh 6 oder Teile des Kapitels“ erhebt. Er zitiert ihn folgendermaßen:

„Der Übergang zur Vorstellung des Verzehrs von Fleisch und Blut des Menschensohnes ist ganz natürlich. Da der Menschensohn das himmlische Brot ist, muss er selbst wirklich ‚gegessen‘ werden – wohlgemerkt: in der Welt des Geistes –, d. h. er muss in den spirituellen Organismus des Gläubigen eintreten und mit ihm assimiliert werden; es entspricht ganz der starken realistischen Betonung der Rede von der Geburt aus der Höhe, wenn dieses Essen des spirituellen Brotes realistisch als Essen des Fleisches und Trinken des Blutes des Menschensohnes ausgedrückt wird, d. h. um nachdrücklich zu zeigen, dass der Erwerb des himmlischen Brotes, der ‚unvergänglichen Speise‘, keine bloße Allegorie war. Aber bei diesem Verständnis des Sinns der Rede ist es offensichtlich, dass sich kein Teil der Rede – und schon gar nicht die ganze Rede – primär auf das Sakrament der Eucharistie beziehen kann. In der Tat, wer die Worte vom Essen und Trinken des Fleisches und Blutes so versteht, dass sie sich auf das Brot und den Wein der Eucharistie beziehen, vertritt genau die verfehlte Auffassung, zu deren Vertretern Nikodemus in Kap. 3 und die ‚Juden‘ hier gemacht werden, nämlich dass Johannes‘ realistische Ausdrucksweise sich auf Gegenstände der irdischen Welt statt auf Gegenstände der himmlischen Welt beziehen“.

Bezeichnend für Thyen erscheint mir hier, dass er Odebergs „Unterscheidung einer ‚irdischen‘ von einer ‚himmlischen Welt‘“ als „hilfreich und notwendig“ aufgreift, wenn er auch betont, dass „gegen das Gefälle seiner Auslegung … diese Unterscheidung nicht zu einer Trennung dieser beiden ,Welten‘ voneinander und zu einer totalen Dualisierung unseres Evangeliums führen“ darf:

Immer gilt es, im Auge zu behalten, daß Johannes den logos als denjenigen preist, ohne den auch nicht ein einziges Ding der geschaffenen Welt geworden ist (1,1ff), und daß Gott seinen ,einzigen Sohn‘ gesandt hat, daß der kosmos (!) durch ihn gerettet werde (3,17)…

Diesen Gedankengang lässt er Edwin Clement Hoskyns <581> weiter ausführen (T372f.):

„Die Bedeutung, die der Evangelist in diesem Kapitel dem Werk des Mose, der Geschichte, die der konkreten Existenz der galiläischen Volksmenge zugrunde liegt, dem Brot und den Fischen, die ihnen gereicht wurden, den Taten Jesu ebenso wie seinen Worten, seinem Tod und dem Fleisch und Blut, nicht des Sohnes Gottes, sondern des Menschensohnes (V. 53); sein allgemeines Beharren im Prolog seines Evangeliums auf der Erschaffung der Welt durch das Wort Gottes (1,3) … und auf dem Fleisch Jesu als Grund und Anlass und Ort der christlichen, apostolischen Erkenntnis der Wahrheit und der Herrlichkeit Gottes (1,14) – all dies, und noch viel mehr, macht es ganz unmöglich anzunehmen, daß er am Schluß der Rede alles, was er gesagt hat, geleugnet haben soll und in einen fast unhaltbaren ultimativen Dualismus und in einen ganz unerträglichen Pessimismus in bezug auf die Welt, in der die Menschen leben und sich bewegen und ihr Sein haben, zurückgefallen ist.“ Zugleich gilt aber: „Die sichtbare Welt, einschließlich des Fleisches des Menschensohnes Jesus, einschließlich auch seiner hörbaren Worte, ist belanglos und unwichtig, wenn sie als an und für sich bestehend betrachtet wird und wenn ihr Ziel und Zweck durch das erreicht wird, was sie aus sich selbst macht oder machen soll (6,18f. 30f)“.

Ich habe diese beiden Zitate in voller Länge übernommen, wie Thyen sie anführt, um nochmals herauszustellen, dass Thyen zwar keinen gnostischen Dualismus vertritt, aber dennoch in einer Weise zwischen der irdischen und der himmlischen Welt unterscheidet, die in meinen Augen mit der Sichtweise des jüdischen Messianisten Johannes nicht vereinbar ist.

Nach Ton Veerkamp <582> geht es im Essen des Fleisches des Messias Jesus ganz gewiss nicht um die spirituelle Aufnahme des Menschensohnes in der Welt des Geistes. Ihm zufolge muss man Jesus, wie Johannes ihn darstellt, allerdings vorwerfen, dass er sich recht wenig Mühe gibt, seinen Gesprächspartnern wirklich verständlich zu machen, was er meint:

Einige kommen hier nicht mehr mit, andere sind unschlüssig, sind zerstritten (emachonto): „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?“ Johannes hätte hier eine Chance, zu erklären, was „Fleisch essen“ heißen könnte.

Johannes setzt nicht nur unverdrossen fort, was er bisher gesagt hat, sondern er setzt noch einen darauf: Fleisch des Menschen, mein Fleisch, essen, ja, sein Blut, mein Blut, trinken. Was heißt hier essen (phagein)? Kauen (trōgein) sollt ihr sein Fleisch! Sein Blut trinken, dann kommt ihr lebend in die kommende Weltzeit: „Ich werde ihn auferstehen lassen am Entscheidungstag“, das vierte Mal. „Das ist erst Nahrung“, sagt Jeschua, das ist erst wirklich Essen und Trinken, das hält am Leben, nur das.

Ausdrücklich wendet sich Veerkamp hier gegen Wengst, der es als eine „stilistische Variierung“ betracht, dass „hier ‚kauen‘ statt ‚essen‘ steht“:

Johannes steht hier nicht der Sinn nach Stilübungen. Hier macht unser Text eine folgenschwere Wende. Jetzt will er die Provokation. Wer so redet, will keine Verständigung. Er will Trennung, Schisma. Das ist die Sprache der Sekte.

Veerkamp scheint aber nicht unbedingt auszuschließen, dass Johannes hintergründig auf das ihm bekannten Abendmahlsritual anspielt. Vielleicht kritisiert er eine Ritualisierung, die aus der Nachfolge des Messias Jesus die ständig verfügbare Einverleibung seiner heilvollen Kräfte macht:

Wir sind durch unsere Abendmahlsgottesdienste so abgestumpft, dass wir die Provokation erst gar nicht mehr spüren. Jeschua redet nicht von der Oblate oder von einem Becher Traubensaft, mit oder ohne Alkohol. Die Provokation ist wirklich beabsichtigt. Fleisch darf man in Israel essen, aber: „Fleisch, das in seiner Seele sein Blut hat, dürft ihr auf keinen Fall essen“, Genesis 9,4. Dieses sogenannte noachitische Verbot wird immer wieder eingeschärft: das Blut darf man nicht essen, man muss es wegfließen lassen, bevor man das Fleisch isst; es muss koscher sein. Menschenfleisch kauen und zugleich sein Blut trinken ist für jedes Kind Israels eine widerliche Übertretung des fundamentalen Gebots, das auf der unbedingten Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben basiert, Genesis 9,5f. Deswegen erklärt die Tora Blut zu einem unbedingten Tabu.

Auf dieses Gebot hatte auch Thyen Bezug genommen. Der aber hatte gemeint, genau deswegen hätte Jesus seine Worte nur metaphorisch meinen können. Konnte Thyen aber annehmen, dass Jesus von seinen Mitjuden auch so verstanden worden wäre? Genau das scheint wiederum Wengst anzunehmen, indem er an die metaphorische Redeweise vom Fleischessen und Bluttrinken besiegter oder getöteter Feinde in der jüdischen Tradition erinnert. Aber auch das würde nur Sinn machen, wenn die Gesprächspartner Jesu bereits etwas vom Abendmahl wüssten und in der Lage wären, dessen Genuss in dieser Weise symbolisch zu deuten. Wenn Johannes tatsächlich darauf anspielt, bleibt jedenfalls die unerträgliche Provokation bestehen, dass Jesus hier von seiner bevorstehenden Zerfleischung am Kreuz der Römer spricht, zu der sich die ihm Zuhörenden positiv verhalten sollen:

Sicher meint Johannes mit diesem Ausdruck Fleisch essen eine vollständige Identifikation mit der politischen Existenz Jeschuas, unbedingte Nachfolge auf dem Weg des Messias: „Wer mein Fleisch kaut, mein Blut trinkt, bleibt mir verbunden, und ich ihm.“ Aber indem er diesen Gedanken für die Judäer so abstoßend formuliert, will er offenbar gar nicht, dass sie einen Zugang zu diesem Messias finden. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes skandalös, und Johannes weiß es, V.61! Folgerichtig landet die Gruppe um Johannes in einem abgeschlossenen Raum, „Türen verschlossen aus Angst vor den Judäern“, 20,19.26.

Was will der johanneische Jesus sagen, indem er dermaßen provozierend redet, dass fast alle seine Nachfolger sich von ihm abwenden werden?

Jeschua, der vom VATER Gesandte, lebt nur „durch den VATER“. Das heißt: er arbeitet nicht nur für die Sache des Gottes Israels, er ist vielmehr die Sache selber, das, und nur das, ist sein Leben. Und wer den Messias kaut, der lebt durch den Messias, denn er wird selber zur Sache Gottes, zur Sache des Messias. Er kann nichts anderes mehr tun.

Johannes fasst zusammen: „Der ist das Brot, das vom Himmel herunterkommende, nicht wie damals die Väter: sie aßen und starben. Wer dieses Brot kaut, lebt bis in die kommende Weltzeit.“

In dieser Hinsicht argumentiert Veerkamp bis zu einem gewissen Grad ähnlich wie Thyen, demzufolge (T365f.) Jesus symbolisch „zu ‚essen‘ heißt…, sich ihn ganz und gar ,einzuverleiben‘, an ihn, der mit dem Vater Eines ist, zu glauben und ihn ,von ganzem Herzen und mit allen Kräften der Seele‘ zu lieben“. Dabei bleibt natürlich der große Unterschied zwischen beiden bestehen, dass Veerkamp von der kommenden Weltzeit auf der Erde unter dem Himmel spricht, während Thyen das ewige Leben letztlich in der himmlischen Welt verortet.

Im Gegensatz sowohl zu Thyen als auch zu Wengst kommt hinzu, dass Veerkamp die Aussagen des johanneischen Jesus als dermaßen provokativ und unerträglich für seine Zuhörerschaft empfindet, dass er ihnen gegenüber nicht mit Kritik spart:

So „erhaben“ diese Theologie für manche auch sein mag, sie wirkt spalterisch und ist deswegen kritikwürdig. Die provokative, spalterische Lehre, die Jeschua in der Synagoge von Kapernaum vortrug, und das war wohl auch die Lehre, die Johannes in der Synagoge seiner Stadt vortrug, spaltet seine Zuhörenden, sie spaltet die messianische Bewegung. Jedenfalls markiert dieser Satz eine Zäsur. Bis zu diesem Punkt im Text versammelte sich die messianische Gemeinde. Ab diesem Augenblick beginnt der Zerfall der Gemeinde. Das ist eine Tragödie für den, dessen politisches Programm die Sammlung Israels in einer Synagoge war (11,52).

Angesichts dieser Einschätzung wirkt die Auslegung von Wengst wie eine Verharmlosung der Konfliktlage, die sich im Lauf der Rede Jesu immer mehr zuspitzte. Mag es auch sein, dass die Juden Jesus missverstehen, wichtig scheint nur zu sein (W215), dass die sich in der Gemeinde Jesu versammelnden Menschen aus der Völkerwelt im Abendmahl „wirkliches Leben“ gewinnen, indem sie „vom Tode Jesu zehren“.

Gegenüber einer solchen von Klaus Wengst und vielen anderen Exegeten vertretenen „klerikal-sakramentalen Deutung der Brotrede, vor allem 6,52-58“ äußert Ton Veerkamp in einem der Auslegung von Kapitel 6 hinzugefügten Exkurs <583> grundsätzliche Kritik, obwohl er nicht bestreitet, dass Johannes die Abendmahlspraxis anderer messianischer Gemeinden kannte:

Wie Johannes nicht ausdrücklich gegen die Taufpraxis der messianischen Gruppen polemisiert, so polemisiert er nicht offen gegen die Praxis, durch Brot und Wein des Messias zu gedenken „bis er kommt“. Aber er kommt ohne sie aus. Wir können höchstens vermuten, dass Johannes die Gefahr spürt, aus dieser Praxis könne religiöser Hokuspokus entstehen. Wenn „Sakrament“, dann bei ihm höchstens die Fußwaschung – das Sakrament der Solidarität.

Damit konnten und können die Kirchen nicht viel anfangen, weil die klerikale Sakramentenverwaltung, mit der die Reformation mitnichten aufgeräumt, sondern die sie durch eine Verwaltungsreform bestätigt hatte, Existenzberechtigung aller kirchlichen Ordnungen bleibt und nicht, wie das synoptische Abendmahl, Zeichen eines befreiten, messianischen Lebens ist. Der Vatikan hatte nach dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1966) dem Ritual der Fußwaschung eine gewisse gesamtkirchliche Weihe verliehen; das Ganze ist aber nicht mehr als religiöse Folklore, wie das Abendmahl eine Art religiöse Magie war – und ist. <584> Die Rede vom „Brot des Lebens“ ist die Rede von einer unbedingten messianischen Disziplin und nicht von einer rituellen Handlung.

Johannes 6,59: Jesus hatte in synagogaler Versammlung in Kapernaum gelehrt

6,59 Das sagte er in der Synagoge, als er in Kapernaum lehrte.

[5. Juni 2022] Zur nachträglichen Bemerkung in Johannes 6,59, dass die „Deutung des Zeichens“ der Speisung der 5000 durch Jesus „in der Synagoge von Kapernaum“ geschieht, hatte Ton Veerkamp <585> bereits im Zusammenhang mit dem in 6,3 und 15 erwähnten Berg betont, dass diese Rede „nicht weniger programmatisch ist als die ‚Bergpredigt‘ bei Matthäus“. Als Ort dieser Rede setzt er selbstverständlich das Gebäude einer Synagoge in Kapernaum voraus.

Dasselbe ist auch bei Klaus Wengst der Fall (W217), der die „szenische Bemerkung“ in Vers 58 „als Abschluss der Brotrede“ liest, auf die „hier ausdrücklich zurückgeblickt“ wird:

Johannes bereitete sie so vor, dass er als Ort der Handlung Kafarnaum angab, ohne eine nähere Eingrenzung vorzunehmen. Wenn er jetzt im Nachhinein die Ortsangabe präzisiert und die Synagoge nennt, lässt sich das auch als Vorbereitung der neuen Szene verstehen.

Aus der Nennung der Synagoge darf aber Wengst zufolge nicht der Schluss gezogen werden (Anm. 347), „dass als Zeit der Sabbat anzunehmen sei …, was den weiteren Schluss zuließe, Johannes kümmere der dann vorausgesetzte Sabbatbruch nicht“:

Im Text findet sich kein Hinweis auf den Sabbat. Auf ihn aus der Erwähnung der Synagoge zu folgern, ist ein Analogieschluss christlicher Autoren, nach deren Erfahrung Kirchen in der Regel nur sonntags eine Funktion haben.

Hartwig Thyen (T358) fragt anders als Wengst und Veerkamp „nach der Bedeutung des hier – ebenso wie in dem darauf zurückblickenden V. 18,20 – artikellos und im Singular gebrauchten en synagōgē“. Er lehnt es aber ab, Johannes 6,59 als eine eingeschobene redaktionelle Anmerkung zu betrachten, nur weil „der Vers höchst überraschend eine Erzählung, die nach 6,25 doch sehr viel einleuchtender als ein Geschehen am Seeufer zu lesen wäre, gleich doppelt lokalisiert, nämlich einmal durch en synagōgē {wörtlich: in Synagoge} und zum andern durch en Kapharnaoum {in Kapernaum}“. Dadurch fühlt sich Thyen zu der Frage herausgefordert (T359),

ob ,Synagoge‘ hier überhaupt die – unserem Gebrauch des Lexems ,Kirche‘ entsprechende – abgeleitete Bezeichnung eines Gebäudes und nicht vielmehr im Sinne des primären Gebrauchs von synagōgē der Name der öffentlichen Versammlung der Juden ist. Die könnte dann aber ja sehr wohl auch am Seeufer von Kapharnaum stattgefunden haben, zumal ein Synagogen-Gebäude dem Ansturm der etwa Zehntausend, die Jesus zuvor gesättigt hatte, ja wohl kaum gewachsen gewesen wäre und zugleich das von unserem Autor stets sorgfältig beachtete Verisimile {vgl. meine Anm. 128} seiner Erzählung gestört hätte.

Für diese Annahme spricht außerdem nicht nur, dass im „biblischen Prätext“ der „Manna-Erählung … die Septuaginta sowohl in den V. 1.2.9.10.22 von Ex 16 als auch in Num 14,1.2.5.7.10.27.35 und 36 die dort beschriebene ,Versammlung ganz Israels‘ (HT {hebräischer Text}: ˁadah) stets mit synagōgē wiedergibt“, sondern auch,

daß wir aus dem Palästina der Zeit des herodianischen Tempels keinerlei verläßliches archäologisches oder inschriftliches Zeugnis über spezifische Gebäude, die eigens zum Zweck gottesdienstlicher Versammlungen (synagōgē) der Juden errichtet worden wären, besitzen.

Nach Thyen ist daher (T359f.) „der Umstand, daß Johannes – abgesehen von 6,59 und dem darauf zurückweisenden V. 18,20 – in signifikantem Unterschied zu den Synoptikern von Jesu Auftreten in ‚Synagogen‘ schweigt, schon des öfteren als Zeichen seiner größeren ‚historischen Zuverlässigkeit‘ gedeutet worden.“ Aber es mag auch gefragt werden (T360),

ob nicht auch die Synoptiker, wenn sie von ,Synagogen‘ reden, eher die örtlichen Versammlungen der Juden, in welchen Häusern diese auch immer stattgefunden haben mögen, als speziell für diese Zusammenkünfte errichtete Gebäude im Blick haben könnten.

Die „seit den Tagen der frühen Reisen christlicher Pilger ins ,Heilige Land‘ hochberühmt[e]“ Synagoge von Kapernaum wurde jedenfalls „erst im vierten Jahrhundert errichtet“, wie Ausgrabungen gezeigt haben.

Johannes 6,60-62: Die böse Rede Jesu als Stolperstein für seine Schüler und das Aufsteigen des Menschensohnes

6,60 Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen:
Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?
6,61 Da Jesus aber bei sich selbst merkte, dass seine Jünger darüber murrten,
sprach er zu ihnen: Nehmt ihr daran Anstoß?
6,62 Wie, wenn ihr nun sehen werdet
den Menschensohn auffahren dahin, wo er zuvor war?

Im letzten Teil des Kapitels 6 geht es (W217) um eine doppelte Konsequenz, die sich aus der Rede Jesu ergibt, nämlich „Rückzug und Bekenntnis“. Beides spielt sich nach Wengst nicht in der Versammlung der „bisherigen Gesprächspartner Jesu“ ab, die „zunächst als ‚die vielen Leute‘ vorgestellt und bei der Verschärfung der Auseinandersetzung als ‚die Juden‘ bezeichnet“ wurden, sondern in der „Gruppe der Schüler“ Jesu: „In ihr kommt es zur Scheidung“:

Die hier von ihm erzählte Scheidung unter der Schülerschaft Jesu ist transparent für Erfahrungen zu seiner Zeit, als seine Gruppe von der synagogalen Gemeinschaft mehr und mehr isoliert wird, wobei „viele“ aus dieser Gruppe sich wieder von ihr abwenden und den Weg „zurück“ finden.

Ob mit diesen Schülern aber tatsächlich, wie Wengst meint, der engere Schülerkreis gemeint ist, der „schon am Beginn des Kapitels in der Speisungsgeschichte und der Erzählung von der Begegnung mit Jesus auf dem See“ erwähnt worden war, wird genauer zu prüfen sein.

Die negative Reaktion vieler seiner Schüler „auf das vorangehende Reden Jesu, das zusammenfassend als ‚Lehren‘ bezeichnet wurde“, bezieht sich auf „die Person Jesu selbst“, nämlich (W218) auf „die Frage, als wer Jesus zu verstehen ist“. Wenn sie in Vers 60 ho logos houtos, „dieses Wort“, als sklēros, „hart“, bezeichnen, dann meinen sie nach Wengst (Anm. 349) einerseits „das gesamte vorangehende Reden Jesu“, auf der anderen Seite bezieht sich das „Reden Jesu … auf ihn selbst. Er ist ‚das Wort‘, in dem Gott neuschöpferisch spricht, wie er am Anfang schöpferisch gesprochen hat“. Dieses Reden, dieses Wort (W218), gilt ihnen „als befremdlich und anstößig, ja geradezu als unerträglich: ‚Wer kann es hören?‘“

Indem in Vers 61 „Jesus sich von der Reaktion seiner Schüler nicht überrascht zeigt“, wiederholt sich das „Motiv, dass Jesus schon im Vorhinein Bescheid weiß“, von Vers 6, das „noch öfter vorkommen“ wird:

Es drückt aus, dass er nicht einem blinden Schicksal unterliegt, sondern selbst der Souverän in diesem Geschehen ist. Sein Wissen bezieht sich hier darauf, „dass darüber seine Schüler murrten“. Sie tun damit dasselbe wie „die Juden“ im vorigen Abschnitt. Damit gelangen sie in der Frontstellung, die zur Zeit des Evangelisten zwischen seiner Gruppe und der jüdischen Mehrheit besteht, schon hier auf die andere Seite, bevor sie diesen Schritt auch äußerlich vollziehen.

Die Frage Jesu an „die murrenden Schüler: ‚Das lässt euch Anstoß nehmen?‘“ fasst Wengst zufolge

sein vorangehendes Reden zusammen: das Herabsteigen des Lebensbrotes vom Himmel, das er selbst ist, bis hin zur Konkretion in der Eucharistie. Das lässt „Anstoß nehmen“, „straucheln“. Es ist so „anstößig“, dass es „zu Fall“ bringt.

Hier fasst Wengst nochmals seine Interpretation der Rede Jesu zusammen, die genau genommen tatsächlich darauf hinausläuft, dass der jüdische Messias Jesus jüdische Ansprechpartner davon hätte überzeugen wollen, dass sie ewiges, unverlierbares Leben nur dann bekommen können, wenn sie am christlichen Abendmahl teilnehmen. Nur wenn man aus dem Kontext der erzählten Situation herausgeht und den Konflikt in die gemeindliche Situation zur Zeit des Johannes verlegt, ist es denkbar, dass das christliche Abendmahl zum Stein des Anstoßes wird, der Juden dazu bringt, sich entsetzt von den Anhängern Jesu abzuwenden – allerdings auch nur dann, wenn die johanneische Gruppierung das Ritual überhaupt praktizierte.

Der folgende Vers 62 zeigt, dass Jesu „Frage … den besonderen Akzent“ hat: „Schon das lässt euch Anstoß nehmen?“ Denn nun fährt Jesus im Sinne einer Steigerung, wie Wengst meint, fort:

„Wie erst, wenn ihr den Menschensohn hinaufsteigen seht, wo er vorher war?“ Dem „Hinaufsteigen“ hier entspricht das zuvor erwähnte „Herabsteigen“. Schon daran wird Anstoß genommen, weil Jesus doch niemand anders ist als „der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen“ (V. 42). Von dieser Entsprechung her ist deutlich: Dieses „Hinaufsteigen“ wird den Anstoß auf die Spitze treiben. Wenn es als der Punkt gilt, der Anstoß provoziert, dann ist klar, dass es hier nicht um einen offenbaren Aufstieg in Herrlichkeit gehen kann. Was die Schüler Jesu vielmehr sehen werden, ist die Kreuzigung Jesu. Dass aber gerade hier Gott auf den Plan tritt, bringt die Redeweise vom Aufstieg des Menschensohnes dahin, wo er vorher war, zum Ausdruck.

Nach Hartwig Thyen (T373) reden in Vers 60 nun auch viele der Jünger Jesu, „die seine ,Lehre‘ gehört hatten, … nicht offen mit und zu ihm, sondern hinter vorgehaltener Hand über ihn: Sie sind sich einig, daß seine eben beendete Rede unzumutbar ist“, und benutzen das „im NT mit nur fünf Vorkommen seltene Adjektiv sklēros (,hart‘)“, um diese Unzumutbarkeit auszudrücken. Diesen „unausgesprochenen Vorwurf seiner Jünger“ bezeichnet der Erzähler „wie zuvor das Verhalten der Ioudaioi, nämlich als ihr gongyzein {Murren} (V. 61; vgl. V. 41)“.

Worin besteht Thyen zufolge der Anstoß oder wörtlich der Skandal, den Jesus bei diesen Jüngern mit seiner Rede hervorruft? Indem er sie ausdrücklich fragt (T373f.):

touto hymas skandalizei? {Das ist euch ein Ärgernis?} wird erkennbar, daß er in der Tat um ihren Unglauben weiß (V. 64), weil sie seinem lebendigmachenden logos {Wort} (V. 63) unterstellen, was doch als sklērokardia {Herzenshärte} allein ihre eigenen verhärteten Herzen betrifft… „Skandal“ ist diesen ,Jüngern‘ nicht, wie zuvor den ,Juden‘, Jesu Behauptung seiner himmlischen Herkunft, sondern – paulinisch gesagt – das skandalon tou staurou {Ärgernis des Kreuzes}. „Unerhört“ in der ganzen Zweideutigkeit dieses Wortes (tis dynatai autou akouein? {Wer kann das hören?}) ist ihnen Jesu Rede von der Lebens- und Heilsnotwendigkeit seines gewaltsamen Todes, von der Hingabe seines Fleisches und vom Vergießen seines Blutes für das Leben der Welt (6,51ff).

Indem auch Thyen hier in Kurzform nochmals seine Auslegung der Rede Jesu wiederholt, wird mir allerdings bei ihm genau wie bei Wengst fraglich, wie jüdische Zuhörer Jesu allein aus den Worten über das Essen des Fleisches und das Trinken des Blutes hätten entnehmen sollen, dass es für ihr ewiges Heil notwendig ist, an die Erlösung durch Jesu Tod am Kreuz zu glauben. Auch bleibt offen, wer oder was denn die Verhärtung ihrer Herzen hervorgerufen hat. Thyen kann darin offenbar nur einen Ausdruck ihres Unglaubens sehen, den er ihnen zum Vorwurf macht.

In Vers 62 soll der Anstoß, den die Jünger nehmen, nach Thyen (T374) nicht etwa noch gesteigert werden, wie es Wengst annimmt. Vielmehr erscheint der Satz, der als „ein unvollständiges Konditionalgefüge“ zu betrachten ist, bei dem zwar eine Bedingung, aber kein Folgesatz genannt wird, in Thyens Augen „eher als eine Verheißung, denn als eine Drohung“.

Anders als Wengst bezweifelt Thyen erstens, dass „man das ‚erste Ärgernis‘ der Jünger so umstandslos mit demjenigen der Ioudaioi identifizieren darf, deren gongysmos {Murren} seinen Grund ja in Jesu Anspruch hatte, das vom Himmel herabgekommene Lebensbrot zu sein“. Dagegen spricht ihm zufolge, „daß von der Hingabe seines Fleisches für das Leben der Welt, und das heißt doch von seinem gewaltsamen Tod durch sein hypsōthēnai {Erhöhtwerden} an das Kreuz ja schon zuvor in der vermeintlich primär eucharistischen Passage die Rede war“, und genau darin erblickt Thyen das erste Ärgernis der Jünger.

Zweitens fragt sich Thyen, „ob man Jesu anabainein {Aufsteigen} als das vermeintliche ‚größere Ärgernis‘ tatsächlich als nahezu synonym mit seinem (passiven!) hypsō­thēnai {Erhöhtwerden} an das Kreuz begreifen darf“. Denn „das Kreuz“ lässt sich „ja schwerlich als das Ziel des Aufstiegs und als der Ort begreifen, hopou ēn (sc. ho hyios tou anthrōpou) to proteron {wo er, nämlich der Sohn des Menschen, vorher war}.

Und zum dritten endlich spricht das Wort des auferstandenen Jesus an Maria Magdalena: „Halte mich nicht fest, denn noch bin ich nicht aufgefahren zum Vater (oupō gar anabebēka pros ton patera) …“ (20,17f), gegen diese Deutung.

Aus diesen Gründen neigt Thyen der Auffassung derjenigen Exegeten zu (T375), die in Vers 62 „nicht die Ankündigung eines größeren Argernisses“, sondern vielmehr der „Himmelfahrt“ Jesu sehen. So sieht etwa Lightfoot <586> seine Pointe in der

Erinnerung der Jünger daran, daß der Tod des Menschensohnes nicht das letzte Wort in dieser Sache sein könne: „Gewiss, er bedeutet für ihn und für sie ‚den Skandal des Kreuzes‘; aber er ist auch der Weg seiner Erhöhung, seiner Rückkehr in die Herrlichkeit des Vaters und seines daraus resultierenden Werkes, das nur durch das Kreuz möglich wurde, in und für sie durch die lebenspendende Gegenwart des Heiligen Geistes“.

Nach Ton Veerkamp <587> muss das Wort sklēros in Vers 60 von der Schrift her begriffen werden. Er übersetzt es nicht einfach mit „hart“, sondern mit „böse“, und bezieht sich dabei auf eine Geschichte aus dem 1. Buch Mose:

Sklēros bedeutet nicht „schwer zu verstehen“. Es bedeutet eher „unzumut­bar“. Wir finden das Wort in der griechischen Fassung von Genesis 21,11. Sara hatte von Abraham verlangt, er sollte seinen Sohn Ismael mit seiner Mutter in die Wüste schicken. Der Erzähler kommentiert: wa-jeraˁ ha davar meˀod be-ˁene ˀavraham, griechisch sklēron de ephanē to rhēma sphodra enantion Abraam: „Das Wort (Saras) sollte in Abrahams Augen Böses bewirken.“ Aber dann sagt Gott, dass es bezüglich der Mutter (Hagar) und ihres Sohnes (Ismael) „nichts Böses bewirken wird“ (ˀal-jeraˁ, griechisch mē sklēron). Genauso wird die Rede Jesu, scheinbar böse, in Wahrheit doch nichts Böses bewirken.

So lautet eine Anmerkung Veerkamps zu seiner Übersetzung von Johannes 6,60 aus dem Jahr 2015. In seiner Johannes-Auslegung neun Jahre zuvor hatte er den Akzent noch nicht darauf gelegt, dass Jesu Wort bei klarer Schriftkenntnis als nur scheinbar „böse“ erkennbar wäre:

Viele Schüler hörten sich das an und reagierten wie Abraham, als Sara von ihm verlangte, er solle die Sklavin und ihren Sohn vertreiben: „Böse (sklēros) war die Rede, sehr, in Abrahams Augen“, Genesis 21,11. Das griechische Wort sklēros wird oft gebraucht für das hebräische chasaq, wenn von einem „verstockten Herzen“ (wajechaseq lev parˁo, Exodus 7,22) die Rede ist. Pharaos Herz war sklēros. Was Jeschua da alles gesagt hatte, sei böse und verbohrt, realitätsblind, fanatisch. Das ist nicht schwierig, keine schwierige Theologie, nein, das ist für „viele Schüler“ Jeschuas fanatisches Sektierergeschwätz!

Was genau empfinden die Schüler Jesu als eine so „böse Provokation“? Nach Veerkamp ist das einerseits wie bei den zuvor erwähnten Gesprächspartnern Jesu der „Ausdruck Fleisch essen, Blut trinken“, aber in seinen Augen ist das

nicht die Hauptsache. Jeschua weiß genau, was sich abspielt. Er stellt diese Schüler in die Gesellschaft der murrenden Judäer. Er weiß, dass sie die Rede nicht nur als skandalös in unserem Sinne des Wortes, sondern als Stolperstein (mikhschol) oder eine Falle (moqesch) empfinden, als höchst schädlich für die messianische Sache. Diese Worte stehen hinter dem griechischen Wort skandalon.

Auch hier ergänzt Veerkamp in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung von 2015 seine Erläuterungen zur Bedeutung dieser griechischen und hebräischen Wörter:

Skandalizein bedeutet nicht, dass die Leute sich ärgern, sondern dass Jeschua ein Stolperstein (hebräisch mikhschol) oder eine Falle (hebräisch moqesch) für Israel ist. Die Septuaginta übersetzt beide Worte mit skandalon. Das zugehörige Verb skandalizein bedeutet: „in die Falle falscher Götter gehen“ oder „in seinem Lebensgang über den falschen Gott stolpern“.

Worauf Veerkamp mit diesen Erklärungen und Anspielungen hinaus will, ist mir nicht ganz deutlich geworden. Ich selbst kann mir vorstellen, dass für die Schüler Jesu, die hier im Begriff stehen, sich von ihm abzuwenden, seine anstößige Redeweise vom Kauen seines Fleisches und vom Trinken seines Blutes in einer gefährlichen Nähe zu heidnisch-dionysischen Einverleibungsritualen göttlicher Kräfte steht. Hebt Jesus hier völlig ab, will er sich zum Erlöser-Gott eines Mysterienkultes machen?

Vers 62 interpretiert Veerkamp in der Richtung von Wengst:

Wenn sie aber, sagt Johannes, diese Rede als Skandal und als politischen Stolperstein empfinden, was wäre erst, wenn sie beobachten, dass der MENSCH aufsteigt? Der Stolperstein ist gerade die Art, in der der Aufstieg stattfinden wird: die Kreuzigung.

Diese Auslegung macht dann Sinn, wenn mit den vielen Schülern, die jetzt über Jesus murren, möglicherweise wieder diejenigen Teile der Volksmenge gemeint sind, die Jesus in 6,15 zum König machen wollten. Also nicht mehr rabbinisch denkende Juden, die Jesu messianische Ansprüchen grundsätzlich in Frage stellen, sondern zelotisch denkende Messianisten, die wohl mit einem militanten Messias Jesus in den Kampf gegen Rom und seine judäischen Kollaborateure ziehen würden, aber einen Messias, der sich am römischen Kreuz zerfleischen lässt, für einen absoluten Skandal halten.

Johannes 6,63: Das Fleisch im Gegenüber zum lebendigmachenden Geist

6,63 Der Geist ist‘s, der da lebendig macht;
das Fleisch ist nichts nütze.
Die Worte, die ich zu euch geredet habe,
die sind Geist und sind Leben.

[6. Juli 2022] Nachdem Jesus Klaus Wengst zufolge (W218) durch die Anspielung auf seine Kreuzigung seine Provokation „auf die Spitze“ getrieben hat, sind seine folgenden Sätze in Vers 63 „als Gegenbildung zur Charakterisierung des Redens Jesu als ‚hartes Wort‘ durch die Anstoß nehmenden Schüler“ zu begreifen:

Dann liegt der Ton auf dem zweiten Teil des Verses: Jesu Worte sind keine „harte Rede“, sondern im Gegenteil „Geisteskraft und Leben“: Sie erschließen die Wirklichkeit Gottes; sie eröffnen Leben und geben es.

Damit werden (W219) „Jesu Worte … hier analog den Worten Gottes, den Worten der Tora in der jüdischen Tradition verstanden“, allerdings nicht „in Antithese“ zu ihr.

Aber als „Geisteskraft und Leben“ kann „das Fleisch“, der Mensch mit den ihm eigenen Möglichkeiten, Jesu Worte nicht hören. Er vermag sie immer nur als „harte Rede” aufzufassen, die unerträglich ist. Die Worte Jesu als „Geisteskraft und Leben“ kann nur die Geisteskraft selbst erschließen, die Geisteskraft, die lebendig macht – die Tote lebendig macht.

In diesem Zusammenhang verweist Wengst auf die jüdische Tradition, <588> nach der „Gottes Geisteskraft in der kommenden Weltzeit lebendig“ macht:

„Der Heilige, gesegnet er, sagte zu Israel: ,In dieser Weltzeit war meine Geisteskraft euch als Weisheit gegeben, aber in der kommenden Zeit macht meine Geisteskraft euch lebendig. Denn es ist gesagt (Ez 37,14): Ich werde euch meine Geisteskraft geben und ihr werdet leben.“

Damit bestätigt sich für Wengst, dass Johannes auch hier

im Bewusstsein des schon abgeschlossenen Werkes Jesu schreibt, aus dem die Gabe endzeitlicher Geisteskraft resultiert, die jetzt schon „Tote“ in der 5,24 beschriebenen Weise lebendig macht. Jesu Worte können beim „Fleisch“ nicht auf Hörwilligkeit und Verständnisbereitschaft rechnen; dort werden sie als „harte Rede“ beurteilt. Jesu Worte müssen sich als Gottes Wort ihre Hörerschaft erst selbst schaffen – und sie schaffen sie. Das besagt die Rede von der Geisteskraft, die lebendig macht.

Während Wengst Jesu Aussage über das Fleisch ohne große Probleme in seine Auslegung einbaut, scheint sie für Hartwig Thyen (T376) „allem Vorausgehenden zu widersprechen“:

Galt nämlich bis hin zu V. 62 gerade das ,Fleisch Jesu‘, d. h. sein freiwillig in den Tod hingegebenes ,Menschsein‘, als das wahre ,Lebensbrot‘, das allen, die es ,essen‘, d.h. denen, die diesen Worten glauben, ewiges Leben verleiht, so wird nun von eben diesem Fleisch gesagt, es sei völlig nutzlos, lebendig mache vielmehr allein der Geist.

Unter den zahllosen Versuchen, „diesen Widerspruch aus der Welt zu schaffen“, setzen die meisten voraus, „das Lexem sarx in V. 63 eine andere Bedeutung habe als in den vorausgegangenen V. 51-58.“ So hat ja auch Wengst das Fleisch in diesem Vers nicht auf Jesu Hingabe seines Fleisches, sondern auf das Fleisch im Sinne der allgemein-menschlichen Möglichkeiten bezogen. Thyen jedoch hält es für „schwer vorstellbar“, dass das Wort Fleisch, wenn es „in den Versen 6,51-58 gleich sechsfach zur Bezeichnung des für das Leben der Welt in den Tod gegebenen ‚Fleisches des Menschensohns‘ bzw. ‚Jesu‘“ verwendet wird, „in V. 63 … nun plötzlich etwas gänzlich anderes bezeichnen sollte“. So argumentiert auch Eduard Schweizer, <589> der ursprünglich wie Bultmann die Verse 6,51-58 für eine spätere Hinzufügung zum Evangelium gehalten hatte, aber „diese Position später revidiert hatte“:

„Bei dem seltenen Vorkommen von sarx in Joh“ hielte Schweizer es zu Recht für „seltsam“, wenn das Wort in 6,63 „schon ohne Zshg mit den später zugefügten v 51-58 gestanden hätte“. Der Vers müsse vielmehr besagen: „Wer die sarx Jesu, das heißt sein sichtbares Äußeres betrachtet, dem hilft das nichts. Erst die Verkündigung Jesu, der sich selbst als Sohn des Vaters verkündet, ist pneuma und zōē {Geist und Leben} … Der Vers wird dann geradezu warnen vor einem Sakramentalismus, der die im Abendmahl genossene sarx als ,,Unsterblichkeitsmedizin“ mißversteht … Ißt der Glaubende dort (sc. in der Eucharistie) die sarx Jesu, dann wird ihm gesagt, daß nichts weniger als das Kommen des Gottessohns in die sarx nötig war zu seinem Heil. Zugleich bekennt er damit, daß er sich dies gefallen läßt und aus diesem Geschenk leben will“.

Insofern setzt Vers 63 nach Thyen die Tendenz von Vers 62 fort, der (T377f.)

die Jünger nicht mit einem noch größeren Ärgernis bedrohte, sondern ihnen im Gegenteil verhieß, daß sich kraft ihrer glaubenden Wahrnehmung der Auffahrt des Menschensohnes dahin, wo er zuvor war, das Ärgernis des Kreuzes zur lebendigmachenden Kraft Gottes wandeln werde (vgl. 1Kor 1,23f)…

Denn „die Voranstellung des Satzes: to pneuma estin ho zōopoioun {der Geist ist es, der lebendig macht}, in V. 63“ zeigt,

daß wir hier eine Verheißung vor Augen haben. Sie zeigt, daß der gesamte Prozeß, in dem Jesus sich den Menschen darbietet und von ihnen glaubend akzeptiert wird, auf dem Wirken des Geistes beruht. Aber dieser Geist ist den Glaubenden noch nicht gegeben und kann ihnen vor der Verherrlichung Jesu durch die freiwillige Hingabe seines Fleisches und seines vergossenen Blutes für das Leben der Welt auch noch nicht zuteil werden (vgl. 7,39; 14,16; 16,7… Wohl wirkt der Geist auch bis dahin schon kraft der Worte und der Gegenwart Jesu bei ihnen, aber eben noch nicht durch seine Einwohnung in ihnen.

Mit Cadman <590> versteht Thyen daher „die Intention des folgenden Satzes: hē sarx ouk ōphelei ouden {das Fleisch nützt gar nichts}“, in dem Sinne,

„dass für die uneinsichtigen Juden (V. 52) und für die schockierten Jünger (V. 60), die nicht auf die Wirkung des Geistes in den Worten Jesu reagieren, die nicht vom Vater zu ihm hingezogen werden, wie sie sich eben gezeigt haben, selbst seine physische Existenz nicht das lebensspendende Wunder ist, das sie sein sollte“.

Darum will Thyen auch „die Wendung: ta rhēmata ha egō lelalēka hymin pneuma estin kai zōē estin {Die Worte, die ich geredet habe, die sind Geist und Leben}“, „mit den konkreten Worten“ in Verbindung bringen, „die soeben in Joh 6 und zumal in der Passage 6,51-58 laut geworden sind.“

Ton Veerkamp <591> geht kritisch auf die übliche Interpretation von Vers 63a ein:

Die klassische Übersetzung: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft nichts“, suggeriert einen Gegensatz zwischen „Geist“ und „Fleisch“, den es weder bei Johannes noch in der Schrift gibt. Wenn der Messias will, dass die, die ihm vertrauen, „sein Fleisch kauen“ sollen, kann Fleisch hier nicht auf einmal eine negative Bedeutung haben.

Damit scheint Veerkamp der Interpretation von Thyen näher zu stehen, aber er geht dann doch ganz eigene Wege. Nachdem Jesus seine Schüler damit konfrontiert hat, dass sie in seiner Nachfolge keinen messianisch-triumphalen Siegeszug vor sich haben, sondern dass Jesu Sieg über die Weltordnung sich paradoxerweise dadurch vollziehen soll, dass sein Fleisch von dem Römern gekreuzigt wird, spielt Jesus auf eine ihnen wohlbekannte Stelle aus den Propheten an:

Jeschua erinnert sie an Ezechiel 37,5f.:

So sagt mein Herr, der NAME, zu den dürren Gebeinen:
„Da, Ich bin es, der die Inspiration kommen lässt: Ihr lebt!
Und ich gebe euch Muskeln,
ich überziehe euch mit Fleisch,
ich spanne über euch Haut,
ich gebe in euch Inspiration: Ihr lebt,
ihr erkennt: Ich bin es, der NAME!“

Die beiden Zeilen über die belebende Inspiration umrahmen die Zeilen über die Muskeln, das Fleisch, die Haut. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, der Glieder, es ist der Hauch Gottes, „der Hauch des Lebens, der die Menschheit zu einer lebenden Seele macht“, Genesis 2,7. Diese Inspiration ist das Prinzip; Fleisch, Muskeln, Haut leben erst durch die Inspiration, „das Fleisch kann nichts dazu beitragen“. …

Das Fleisch ist ein Teil, vielleicht auch die Summe der Teile, erst die Inspiration ist das Ganze. Ohne die Teile gibt es kein Ganzes, ohne das Ganze sind die Teile eben keine Teile, ohne die lnspiration verwest das Fleisch, aber ohne das Fleisch ist die Inspiration eine Luftnummer.

Damit ermahnt uns Veerkamp, dass wir weder das menschliche Fleisch in seiner Verwundbarkeit und Vergänglichkeit als solches gering achten noch Jesu von ihm hingegebenes Fleisch letzten Endes doch zugunsten jenseitsweltlicher Geistesgaben für letzten Endes unwesentlich halten. Ohne die befreiende und Recht schaffende Inspiration des Gottes Israels muss jedes Fleisch den Todesmächten dieser Welt zum Opfer fallen, muss selbst der Messias Jesus als die Verkörperung dieses NAMENS am römischen Kreuz sterben. Dennoch ist sein inspirierender Geist, den Jesus in seinem Tode (Johannes 19,30 und 20,22) seinen Schülern übergeben wird, mächtig genug, um ihnen neues Leben einzuhauchen, um todgeweihtes Fleisch und sogar ermordete Opfer sinnloser Kriege und gewaltsamer Unterdrückung zum Leben zu erwecken.

In diesem Sinne sind nach Veerkamp Jesu Worte als Geist und Leben zu verstehen:

„Die gesprochenen Worte – rhēmata –, die ich geredet habe, sind Inspiration und Leben.“ Die vollkommene Identifikation mit den devarim, den Reden und Taten des Messias, kauen und trinken, ist das einzige, was das Leben inspirieren kann.

Johannes 6,64-66: Jesus weiß, wer ihm nicht vertraut und von ihm weggeht

6,64 Aber es sind etliche unter euch, die glauben nicht.
Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten,
und wer ihn verraten würde.
6,65 Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt:
Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben.
6,66 Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab
und gingen hinfort nicht mehr mit ihm.

Jesus hatte seine Worte ausgesprochen, um bei den ihm Zuhörenden Vertrauen zu erwecken; nun spricht er in Vers 64 diejenigen an, die ihm nicht vertrauen. Erneut fügt nach Klaus Wengst (W219) „Johannes eine Zwischenbemerkung ein, die wiederum das Motiv des Wissens Jesu aufnimmt“. Indem er „von Anfang an“ sogar weiß, wer „ihn ausliefern würde“, lässt der Evangelist Jesus „bewusst den Weg in die Passion gehen“.

Im folgenden Vers 65 stellt Wengst einen Rückbezug auf „das Thema des Exkurses von V. 36-46“ fest, indem Jesus „im Blick auf diejenigen, die nicht vertrauen, sagt: ‚Deswegen habe ich euch gesagt, dass nur zu mir kommen kann, welchen es vom Vater gegeben ist‘“ (W219f.):

Von hier aus wird nun deutlich, dass diese Reflexion auf dem konkreten Hintergrund der Situation der Gemeinde erfolgt und dem Umgang mit der Erfahrung dient, dass viele sie verließen. Mit dieser Erfahrung geht Johannes nicht so um, dass er das Verlassen als Manifestation einer Verwerfung durch Gott interpretiert. Im positiven Fall, dem Glauben, argumentiert er von Gott her: Er „gibt“, er „zieht“ sogar – anders kann es Glauben gar nicht geben. Im Fall des Unglaubens formuliert er vom Menschen her: Er vertraut nicht. Beide Blickrichtungen gehören zusammen: Der Glaube ist nicht Werk des Menschen, sondern Gottes Tat und Gabe – und doch ist der Mensch verantwortlich. Er kann sein mangelndes oder fehlendes Vertrauen nicht auf ein verweigerndes Handeln Gottes abschieben. Er, der Mensch ist es, der Vertrauen verweigert.

Die Schüler (W220), deren fehlendes Vertrauen Jesus feststellt, gehen nach Vers 66 „[d]ar­aufhin“ nicht nur von ihm weg, sondern ausdrücklich „[z]urück“:

Die Schüler Jesu geben die Gemeinschaft mit ihm, die Nachfolge, auf und kehren zurück. Auf der Zeitebene des Evangelisten erhält das seinen präzisen Sinn, wenn man es als Verlassen seiner Gruppe und Rückwendung zur jüdischen Mehrheit versteht.

Während Wengst annimmt (Anm. 351), dass in den von ihm mit „Daraufhin“ übersetzten Worten ek toutou deren doppelte Bedeutung der Angabe des Grundes („deshalb“) und des Zeitpunkts („von da an“) zusammenklingt, sind diese nach Hartwig Thyen (T378) nur zeitlich zu verstehen, weil das „eindeutig temporale ouketi (,fortan nicht mehr‘) des Nachsatzes“ dazu nötigt und weil (T379) „nach dem vorangegangenen Urteil der Vielen über die ,unerhörte Härte‘ von Jesu logos (V. 60) … ihr Weggehen u.E. keiner weiteren Begründung“ bedarf, „seine einfache Konstatierung genügt nun.“ In Thyens Augen (T378) bildet der Vers 66

die Brücke zwischen dem fruchtlosen Un-Dialog Jesu mit den „Vielen seiner Jünger“, die nun frustriert weggehen, weil ihnen die von Jesus angebotene ,Speise‘ ungenießbar und unverdaulich erscheint, und den Zwölf, die bei ihm bleiben und die sich – das zeigt ihr stellvertretend durch Petrus geäußertes ,Du-Sagen‘ und die Wiedergabe der eigenen Worte Jesu in ihrem Bekenntnis – Jesus als das Lebensbrot wirklich ,einverleibt‘ haben. Mit seinem emphatisch vorangestellten ek toutou eröffnet der Vers deutlich eine neue Phase der erzählten Geschichte Jesu mit seinen Jüngern.

Zu Vers 64 weist Thyen darauf hin, dass sich „wieder einmal der allwissende Erzähler in Jesu Rede“ einmischt, der „das Allwissen seines Herrn“ teilt, und in Vers 65 zeigt wie in Vers 35 „die parallele Stellung von ‚glauben‘ und ‚zu mir kommen‘ … die Synonymität beider Wendungen“.

Zu den beiden „Wendungen apēlthon eis ta opisō {sie gingen weg nach hinten} und ouketi met‘ autou periepatoun {sie wandelten nicht mehr mit ihm}“ schreibt Thyen, dass sie „sich wechselseitig“ interpretieren und „das Verhalten der ,Vielen‘ als definitiven ‚Abfall‘“ beschreiben:

Spekulationen darüber, daß diese ,Jünger‘ eine von 6,51-58 abweichende, in den Augen des Autors häretisch-doketistische Christologie und Abendmahlslehre vertreten und sich deshalb vom Hauptstrom der sogenannten ,johanneischen Gemeinde‘ getrennt hätten, erscheinen uns absolut unbegründet und überflüssig. Daß sie fortan nicht mehr „mit Jesus wandelten“, kann nur heißen, daß sie aufgehört hatten, sich als ,Christen‘ zu verstehen, nicht aber, daß sie nun eine andere Art von Christentum vertreten hätten. Es geht um die Apostasie von Christus und nicht etwa um die Genese eines innerchristlichen Schismas…

Thyen ist sicher darin Recht zu geben, dass Johannes hier nicht ein innerchristliches Schisma im Blick hat, sondern eine radikale Abkehr von Jesus. Fraglich ist in meinen Augen allerdings, ob man die Schüler, die hier Jesus den Rücken kehren, überhaupt schon als „Christen“ in unserem Sinne bezeichnen darf. Angemessener wäre es, in ihnen Juden zu sehen, die ihr Vertrauen auf Jesus als den Messias des Gottes Israels gesetzt haben und ihm deswegen nachgefolgt sind.

Ton Veerkamp <592> beurteilt die hier vertretene Haltung des johanneischen Jesus weiterhin kritisch wegen ihrer ins Sektiererische weisenden Engstirnigkeit. Jesus wiederholt, was er zuvor (6,37.44) gesagt hat, „dass kein Mensch sich mit dem Messias identifizieren kann, wenn es ihm der Gott Israels – und das ist das Wort Gottes – nicht gibt“. Was aber ist mit den anderen?

Unter den Schülern gibt es welche, die dem nicht vertrauen, die da noch offene Fragen haben. In einer Sekte sind offene Fragen nicht erlaubt. Man mag fragen, ob nicht die Geschlossenheit der Sekte ein Mitglied, dessen Fragen nicht zugelassen werden, zum Verrat zwingt. Johannes selber legt hier einen Zusammenhang. Gerade das politisch Unentwegte in diesem Text führt zu dem Effekt, den er zu vermeiden sucht.

Veerkamp versteht daher den Zerfall der messianischen Gemeinde, der hier einsetzt, durchaus auch als Folge einer allzu rigorosen Forderung unbedingten Vertrauens auf einen Messias, der den einmal gewählten Weg unbeirrt verfolgt:

„Viele“ verlassen die Gruppe, und das heißt für Johannes, dass sie „rückwärts“ gingen, dass sie nicht mehr mit Jeschua die messianische Halakha gingen. Ob das bedeutet, dass sie sich dem rabbinischen Judentum zuwandten, können wir nicht sicher sagen. Jedenfalls haben sie von dieser Art Messianismus genug. Aber nicht einmal die Tatsache, dass die Gruppe dezimiert wurde, war Anlass zur kritischen Selbstbesinnung, zumindest nicht in der Phase der Gruppe, in der dieses Kapitel geschrieben wurde.

Damit weist Veerkamp bereits voraus auf die noch schärferen Auseinandersetzungen, von denen in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird. In seinen Augen werden genau die hier abtrünnig gewordenen Schüler Jesu später als seine erbittertsten Gegner auftreten:

Die schlimmsten Gegner sind immer die ehemaligen Sektenmitglieder. Darüber weiteres im achten Kapitel. In 8,31ff. kommen die zu Wort, die einst dem Messias vertraut und sich von ihm abgewendet hatten.

Johannes 6,67-69: Das Bekenntnis der Zwölf durch Simon Petrus zu Jesus als dem Heiligen Gottes

6,67 Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr auch weggehen?
6,68 Da antwortete ihm Simon Petrus: Herr, wohin sollen wir gehen?
Du hast Worte des ewigen Lebens;
6,69 und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.

Indem Klaus Wengst zufolge (W220) in Johannes 6,67-69 zum „synoptischen Bericht vom Petrusbekenntnis (Mt 16,13-19; Mk 8,27-30; Lk 9,18-20) … ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang angenommen werden muss“, lässt es sich in seinen Augen genau deswegen

wahrscheinlich machen, dass Johannes die Synoptiker nicht gekannt und benutzt hat. Das geht aus dem im Bekenntnis gebrauchten Titel hervor. In Mk 8,29 steht „der Gesalbte“ (ho christós). Lk 9,20 ist dieser Titel um einen Genitiv ergänzt: „der Gesalbte Gottes“. Nach Mt 16,16 sagt Simon Petrus: „Du bist der Gesalbte, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Bei allen drei Synoptikern findet sich also der Titel „der Gesalbte“. Das ist ein Titel, an dem Johannes großes Interesse hat.

Da Johannes aber nun ausgerechnet an „dieser markanten Stelle seines Evangeliums … den Titel ‚der Gesalbte‘ nicht“ bietet, sondern „Jesus als ‚der Heilige Gottes‘ bekannt“ wird, also mit einem „Titel, der nur an dieser Stelle im Evangelium vorkommt“, ist Wengst zufolge seine direkte Kenntnis der Synoptiker ausgeschlossen:

Hätte er die Synoptiker gekannt, dann hätte er diesen Titel an einer so hervorgehobenen Stelle stehen gelassen. Er wird die Bezeichnung „der Heilige Gottes“ schon in seiner Vorlage vorgefunden haben, die in die vorsynoptische Tradition zurückreicht.

Bedenkt man aber, dass Johannes in seinem Spiel mit den Synoptikern sehr häufig vom synoptischen Wortlaut ganz bewusst abweicht oder manche Vorlagen in ganz anderen Zusammenhängen als im ursprünglichen Evangelium aufgreift, dann verliert Wengsts Argument einiges an seiner Überzeugungskraft, worauf Thyen im Blick auf unsere Stelle noch genauer eingehen wird.

In der mit Vers 67 beginnenden neuen Szene führt Johannes „unvermittelt“ als das einzige Publikum, das bei Jesus ausharrt, „die Zwölf“ ein, womit er (W220f.) „auf Tradition“ anspielt, „die er bei seiner Leser- und Hörerschaft als bekannt voraussetzt, ohne weiter auf sie einzugehen.“ Er merkt zwar an (Anm. 353), dass in „jüdischem Kontext … die Zahl 12 in einem unlösbaren Zusammenhang mit dem Zwölf-Stämmevolk Israel“ steht, die „im Neuen Testament“ oft insofern „ekklesiologisch fruchtbar gemacht“ wird, als sie darauf verweist, „dass die an Jesus als Messias glaubende Gemeinde auf Israel bezogen ist und bleibt“, aber für Johannes schließt er das offenbar aus, vielleicht, weil er ja als seine Adressaten weit über Israel hinaus alle Menschen der Völkerwelt annimmt (W221):

Bei ihm sind hier „die Zwölf“ diejenigen Schüler, die in kritischer Situation nicht weggehen. Auf seiner Zeitebene repräsentieren sie damit die in der Gemeinde Bleibenden. Ihnen stellt Jesus die Frage: „Wollt ihr denn auch gehen?“ Würde diese Frage mit „Ja“ beantwortet, bedeutete das das Ende der Schülerschaft Jesu. Hier dürfte wieder die Situation der Gemeinde transparent werden: Für sie war diese Frage offenbar keine bloß rhetorische, die nur flugs ein Bekenntnis auslösen soll. Es scheint vielmehr, dass ihre Existenz auf dem Spiel stand, dass die Fragen, was man denn an Jesus hätte und ob man nicht besser aufgeben solle, ernsthafte waren.

Bevor nun Simon Petrus „stellvertretend für die Zwölf“ ein Bekenntnis zu Jesus ablegt, stellt er in Vers 68 zunächst die Frage: „Herr, zu wem sollen wir weggehen?“ Diese Frage versteht Wengst so, dass es aus „der Sicht derer, die bei Jesus bleiben, … keine wirkliche Alternative, keine echte Wahl zwischen gleichwertigen Möglichkeiten“ gibt, „sondern nur die Wahl, die in Wahrheit keine wäre, zwischen einer Wirklichkeit und einer unmöglichen Möglichkeit“. Im Hinblick auf den interreligiösen Dialog mit dem Judentum, dem sich Wengst verpflichtet fühlt, schränkt er diese Aussage allerdings insofern ein (Anm. 356), als dies nur „für den Glaubenden“ gilt,

der im Blick auf Jesus und durch ihn vermittelt Erfahrungen von „Leben“ mit dem Gott Israels gemacht hat. Aber es muss wahrgenommen werden, dass das aus jüdischer Perspektive anders aussieht, weil es hier „Lebenserfahrung“ mit Gott ohne Jesus gibt.

Das Bekenntnis des Simon Petrus zu Jesus besteht zunächst aus der Benennung der „Wirklichkeit, auf die sich die Schüler Jesu eingelassen haben“, mit der Formulierung:

„Worte ewigen Lebens hast du“. Das meint Worte, die Leben erschließen, das die Verheißung hat, auch angesichts und trotz des Todes zu „bleiben“. Das meint Worte, die Leben eröffnen, das jetzt als Leben vor dem Tod ein Leben gegen den Tod ist, ein Leben im Miteinander, das darauf vertrauen darf, nicht verlorenes Leben zu sein, sondern Leben in der Wirklichkeit Gottes und darum ewiges Leben.

Damit greift Wengst sein Verständnis des ewigen Lebens auf, das sich vor allem auf das erfüllte Leben bezieht, das innerhalb der christlichen Gemeinde im Vertrauen auf Jesus und durch ihn auf Gott erfahren werden kann.

Das eigentliche „ausdrückliche Bekenntnis“ des Simon Petrus in Vers 68 wird folgendermaßen

betont eingeführt: „Wir haben den Glauben und die Erkenntnis gewonnen.“ Glauben und erkennen gehören zusammen. Der Glaube ist nicht blind. Er weiß, worauf er sich einlässt, gerade auch wenn er gegen den Augenschein handelt. Und die Erkenntnis ist nicht „neutral“, nicht „objektiv“; sie ergibt sich nicht aus der Betrachtung des Zuschauers, sondern ist zugleich mit dem intellektuellen Akt Anerkenntnis und praktischer Vollzug.

Indem „Simon Petrus als Sprecher der Zwölf“ auf die gemeinsame Erfahrung zurückgreift (W221f.), in Jesu „Wirken und Geschick die Präsenz des lebendigen Gottes erkannt und sich vertrauend darauf eingelassen“ zu haben, spricht er (W222) im griechischen Perfekt von der „in der Vergangenheit für Jesus gefällte Entscheidung“, die „bis in die Gegenwart“ fortwirkt und die „in kritischer Situation im erneuten Bekenntnis zu bewähren“ ist. „Das tut hier Simon Petrus als Sprecher der Zwölf, indem er angesichts der Abkehr vieler Schüler bei Jesus bleibt und bekennt: ‚Du bist der Heilige Gottes.‘“

Welche Traditionen könnten im Hintergrund dieser Formulierung stehen? Wengst stellt zunächst heraus, dass es in zwei Stellen des Neuen Testaments (Markus 1,24 und Lukas 4,34) ausgerechnet ein Dämon ist, der einen von ihm besessenen Menschen zu dem Schrei veranlasst:

„Was willst du von uns, Jesus aus Nazaret? Du bist gekommen, uns zugrunde zu richten. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes.“ … Die von ihm vorgenommene Kennzeichnung Jesu als des „Heiligen Gottes“ stellt heraus, dass Jesus auf die Seite Gottes gehört und als derjenige, der Gott und seine Welt repräsentiert, allem Widergöttlichen und Dämonischen radikal entgegensteht.

Vor dem Hintergrund, dass in „der hebräischen Bibel … vor allem Gott selbst ‚heilig‘“ ist, aber auch das, „was aus der Welt ausgesondert wird und ihm besonders zugehört“, können sowohl „Israel als Ganzes“ (3. Mose 19,2) als auch einzelne Menschen „als ‚heilig‘ bezeichnet werden“, zum Beispiel Aaron (Psalm 106,16) oder Elischa (2. Könige 4,9). Im Johannesevangelium wird später (10,36)

Jesus als der charakterisiert, „den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“. Gott als „der Heilige schlechthin hat Jesus ganz und gar mit Beschlag belegt und beauftragt, der nun seinerseits den heiligen Gott repräsentiert. Wenn Simon Petrus Jesus als den „Heiligen Gottes“ bekennt, werden damit diese beiden Aspekte betont, dass Jesus völlig in den Bereich Gottes gehört und dass er ihn in der Welt repräsentiert. Wer ihn bekennt, bekennt sich daher zu Gott.

Von diesem innerjohanneischen Zusammenhang her ist es durchaus möglich, dass Johannes selbst in 6,69 die Bekenntnisformulierung „der Heilige Gottes“ bewusst an die Stelle des in den synoptischen Prätexten verwendeten Christus- bzw. Messiastitels gesetzt hat, zumal in 1,41 dem Simon bereits sein Bruder Andreas Jesus als den Messias und Gesalbten vorgestellt hatte.

Wegen der (T379) in Vers 67 „völlig unvermittelt“ im Johannesevangelium auftauchenden „Zwölf“ setzt Johannes auch Thyen zufolge voraus, dass sein Publikum (T379f.)

die Erzählungen von der Berufung dieser Jünger und der Einsetzung des Kreises der „Zwölf “ aus den synoptischen Prätexten kennt (vgl. Mk 3,14ff; Mt 10,1-4; Lk 9,1ff). Sind sie aber der übriggebliebene Kern der ,vielen Jünger‘ dann fällt von hier aus auch Licht auf die Speisungserzählung, die unsere Szene eröffnete. Denn … Jesu Aufforderung ,an seine Jünger‘ (legei tois mathētais autou), die von den fünf Gerstenbroten übriggebliebenen Brocken zu sammeln, muß eben diesen Zwölf gegolten haben, wie denn ja auch ein jeder von ihnen seinen Korb voller Brocken sammelt, ,damit nichts umkomme‘ (hina hē ti apolētai: 6,12). Ungenannt waren sie also bereits in den dōdeka kophinoi {zwölf Körben} zur Stelle.

So gesehen nötigt das „scheinbar unvermittelte Auftauchen der ,Zwölf ‘ … auch dazu, schon die Joh 1,35ff erzählten Jüngerberufungen als pars pro toto für die Einsetzung der Zwölf zu lesen.“

Darin dass Petrus in seinem Bekenntnis, das er in den Versen 68-69 stellvertretend für „die Zwölf“ ablegt, Jesus „anders als in den synoptischen Prätexten nicht als den Messias/christos, sondern als den hagios tou theou {Heiligen Gottes} bekennt“, sieht Thyen (T381f.)

kein Indiz dafür, daß Joh hier einer anderen und womöglich älteren Tradition folgte. Er schließt sich vielmehr auch hier der Szenenfolge von Markus an. Aber da er auf seine Weise das synoptische Petrusbekenntnis von Mt 16,16f schon in 1,41f verarbeitet hat, läßt er Petrus mit seinem Bekenntnis am Ende der Lebensbrotrede jetzt deren Anfang entsprechen, wo Jesus dazu aufgerufen hatte: „Verschafft euch nicht vergängliche Speise, sondern solche Speise, die da bleibt bis ins ewige Leben, welche des Menschen Sohn euch geben wird: touton gar esphragisen ho theos {denn den hat Gott versiegelt} (6,27). Die Zwölf haben jetzt geglaubt, erkannt und sich ,einverleibt‘, daß Jesu Worte, die sie soeben gehört haben, diese unverderbliche und ins ewige Leben dauernde Speise sind. Und mit seinem Bekenntnis: sy ei ho hagios tou theou {DU BIST ES, der Heilige Gottes}, entspricht Petrus endlich dem wiederholten egō eimi {ICH BIN ES} Jesu und dessen Wort: „Denn diesen hat Gott versiegelt“.

Für Ton Veerkamp <593> ist es keine „Selbstverständlichkeit“, dass Jesus seine Frage „Wollt auch ihr gehen?“ an „die Zwölf“ richtet, denn in seinen Augen deutet ihre sparsame Erwähnung darauf hin, dass Johannes den führenden Männern der messianischen Gemeinden durchaus reserviert oder kritisch gegenüberstand:

Nur an dieser Stelle sind die Zwölf als solche angesprochen. Abgesehen von 20,24, wo Thomas als „einer der Zwölf“ bezeichnet wird, spielen die Zwölf keine Rolle. In wichtigen messianischen Gemeinden spielten die Schüler eine führende Rolle, weil sie zu den Zwölf gehörten. Johannes nimmt eine betont isolierte Position ein. Simon Petrus kann Johannes nicht negieren; zu unangefochten war dessen Position unter den Messianisten aus den Kindern Israels. Aber bei seinen Zwölf spielen ausgerechnet die keine Rolle, die in den anderen Evangelien führende Positionen einnahmen, etwa die Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes. Die kommen erst in jenem angehängten Kapitel vor, in dem erzählt wird, wie die Gruppe ihre politische Isolation durchbrochen hatte, 21,2. Bei ihm sind es Andreas, Philippus, Thomas, Nathanael und jener Judas, der nicht aus Kerijot stammt. Das deutet auf einen politischen Riss unter den Messianisten hin.

Auf der anderen Seite repräsentieren „die Zwölf“ in den Augen des Johannes aber auch „das neue, messianische Israel und um dieses Israel geht es Johannes“. Daher kann er „hier die Zwölf nicht auch davonlaufen lassen“:

Die entscheidende Antwort gibt also Simon Petrus. Der erste Teil der Antwort ist schwach. Das könnte auch heißen: die anderen seien auch nicht besser. Bei Jeschua aber sind „Worte der kommenden Weltzeit“, also mitnichten eine „böse Rede“. Sie, die Zwölf, haben vertraut und folglich können sie sagen, sie haben erkannt, „DU BIST ES: [der Messias] der Heilige [der Sohn] des [lebenden] Gottes.“

Die Anrede sy ei, „DU BIST ES“, des Petrus an Jesus versteht also Veerkamp wie Thyen als die Entsprechung der im Munde Jesu so häufig vorkommenden Wendung egō eimi, „ICH BIN ES“, mit der Jesus den NAMEN des Gottes Israels aufruft und deutlich macht, dass er diesen voll und ganz in seinem Willen und Wirken verkörpert.

Die Wendung „der Heilige Gottes“ begreift Veerkamp jedoch anders als Wengst und Veerkamp auf dem Hintergrund der Vision des Menschensohns im Buch Daniel:

Der Heilige ist die Gestalt aus Daniel 7. Bei der Deutung der Nachtvision wird der bar enosch, der Mensch, durch den Engel als „das Volk der Heiligen des Höchsten“ bezeichnet, „dem alle Königsmacht unter dem Himmel gegeben wird“. Jeschua ist der Heilige, der das Volk der Heiligen, die „Zwölf“ erwählt (vgl. 15,16).

Johannes 6,70-71: Judas, einer der Zwölf, als ein diabolos, der Jesus überliefern wird

6,70 Jesus antwortete ihnen: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt?
Und einer von euch ist ein Teufel.
6,71 Er redete aber von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.
Der verriet ihn hernach und war einer der Zwölf.

[7. Juli 2022] Die letzten Worte Jesu in diesem Kapitel machen Klaus Wengst zufolge deutlich (W222), „dass das Bleiben der bei ihm Gebliebenen keineswegs ein für alle Mal gesichert ist“. Obwohl Schülerschaft „auf dem erwählenden Handeln Jesu beruht“, selbst wenn „Schüler durch den Hinweis des Täufers oder veranlasst durch andere Schüler zu Jesus kommen“, beruht ihr Bleiben bei Jesus auf ihrer „eigenen Entscheidung“. Daraus folgt auch, dass „[e]rwählt zu sein nicht aus[schließt], dass ein Erwählter teuflisch handelt und damit seine Erwählung unkenntlich macht. Als „eine offene Frage“ betrachtet es Wengst, ob er diese Erwählung damit „zunichtemachen“ kann.

Zur „Benennung des Judas als ‚Teufel‘, weil er mit der Auslieferung Jesu dessen Tod bewirkt“, sieht Wengst „eine Entsprechung im Septuagintatext von Est 8,1. Dort wird Haman, der die Vernichtung des jüdischen Volkes geplant hatte, als ‚der Teufel‘ bezeichnet. Nach dem hebräischen Text dieser Stelle ist er ‚der Bedränger der Juden‘.“ In diesem Zusammenhang verzichtet Wengst auf die Frage, ob das griechische Wort diabolos durch das deutsche Wort „Teufel“ überhaupt angemessen wiedergegeben wird, stellen wir uns unter einem „Teufel“ doch in der Regel eine dämonische über- oder unterweltliche Gestalt vor. Gerade die Parallele zu Haman könnte verdeutlichen, dass diabolos zumindest in der Septuaginta einen menschlichen Widersacher bezeichnet.

Mit der „kommentierenden Bemerkung“ des Johannes: „Er meinte Judas, den Sohn des Simon Iskariot. Denn der würde ihn ausliefern, einer von den Zwölf“, ist nach Wengst wohl „auch ein apologetisches Interesse“ verbunden:

Dass Jesus in der Person des Schülers Judas aus dem engsten Kreis heraus ausgeliefert wurde, spricht nicht gegen ihn; er wusste, was er tat. Zum anderen aber verknüpft Johannes mit dem Einbringen dieses Motivs das Bekenntnis des Simon Petrus mit der Passionsgeschichte. Damit macht er deutlich, dass das Bekenntnis von neuem und dann noch stärker herausgefordert auf dem Spiel steht angesichts des Gekreuzigten – und das ist die Situation seiner Gemeinde.

Nach Hartwig Thyen (T382) erinnert Jesus in Vers 70 die „Zwölf an ihre Einsetzung“ und eröffnet ihnen, dass einer von ihnen ein diabolos ist, ohne allerdings dessen Namen zu nennen. Zum Verständnis dieser Bemerkung ist in seinen Augen „ein struktureller Vergleich mit dem synoptischen Text auf jeden Fall eindrucksvoll und aufschlußreich“. Dort „folgt dem Petrusbekenntnis von Cäsarea-Philippi Jesu gewichtige erste Ankündigung seines Leidens, Sterbens und Auferstehens“, gegen die Petrus jedoch aufbegehrt, wofür er sich „von Jesus diesen schroffen Tadel gefallen lassen“ muss: „hyage opisō mou, satana {Geh hinter mich, du Satan!} (Mk 8,33)“:

Im Gegensatz dazu geht bei Johannes – nämlich in Gestalt der sogenannten ‚eucharistischen Rede‘, die ja indirekt vom gewaltsamen Tod Jesu durch die Trennung seines Blutes von seinem Fleisch und von seinem darauf folgenden anabainein {Aufsteigen} gesprochen hatte – die ,Leidensweissagung‘ dem Petrusbekenntnis bereits voraus, und ist, indem Petrus sie als rhēmata zōēs aiōniou {Worte ewigen Lebens} definiert, in dieses schon eingegangen. Damit ist aber das synoptische ,Satanswort‘ gleichsam dafür ,frei‘ geworden, nun den Verräter Jesu zu kennzeichnen…

Indem Jesus allerdings „hier den Zwölf gegenüber anstelle des Petrus nun nicht einfach einen anderen namentlich als ,Teufel‘“ benennt, kann Petrus sich nicht einfach „rehabilitiert“ und alle sich „ihrer Erwählung gewiß“ fühlen:

Rehabilitiert wird Petrus nach der dreifachen Verleugnung seines Herrn (18,15ff) vielmehr erst ganz am Ende durch die dreifache Frage Jesu nach seiner Liebe und durch seine Einsetzung zum ,Hirten der Schafe‘. Bis dahin aber versetzt Jesu vages Wort: kai ex hymōn heis diabolos estin {und einer von euch ist ein Teufel}, nicht nur ihn, sondern sie alle Zwölf in die heilsame Ungewißheit, sich – wie es bei Markus heißt – heis kata heis {einer nach dem andern} immer wieder fragen zu müssen, bin ich etwa dieser Eine? (mēti egō? Mk 14,19 parr.).

In Vers 71 (T383) folgt die erste von „insgesamt acht Nennungen des Judas in unserem Evangelium“:

Ebenso wie 13,2 und 13,26 wird er hier mit seinem ,Vaternamen‘ als ,der (Sohn) des Simon‘ sowie mit dessen näherer Bestimmung als Iskariot bezeichnet. Iskariōtou ist vermutlich Transskription des hebräischen ˀisch qɘrioth (des Mannes aus Keriot, ein Ortsname, der im AT in Jer 48,24.41 und Am 2,2 begegnet… 12,4 überträgt, wie nicht unüblich, den Beinamen des Vaters auf den Sohn und nennt diesen selbst nun: Ioudas ho Iskariōtēs. Narrativ bedingt wird er 18,2 und 5 als Ioudas ho paradidous {Judas, der Verräter bzw. Überlieferer} bezeichnet und in der Wiederaufnahme derartiger Näherbezeichnungen 13,29 und 18,3 einfach ,Judas‘ genannt.

Sehr knapp geht Ton Veerkamp <594> auf die letzten Verse des Kapitels 6 ein, nachdem er Jesu Erwählung der „Zwölf“ auf „das Volk der Heiligen des Höchsten“ in Daniel 7,18.22 bezogen hat. Diese Erwählung ist überschattet von

einer finsteren Einschränkung. Die dunkle Wolke des Verrates zieht hier auf. Vorerst will Jeschua seinen Gang in Galiläa gehen. Was im fünften Kapitel noch eine etwas weit hergeholte Drohung war, nimmt jetzt schärfere Konturen an. Einer aus dem Umkreis wird Instrument für die sein, die Jeschua zu töten suchen, „einer der Zwölf!“

Laubhüttenfest (Sukkot): Der große Streit über Licht und Blindheit (Johannes 7,1-10,21)

Über die Aufgliederung der folgenden Kapitel des Johannesevangeliums sind sich Wengst, Thyen und Veerkamp nicht einig. Für Klaus Wengst (W223) ist der mit Johannes 7,1 beginnende „umfangreiche Teil“ von Jesu drittem „Wirken in Jerusalem“ während der beiden Feste Sukkot und Chanukka geprägt, bis er nach 10,40-42 dorthin zurückkehrt (W224), „wo Johannes zuerst taufte“:

Innerhalb dieses Rahmens bezieht sich Kap. 7 ausdrücklich auf Sukkot. Es wird kein neues Handeln Jesu berichtet, sondern innerhalb umfangreicher Diskussionen – verbunden mit Verhaftungsversuchen – erfolgt ein Rückbezug auf früheres Handeln. Die Diskussionen setzen sich in Kap. 8 fort, jetzt allerdings ohne Bezug auf Sukkot. Am Ende des Kapitels steht ein Versuch, Jesus zu steinigen. … Nach 8,59 verlässt Jesus den Tempel. Als dort geschehen, wurden also die Diskussionen von Kap. 8 vorausgesetzt. Nachdem er den Tempel verlassen hat (8,59), spielt die Heilung des Blindgeborenen mit den anschließenden Diskussionen in Kap. 9 außerhalb des Tempelbereichs in Jerusalem. Ohne eine neue Situationsangabe schließt sich in Kap 10 die Gleichnisrede Jesu über den Hirten und die Schafe unmittelbar an. Eine zeitliche und örtliche Näherbestimmung begegnet aber 10,22f: Inzwischen ist Chanukka und Jesus hält sich wieder im Tempelbereich auf. Am Schluss entzieht er sich einem erneuten Verhaftungsversuch durch den genannten Rückzug in das nördliche Ostjordanland.

Hartwig Thyen (T383) will das 7. Johanneskapitel trotz seiner engen Verknüpfung „mit den folgenden Kapiteln 8-12 … als die Abschluß-Szene des dritten Aktes unserer ,dramatischen Historie‘ der Geschichte Jesu behandeln“:

Denn zum einen gehört Jesu Disput mit seinen ungläubigen Brüdern zu seiner durch 6,1ff eröffneten erneuten galiläischen Wirksamkeit; und zum andern ist Joh 7 dadurch, daß sich die ,Juden‘ Jerusalems während des Laubhüttenfestes an Jesu Sabbatheilung am Teich von Bethesda erinnern und sie erneut thematisieren, eng mit Joh 5 verknüpft. Auf diese Weise bilden die beiden Jerusalem- Kapitel 5 und 7 einen Rahmen um das Galiläa-Kapitel (Joh 6) mit dem von Petrus als dem Repräsentanten der Zwölf gesprochenen Bekenntnis, das zugleich explizierte, daß und wie „Mose von Jesus geschrieben hat“ (5,45ff).

Den folgenden Abschnitt 8,12-12,50 fasst Thyen dagegen (T419) „trotz seines ungewöhnlichen Szenen-Reichtums als nur einen Akt zusammen“. Er folgt damit einem in seinen Augen „gut begründeten Vorschlag“ von E. A. Wyller und Gunnar Østenstad, <595> der darauf hinausläuft, dass dieser „vierte Akt der dramatischen Historie ‚Evangelium nach Johannes‘ zugleich deren zentraler Akt ist, innerhalb dessen genau in der „Mitte, Joh 10,22-39, die Szene von Jesu winterlichem Auftreten ‚in der Halle Salomons‘ während des ,Tempelweihfestes‘ (enkainia: einzig hier im Neuen Testament genannt) die ‚Peripetie‘ {entscheidender Wendepunkt} des gesamten Evangeliums bildet“. Daher kann Thyen „der traditionellen und von den meisten als selbstverständlich übernommenen Zweiteilung des Evangeliums mit ihrer Zäsur zwischen Joh 12 und Joh 13 nicht“ folgen. Stattdessen teilt die kurze „Passage Joh 10,40-42, die der Tempelweihszene folgt“, „das gesamte Evangelium in zwei ‚Bücher‘, nämlich in das Buch der martyria {Zeugnis} und in dasjenige der doxa {Herrlichkeit}“. Indem hier an 1,28 angeknüpft und das Zeugnis des Täufers von 1,19ff in Erinnerung gerufen wird, wird an dieser Stelle (T420) „das mit 1,19ff eröffnete Buch der martyria im Sinne einer Ringkomposition förmlich geschlossen“:

Nach diesem Rückblick auf die martyria des Täufers wird das Zeichen von Tod und Auferweckung des Lazarus das neue Buch der dreieinigen doxa des Vaters (11,4.40), des Sohnes (11,4) und des Geistes eröffnen. Dabei ist das Lazaruswunder wiederum hinweisendes Zeichen auf Jesu eigenes Sterben und Auferstehen als das letzte und größte aller sēmeia (20,30f). Nach dem Buch des Zeugnisses hat damit auch dieses zweite Buch der Herrlichkeit den Charakter einer Ringkomposition.

Thyens deutliche Hinweise auf die Herrlichkeit der göttlichen Dreieinigkeit lassen erkennen, wie sehr er das Johannesevangelium auf die uns vertraute christliche Dogmatik hin auszulegen versucht. Es wird weiter zu prüfen sein, ob sich dabei nicht letzten Endes eine unzulässige Auslegung von der späteren christlich-konziliaren Dogmatik her ergibt.

Seltsam erscheint mir die Zuspitzung seiner ganzen Auslegung auf den Vers, der genau in der Mitte dieses seines vierten Aktes steht: Der Vers „10,30: egō kai ho patēr hen esmen {Ich und der Vater: eins sind wir}, ist der Punkt, in dem die anabasis {der Aufstieg} seines Protagonisten gipfelt und dessen katabasis {Abstieg} beginnt“. Das nennt Thyen „die ‚Peripetie‘ des gesamten Werkes“, also den entscheidenden Wendepunkt des Johannesevangeliums. Es bleibt abzuwarten, wie Thyen das an Ort und Stelle begründen wird. Mir erscheint es schlicht unverständlich, alles bis dahin von Jesus Erzählte als seinen Aufstieg zu betrachten, während danach sein Abstieg erzählt werden soll. Was den Verlust vieler seiner Anhänger betrifft, vollzieht sich ein solcher Abstieg bereits am Ende von Kapitel 6, sein Leben wird bereits ab Kapitel 5 bedroht; andererseits vollbringt er das Zeichen der Auferweckung des Lazarus erst im Kapitel 11, weshalb ihm „alle Welt nachläuft“ (12,19). Besteht Jesu Abstieg aber im Herabsteigen des Menschensohns vom Himmel, dann vollzieht sich dieser in dem gesamten Gang, den Jesus bis zu seinem Tod am Kreuz geht, während sich sein Aufsteigen zum VATER in demselben Prozess vollzieht, der im Erhöhtwerden ans römische Kreuz gipfelt, also paradoxerweise genau am Tiefpunkt seines Absteigens.

Noch fragwürdiger erscheint mir die Einschätzung (T421), dass der von Thyen als „vierter und zentraler Akt (8,12-12,50)“ abgegrenzte Abschnitt des Johannesevangeliums nach „Østenstads Analyse … eine hochreflektierte konzentrische Ringkomposition“ darstellen soll,

deren Mittelpunkt die von ihm als D bezeichnete Szene von Jesu Auftritt auf dem Tempelweihfest bildet (10,22-39). Jesu darin gesprochenes Wort: „Ich und der Vater sind Eines“, ist der Gipfel- und Wendepunkt (,Peripetie‘) seines irdischen Weges und exakt die Mitte des Evangeliums. Eröffnet und beschlossen wird dieser kunstvoll komponierte Akt durch die Abschnitte A (8,12-20) am Anfang und A‘ (12,44-50) am Ende, die thematisch wie strukturell strikt parallel gebaut sind und so eine förmliche Inklusion des gesamten Aktes bilden… 8,21-59 samt der Demonstration des darin Gesagten durch die Heilung des Blindgeborenen in Joh 9 bilden den Abschnitt B, der wiederum in dem Abschnitt B‘ (11,1-10) und der darauf folgenden Demonstration durch die Auferweckung des Lazarus (11,11-44) seine Entsprechung hat. Dem Abschitt B folgt mit 9,39-10,21 der Abschnitt C, dem endlich mit 11,45-12,43 der Abschnitt C‘ korrespondiert. So ergibt sich für Østenstad fur den gesamten Akt diese konzentrische Heptade: A-B-C-D-B‘-C‘-A‘.

Die einzigen Abschnitte, bei denen ich eine gewisse Entsprechung wahrnehmen kann, sind die Teile A und A‘, während die angeblichen Entsprechungen von B und B‘ bzw. C und C‘ sich mir nicht erschließen.

In diesem Zusammenhang begründet Thyen übrigens auch (T420) seine mir an manchen Stellen etwas zwanghaft vorkommende Unterteilung des Johannesevangeliums in sieben Akte mit der „schon oft beobachteten hohen symbolischen Bedeutung der Siebenzahl – u.a. sieben sēmeia, sieben prädizierte egō-eimi-Worte und sieben ausdrücklich als solche bezeichnete Zitate aus dem Alten Testament, sieben um ihren auferstandenen Herrn versammelte Jünger (21,2)“. Immerhin äußert er selber „erhebliche Zweifel daran, daß ‚die Struktur des vierten Evangeliums (jemals) objektiv definiert werden kann‘.“

Mir persönlich sagt die Methode der Gliederung weitaus mehr zu, die Ton Veerkamp <596> vorgeschlagen hat und die sich in den Kapiteln 5 bis 12 an der Erwähnung jüdischer Feste orientiert. Auf diese Weise war bereits das Kapitel 5 einem unbestimmten Fest der Juden zugeordnet worden, in dem die Überwindung der Lähmung Israels thematisiert wurde, und im Kapitel 6 ging es in der Nähe des Passafestes um die Ernährung Israels mit dem Brot vom Himmel für das Leben der kommenden Weltzeit.

Mit unserer Zählung des Kapitels 7 beginnt nach Veerkamp ein sehr langes johanneisches Kapitel, das erst im 10,21 endet und in dem „Sukkot, das Laubhüttenfest, … den Rahmen der großen Konfrontation mit den Judäern in Jerusalem“ bildet. Anders als Wengst lässt Veerkamp ein weiteres johanneisches Kapitel nicht erst am Anfang von Johannes 11 beginnen, sondern bereits mit 10,22, weil das dort erwähnte Chanukka-Fest den Hintergrund darstellt, vor dem Jesus das Zeichen der Erneuerung Israels in Auferweckung des Lazarus vollziehen wird.

Zu den im Johannesevangelium erwähnt Festen erläutert Veerkamp:

Die traditionellen Feste Pascha und Sukkot sind Feste, die eine ganze Woche dauern. Sukkot findet im ersten Monat statt, Pascha im siebten Monat. Das neue, acht Tage dauernde Fest, Chanukka, Erneuerung, findet sich nicht in der Tora und wurde im 2. Jh. v.u.Z. dem Festkalender hinzugefügt. Diese drei Feste erwähnt Johannes. Für ihn sind diese Feste Stationen auf dem Weg von Pascha zu Pascha.

Während aber das Passafest im Johannesevangelium niemals wirklich gefeiert, sondern immer nur seine Nähe erwähnt wird, stellt die Feier des Laubhüttenfestes bzw. Sukkot in Jerusalem eine Bühne dar, auf der Jesus nach anfänglichem Zögern auftritt und auf die wesentlichen Inhalte des Festes, „Wasser und Licht“, eingeht, bis er am „Schluss des Kapitels … sein eigentliches politisches Programm: die Einheit Israels“ entfaltet:

Sukkot, Laubhütten, erinnern Israel an die Zeit, wo es in der Wüste verblieb. Es ist ein Fest der Tora, des Wassers und des Lichtes. Dem Fest wird ein weiterer Festtag angehängt, ßimchath thora, Freude der Tora. Es ist ein heiteres Fest und schließt den ersten Monat des Jahres, den Monat vom rosch ha-schana („Neujahr“) und vom jom kippur („Versöhnungstag“) ab. Für Johannes ist der Messias der Mittelpunkt des Festes: Er spendet das lebende Wasser und er ist das Licht. Freilich für die, die sehen wollen, auch wenn sie blind geboren wurden. Sukkot ist das Fest für Israel unter den Nationen. Der Messias bringt ganz Israel aus dem Land und aus den Ländern der Nationen zusammen in einen Hof, wie der Hirte die Schafe in einen Hof zusammenbringt. Das erzählt Johannes in 7,1-10,21.

Folgendermaßen teilt Veerkamp das Sukkot-Kapitel ein:

1. Aufstieg nach Jerusalem, 7,1-10

2. Vom Messias, 7,11-52

[Eine Probe aufs Exempel, 7,53-8,11]

3. Das Licht der Welt, 8,12-30

4. Bevor Abraham geboren wurde: ICH WERDE DASEIN, 8,31-59

5. Von Blinden und Sehenden, 9,1-41

6. Von der Einheit Israels, 10,1-10,21

Da die (W224) „Erzählung von der Frau, die wegen Ehebruchs gesteinigt werden soll (7,53-8,11)“, die „in einem Großteil der Überlieferung“ zwischen „den Diskussionen von Kap. 7 und 8“ eingeschoben wurde, nicht zum ursprünglichen Text des Johannesevangeliums gehört, verzichtet Hartwig Thyen vollständig auf ihre Auslegung. Nach Klaus Wengst (W253) muss sich jedoch „eine Auslegung des Johannesevangeliums auch diesem Abschnitt stellen“, weil „er inzwischen viele Jahrhunderte lang als biblischer Text im kirchlichen Gebrauch ist“. Auch Ton Veerkamp hält es für wichtig, nach den theologischen wie politischen Gründen „für die Einfügung“ dieses Stückes zu fragen, das „eine Nähe zu den synoptischen Evangelien“ verrät und immerhin „seit fünfzehn Jahrhunderten im Rahmen des Johannesevangeliums überliefert“ ist.

Johannes 7,1-2: Jesus geht seinen Gang in Galiläa, als das Fest Sukkot nahe ist

7,1 Danach zog Jesus umher in Galiläa;
denn er wollte nicht in Judäa umherziehen,
weil ihm die Juden nach dem Leben trachteten.
7,2 Es war aber nahe das Laubhüttenfest der Juden.

[12. Juli 2022] Klaus Wengst sieht das Kapitel 7 des Johannesevangeliums (W226)

einmal durch den Bezug auf Sukkot zusammengehalten, sodann durch die Gefährdung Jesu, der er in Jerusalem ausgesetzt ist, und schließlich durch unterschiedliche Meinungen über ihn und Einwände gegen ihn, wobei letztere das stärkere Gewicht haben. Alle drei Elemente stehen in engem Zusammenhang miteinander. … [Es] gelingt … Johannes, in der Zuordnung auf Sukkot ein spannungsreiches Kapitel zu gestalten, das Meinungsverschiedenheiten über Jesus widerspiegelt und in dem dieser trotz und in der Gefährdung souverän handelt und den gegen ihn erhobenen Einwänden begegnet.

Dabei erscheint im ersten Abschnitt (7,1-13) als (W227) „wesentliches Thema“

das Problem, wie mit Öffentlichkeit und Verborgenheit umzugehen ist in einer Situation der Gefährdung. Indem Johannes beim Erzählen hier den Akzent setzt, macht er die Szene transparent für die Situation seiner Gemeinde.

Zu Johannes 7,1 geht Wengst zunächst darauf ein, dass Jesus trotz der in 6,4 festgestellten „Nähe von Pessach“ nicht nach Jerusalem hinaufgestiegen ist, wie er es im Zusammenhang der beiden anderen Erwähnungen der „Nähe von Pessach“ in 2,13 und 11,55 jeweils tut. In 7,1

begründet Johannes, warum Jesus nicht zu diesem Pessach nach Jerusalem hinaufsteigt. Er bleibt in Galiläa, weil der Aufenthalt in Judäa gefährlich für ihn wäre, ja lebensgefährlich. So wird ausdrücklich an die in 5,18 erwähnte Absicht der führenden Leute in Judäa erinnert, Jesus zu töten.

Darin sieht Wengst (Anm. 364) „ein zusätzliches Argument dafür, den überlieferten Text nicht umzustellen.“

Nun aber ist (W227) nach 7,2 ein anderes jüdisches Fest nahe, das Laubhüttenfest oder Sukkot als „das jahreszeitlich letzte der drei biblischen Wallfahrtsfeste“, und dadurch stellt sich das „Problem, nach Jerusalem hinaufzusteigen, … für Jesus von neuem“. In diesem Zusammenhang erinnert Wengst daran, dass Sukkot nach 2. Mose 23,16 und 34,22 „schlicht ‚das Fest des Einsammelns‘, das letzte Erntefest im Jahr nach der Obst- und Weinlese“ ist. In 5. Mose 16,13-15 steht, dass „es sieben Tage lang als ‚Fest der Laubhütten‘ in Jerusalem gefeiert werden“ soll:

Das Wohnen in Laubhütten dient dazu, die Nachfahren daran zu erinnern, dass Gott das Volk Israel in Hütten wohnen ließ, als er es aus Ägypten herausführte (Lev 23,42f.). Der erste Tag wird auf den „15. Tag des siebten Monats“ (Tischri) festgesetzt (Lev 23,34.39; Num 29,12). Er ist ein Tag der Arbeitsruhe und „heiliger Einberufung“ (Lev 23,35.39; Num 29,12). Ein achter Tag wird hinzugefügt, an dem ebenfalls das Gebot der Arbeitsruhe gilt (Lev 23,36.39; Num 29,35) und „heilige Einberufung“ (Lev 23,36) bzw. „Festversammlung“ (Num 29,35) zu halten ist. Dieser Tag fällt heute in Israel mit dem Fest der Torafreude zusammen.

Nach Hartwig Thyen (T384) dient die „Wendung meta tauta {nach diesen Dingen, danach}“ in Johannes 7,1 „wie 3,22; 5,1.14; 6,1; 19,38; 21,1 … zur Markierung des Übergangs in eine neue Szene“:

Jesus hält sich weiterhin in Galiläa auf, weil die Ioudaioi {Juden} in Judäa ihn zu töten trachteten. Damit erinnert der Erzähler seinen impliziten Leser/Hörer zum ersten Mal an die im Zusammenhang mit Jesu Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda an einem Sabbat erwachte Absicht der Ioudaioi, Jesus zu töten (vgl. 5,18), und stellt so den Zusammenhang mit Joh 5 her.

Zur in 7,2 erwähnten Nähe des skēnopēgia genannten Laubhüttenfestes, das „während der Zeit des zweiten Tempels tatsächlich das volkstümlichste und beliebteste Fest der Juden“ war, hebt Thyen hervor, dass nicht „nur das relativ seltene, aus skēnē {Zelt} und pēgnymi (bzw. pēgeomai: ‚ein Zelt aufschlagen‘) gebildete Lexem, sondern auch das hier damit bezeichnete „Laubhüttenfest“ selbst, … im gesamten Neuen Testament einzig an dieser Stelle“ vorkommt:

Daß ausgerechnet dieses populärste und gewichtige Fest von den Synoptikern nirgendwo genannt wird, mag daran liegen, daß sie Jesus nur einmal, und zwar zu seinem ,Todespassa‘, nach Jerusalem ziehen lassen. Johannes dürfte die Kapitel 7f wohl darum am Laubhüttenfest spielen lassen, weil die dessen Liturgie bestimmenden Wasser- und Illuminationsriten (vgl. 7,37ff und 8,12) den geeigneten Rahmen für Jesu Lehren im Tempel bildeten.

Interessant ist in Thyens Augen, dass in zwei der neun Belege für die „Bezeichnung des Laubhüttenfestes“ mit skēnopēgia in der Septuaginta, nämlich 2. Makkabäer 1,9 und 1,18 „das seit der Makkabäerzeit zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des geschändeten Tempels durch Judas Makkabaeus am 25. Kislew 164 v. Chr. gefeierte Hanukkah-Fest (hē enkainia) mit skēnopēgia bezeichnet wird“, und zwar wohl deswegen, weil man dieses ähnlich wie Sukkot an acht Festtagen feierte:

Diese liturgische Nähe der beiden Feste könnte auch der Grund dafür sein, daß Joh 10,22 nach dem Laubhüttenfest nahezu übergangslos das Tempelweihfest (ta enkainia en tois Hierosolymois {Hanukka in Jerusalem}) genannt wird.

Ton Veerkamp <597> kommentiert die sich am Ende des 6. Johannes-Kapitels abzeichnende Gefährdung Jesu an Leib und Leben in Judäa und Jesu Entscheidung, zunächst in Galiläa zu bleiben, mit einem einzigen Satz:

Vorerst will Jeschua seinen Gang in Galiläa gehen.

Damit versucht Veerkamp den Sinn des Wortes peripatein genauer aufzunehmen, als es in den Übersetzungen von Luther oder Wengst (W224) mit „umherziehen“ oder von Thyen (T383) mit „sich aufhalten“ (beim ersten Vorkommen des Wortes in Vers 7,1) geschieht. „Seinen Gang gehen“ entspricht der jüdischen Halakha, also einer Lebensführung entsprechend dem Willen Gottes, gemäß der Tora. Es geht nicht einfach um planlose Wanderungen. Indem Thyen das zweite peripatein in 7,1 mit „er wollte nicht in Judäa wirken“ wiedergibt, ist offenbar auch ihm eine solche inhaltliche Füllung des Begriffs nicht fremd.

Johannes 7,3-10: Jesu Konflikt mit seinen Brüdern und sein heimliches Aufsteigen zum Fest

7,3 Da sprachen seine Brüder zu ihm:
Mach dich auf von hier und geh nach Judäa,
auf dass auch deine Jünger die Werke sehen, die du tust.
7,4 Denn niemand tut etwas im Verborgenen
und will doch öffentlich bekannt sein.
Willst du das, so offenbare dich vor der Welt.
7,5 Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn.
7,6 Da spricht Jesus zu ihnen:
Meine Zeit ist noch nicht da,
eure Zeit aber ist immer da.
7,7 Die Welt kann euch nicht hassen.
Mich aber hasst sie,
denn ich bezeuge von ihr, dass ihre Werke böse sind.
7,8 Geht ihr hinauf zum Fest!
Ich will nicht hinaufgehen zu diesem Fest,
denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt.
7,9 Das sagte er und blieb in Galiläa.
7,10 Als aber seine Brüder hinaufgegangen waren zum Fest,
da ging auch er hinauf, nicht offen, sondern heimlich.

[13. Juli 2022] Zum zweiten Mal nach Johannes 2,12 ist in 7,3 von den Brüdern Jesu die Rede. Die Bemerkung von Wengst (W228): „Darüber hinaus treten sie im Evangelium nicht auf“, trifft nicht zu; denn in 20,17 wird der auferstandene Jesus Maria Magdalena auffordern, seinen Brüdern die Nachricht zu überbringen, dass er noch nicht zum VATER aufgestiegen ist.

Die Verse 7,3-10 sind aber der einzige Abschnitt im Evangelium, in dem die Brüder eigenständig agieren, und zwar tun sie das, indem sie Jesus „angesichts der Nähe von Sukkot“ dazu auffordern, „nach Judäa zu gehen“. Die „Zielangabe“, nämlich „damit auch deine Schüler deine Taten sehen, die du tust“, erscheint Wengst allerdings

seltsam – als hätten die Schüler Jesu dessen bisher erzählte Wundertaten nicht miterlebt: die beiden Wunder in Kana (Kap. 2 und 4), das Brotwunder in Galiläa und das anschließende Gehen Jesu auf dem See (Kap. 6), aber auch schon die in 2,23 erwähnte unbestimmt bleibende Anzahl von Wundern und das Wunder der Heilung des Gelähmten in Jerusalem (Kap. 5).

Der Sinn dieser seltsamen Formulierung besteht Wengst zufolge darin, dass „er seiner Leser- und Hörerschaft zu denken“ gibt. Zum einen kann es sein, dass seine Brüder ähnlich wie in 6,30 von Jesus weitere „Wunder als beglaubigende Mirakel“ erwarten; aber obwohl er „zu Sukkot nach Jerusalem“ geht, wird er doch „dort an diesem Fest kein Wunder tun.“ Zum andern – so formuliert Wengst mit einem Zitat von Karl Barth <598>

sagen die Brüder Jesu hintergründig – ohne es selbst zu verstehen – das Richtige. Jesus „wird Galiläa verlassen. Er wird seinen Jüngern seine Werke zu sehen geben“. Das Werk ist sein Gang ans Kreuz als Rückkehr zum Vater. Das wird noch nicht an diesem Fest geschehen, aber darauf wird Jesus in seinem Reden dort anspielen (V. 33f.).

In Vers 4 begründen die Brüder Jesu ihre Aufforderung mit der großen Öffentlichkeit, die das Sukkot-Fest in Jerusalem der Botschaft Jesu bieten kann:

Wenn man sich dort „der Welt“ zeigen kann, ist diese „Welt“ die jüdische Welt, zu der Gottesverehrende aus den Völkern hinzukommen. Innerhalb des Johannesevangeliums gibt es einen ausdrücklichen Rückbezug auf diese Stelle in 18,20, wenn Jesus zu dem ihn über seine Schüler und seine Lehre vernehmenden Hohepriester sagt: „Ich habe öffentlich vor aller Welt geredet; ich habe stets in Synagogen und im Heiligtum gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen, und im Geheimen habe ich nichts geredet.“ Jesus sagt hier also, genau das getan zu haben, wozu ihn seine Brüder in 7,3f. auffordern. Dennoch folgt er ihnen an dieser Stelle nicht, jedenfalls nicht sofort.

Indem erst zum Fest geht, nachdem seine Brüder „gegangen sind“, aber „nicht öffentlich, sondern gleichsam heimlich“ (V. 10), spiegelt der Text nach Wengst „das Problem der Herstellung oder Vermeidung von Öffentlichkeit in gefahrvoller Situation“ wider „und ist darin gewiss transparent für die Situation der Gemeinde.“ Das will Wengst (W222) nicht nur so auslegen, „dass sich Jesus sein Handeln und vor allem auch den Zeitpunkt seines Handelns nicht von außen vorgeben, nicht diktieren lasse, sondern souverän selbst entscheide“, sondern es wird außerdem „das hier betonte Moment der Gefahr“ ernstgenommen:

Wie steht es mit Verborgenheit und Öffentlichkeit in einer Zeit der Gefährdung? Darf man sich verstecken und verborgen halten? Ist Zurückhaltung geboten oder muss um jeden Preis Öffentlichkeit gesucht werden? Mit letzterem ist eine Position genannt, die im Text von Außenstehenden, von Unbeteiligten und Nichtbetroffenen, empfohlen wird. Da ist sie wohlfeil. Indem Johannes so darstellt, wie er es tut, macht er deutlich, dass Öffentlichkeit nicht um jeden Preis zu suchen ist; er redet keiner Martyriumssehnsucht das Wort.

Indem Wengst hervorhebt, „wie sehr Johannes in jüdischem Horizont denkt, wenn er sowohl hier als auch in 18,20 als ‚die Welt‘ die jüdisch definierte größtmögliche Öffentlichkeit versteht“, lässt er übrigens neben seiner Annahme, der Begriff kosmos bei Johannes ziele über Israel hinaus auf die Völkerwelt, nun doch erkennen, dass der johanneische Jesus in erster Linie eine jüdische Öffentlichkeit anspricht.

Die (W230) „begründende Zwischenbemerkung“ in Vers 5: „Denn nicht einmal seine Brüder glaubten an ihn“, bezieht Wengst darauf,

dass die Aufforderung der Brüder eine von Außenstehenden ist, von Nichtbetroffenen, ein Rat aus der Distanz, der die Konsequenzen nicht zu tragen hat. Leute von außerhalb wissen immer wieder sehr genau, was Betroffene tun sollten. Doch die werden es schon selbst wissen. Für die Ebene der Gemeinde heißt das: Wer glaubt, wird wissen, wann man öffentlich Zeugnis zu geben hat und wann man sich besser zurückhält.

Offen lässt Wengst die Frage, warum ausgerechnet die Brüder als Familienangehörige Jesu nicht auf ihn vertrauen, zumal sie doch nach Johannes 2,12 zu denjenigen gehörten, die sein erstes Zeichen zu Kana mitbekamen und anschließend gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Schülern nach Kapernaum hinabstiegen. Wengst zufolge repräsentieren die Brüder offenbar einfach allgemein Außenstehende.

In recht allgemeinem Sinn interpretiert Wengst auch Jesu Bemerkungen über „den rechten Zeitpunkt“, griechisch kairos, in Vers 6:

Für Betroffene, vor vor allem für gefahrvoll in das Geschehen Einbezogene, sind nicht alle Zeiten gleich. Es gibt Zeiten, wo es besser ist, sich zurückzuziehen und zu schweigen. Man muss nicht zu allem und jedem Stellung beziehen; man muss nicht unbedingt akute Verfolgung heraufbeschwören. Es kommt für das öffentliche Zeugnis auf die Erkenntnis des rechten Augenblicks an.

Die folgende Entgegensetzung unterstreicht das: „Eure Zeit aber ist ständig da.“ Das ist eine höchst ironische Paradoxie. Wird vom rechten Augenblick als einer andauernden Gegebenheit gesprochen, heißt das, dass er „in Wahrheit nie da“ ist, dass er nie wahrgenommen und ergriffen wird. Als Dauererscheinung kann es den rechten Augenblick nur für die Nichtbetroffenen, die Unbeteiligten geben – und so ist er immer schon verfehlt. Über ihn kann deshalb auch nicht nach Belieben verfügt werden. Er lässt sich nicht erzwingen; er will erkannt werden.

Wie so oft klingen solche Ausführungen von Wengst durchaus plausibel; und doch bleibt die Frage, ob sie in dieser Allgemeingültigkeit wirklich den konkreten Zielen, die Jesus nach dem Johannesevangelium verfolgt, entsprechen.

Im unmittelbar folgenden Vers 7 begreift Wengst das Wort kosmos plötzlich ganz anders als zuvor. Eben noch definierte Wengst die Welt so entschieden als jüdische Öffentlichkeit, wie er sie an anderen Stellen mit der Völkerwelt gleichsetzen wollte. Indem Jesus zu seinen Brüdern sagt: „Euch kann die Welt nicht hassen“, bestimmt er sie jedoch nun als „eine Größe, die zu fürchten ist“, und zwar „als die in der Welt Mächtigen und Einflussreichen“:

Wer ihnen nach dem Mund redet, wer sich in seinen Äußerungen daran hält, was gesellschaftlich dominant ist, braucht keinen Hass zu fürchten, hat die Konzession zu ebenso gefahr- wie belanglosem Geschwätz. Jesus fährt fort: „Mich aber hasst sie, weil ich ihr bezeuge, dass ihre Taten böse sind.“ Jesu Rede als Zeugnis des in ihm auf den Plan tretenden Gottes, der in der „Erhöhung“ Jesu ans Kreuz den Erniedrigten solidarisch wird, ist eine Herausforderung an die Welt der Starken und Mächtigen, die ihre Macht zu gebrauchen wissen.

Damit kommt Wengst dem Veerkampschen Vorschlag, kosmos an entscheidenden Stellen bei Johannes mit der römischen Weltordnung zu identifizieren, recht nahe.

Als Begründung dafür, dass er selber nicht zu diesem Fest hinaufgeht, führt Jesus in Vers 8 an, dass „meine Zeit noch nicht um ist, der Zeitpunkt noch nicht da“; so übersetzt Wengst die Wendung ho emos kairos oupō peplērōtai {wörtlich: meine Zeit ist noch nicht vollgemacht}:

Der Begründungssatz spielt auf die Passion an… Der rechte Zeitpunkt schlechthin – an anderen Stellen wird im selben Sinn von „der Stunde“ gesprochen – ist Jesu Tod am Kreuz. Sein entscheidendes Zeugnis, seine „Offenbarung vor der Welt“ (V. 4), führt ihn in den Tod, ja, ist dieser Tod.

Wie geht Wengst (W231) mit dem Widerspruch um, dass Jesus nach Vers 9 zunächst tatsächlich gemäß seiner Aussage, „dass er zu diesem Fest nicht hinaufsteige, … ‚in Galiläa blieb‘“, aber nach Vers 10 dann doch hinaufgeht: „nicht öffentlich, sondern gleichsam heimlich“? Nach Wengst lässt diese Darstellung „keinen Zweifel daran, dass Jesus gegenüber seinen Brüdern gelogen hat“. Seine Rechtfertigung für diese Lüge Jesu besteht darin, dass er sie in Beziehung setzt zur gefährdeten Situation der johanneischen Gemeinde und darüber hinaus anderer Bedrohungsszenarien:

Diese Lüge Jesu ist aus der genannten Gefährdung heraus zu verstehen, die für die bedrängte Situation der Gemeinde transparent ist. Es gibt lebensrettende „Lügen“ und tödliche „Wahrheiten“. Wenn Wahrheit um jeden Preis gefordert wird, kann es sich nur um eine abstrakte Wahrheit handeln – und die war oft genug todbringend. „Sind hier Juden versteckt?“ „Wurde im Haus ein Feindsender gehört?“

In diesem Kontext gelesen, muss die „Lüge“ Jesu als Tarnung verstanden werden. Es geht nicht darum, um jeden Preis Öffentlichkeit zu suchen; es gibt legitime Tarnung. Der Evangelist unterstreicht die Legitimität der Tarnung für seine Gemeinde, indem er hier Jesus als einen darstellt, der sich unter bewusster Irreführung der Öffentlichkeit entzieht – zumindest eine Zeit lang.

Überhaupt nichts hält Wengst von den Versuchen (Anm. 372), den „zahlreiche, auch wichtige Handschriften“ unternehmen, diese Aussage abzuschwächen oder aus dem Evangelium zu entfernen, etwa wenn Vers 8 „in dieser Form“ abgeändert wird: „Ich gehe noch nicht zu diesem Fest hinauf.“ Aber wenn das der ursprüngliche Text gewesen wäre, ist es „undenkbar, dass ein ursprüngliches ‚noch nicht‘ durch ein ‚nicht‘ ersetzt worden wäre.“ In Wengsts Augen kann Vers 8 „nicht anders als bewusste lrreführung der Brüder verstanden werden.“ <599>

So sehr ich diese Argumentation nachvollziehen kann, einschließlich ihres Bezuges auf den Widerstand gegen menschenfeindliche politische Systeme, frage ich mich doch, ob sie allein ausreicht, um Jesu Verhalten gerade gegenüber seinen Brüdern zu erklären. Denn diese werden ja nicht als Vertreter der Mächtigen dargestellt, gehörten nach 2,12 zum engeren Umfeld Jesu und werden laut 20,17.18 sogar mit dem Kreis der Schüler Jesu gleichgesetzt. Kann es sein, dass Jesus einfach aus Angst, von seinen Brüder denunziert zu werden, ihnen gegenüber die Unwahrheit sagt?

Schauen wir, wie Hartwig Thyen (T385) unseren Abschnitt auslegt. Auch ihm zufolge stellen die „buchstäblich unglaubliche Ahnungslosigkeit“ und der „ahnungslose Unglaube seiner eigenen Brüder und die rätselhafte Frage, wen die denn da wohl als hoi mathētai sou {seine Jünger} im Auge haben könnten, wenn Jesus nach Judäa gehen soll, damit seine Jünger seine Werke sehen …, … vor erhebliche Interpretationsprobleme.“ Sie können ja wohl kaum „an eine spezifisch judäische Jüngerschaft Jesu, neben denen, die ihm durch Galiläa und bis nach Jerusalem ,nachfolgen‘“, denken.

Es sind unter anderem (T386) „diese Rätsel“, die viele Kommentatoren „dazu geführt“ haben, „ihre Lösung auf dem Wege der Literarkritik zu finden“, also Widersprüche auf die falsche Reihenfolge von Kapiteln oder die schlampige Einpassung von Quellen zurückzuführen. Thyen ist „derartigen literarkritischen Kapriolen“ grundsätzlich „abhold“; er hält (T387) alle

Fluchten in die vermutete Genese des Evangeliums oder zu seinen mutmaßlichen „Quellen“ als Kapitulationen vor der Aufgabe der Interpretation seiner überlieferten Gestalt. Denn daß derjenige, dem wir diese ,Endgestalt‘ verdanken, sie als ein sinnvolles und kohärentes Evangelium begriffen sehen wollte, meinen wir auf jeden Fall unterstellen und respektieren zu müssen.

Im Zusammenhang des gesamten Evangeliums liest Thyen daher

die Aufforderung seiner Brüder, Jesus möge doch endlich aus der provinziellen Enge Galiläas heraustreten und seinen Jüngern in Judäa nicht mehr en kryptō {im Verborgenen}, sondern en parrhēsia {in der Öffentlichkeit} seine Werke zeigen, an ihrer Stelle im Plot der Erzählung so, wie der Erzähler sie verstanden wissen will, nämlich als den höchst ironischen Ausdruck ihres Desinteresses, Unwissens und Unglaubens: oude gar hoi adelphoi autou episteuon eis auton {nicht einmal seine Brüder glaubten nämlich an ihn}.

Diese Distanzierung „von der Forderung seiner Brüder“ sieht Thyen in einer Linie mit Jesu harscher Reaktion auf die „Zumutung seiner Mutter“ in Johannes 2,4, die Thyen dort folgendermaßen übersetzt hatte (T150): „Was mischst du dich in meine Angelegenheiten ein, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Er schließt nicht aus, dass „im Hintergrund dieser Distanzierungen … die synoptische Szene von Mk 3,31-34 parr.“ steht (T387f.):

Hatte Jesus in jener Szene, als ihm gemeldet wurde, draußen seien seine Mutter und seine Geschwister und suchten ihn, mit dem Blick auf die rings um ihn Versammelten erklärt: ide hē mētēr mou kai hoi adelphoi mou {Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!} (Mk 3,34), so kann eine derartige Identifizierung bei Johannes erst erfolgen, wenn Jesu „Stunde“ gekommen ist. Erst das Wort des Auferstandenen macht die um ihn Versammelten zur Familie Gottes. Es benennt seine Jünger erstmalig als seine „Brüder“ und seinen Vater als ihren „Vater“: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich steige (jetzt) auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (20,17). Aus dem gleichen Grund dürfte auch das „Vaterunser“ bei Johannes fehlen und durch Jesu große Meditation darüber in Joh 17 ersetzt sein.

Ganz überzeugt mich diese Argumentation jedoch nicht. Erstens wird das Verhalten von Jesu Mutter und seinen Brüdern bei Johannes eben nicht auf derselben Linie gesehen, denn die Mutter fordert die Diensthabenden auf, den Willen des Messias zu tun (2,5), während die Brüder nicht auf ihn vertrauen. Zweitens bleibt bei Thyen offen, ob und wie die Bezeichnung der Jünger als Brüder in 20,17.18 sich überhaupt auf die leiblichen Brüder Jesu beziehen mag, wenn er darin eine Parallele zu Markus 3,34 erblickt. In 19,25-27 ist es jedenfalls die Mutter Jesu selbst, die vom Lieblingsjünger eis ta idia {in das Eigene} genommen, also in die messianische Gemeinde Jesu integriert wird.

Dass Jesus (T388) in Vers 6 nicht wie an vielen anderen Stellen von seiner hōra, „Stunde“, redet, sondern von seinem kairos {Zeit, Zeitpunkt}, führt Thyen einerseits auf die „Vorliebe unseres Autors für den Gebrauch von Synonyma“ zurück und andererseits darauf,

daß die hōra auf eine so spezifische Weise mit dem Weg und der Person Jesu verbunden und dadurch definiert ist, daß es nahezu unmöglich wäre, von der „Stunde“ seiner Brüder zu sprechen. Um aber den Gegensatz zwischen Jesus und seinen ungläubigen Brüdern gleichwohl kompatibel zu machen ist jetzt von seinem und ihrem kairos die Rede: ho de kairos ho hymeteros estin hetoimos {eure Zeit dagegen ist immer da}. Jesu kairos steht als seine „Stunde“, die das Schicksal der Welt ,wenden‘ wird, noch bevor. Vom kairos seiner Brüder und aller anderen Menschen dagegen gilt, daß er jederzeit, pantote, „solange es noch ,heute‘ heißt“, da ist, dazu da ist, „seine (sc. Gottes) Stimme zu hören und sein Herz nicht zu verstocken (Ps 95,8).

Im Gegensatz zu Wengst versteht Thyen also Jesu Aussage über den kairos der Brüder, der immer da ist, nicht ironisch, sondern als Aufforderung, den jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt zur Umkehr und zum Hören auf Gottes Stimme zu nutzen.

Jesu Wort in Vers 7: „Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber haßt sie, weil ich ihr bezeuge (martyrō peri autou), daß ihre Werke böse sind“, legt Thyen von „seiner abschiedlichen Rede an seine Jünger“ her aus. Dort sagt Jesus:

„Wenn der Kosmos euch haßt, so bedenkt doch, daß er mich bereits vor euch gehaßt hat. Wenn ihr aus der Welt wäret (ei ek tou kosmou ēte), würde die Welt (euch als) ihr Eigenes lieben. Weil ich euch aber aus der Welt heraus erwählt habe, darum haßt euch die Welt“ (15,18f).

Daher kann

die Welt Jesu Brüder gar nicht hassen…, weil sie ek tou kosmou {aus der Welt} sind, weshalb der Kosmos sie im Gegenteil sogar als sein idion {Eigenes} lieben wird. In der erzählten Zeit unseres Evangeliums gehören sie jedenfalls nicht zu denen, die Jesus „aus der Welt heraus erwählt hat“ und die deshalb wie ihren Herrn der Haß der Welt trifft.

In diesem Zusammenhang erwähnt Thyen das „judenchristliche sogenannte ,Hebräerevangelium‘“, das „den Herrenbruder Jakobus zum Teilnehmer am letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern und danach zum ersten Zeugen des Auferstandenen“ macht und auf diese Weise der kritischen Tendenz des Johannesevangeliums entgegentritt.

Auffällig finde ich es, dass Thyen auf jegliche Definition des Wortes kosmos verzichtet, während Wengst seine Bedeutung in Vers 4 und Vers 7 sehr unterschiedlich bestimmt. In Vers 4 geht Thyen auf das Wort überhaupt nicht ein, und in Vers 7 scheint er eine von absoluter Feindseligkeit gegenüber Jesus und seiner Verkündigung geprägte Welt vorauszusetzen, ohne näher zu erläutern, wen er konkret damit meint.

Das in den Versen 8-10 von Wengst festgestellte Problem, dass Jesus seinen Brüdern gegenüber offensichtlich die Unwahrheit sagt, spielt Thyen (T389) von vornherein herunter, indem er Jesus Aussage: „Zieht ihr hinauf zu dem Fest! Ich gehe nicht hinauf zu diesem Fest, denn meine Zeit ist noch nicht vollendet“, mit Walter Bauer <600> als ein Beispiel „amphibolischer {zweideutiger, doppelsinniger} Redeweise“ begreift:

anabainein {Hinaufsteigen} blickt nicht nur auf die Reise nach Jerusalem, sondern ebenso auf den Aufstieg in den Himmel (wie 3,13; 6,62). Und da eis m. Akk. die Bedeutung von en m. Dat. haben kann (s.z. 1,18), ergibt sich für das ouk anabainō eis tēn heortēn tautēn {ich steige nicht zu diesem Fest hinauf} der Doppelsinn: 1. ich reise nicht zu diesem Fest hinauf und 2. ich steige nicht an diesem Fest nach oben.“

Ob Jesus seine Brüder zum Selbstschutz wegen der Gefährdung seines Lebens in Judäa angelogen haben könnte, zieht Thyen daher nicht einmal in Erwägung. Wenn auch „sein faktisches Verhalten“ in Vers 10 „der Antwort, die er eben noch ,seinen Brüdern‘ gegeben hatte, … zu widersprechen“ scheint, wird Jesus schließlich tatsächlich „nicht während dieses, sondern eines anderen Festes, nämlich des kommenden Passa, dorthin ‚aufsteigen‘…, wo er zuvor war“. Denn es

ist wohl erst aus den Hosianna-Rufen und dem Psalmengesang derer, die den zu seiner ,Stunde‘ in die Davidstadt Einziehenden mit den Worten empfangen: eulogēmenos ho erchomenos en onomati kyriou, ho basileus tou Israēl {gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel} (12,13), zu lernen, was es um ein ,Hinaufgehen‘, oudepō en kryptō, alla phanerōs {nicht im Verborgenen, sondern öffentlich} ist.

Zugleich sieht Thyen „eine gewisse Analogie zu dem Wort an ,seine Mutter‘: ‚Meine Stunde ist noch nicht gekommen‘ (2,4) und seinem anschließenden Tun“, wobei in seinen Augen „dort der ,Schlüssel‘ zur Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs die Kennzeichnung des Kanawunders als archē tōn sēmeiōn {Anfang der Zeichen} (2,12)“ war, „das heißt: als auf Jesu ,Stunde‘ hinweisendes ,Zeichen‘“. Erneut muss ich jedoch einwenden, dass Jesu Entschluss, dieses Zeichen zu tun, unmittelbar nach der Anweisung von Jesu Mutter an die Diensthabenden erfolgte, zu tun, was ihnen Jesus auftragen würde. Das heißt: der jetzt dargestellte Konflikt Jesu mit seinen Brüdern verläuft an genau dieser wichtigen Stelle nicht parallel zu Jesu Gespräch mit seiner Mutter, denn daran, dass seine Brüder ihm nicht vertrauen, hat sich bis zum Entschluss Jesu, doch zum Fest hinaufzugehen, nichts geändert.

Im Unterschied zu den für mich wenig bis gar nicht zufriedenstellenden Interpretationen von Wengst und Thyen bietet Ton Veerkamp <601> meines Erachtens eine überzeugende Auslegung der ersten zehn Verse von Johannes 7. Dabei begreift er die Brüder Jesu, die bereits in 2,12 im Umfeld seiner Schüler aufgetreten sind und in 20,17.18 zu ihnen gehören werden, als eine nunmehr eigenständig hervortretende Untergruppe seiner Schüler, die mit Jesus als dem Messias ganz andere politische Vorstellungen und Strategien verbinden als Jesus selbst:

Die Schüler versprechen sich offenbar etwas vom kommenden großen Fest, wo sich ganz Israel eine Woche lang versammeln sollte. Von diesen Schülern sind es vor allem die „Brüder Jeschuas“, die auf dem Sukkotfest Fakten geschaffen sehen wollen. Jeschua soll sich dort „erklären“ und so zum Mittelpunkt des Festes werden. Das geschieht auch, aber anders als es sich die Brüder vorstellten.

Um die Absichten dieser Brüder Jesu verstehen zu können, erinnert Veerkamp an die führende Rolle, die Jesu Brüder, allen voran Jakobus, in der messianischen Gemeinde Jerusalems spielten:

Dass Jeschua Brüder hatte, mochte sich das Christentum bis zum Anfang der Neuzeit nicht vorstellen. Er hatte Brüder und diese Brüder spielten in der messianischen Bewegung eine wichtige Rolle. Die messianische Gemeinde in Jerusalem war die Gemeinde der Brüder Jeschuas; Jakobus, der „Bruder des Herrn“ – nicht zu verwechseln mit Jakobus, dem Sohn des Zebedäus –, war ihr Vorgesetzter. Sie entwickelten aus ihrer direkten Verwandtschaft mit Jeschua Ansprüche auf eine führende Rolle in der messianischen Bewegung.

Auch Thyen hatte die Erzählung Markus 3,31-35 und ihre Parallelen bei Matthäus und Lukas als Hintergrund unseres Abschnitts erwähnt; Veerkamp sieht in ihnen eine scharfe Kritik gegen „diese Art von auf Verwandtschaft beruhenden Leitungsansprüchen“. Dass dort auch die Mutter Jesu gemeinsam mit seinen Brüdern kritisch betrachtet wird, mag sich „auch gegen die messianische Gemeinde des Johannes“ richten, „wo offenbar die Mutter Jeschuas eine zentrale Stellung hatte (19,26f.)“.

Die Kritik der synoptischen Evangelien an den Brüdern Jesu teilt Johannes aber voll und ganz, indem er sie am Anfang des Kapitels 7 konkret zuspitzt und sie als Sympathisanten zelotisch-messianischer Positionen darstellt:

Johannes polemisiert hier gegen die Brüder; sie erblicken in Jeschua ein politisches Kapital: „Mache dich der Weltordnung offenbar!“ Sie wollten eine offene politische Herausforderung der real existierenden politischen Macht. Für sie ist die Politik Jeschuas die Politik einer subversiven Existenz; was er tut, tut er „im Verborgenen“. Damit solle, nach allem, was er in Galiläa gezeigt hat, jetzt Schluss sein. Die Menge hat am Ufer des galiläischen Meeres den Messias erkannt. Jetzt soll er sich im Zentrum der Macht als Messias offenbaren, das heißt, seinen politischen Anspruch anmelden.

Damit definiert Veerkamp das Wort kosmos nicht nur im Blick auf Vers 7 so ähnlich wie Wengst, sondern schon auf Vers 4. Das heißt, Jesu Brüder fordern Jesus nicht einfach nur dazu auf, wie Wengst meint, in der größtmöglichen jüdischen Öffentlichkeit beim bedeutendsten jüdischen Fest religiöse Ansprüche anzumelden, sondern in Jerusalem zum Aufstand gegen die politische Macht Roms und ihrer Kollaborateure aufzurufen. Genau das entspricht aber nicht den Absichten Jesu. Zwar will auch er die Überwindung der römischen Weltordnung und die Befreiung Israels, aber nicht mit den kurzschlüssigen militärischen Mitteln der Zeloten, sondern – so unmöglich es klingt – mit der Hingabe seines Lebens am römischen Kreuz:

Für Johannes waren die Brüder – die messianische Gemeinde Jerusalems – Sympathisanten der militanten zelotischen Bewegung gewesen. Die Auseinandersetzung zwischen Jeschua und seinen Brüdern dreht sich um das Wort kairos. Das Wort kommt bei ihm nur hier vor. Johannes meidet sonst das Wort. Er redet lieber von hōra, Stunde. Offenbar war für ihn das Wort kairos mit einem zelotischen Virus infiziert. Hier muss er das Wort kairos verwenden. Für die Militanten ist der kairos immer da; immer suchen die Zeloten die Gelegenheit, die Zeit „reif“ (hetoimos, bereit) zu machen, den finalen Kampf zu führen.

In diesem Zusammenhang erinnert Veerkamp daran, dass es auch zur Zeit des Johannes und noch später „gerade in der Diaspora Menschen mit militanten Anschauungen“ gab, deren „Krieg gegen Rom (115-117)“ wie der erste Jüdische Krieg 65-70 „ebenfalls in einer Katastrophe“ endete:

Das siebte Kapitel versteht man nur vor dem Hintergrund des großen Marsches der zelotischen Kämpfer aus Galiläa in die Stadt Jerusalem im Jahr 67, ein Marsch ins Verderben, wie Johannes und seine Gemeinde wussten. Von einem Leben „im Verborgenen“, das Johannes als die einzige realistische politische Option sah, hielten die Militanten nichts: „Auch seine Brüder vertrauten ihm nicht.“

Von den Erfahrungen des Jüdischen Krieges her polemisiert Johannes also vehement gegen diejenigen, die auch in seiner Zeit noch statt der tätigen Erwartung des Lebens der kommenden Weltzeit einen messianischen Aktionismus propagieren:

Jeder Messianismus lebt ständig in der Versuchung, die Zeit abkürzen zu wollen. Jeschuas Einwurf besteht in der Partikel oupō, „noch nicht“. Dieses politische „noch nicht“ hören wir bei Johannes siebenmal, das letzte Mal in 20,17.

Auch die Auferstehung Jeschuas steht unter dem Vorbehalt des „noch nicht“. Maria aus Magdala wird von Jeschua zu seinen Brüdern geschickt mit der Botschaft: „Ich, Jeschua, steige auf zu meinem VATER und eurem VATER, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Erst dann kann der Aufstieg beginnen, er ist noch nicht abgeschlossen: „Noch bin ich nicht (oupō) zum VATER aufgestiegen.“ Auch die Auferstehung ist keine Legitimation für den zelotischen kairos. Maria aus Magdala wird genau zu den Brüdern Jeschuas geschickt, die offenbar immer noch mit Kairos-Analysen beschäftigt sind. Auch für das Jahr 100 gilt: „noch nicht!“; es galt für jeden Zeitpunkt zwischen den Jahren 60 und 100.

Was genau Veerkamp mit diesem „noch nicht“ des Aufgestiegenseins zum VATER meint, wird „bei der Besprechung von 20,17-18“ zu klären sein.

Spannend finde ich die Ausführungen Veerkamps zur Frage, warum der Hass des kosmos zwar Jesus, aber nicht seinen Brüdern gilt:

Nun werden wir bei der Auffassung bleiben, dass mit kosmos die (römische) Weltordnung gemeint ist. Dann stellt sich die Frage, warum Rom die zelotischen Kämpfer nicht hassen soll, dafür aber Jeschua. Rom sieht in den zelotischen Kämpfern Gegner, die ihm vertraut sind. Es bekämpft sie mit jener leidenschaftslosen Entschlossenheit, mit der es immer seine Gegner bekämpfte und fast immer mit ihnen fertig wurde. Die Zeloten bekämpfen Rom auf der gleichen Ebene, mit militärischen Mitteln. Auf dieser Ebene ist Rom überlegen. Warum sollte Rom die Brüder Jeschuas hassen?

„Mich aber hasst die Weltordnung“, sagt Jeschua. Hassen ist für Johannes immer: kompromisslos ablehnen. Die Weltordnung lehnt Jeschua kompromisslos ab, weil er ihr unheimlich ist. Wir fragen natürlich, warum Jeschua ihr unheimlich ist; sie nimmt ihn nicht einmal wahr. An dieser Stelle kann die Frage nicht beantwortet werden. Eine Antwort gibt Johannes erst in der Erzählung über das Verhör Jeschuas durch Pilatus. Dieses Verhör ist auf der Seite des Pilatus eine Mischung aus Arroganz und Angst. Jeschua war Pilatus unheimlich. Für diese Mischung gibt es nur ein Wort: Hass. Rom bekämpft die Messianisten nicht mit Waffen, sondern eben mit Hass.

Die Haltung der Henker während der sogenannten Christenverfolgungen war immer aus einer Mischung von Verachtung und dem Gefühl der Unheimlichkeit gespeist, die die Märtyrer und Märtyrerinnen ihnen einflößte. Dieser hasserfüllten Ordnung kann man sich nur dann offenbaren, wenn eine absolute Alternative vorhanden ist, also wenn „der Augenblick erfüllt ist“. Das ist eben nicht der Fall, und deswegen kann die Weltordnung, können alle, die sich zu ihr bekennen, ihn nicht erkennen als das, was er wirklich ist: der Messias Israels. Er ist in dem, was er tut und ist, verborgen. Die messianische Existenz ist subversive Existenz, das besagt das Verb kryptein, „sich verbergen“.

Ich gebe zu, dass ich an dieser Stelle Ton Veerkamp noch nicht ganz verstanden habe. Meint er, dass für Jesus der „Augenblick erfüllt ist“, wenn er am Kreuz stirbt und sein pneuma, den „Geist“ oder die „Inspiration“ des Gottes Israels, seinen Schülerinnen und Schülern übergibt? Ist für die Schülerschaft Jesu dieser „Augenblick“ dann gekommen, wenn sie selber vor den römischen Henkern nicht klein beigeben, sondern sich zu ihrem Messias Jesus bekennen? Oder bleibt auch ihre Existenz verborgen und subversiv, so lange das Leben der kommenden Weltzeit in Freiheit, Recht und Frieden auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes noch nicht angebrochen ist?

Die Frage, warum Jesus den Brüder sagt, dass er nicht zum Fest hinaufgehen will und es dann doch tut, beantwortet Veerkamp entsprechend seiner politischen Einschätzung der Absichten dieser Brüder mit folgenden Erwägungen:

Unter den Umständen, die die Brüder wollen, kann und will er nicht zum Fest hinaufgehen. Mit der zelotisch-messianischen Euphorie will er nichts zu tun haben. „Ihr mögt hinaufgehen“, wie so viele Menschen aus Galiläa hinaufgegangen sind. Alles, was sie erreichen können, war höchstens Krawall, von den römischen Soldaten blutig niedergeschlagen (Lukas 13,1ff.). „Offenbar“ hingehen bedeutet nichts als Krawall, sinnlose Randale. Sie mögen gehen, er gehe nicht, sagt Jeschua, nicht mit euch, nicht wie ihr geht; nicht als öffentliche Gestalt, mit öffentlich geltend zu machenden Ansprüchen (phanerōs), sondern verborgen (en kryptō).

Mit diesem Stichwort ist Veerkamp zufolge das Thema der folgenden Abschnitte genannt. Zwar wird Jesus in Jerusalem auftreten, sogar in größtmöglicher Öffentlichkeit im Tempel, trotzdem bleibt im Ungewissen, wer er ist, der große Streit, ob er der Messias ist, wird nicht entschieden, man wird ihn (noch) nicht ergreifen:

Um die Verborgenheit, die Subversivität des Messias, geht es in den nächsten Abschnitten. Und wir werden sehen, dass politische Eindeutigkeit und Subversivität nicht miteinander in Widerspruch stehen, sondern sich gegenseitig voraussetzen. Unter römischen Verhältnissen denaturiert Subversivität ohne politische Eindeutigkeit zum Gangstertum; politische Eindeutigkeit ohne subversive Praxis zeichnet nur den Hofnarren des Systems aus.

Der letzte Satz bereitet mir Schwierigkeiten, weil Veerkamp hier polemisch zugespitzt formuliert, ohne dass ich genau erkenne, wohin diese Polemik zielt. Mit den politischen Gangstern mag er zelotische Abenteurer meinen, die nach einer Formulierung von Josephus (Bell. 2, 20, 7) nur auf „Stehlen, Plündern und Rauben“ aus sind. Ich frage mich, ob man Jesus einen „Hofnarren des Systems“ nennen könnte, wenn er zwar vom zukünftigen Anbruch der kommenden Weltzeit reden würde, aber ohne konkrete Zeichen der Überwindung dieser derzeit herrschenden Weltordnung zu setzen.

Johannes 7,11-13: Gerüchte über Jesus, ob er gut ist oder ein Volksverführer

7,11 Da suchten ihn die Juden auf dem Fest und fragten: Wo ist er?
7,12 Und es war ein großes Gemurmel über ihn im Volk.
Einige sprachen: Er ist gut;
andere aber sprachen: Nein, sondern er verführt das Volk.
7,13 Niemand aber redete offen über ihn aus Furcht vor den Juden.

[14. Juli 2022] Für Klaus Wengst (W131) erweist Johannes 7,11-13, dass Jesu „Tarnung angebracht ist“. Dass er „auf dem Fest erwartet und gesucht“ wird, geschieht „gewiss nicht in freundlicher Absicht“:

Der Text stellt „die Juden“ und „die Leute“ gegenüber. Diese Gegenüberstellung und die Formulierung, „aus Furcht vor den Juden“ habe niemand offen über Jesus geredet, machen deutlich, dass unter „den Juden“ die führenden vorgestellt sind. Es ist eine Situation vorausgesetzt, in der es nicht opportun erscheint, durch irgendeine Äußerung mit dem Namen Jesus in Zusammenhang gebracht zu werden. Das war nicht die Situation des irdischen Jesus, sondern offenbar die des Evangelisten und seiner Gemeinde.

Darin, dass Johannes sofort in knapper Form „unterschiedliche Meinungen“ anführt, „die über Jesus getuschelt werden“, sieht Wengst ein Vorspiel für dieses Kapitel, in dem das „noch zweimal in ausführlicherer Form“ geschehen wird. Die einen sagen (Anm. 373): „Er ist gut“, die anderen (W231), dass er „die Leute in die Irre führt“:

In der größtmöglichen Öffentlichkeit von Sukkot – eine Öffentlichkeit „angesichts des Ewigen, deines Gottes“, an dem Ort, den er erwählt hat – steht in Kap. 7 zur Debatte, ob Jesus diesen Gott repräsentiert oder ob er von ihm abwendet, ob er den Namen Gottes heiligt oder entweiht.

Hartwig Thyen beschäftigt sich (T390) intensiver mit einzelnen Worten in diesen Versen, etwa damit, dass weder die Ioudaioi {Juden} noch die ochloi {Volksmassen als Plural von Volksmenge} Jesus beim Namen nennen. Erstere verwenden für ihn das „Pro-Nomen ekeinos {jener}“, letztere sagen „aus Furcht vor eben diesen ,Juden‘ nur ,er‘.“ Mit dieser Unterscheidung zwischen Juden, die Ioudaioi genannt werden, und der Volksmenge, ochlos bzw. ochloi, der doch ebenfalls „gewiß jüdischen Festpilger…, deren Verhalten durch ihre ,Furcht vor den Juden‘ (dia ton phobon tōn Ioudaiōn) bestimmt ist“, wird das in 7,2 neutral und in 4,22 sogar positiv verwendete Wort Ioudaioi nun negativ für eine bestimmte Gruppe von Juden gebraucht:

Mit hoi Ioudaioi können hier darum keinesfalls ,die Juden‘ schlechthin bezeichnet sein, nicht das jüdische Volk ist hier im Blick, sondern eine bestimmte Elite, deren faktische Macht ,das Volk‘ fürchtet, und die dieses Volk ihrerseits verachtet und es als den ochlos … ho mē ginōskōn ton nomon {das Volk, das die Tora nicht kennt} (7,48) verflucht. Und es ist dann ironischerweise ein archōn {Oberer} aus ihrer Mitte, nämlich Jener Nikodemus, der des Nachts zu Jesus gekommen war (3,1ff), der aufdecken muß, daß sie selbst die Tora nicht kennen und sich, von ihrer Feindschaft Jesus gegenüber geblendet, über deren Weisungen hinwegsetzen (7,50f; s. u. z. St.).

Auch Ton Veerkamp <602> versteht die Gegenüberstellung von Judäern und der doch ebenfalls jüdischen Volksmenge in diesem Abschnitt als Ausdruck einer Spannung, die durch eine Führung des Volkes hervorgerufen wird, vor der man Angst haben muss, wenn man seine Meinung offen äußert:

Die Judäer suchten ihn: „Ist er da oder nicht?“ Sie suchten zunächst nichts als eine Antwort auf diese Frage. Das Interesse an ihm wird durch Gerüchte genährt. Man fragt sich, was von ihm zu halten sei, ob er gut sei. Gut für was? Der Gegensatz beantwortet diese Frage. Gut für die Führung des Volkes. Einige meinten, er sei in dieser Hinsicht „gut“, andere vielmehr, er führe das Volk in die Irre.

Die Erörterung dieser Fragen kann nicht offen geschehen, „wegen der Furcht vor den Judäern“. Die Judäer suchen ihn, es herrsche Furcht vor ihnen; das Problem in 7,11-13 ist die Doppeldeutigkeit des Subjekts. Es gibt eine Spannung zwischen der Menge (ochlos) und den Judäern (loudaioi). Jedenfalls ist die Vorstellung Ioudaioi, Judäer, Juden, hier strikt zweideutig: „Juden“ haben Angst vor „Juden“.

Hier wird deutlich, warum Jesu „Gang zum Fest … ein verborgener, subversiver“ hat sein müssen. Auch wenn er nach Vers 14 „diese Verborgenheit“ aufzuheben scheint, indem er im Tempel lehrt, bewegt sich Jesus in Wahrheit

unter Judäern, die Angst vor Judäern haben, die judäische Menge schützt ihn vor dem Zugriff der Beamten der Judäer; die Menge ist die Voraussetzung für subversive Existenz.

Johannes 7,14-18: Jesu Lehre im Tempel von dem Gott, der ihn gesandt hat

7,14 Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte.
7,15 Und die Juden verwunderten sich und sprachen:
Wie kennt dieser die Schrift, wenn er es doch nicht gelernt hat?
7,16 Jesus antwortete ihnen und sprach:
Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat.
7,17 Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden,
ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich aus mir selbst rede.
7,18 Wer aus sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre;
wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat,
der ist wahrhaftig, und keine Ungerechtigkeit ist in ihm.

Klaus Wengst begründet den Umstand (W232), dass Jesus nach Vers 14 zur „Festmitte“ nun doch „aus der Verborgenheit“ heraustritt, nicht wie Veerkamp mit dem Schutz durch die jüdische Volksmenge, sondern allein mit der Souveränität Jesu:

Er bestimmt selbst den Augenblick seines öffentlichen Auftretens. Die Verborgenheit ist kein Selbstzweck, kein Wert an sich und deshalb auch keine Dauererscheinung. Es muss zu öffentlichem Zeugnis kommen. Aber wann das zu geschehen hat, lässt sich nicht außerhalb der Situation bestimmen. Der Ort der Öffentlichkeit ist der Tempel, zu dem Jesus hinaufsteigt. Dort tritt er als Lehrender auf. Dem entspricht die im Evangelium häufige Anrede als „Lehrer“ und die Bezeichnung der zu ihm Gehörigen als „Schüler“.

Indem für Wengst die in Vers 15 „als Subjekt eingeführten ‚Juden‘ … mit den in V. 20 genannten „Leuten“ identisch“ sind, ist bei ihnen nicht mehr an die führenden Juden gedacht, sondern „an die am Fest im Bereich des Tempels versammelten Juden“:

Sie „verwunderten sich“. Der Zusammenhang zeigt, dass damit kein positives Staunen gemeint ist, sondern ein unwilliges und ärgerliches Erstaunen. Sie wenden gegen Jesus ein: „Wieso hat der Schriftkenntnisse, da er doch nicht studiert hat?!“ Dieser Einwand setzt zunächst voraus, dass Jesus als Ausleger der Schrift lehrt. Sie ist die selbstverständliche Basis. Sodann heißt Lernen, um selbst einmal Lehrer der Schrift zu werden, im Judentum nicht, sich autodidaktisch etwas beizubringen, sondern es heißt, bei einem Lehrer zu lernen, was Dienst ihm gegenüber im gemeinsamen Leben mit ihm einschließt.

Zur Sorge (W233), „dass ein Autodidakt in ungleich größerem Maß in Gefahr steht, Irrtümer einzuführen“, führt Wengst verschiedene rabbinische Quellen als Beleg an. Zu einem „späten Text“, <603> in dem, wer „außerhalb der Kontinuität der Tradition“ steht und sie daher „gefährdet“, „als Ungebildeter, Ignorant, Samariter und Magier bezeichnet“ wird,

zeigt das Johannesevangelium überraschende Entsprechungen, wenn Jesus nach dem Vorwurf von 7,15, er habe nicht studiert, im Weiteren als ein vom Dämon Besessener und ein Samariter bezeichnet wird (7,20; 8,48f.52; 10,20).

Auf der anderen Seite kennt die „rabbinische Tradition“ <604>

ganz wenige Ausnahmen, die „von selbst“ Gott erkannt haben. So heißt es im Anschluss an ein Zitat aus Spr 14,14 über den dort erwähnten „guten Mann“: „Das war Abraham, der von selbst den Heiligen, gesegnet er, erkannte. Es gab keinen Menschen, der ihn belehrte, wie der Ort (= Gott) zu erkennen sei, sondern er (erkannte) von selbst. So ist er einer von den vier Menschen, die von selbst den Heiligen, gesegnet er, erkannten“. Als die übrigen drei gelten: Hiob und König Hiskia; „und der König, der Gesalbte (Messias), erkannte von selbst den Heiligen, gesegnet er“.

Es ist genau diese „Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott“, die Jesus in Vers 16 beansprucht, indem er auf die Vorstellung vom „Botenrecht“ <605> zurückgreift:

Der Bote redet nicht in eigener Machtvollkommenheit, sondern überbringt die Botschaft dessen, der ihn gesandt hat. Wird seine Legitimität bestritten, wird die von ihm überbrachte Botschaft angezweifelt, gerät er unweigerlich in Beweisnot. Er kann nur beteuern, nichts als die Botschaft des ihn Sendenden zu übermitteln. Genau das tut hier der johanneische Jesus. Durch die aufgenommene Botenvorstellung sagt der Evangelist: Im Wort Jesu spricht Gott selbst. Das ist ein nicht ausweisbarer Anspruch. Für dessen Richtigkeit gibt es keine objektiven Kriterien, die von außen angelegt werden könnten und dann eine Entscheidung erlaubten. Es gibt sozusagen nur das subjektive Experiment: sich im Lebensvollzug auf die Sache einzulassen und dann schon zu merken, ob etwas daran ist oder nicht.

Daraufhin wird in Vers 17 nicht einfach „zum Glauben an Jesus, wie es an anderen Stellen der Fall ist“, eingeladen, sondern derjenige, der Gottes „Willen tun will“, wird erkennen, ob Jesu Lehre „von Gott ist“ oder ob Jesus von sich selbst aus redet. Da damit „konkret der in der Tora kodifizierte Wille Gottes“ gemeint sein muss, wird hier „die sachliche Übereinstimmung dieses Gotteswillens der Tora mit dem vorausgesetzt, was Jesus lehrt“.
Schließlich unterscheidet Jesus (W234) in Vers 18 zwischen der eigenen Ehre und der Ehre Gottes:

Wer aus eigener Machtvollkommenheit redet, stellt seine eigene Person heraus, handelt eigenmächtig. Würde sich ein Bote so verhalten, hätte er seinen Auftrag verfehlt und den verraten, der ihn beauftragt hat. Der wirkliche Bote will dagegen gerade die Person seines Auftraggebers herausstellen und dessen Willen zum Zuge kommen lassen. Tut er das, ist er „verlässlich“. Hier ist hinter dem griechischen Wort alethés deutlich das hebräische nɘemán zu erkennen: treu, zuverlässig, wahrhaftig.

Darin, dass es Jesus allein „um Gottes ‚Ehre‘ geht“ und nicht um seine eigene, unterscheidet er sich nicht von

seiner jüdischen Umwelt…, umstritten ist allerdings, wo sie ihren Ort hat: ob sie in Jesus aufscheint. Wahrscheinlich ist es nicht von ungefähr, dass dieser Streit auf der erzählten Ebene im Tempel ausgetragen wird, dem vorzüglichsten Ort des k‘vod adonáj, der Herrlichkeit bzw. Ehre des Ewigen.

Obwohl also „auch für die andere Seite der Vorrang der Ehre Gottes selbstverständlich ist“, ist für Jesu Gegner „der Ort von Gottes Ehre bzw. Herrlichkeit in erster Linie die Tora, während nach Johannes Gott seine Ehre vor allem auch im Kreuz Jesu gesucht hat“. Allerdings setzt er nach Wengst „dieses nicht jener alternativ entgegen“. Von daher ist es in seinen Augen (W234f.) „nicht überraschend“, dass Jesus im nächsten Vers „auf die Tora zu sprechen kommt“.

Hartwig Thyen (T391) wendet sich zunächst dagegen, aus Vers 14 herauszulesen, Jesus habe „an der von Freude erfüllten Feier des Laubhüttenfestes“ nicht teilgenommen, bis er in der Mitte dieses Festes das Wort ergreift:

Wichtig ist dem Erzähler nach seinem Bericht von Jesu Lehren en synagogē {in synagogaler Versammlung} in Kapharnaum (6,58) allein zu erzählen, daß Jesus auch im Tempel, wo gerade auf der Höhe des Festes mit den zuletzt angekommenen Pilgern „alle Juden versammelt sind“ seine Lehre freimütig und öffentlich vorgetragen hat…

Das „Staunen“ der „versammelten Ioudaioi“ über die Schriftgelehrsamkeit Jesu bringt Thyen in einen Zusammenhang mit dem „Erstaunen“ der „versammelten ‚Lehrer Israels‘“ „in der lukanischen Erzählung ,Vom zwölfjährigen Jesus im Tempel“. Keinesfalls (T392) kann es in Vers 15 darum gehen, „die Behauptung“ zurückzuweisen, „Jesus sei Analphabet gewesen“; die Kenntnis der grammata bezieht sich auf jeden Fall auf „Israels heilige Schriften“.

Dafür, dass „Jesu Lehre nicht seine eigene Erfindung, sondern die Lehre dessen ist, der ihn gesandt hat“, wie er in Vers 16 erklärt und was „im Evangelium vielfach wiederholt und variiert“ wird, kann er sich Thyen zufolge

durchaus auf die ,Schrift‘ berufen. Denn schon Mose hatte in Num 16,28 erklärt: en toutō gnōsesthe hoti kyrios apesteilen me poiēsai panta ta erga tauta, hoti ouk ap‘ emautou ktl. {Daran sollt ihr merken, dass mich der HERR gesandt hat, alle diese Werke zu tun, und dass ich sie nicht tue aus meinem eigenen Herzen} So gesehen ist Jesu ,Antwort‘ also sehr wohl als eine Demonstration seiner spezifischen ,Schriftgelehrsamkeit‘ zu begreifen.

In Vers 17 wird ergibt sich nach Thyen schließlich klar und deutlich,

daß die geforderte Art von Erkenntnis nicht theoretischer, sondern eminent praktischer Natur ist. Denn nur wer sich mit Leib und Seele darauf einläßt (ean tis thelē {wenn einer will}), den Willen Gottes zu tun, der allein vermag zu unterscheiden, ob Jesu Lehre ,aus Gott‘ ist, oder ob er aus sich selber redet.

Auch Thyen setzt hier wie Wengst voraus, dass sowohl Jesus als auch seine Gegner

über diesen Gotteswillen durch die von Mose übermittelte Tora … zureichend informiert sind. Aber nicht schon das bloße Wissen, sondern allein das Tun zählt hier und öffnet die Augen.

In Vers 18 stellt Jesus demjenigen, der „nur seinen eigenen Ruhm zu begründen trachtet“, sich selbst als denjenigen gegenüber, „der allein die doxa {Ehre} dessen sucht, der ihn gesandt hat (tou pempsantos auton), und der darum ,wahr‘ und ohne adikia {Unrecht} ist“ (T392f.):

Zugleich aber öffnet er durch das Gegenüber dessen, der seinen eigenen Ruhm sucht, und dessen der nach dem Ruhm dessen trachtet, der ihn gesandt hat, denen den Weg zu alētheia und dikaiosynē {Wahrheit und Gerechtigkeit}, die er als von den Toten Erstandener seinerseits mit dem heiligen Geist ausrüsten und senden wird mit den Worten: kathōs apestalken me ho patēr, kagō pempō hymas {wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch} (20,21).

Für Ton Veerkamp <606> ist die Bemerkung in Vers 14, dass das Fest „schon halb vorbei“ ist, „die Hälfte der großen Zeit von Aufzügen mit Palmzweigen und Fackeln“, nicht einfach eine „neutrale Bestimmung“, vielmehr wird hier „eine Leerstelle“ benannt: „Hier wird ein Fest gefeiert, das noch gar kein Fest ist.“ Nach Johannes werden unter römischen Bedingungen alle Feste Israels durch den Messias Israels neu bestimmt, das heißt neu ausgerichtet auf die Überwindung der versklavenden Weltordnung. Bis zum Ende des zwölften Johannes-Kapitels wird es um die Frage gehen,

wer der Messias ist; was er ist, erweist sich in dem, was er tut. Die Frage wird durch die beiden Zeichen (Johannes 9 und 11) beantwortet. Ob diese Zeichen eine Antwort sind, hängt nur vom Vertrauen auf den Messias ab. Die Brüder haben dieses Vertrauen nicht. Die Menge hat dieses Vertrauen noch nicht, sie ist schwankend (7,31).

Wie könnte es aber zum Vertrauen darauf kommen, dass Jesus der Messias des Gottes Israels ist? Nach Vers 14 tritt er

als Lehrer (didaskalos, Rabbi) auf; in den Tagen vor der Verwüstung Jerusalems war der Lehrort das Heiligtum. Im Heiligtum lehrten die dazu befugten Lehrer, die eine entsprechende Schulung zu durchlaufen hatten. Jeschua war offenbar kein Lehrling eines allgemein bekannten Rabbis, er war nicht „geschult“ (memathēkōs). Sie fragten ihn, wo er seine Lehre her hat, wer sein Rabbi gewesen war bzw. ist. Da er keinen Lehrer vorweisen kann, muss seine Lehre von ihm selber stammen und ist aus dem Grund nicht vertrauenswürdig. … In der Reihe von bewährten Lehrern von Mosche, Josua, den Ältesten, den Propheten, den Männern der großen Versammlung bis zu den Lehrern Hillel und Schammai, die um die Zeitenwende auftraten, hat Jeschua ben Joseph aus Nazareth keinen Platz. Was er auch immer sei, er habe den Judäern nichts zu sagen, er sei schlicht nicht vertrauenswürdig.

Jesu Argumentation in den Versen 16 und 17, dass seine „Lehre nicht von ihm selbst stammt, sondern von dem, der ihn gesandt hat“, ist und „bleibt das Problem vor allem in den beiden Kapiteln 7 und 8:

Wer nicht von vornherein bereit ist, sich auf die Lehre der messianischen Gemeinden einzulassen, muss zumindest skeptisch, meistens aber ablehnend bleiben. Jeschuas Argument lautet: Alle Kinder Israels müssen „den Willen Gottes tun“. Wer den Willen Gottes tun will, muss entscheiden, ob die Lehre Jeschuas von ihm selber oder von Gott kommt. Jeder Lehrer, der vertrauenswürdig wäre, müsse auf die Lehre seines Lehrers verweisen. Tatsächlich argumentiert der Talmud ähnlich. Es wird eine Behauptung aufgestellt (die Lehre) und es wird auf die Lehre anerkannter Lehrer verwiesen: „Rabbi Soundso sagte usw.“ Der Unterschied ist hier, dass Jeschuas Lehrer Gott selber ist, was für die Judäer, die Vertreter des rabbinischen Judentums, völlig inakzeptabel ist.

Zu Vers 18 hebt Veerkamp hervor, dass wir hier zum „vierten Mal <607> … das Verb ‚suchen‘“ hören, das Jesus hier (wie bereits in Johannes 5,30 und 44) mit der Ehre dessen, der ihn gesandt hat, verbindet:

Vertrauenswürdigkeit ergibt sich, wie Jeschua sagt, nicht aus einem Platz in der traditionellen Überlieferungskette, sondern nur daraus, dass der Lehrer die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat. Jeschua sagt hier nicht ausdrücklich, dass Gott ihn gesandt hat; der Satz gilt allgemein: der Lehrer erweist dem, der ihm seine Lehre anvertraut hat, die Ehre, wenn und solange er auf ihn verweist. Nur dann ist er vertrauenswürdig und führt das Volk nicht in die Irre. Denn auf die „Unwahrhaftigkeit“ (adikia), die im Vorwurf planan, „in die Irre führen“ (7,12), steckt, verweist 7,18 zurück.

Johannes 7,19-24: Im Streit um die Tora argumentiert Jesus mit der Beschneidung am Sabbat

7,19 Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben?
Und niemand unter euch tut das Gesetz.
Warum sucht ihr mich zu töten?
7,20 Das Volk antwortete:
Du bist von einem Dämon besessen;
wer sucht dich zu töten?
7,21 Jesus antwortete und sprach zu ihnen:
Ein einziges Werk habe ich getan und es wundert euch alle.
7,22 Darum hat Mose euch die Beschneidung gegeben
– nicht dass sie von Mose kommt, sondern von den Vätern –,
und ihr beschneidet einen Menschen auch am Sabbat.
7,23 Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt,
damit nicht das Gesetz des Mose gebrochen werde,
was zürnt ihr dann mir,
weil ich am Sabbat den ganzen Menschen gesund gemacht habe?
7,24 Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist,
sondern richtet gerecht.

[15. Juli 2022] Nachdem es in den Versen zuvor um den Willen und die Ehre Gottes gegangen war, kommt Jesus (W234) in Vers 19 auch ausdrücklich „auf die Tora zu sprechen“. Aber wie ist (W235) die „hier geführte harte Sprache“ zu erklären, dass „niemand von euch die Tora tut“? Nach Klaus Wengst ist dieser pauschale Vorwurf an seine jüdischen Gegner

nur verständlich aus den harten Auseinandersetzungen zwischen der jüdischen Minderheit, die an Jesus als Messias glaubte, und der jüdischen Mehrheit zur Zeit des Evangelisten. … Jesus beansprucht, dass der in der Tora niedergelegte Wille Gottes mit dem übereinkommt, was er lehrt. Das führt jetzt offenbar zu einem Umkehrschluss: Wer Jesus ablehnt, hält daher auch nicht die Tora; die Tora kann nur halten, wer Jesus anerkennt. Zu solchem Umkehrschluss kommt es bei Johannes in einer Situation, da er die sich um die Tora scharende jüdische Mehrheit Maßnahmen ergreifen sieht, die auch seine Gemeinschaft betreffen, wo er und die Seinen von dort Feindschaft zu spüren bekommen. So lässt er Jesus sagen: „Was trachtet ihr danach, mich zu töten?“

Nur als Ausdruck solcher „schlimmer Erfahrung, die zum Pauschalisieren verleitet“, erscheint Wengst der „Umkehrschluss des Evangelisten“ einigermaßen „verständlich“. Da das jedoch „schon lange nicht mehr unsere Situation“ ist und „das Töten jahrhundertelang massenhaft in anderer Richtung erfolgt“ ist, stellt Wengst die hier ausgedrückte „Lehre Jesu“ insofern in Frage, als er die Frage stellt: „Was ließe das für Rückschlüsse auf die Lehre Jesu zu?“ Den Versuch (Anm. 381) von Adolf Schlatter, <608> „aus V. 19 eine prinzipielle Aussage über das Judentum“ zu machen, indem er behauptet: „Es gab nicht nur einzelne ,Sünder‘ in Jerusalem, sondern Gottes Gesetz und jüdisches Leben blieben ein unversöhnbarer Gegensatz“, lehnt Wengst jedenfalls kategorisch ab.

Zu Vers 20 (W235), in dem „die Leute“ auf „die Beschuldigung Jesu hin, ihn töten zu wollen, … mit dem Vorwurf der Besessenheit“ antworten und beteuern, „niemand sei darauf aus, ihn zu töten“, meint Wengst im Hinblick auf „5,18, wo die Tötungsabsicht schon vermerkt wurde“, dass „Johannes damit die Menge in ahnungsloser Selbsttäuschung“ vorstellt. Wie Thyen das tun wird, könnte man daher auch fragen, ob die hier das Wort ergreifende Volksmenge (ochlos) vielleicht gar nicht mit den zuvor angesprochenen Juden (Ioudaioi) zu identifizieren ist.

Im folgenden Satz würde sich Jesus dann allerdings wieder an die Ioudaioi werden und sie auf „die in Kap. 5 erzählte Sabbatheilung“ ansprechen: „Eine Tat habe ich vollbracht und alle verwundert ihr euch darüber.“ Dass Jesus hier auf ein Ereignis Bezug nimmt, dass schon vor längerer Zeit bei seinem vorigen Aufenthalt in Jerusalem stattgefunden hat, führt Wengst nicht zu den Erwägungen mancher Exegeten (W232), „die Verse 7,15-24 für die ursprüngliche Fortsetzung von 5,47 zu halten“; stattdessen verweist er auf eine treffende Bemerkung von Walter Bauer: <609> „Jo(hannes) denkt eben mehr an seine Leser, die kurz zuvor von diesen Dingen Kenntnis genommen haben, als an die Hörer der Rede.“

Indem Jesus (W235) in den Versen 21 und 22 die eine Tat, die er am Sabbat getan hat, „den vielen Beschneidungen, die am Sabbat vollzogen werden“, gegenüberstellt, da Jungen, die am Sabbat geboren werden und deren Beschneidung am achten Tag vollzogen werden muss, eben auch an einem Sabbat beschnitten werden (W236), argumentiert er „ganz und gar in jüdischem Kontext“. Dabei setzt er „voraus, dass die Tora und also auch der Sabbat grundsätzlich anerkannt sind“. In diesem Zusammenhang lautet Jesu erstes Argument:

Ich habe nur einen einzigen Sabbatbruch begangen und das befremdet euch; von euch wird der Sabbat dauernd gebrochen und niemand nimmt daran Anstoß. Diese Argumentation verkennt allerdings, dass es sich in letzterem Fall um eine einvernehmliche Übereinkunft handelt, im ersten aber um die Tat eines einzelnen aus seinem freien Entschluss.

Daher fügt Jesus als zweites Argument „einen Schluss vom Leichten auf das Schwere“ hinzu:

„Wenn ein Mensch am Sabbat die Beschneidung erhält, damit die Tora des Mose nicht außer Geltung gesetzt werde, dann zürnt ihr mir, weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat heil gemacht habe?“ Im Vordersatz erscheint als Ziel, dass die Tora des Mose in Geltung bleibt. Die am Sabbat vollzogene Beschneidung ist also nicht als Annullierung der Mosetora zu werten, sondern bringt sie im Gegenteil zur Geltung, weil das Gebot der Beschneidung im Konfliktfall für höherrangig angesehen wird als das Arbeitsverbot am Sabbat. Gemäß der Logik des Schlusses vom Leichten auf das Schwere beansprucht dann auch Jesus für seine Tat, mit der er „einen ganzen Menschen am Sabbat heil gemacht“ hat, dass sie die Mosetora nicht verletzt, sondern ihr entspricht. Der „ganze Mensch“ steht hier dem einen Glied gegenüber, das bei der Beschneidung betroffen ist.

Nach Wengst argumentiert Jesus hier ganz ähnlich wie jüdische Rabbinen, <610> etwa Rabbi Elasar mit seiner Aussage: „Wenn die Beschneidung, die eins von 248 Gliedern am Menschen betrifft, den Sabbat verdrängt, um wieviel mehr verdrängt sein ganzer Leib den Sabbat“, oder Rabbi Elieser, der „die am Sabbat notwendige Beschneidung mit dem Grundsatz“ verbindet, „dass jede Art von Lebensgefahr den Sabbat verdrängt:

„Die Beschneidung verdrängt den Sabbat. Weshalb? Weil man ihretwegen, wenn die Zeit versäumt wird, der Ausrottung verfällt. Und ist das nicht eine Sache des Schlusses vom Leichten auf das Schwere? Wenn ein einzelnes Glied von ihm den Sabbat verdrängt, wird dann nicht er als ganzer den Sabbat verdrängen?“

Die (W236f.) Jesu Äußerung abschließende Aufforderung in Vers 24: „Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern fällt ein gerechtes Urteil!“ spielt nach Wengst auf Jesaja 11,3-4 an (W237),

wo es vom erwarteten Messias heißt, dass er nicht nach dem Augenschein urteilen, sondern Verelendeten „mit Gerechtigkeit“ (= in Solidarität) zum Recht verhelfen wird. Das gerechte Urteil, zu dem Jesus hier auffordert, wäre dann also eins, das wahrnimmt, dass mit der Heilung einem Menschen zu seinem Recht, zum Recht auf volle Lebensteilhabe, verholfen wird.

Zusätzlich hätte Wengst auf weitere Implikationen des gerechten Handelns des in Jesaja 11 verheißenen Messias hinweisen können. Dazu gehört die Zerschlagung der Macht der Gewalttätigen und Gottlosen (11,4), die zum Anbruch des Friedens der kommenden Weltzeit führt (11,6-9) und zur Sammlung aller „Verjagten Israels und … Zerstreuten Judas … von den vier Enden der Erde“ (11,12). Im Bewusstsein all dieser Zusammenhänge könnte Jesus in Johannes 7,24 auch darauf anspielen, dass er mit der Heilung des Gelähmten ein Zeichen auf genau diese Sammlung Israels, die Überwindung der gewalttätigen Weltordnung und den Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens hin gesetzt hat.

Auch nach Hartwig Thyen (T393) darf in Jesu Frage an die Juden in Vers 19: „Hat Mose euch nicht das Gesetz gegeben?“

dieses „euch“ keinesfalls so verstanden werden, als distanziere sich hier irgendeine „johanneische Gemeinde“ im Namen Jesu von dem jüdischen Gesetz. Daß Gott Israel durch seinen Knecht Mose die Tora gegeben hat (s. o. zu 1,17), damit es sie ,tue‘, ist vielmehr das unwiderrufliche Zeichen der Erwählung Israels aus allen Völkern. Dabei behaftet Jesus die Juden, wenn er hier betont „euch“ sagt und von „eurem Gesetz“, spricht (vgl. 8,17; 10,34f).

Dass Jesus „über die lange galiläische Episode des sechsten Kapitels hinweg“ die von ihm angeredeten Juden „an ihre mörderischen Absichten“ beim „Geschehen am Teich Bethesda“ (5,18) erinnert, macht Thyen zufolge in kunstvoller Weise „die Kohärenz der Auseinandersetzung Jesu mit den Ioudaioi“ sichtbar.

Für ebenso „kunstvoll“ hält es Thyen in Vers 20,

daß der Erzähler die angeredeten Ioudaioi nun betroffen schweigen und statt ihrer den ochlos, der von dieser mörderischen Absicht offenbar nichts weiß, erklären läßt: ,Du bist ja besessen (daimonion echeis). Wer wollte dich denn schon töten?‘ Jesus bleibt aber bei seiner Anrede an die schweigende Minderheit der Ioudaioi (eipen autois): hen ergon epoiēsa kai pantes thaumazete (dia touto) {(Er sagte ihnen, den Juden): Ein Werk habe ich getan und ihr seid alle in Verwunderung geraten (darüber)}.

Zu Jesu Argumentation über die Beschneidung am Sabbat in den Versen 22 und 23 betont Thyen unter Verweis auf dieselben rabbinischen Belege wie Wengst, dass sich „Jesus, wiewohl mē memathēkōs {nicht geschult} (V. 15), als überlegener Kenner der Schriften und durchaus auf der Höhe auch der halachischen Diskussion um den Sabbat“ erweist (T393f.):

lm übrigen setzt unser Erzähler voraus, daß auch sein ,idealer Leser‘ mit der Sabbat-Tora und der Diskussion darum vertraut ist, denn sonst müßte Jesu Rede ihm ja unverständlich bleiben. Von hier aus zeigt sich aber auch, daß der Vorwurf der Juden: Jesus löse nicht nur den Sabbat auf, sondern, indem er Gott seinen eigenen Vater nenne, mache er sich darüberhinaus selbst zu Gott (5,18), in jeder Hinsicht ein Mißverständnis war. Denn Jesu Diskussion mit den Juden würde ja buchstäblich bodenlos, wenn er nicht die biblische Sabbat-Tora als für beide Parteien verbindlich und unauflöslich voraussetzte. Der Streit kann darum nur um die Auslegung und Anwendung dieser Tora in konkreten Fällen, nicht aber um ihre grundsätzliche Verbindlichkeit gehen.

In Jesu Forderung in Vers 24 (T394): „Urteilt doch nicht nach dem bloßen Augenschein, sondern fällt ein gerechtes Urteil!“ sieht Thyen nur die Bestätigung des Anspruchs Jesu, „der Intention der Sabbats-Tora entsprochen zu haben“; nach eventuellen Hintergründen in den Schriften fragt er nicht.

Für Ton Veerkamp <611> schaltet Jesus „unvermittelt“ schon ab Vers 19

zu jenem Vorwurf zurück, den die Judäer ihm anlässlich der Heilung eines Gelähmten gemacht hatten, er hebe das Schabbatgebot und damit die Tora, also Mosche, auf (5,9b-18). Alle messianischen Gemeinden hatten sich mit diesem Vorwurf auseinanderzusetzen (Markus 2,2ff. par.). Der bar enosch {Sohn des Menschen} war Herr des Schabbat (Markus 2,28), er hatte in der synoptischen Tradition das Privileg, am Tag des Schabbat Werke zu verrichten, die an und für sich untersagt waren.

Das ist aber nicht die Argumentationsweise Jesu im Johannesevangelium:

Johannes argumentiert hier anders, fast rabbinisch. Das erste Argument ist eine Art Retourkutsche: Wenn ich schon gegen die Tora (Mosche) verstoße, wie steht es dann mit euch? „Niemand von euch tut die Tora, warum sucht ihr mich zu töten?“ Die Menge reagiert empört. Tatsächlich wirft Johannes Judäern, die Angst vor Judäern haben, in einen Topf mit jenen Judäern, die anderen Judäern Angst einflößen. Die Empörung der Menge ist daher berechtigt.

Diese Überlegung mag die Einschätzung Thyens ergänzen, der ja zwischen den von Jesus angeredeten führenden Juden, denen der Tötungsvorwurf gilt, und der Volksmenge unterschieden hat. Auch wenn letztere nicht direkt angesprochen ist, muss sie sich in der Hitze des Wortgefechts von dem Vorwurf trotzdem betroffen fühlen.

Als der Messias des Gottes Israels setzt Jesus seine Argumentation folgendermaßen fort:

Wenn er gegen eine Zentralvorschrift der Tora verstößt, ist er nach der Tora des Todes schuldig: Werke verrichten am Schabbat ist ein Kapitalverbrechen, Numeri 15,32ff.; Mischna Sanhedrin 7,8. Jeschua belehrt sie in gut rabbinischer Manier. „Mosche hat euch die Beschneidung gegeben.“ Aber Vorsicht: Warum sagt er nicht: „Mosche hat uns die Beschneidung gegeben?“ Der „Herr des Schabbat, der Tora“ unterliegt nicht dem Schabbatgebot, genauso wenig der Gott Israels: „Mein VATER wirkt bis jetzt; so wirke auch ich“, 5,17. Außerdem sei die Beschneidung schon längst dagewesen, bevor Mosche sie vorgeschrieben hatte, bevor es „eure Tora“ gab, Genesis 17,9ff.

Hinzu kommen die an die rabbinische Tradition angelehnten Argumente, zu denen Veerkamp auf Mischna Schabbat 18,3 und 19,1 verweist, die auch von Wengst und Thyen erwähnt worden sind:

Wie dem auch sei, es ist erlaubt, ja vorgeschrieben, ein männliches Kind am achten Tag nach seiner Geburt zu beschneiden, auch wenn er auf einen Schabbat fällt; würde man das nicht tun, würde man die Tora aufheben. Wenn es erlaubt ist, einen Menschen am Schabbat zum Mitglied des Volkes zu machen, warum soll es nicht erlaubt sein, „am Schabbat einen ganzen Menschen gesund zu machen“?

Über Wengst und Thyen hinaus geht Veerkamp, indem er diese Heilung eines ganzen Menschen symbolisch auf die Überwindung der politischen Lähmung Israels bezieht:

Was bedeutet dieser Ausdruck? Das beschnittene Kind wird durch die Beschneidung zum Teil des Volkes, der ganz Gelähmte ganz gesund. Dieser steht für das ganz und gar gelähmte Israel. „Ihr geifert mich an, <612> weil ich am Schabbat Israel geheilt habe?“

Vers 24 bringt Veerkamp nicht wie Wengst mit Jesaja 11 in Verbindung, sondern mit dem Richten des Volks mit gerechtem Gericht nach der Tora (krinein ton laon krisin dikaian, 5. Mose 16,18):

Tora tun bedeutet, „nicht nach dem äußerlichen Schein, sondern mit bewährtem Recht zu urteilen“, Deuteronomium 16,18f. Jeschua distanziert sich hier nicht von der Tora und auch nicht vom Schabbat. Aber wer mit der Tora wie mit einer Keule des Unrechts hantiert („eure Tora“, nomos hymeteros), distanziert sich von der Tora selbst: „Niemand von euch tut die Tora“, sagt Jeschua, und das heißt: „Wie ihr die Tora tut, verkehrt ihr sie ins Gegenteil.“

Bereits in der Beschäftigung mit Wengsts Auslegung habe ich darauf hingewiesen, dass der Bezug auf Jesaja 11 zusätzlich die Verheißung der Sammlung ganz Israels und des Friedens der kommenden Weltzeit im dortigen Kontext aufruft, womit die Lähmung Israels vollständig überwunden wäre.

Johannes 7,25-29: Jesus tritt im Tempel Gerüchten über ihn und die Oberen Jerusalems entgegen

7,25 Da sprachen einige aus Jerusalem:
Ist das nicht der, den sie zu töten suchen?
7,26 Und siehe, er redet frei und offen, und sie sagen ihm nichts.
Sollten unsere Oberen wahrhaftig erkannt haben, dass er der Christus ist?
7,27 Doch wir wissen, woher dieser ist;
wenn aber der Christus kommt, so weiß niemand, woher er ist.
7,28 Da rief Jesus im Tempel und lehrte:
Ja, ihr kennt mich und wisst, woher ich bin.
Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen,
sondern von dem, der wahrhaftig ist,
der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt.
7,29 Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.

In Vers 25 (W237) treten „einige von den Jerusalemern“ als neue Gruppe auf, die „Jesus öffentlich lehrend“ antrifft, aber nicht „den vorangehenden Disput gehört“ haben. Wohl aber „bezieht sich gleich ihre erste Aussage auf im vorangehenden Abschnitt Gesagtes“, nämlich den Tötungsvorwurf, den „‚die Leute‘ in V. 20 als absurd hingestellt hatten und was die Leser- und Hörerschaft schon seit 5,18 als Absicht der führenden Kreise kennt.“ Indem sich diese „Bewohner der Hauptstadt“ in Vers 26 darüber wundern, dass Jesus dennoch dermaßen unbehelligt von den Oberen Jerusalems öffentlich redet, dass man denken könnte, sie selbst hätten Jesus als den Messias anerkannt,

wird eine weitere Aussageabsicht des Kapitels vorbereitet, die später deutlicher hervortritt: Die Gegner Jesu sind nicht souverän; er dagegen ist es. Er ist Souverän seines eigenen Geschicks. Er bestimmt nicht nur selbst, wann er auftritt, wann er aus der Verborgenheit auftaucht und ohne Scheu öffentlich redet, sondern er bestimmt auch – so muss man paradox formulieren -, wann er zum Abtreten gezwungen wird. Damit kommt zum Ausdruck: Was ihm widerfährt, ist kein willkürliches, blindwütiges Schicksal, sondern es wird sich herausstellen, dass darin Gott zum Zuge kommt.

Tatsächlich können aber „die Ratsherren“ nicht „wirklich erkannt haben, dass er der Gesalbte sei“, denn (W238) Jesus erfüllt ein wichtiges „Kriterium für Messianität“ nicht: „Aber von diesem wissen wir, woher er ist. Der Gesalbte jedoch, wenn er kommt – von dem weiß niemand, woher er ist.“ Wie bereits zur Auslegung von Johannes 6,42 verweist Wengst dazu auf „das Motiv von der Verborgenheit der endzeitlichen Rettergestalt“.

Daraufhin ergreift Jesus nach Vers 28 und 29 nochmals im Tempel lehrend „das Wort, obwohl die zuvor erwähnten Jerusalemer ihn gar nicht angesprochen, sondern über ihn geredet haben“. Obwohl „ihre Tatsachenfeststellung zutrifft“, dass sie ihn kennen und wissen, woher er ist, ist damit „nicht alles und vor allem nicht das Entscheidende über ihn gesagt“, denn er ist nicht von sich aus gekommen, vielmehr „begegnet und wirkt“ in ihm „der wahrhaftige Gott…, auf den man sich verlassen kann“.

Dazu betont Wengst (238f.), dass sich dieser „Anspruch … nach außen hin nicht ausweisen“ kann. „Es wird der Treue und Zuverlässigkeit Gottes überlassen, dass er für diesen Anspruch einsteht und ihn als zutreffend erweisen wird.“ Letzten Endes geschieht das (Anm. 391) in paradoxer Weise, wenn „das Ende Jesu am Kreuz nicht als sein Scheitern dargestellt wird, sondern vom Zeugnis seiner Auferweckung her als ‚Verherrlichung‘ und Rückkehr zum Vater“. Karl Barth <613> führt insofern die Stelle Johannes 7,28-29 als Argument an

„gegen die Lehre vom historischen Menschen Jesus, der als solcher, wie er jedermann ohne Weiteres anschaulich ist, die Offenbarung Gottes sein soll. Nein: Mich so kennen und mich wirklich kennen, d. h, den kennen, der mich gesandt hat, das ist zweierlei“.

Erneut stellt es für Wengst (W239) ein ernstes Problem dar, dass Jesus seinen Gegnern im Tempel zu Jerusalem nach „[d]erselben Logik wie schon in 5,37f. … in aller Härte“ sagt, dass sie den Gott nicht kennen, der ihn gesandt hat. Aber dieser Gott ist

doch kein anderer … als Israels Gott, der gegenüber seinem Volk „der treue Gott ist, der denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, den Bund und die Freundlichkeit hält“ (Dtn 7,9) – kann und darf denen, die Liebe zu Gott im Halten seiner Gebote zeigen, aber sein Wirken in Jesus nicht wahrzunehmen vermögen, Kenntnis Gottes abgesprochen werden?

Eine Schlussfolgerung, die sich hier für die Johannes-Auslegung „leider so gut wie durchgängig“ ergibt, kann Wengst nur mit einem Fragezeichen versehen:

Wer Gott nicht in Jesus erkennt, kennt ihn überhaupt nicht? Wieder scheint mir, dass diese Konsequenz aus einer bestimmten Situation heraus gezogen wird, nämlich selbst in der eigenen Gotteserkenntnis im Messias Jesus von der anderen Seite radikal in Frage gestellt und verneint zu sein und in Folge davon Erfahrungen sozialer Isolierung und wirtschaftlicher Diskriminierung machen zu müssen.

Von daher verneint Wengst vehement die Frage, ob „wir in völlig anderer Situation diese Konsequenz des johanneischen Jesus einfach nachsprechen“ dürfen und prangert eine christliche Johannes-Auslegung an, die bis heute „von der Christologie her Juden … Gotteserkenntnis“ abspricht und der Position des aktiven Befürworters der Ideologie und Politik der NSDAP, Emanuel Hirsch, <614> zuneigt, der die in seinen Augen „entscheidende Aussage“ in Johannes 7,28-29 folgendermaßen zuspitzt: „Der Vater ist den Juden unbekannt.“ Hirsch zufolge hebt der letzte Satz von Vers 28

„die Stellung der Juden als Gottesvolk völlig auf, auch im geschichtlichen Sinne. Wenn das Alte Testament vom Vater Jesu Christi zeugt, so doch nur in einem geistlichen Sinn, der den Juden verschlossen geblieben ist und mit ihrem Gottesdienst und mit ihrem Glauben nichts zu tun hat“.

Bedauerlich findet es Wengst, dass sich „selbst Ausleger, die man sonst nie in einem Atemzug mit Hirsch nennen würde, … an diesem Punkt nur graduell von ihm“ unterscheiden. Als Beispiel zitiert er Josef Blank, <615>

der doch an vielen Stellen seines Kommentars außerordentlich sensibel in Hinsicht auf das Judentum auslegt: „Diesen Gott ,kennen‘ die Juden nicht. Diese Aussage ist insofern grundsätzlicher Art, als nach Johannes erst Jesus der Welt die wahre Gottes-Erkenntnis bringt“.

Nach Hartwig Thyen (T394) drücken die in Vers 25 genannten „Jerusalemer“ in der Art, wie sie „über Jesus reden“ und „undefiniert von ,denen‘ sprechen, die ihn zu töten suchen…, ihre Distanz zu diesen ,sie‘ aus“, obwohl sie „doch fraglos selber Juden“ sind:

Sie sind verwundert darüber, daß die gegen Jesus nicht einschreiten und ihm nichts entgegnen, obwohl er hier doch in aller Öffentlichkeit redet. Darum fragen sie sich: „Sollten die Oberen (hoi archontes) etwa tatsächlich zu der Überzeugung gekommen sein, daß dieser der Messias ist?“ (V. 26). Der Sprachgebrauch erweckt den Anschein, als seien die von ihnen hoi archontes Genannten mit denen identisch, die in der Perspektive unseres Erzählers hoi Ioudaioi {die Juden} heißen. Und wie zuvor durch das undefinierte „sie“, bringen sie ihre Distanz zu ,denen‘ jetzt dadurch zum Ausdruck, daß sie nicht „unsere Oberen“ sagen, sondern von „den Oberen“ im Sinne von „denen da oben“ sprechen. Ähnlich wie die ochloi {Volksmassen}, deren Verhalten dia ton phobon tōn Ioudaiōn {durch die Furcht vor den Juden} (V. 13) motiviert war, scheinen auch diese ,Jerusalemer‘ jene Archonten zu fürchten.

In diesem Zusammenhang nimmt Thyen einen Gedanken von J. Duncan M. Derrett <616> auf, der bereits im „16. Jahrhundert … virulent gewesen sei“, um in „der Rede von den Archonten deren mögliche symbolische Obertöne hörbar zu machen“:

Er will den Gebrauch des Lexems archōn im Licht der zumal in den Qumran-Texten breit belegten Vorstellung der überirdischen Herrscher verstehen. Unter diesem Aspekt sieht er durch die Bezeichnung der Mächtigen als archontes zum Ausdruck gebracht, daß diese irdischen Machthaber zugleich die gefügigen Werkzeuge Satans, des überirdischen archōn tou kosmou toutou {Fürsten dieser Welt} seien. Nach Lk 4,5f hat er die Macht, wem immer er will, die exousia {Macht} über alle Reiche der Welt und die ihr entsprechende doxa {Ehre} zu verleihen. Wir müssen bei der Kommentierung der Aussagen über den archōn tou kosmou toutou {Fürsten dieser Welt} (Joh 12,31; 14,30; 16,11) auf die Frage zurückkommen.

Wenn Derretts Auslegung zutrifft, würden diese überirdischen Archonten natürlich, wie in Vers 26 hintergründig angedeutet, wissen, dass Jesus der Messias ist. Mir erscheint diese Deutung allerdings zu weit hergeholt, zumal noch zu klären sein wird, ob der Fürst dieser Welt sowohl bei Lukas als auch bei Johannes tatsächlich als ein überirdischer Satan interpretiert werden muss, wenn es doch der irdische Kaiser Roms ist, der über die Machtverteilung in den ihm unterworfenen Königreichen entscheidet.

Den in Vers 27 geäußerten Einwand der Jerusalemer (T395), dass vom Messias niemand weiß, „woher erkommt“, bezieht Thyen anderes als Wengst auf die Erklärung Johannes des Täufers,

daß er den unbekannten und im Verborgenen schon mitten unter seinem Volk lebenden Messias erst an dem ihm von Gott verheißenen Zeichen erkannt ha­be: … (1,33). … In diesem Sinne erklärt etwa Tryphon bei Justin, daß der Messias womöglich schon geboren sei und unerkannt irgendwo weile (… Dial. 8…). Dieser Einwand der Jerusalemer ist freilich nicht so zu verstehen, „als ob vom Messias niemand wisse, von wem er abstammen oder wo er werde geboren werden; denn daran, daß der messianische König ein Davidide sein werde, bestand seit Ps Sal 17,21 … kein Zweifel mehr …; u. ebensowenig war unbekannt, daß Bethlehem als sein mutmaßlicher Geburtsort anzusehen sei“. <617>

Zu den Worten „ekrazen … didaskōn {er rief aus … lehrend}“ in Vers 28 schreibt Thyen, dass durch sie „Jesu Rede als laut, eindringlich und öffentlich (en tō hierō {im Heiligtum}) vorgetragene ‚Lehre‘ markiert“ wird.

Jesu Satz „Mich kennt ihr, und ihr wißt, woher ich bin“ will Thyen nicht wie Wengst einfach als zutreffende Tatsachenfeststellung begreifen, sondern er schließt sich Ludger Schenkes <618> differenzierterem Urteil an:

„Die Antwort Jesu – ein Ruf aus einer anderen Welt – ist voll tiefer Ironie. Er gibt den Einwänden Recht: Die Leute kennen ihn und wissen, woher er ist. Er ist der Sohn des Josef aus Nazaret (6,42). Doch damit wissen sie über seine Herkunft noch nichts. Erst wenn sie den kennen würden, der ihn gesandt hat, wüßten sie auch etwas über ihn. Also stimmt ihre Dogmatik, er ist wirklich der unbekannte Messias, als den ihn schon Johannes der Täufer verkündet hatte (vgl. 1,26.31.33)“.

Ton Veerkamp <619> zufolge „hören wir“ in den Versen 25 und 26 wie bereits in 7,12

die innere Diskussion unter den Judäern in der Menge mit. Sie verhandeln ein Gerücht: „Sie“ suchen Jeschua zu töten. „Sie“ lassen ihn aber ruhig in aller Öffentlichkeit (parrhēsia) sagen, was er denkt. Haben „sie“ vielleicht erkannt, dass hier der Messias auftritt?

Die Menschen in dieser Menge zeigen messianisches Wissen. Der Messias kommt, ohne dass man sagen könnte, woher. Er ist da und alles wird anders. Die Menschen kennen aber die Herkunft Jeschuas, Jeschua ben Joseph aus Nazareth, Galiläa. Schon aus diesem Grund kann er nicht der Messias sein.

Zur Reaktion Jesu auf die Gerüchte, die in Jerusalem über ihn im Schwange sind, schreibt Veerkamp, ohne in dessen Worten die Unterstellung vorauszusetzen, er würde den Juden jede Kenntnis Gottes absprechen:

Jeschua wird laut: „Ihr kennt mich“, meine Herkunft, aber ihr wisst sehr gut, dass mit der Festschreibung meiner amtlichen Herkunft nichts gesagt ist, ihr wisst sehr gut, dass ich nicht „von mir selber hergekommen bin“. Was ich bin, ist, dass ich Gesandter bin, gleich ob ich aus Nazareth, Galiläa, komme oder sonstwoher, gleich ob mein Vater Joseph aus Nazareth, Galiläa, ist oder ein anderer. Was ihr nicht wisst, ist, wer mich gesandt hat. Ich, so sagt Jeschua, kenne ihn, ich bin bei ihm, der hat mich gesandt.

Das Wissen, das ihnen über den Gott Israels fehlt, bezieht sich also nach Veerkamp einzig und allein auf ihre Weigerung, wahr- und ernstnehmen zu wollen, dass Jesus als der Messias Israels von Gott gesandt ist.

Johannes 7,30-32: Vergebliche Versuche, Jesus, zu ergreifen, den viele als Messias anerkennen

7,30 Da suchten sie ihn zu ergreifen;
aber niemand legte Hand an ihn,
denn seine Stunde war noch nicht gekommen.
7,31 Aber viele aus dem Volk glaubten an ihn und sprachen:
Wenn der Christus kommen wird,
wird er etwa mehr Zeichen tun, als dieser getan hat?
7,32 Die Pharisäer hörten,
dass es im Volk solches Gemurmel über ihn gab.
Da sandten die Hohenpriester und die Pharisäer Knechte aus,
dass sie ihn ergriffen.

[16. Juli 2022] Nach Klaus Wengst (W240) sind es in Vers 30 „wohl die zuvor angeführten Jerusalemer“, die „einen ersten Versuch, Jesus festzunehmen“, unternehmen, der aber erfolglos bleibt, „weil seine Stunde noch nicht gekommen war“. Erst nach 12,23 und 13,1 wird sie gekommen und dort „deutlich als die Stunde seiner Passion und seines Todes erkennbar“ sein:

Jesu Gegner können ihn nicht festnehmen, wann sie wollen; sie müssen es vielmehr tun, wann er will, wenn seine Stunde gekommen ist. Mit solcher Art der Darstellung macht Johannes klar: Das zufällige historische Geschehen um Jesus, als das es einem Betrachter von außen erscheinen muss und das für Jesus so schlimm endet, ist doch nicht ein solches, mit dem Gott nichts zu tun hätte. Er ist auch im Leiden und Sterben Jesu präsent und wird aus diesem Bösen Gutes machen und sein Werk mit Jesus zu Ende führen.

Das Vertrauen vieler Menschen aus dem Volk auf Jesus, das in Vers 31 mit der Vielzahl seiner Zeichen begründet wird, sieht Wengst als „eine kurzfristige Gegenbewegung“, obwohl dieser Glaube „nicht, weil ‚durch die Wunder begründet‘, als ‚wenig zuverlässig‘ heruntergespielt werden“ sollte, wie es etwa Bultmann tut, <620> denn „in 20,30f. wird genau das programmatisch angegeben: Die von Jesus erzählten Zeichen sollen zum Glauben führen.“

Zwar spielen „Wunder in der jüdischen Messiaserwartung keine große Rolle“, allerdings wird in einer rabbinischen Aussage <621> (W240f.)

die Wendung „tuend Wunder“ aus dem Schluss von Ex 15,11 mehrfach ausgelegt, am Ende mit Hilfe von Mi 7,15, wo von Gott Wunder wie beim Auszug aus Ägypten in der Zukunft erwartet werden. Das wird in Gottesrede so aufgenommen: „Ich werde es (das Volk) sehen lassen, was ich die Vorfahren nicht sehen ließ. Denn siehe, die Zeichen und Machttaten, die ich künftig an den Kindern tue, sind mehr als die, die ich den Vorfahren getan habe.“ Was hier von Gott erwartet wird, findet sich in Joh 7,31 auf seinen Beauftragten übertragen – wie ja Gott auch die Wunder an den Vätern durch Mose als seinen Beauftragten durchgeführt hat.

Nach Vers 32 ist es (W241) diese „positive Stellungnahme gegenüber Jesus“ als „ein kurzes Zwischenspiel“, die

nach dem eher spontanen Festnahmeversuch nun eine offizielle Aktion auslöst: „Die Pharisäer hörten, wie das über ihn unter den Leuten getuschelt wurde, und die Oberpriester und die Pharisäer schickten Wachleute aus, dass sie ihn festnähmen.“ Die Pharisäer erscheinen hier als solche, die alles mitbekommen. Mit den Oberpriestern zusammen werden sie als eine Behörde dargestellt, die „Wachleute“ mit der Befugnis zur Festnahme ausschicken kann.

Warum Wengst die „eigentümliche Verbindung ‚die Oberpriester und die Pharisäer‘, die im Johannesevangelium fünfmal begegnet“ und sonst „nur noch zweimal im Matthäusevangelium“ (21,45; 27,62), so eigentümlich findet, begründet er nicht näher. Er hält sie für „aus der Perspektive seiner Abfassungszeit verstehbar“:

„Die Oberpriester“ erscheinen im Johannesevangelium zehnmal, aber nur innerhalb der Leidensgeschichte und an Stellen, die die Leidensgeschichte vorbereiten. Hier ist die erste davon. Daraus lässt sich schließen, dass dem Evangelisten „die Oberpriester“ in seiner Passionstradition vorgegeben waren. Er verbindet sie mit „den Pharisäern“, mit denen er selbst die aktuelle Auseinandersetzung führt.

Hartwig Thyen (T396) setzt in seiner Analyse der gespaltenen „Reaktion der Jerusalemer“ voraus, das beide Seiten Jesus jeweils „auf ihre Weise … ‚verstanden‘“ haben, die einen (Vers 30) wollen ihn „als willige Werkzeuge der Archonten“ daraufhin „festnehmen“, viele andere jedoch (Vers 31) glauben an ihn. Dabei darf auch Thyen zufolge „an der Ernsthaftigkeit des Glaubens der Vielen an Jesus nicht gezweifelt werden“, denn „Jesus wird aufgrund der Zeichen als der Christus erkannt“, und „das gesamte Evangelium als eine Auswahl aus den ‚vielen Zeichen, die Jesus getan hat,‘ ist dazu geschrieben, damit seine potentiellen Leser an dem Glauben festhalten sollen, ‚daß Jesus der messianische Gottessohn ist‘ (20,30f).“

Zu den in Vers 32 nach 1,24; 3,1; 4,1 erst zum vierten Mal im Johannesevangelium erwähnten Pharisäern schreibt Thyen (T398):

Wenn die Pharisäer auf die Kunde von dem hier durch die Wendung: tou ochlou gongyzontos peri autou tauta {dieses Gemurmel des Volkes über ihn} in Erinnerung gebrachten ,Schisma‘ unter der Volksmenge hin Jesu Verhaftung ins Auge fassen, so bestätigt das die Auffassung, daß sie „mit dem Glauben der Vielen aus dem Volk an Jesus“ ihre Felle davon schwimmen sehen.

In Thyens Augen erfordert das „Verisimile des Erzählten“ die auch von ihm als seltsam bezeichnete „Koalition der Pharisaioi mit den archiereis {Hohepriestern}, weil allein die letzteren über die Tempelwache gebieten und darum in der Lage sind, hypēretai zur Verhaftung Jesu auszusenden“, wobei das letztere Wort „zur Bezeichnung von Untergebenen“, verwendet wird, „die im Dienst der Mächtigen stehen“.

Da jedoch „diese hypēretai zusammen mit einer römischen speira {Kohorte} Jesus erst wirklich verhaften können, wenn seine ,Stunde‘ gekommen ist und er sich ihnen mit seinem dreifachen egō eimi {ICH BIN ES} freiwillig ausliefert (18,2ff)“, füllt für diesmal

der Erzähler darum die Zeit, bis sie unverrichteter Dinge zu ihren Auftraggebern zurückkehren (45ff), geschickt damit aus, daß er Jesus öffentlich weiterreden und ihn das Schisma unter der Menge so noch vertiefen läßt.

Ton Veerkamp <622> erläutert im Zusammenhang mit dem ersten Versuch, Jesus zu verhaften (Vers 30), was er unter Jesu „Stunde“ versteht:

„Sie“ – jene angsteinflößenden Juden – haben inzwischen erkannt, dass hier kein harmloser Narr auftritt, sie versuchen seiner habhaft zu werden. Vorerst gelingt das nicht, weil seine Stunde noch nicht gekommen ist. Hier steht „Stunde“ gegen „günstiger Augenblick“, hōra gegen kairos. Seine Stunde wird kommen, in dieser Stunde werden alle törichten messianischen Erwartungen zunichte gemacht werden.

Damit interpretiert Veerkamp die „Stunde“ der Kreuzigung Jesu als die radikale Absage an jegliche Erwartung an den Messias, ein vermeintlich „günstiger Augenblick“ könne mit den gewaltsamen Mitteln eines Aufstands gegen Rom und seine Kollaborateure die kommende Weltzeit des Friedens herbeiführen.

Nach Vers 31 gehen die Diskussionen über Jesus in Jerusalem weiter:

Viele vertrauten, weil sie die Werke gesehen haben, die sie traditionell mit dem Messias in Verbindung bringen: Taube hören, Blinde sehen, Gelähmte können gehen, wie es der Prophet Jesaja im Lied „jeßußum midbar, Es jauchze die Wüste“ sagte, Jesaja 35,1 (vgl. oben bei der Besprechung von 4,14). Die Peruschim {Pharisäer} hörten diese Diskussionen und wussten: dies ist eine hochpolitische Angelegenheit. Sie verständigten die Behörden (archiereis, die führenden Priester) und veranlassten Jeschuas Verhaftung.

Veerkamp erläutert nun die eigentümliche oder seltsame Verbindung der Pharisäer mit den Priestern etwas genauer als Wengst und Thyen:

Beide, führende Priester und Peruschim, sind das „offizielle“ Judäa, obwohl die Peruschim politische Gegner der führenden Priester waren. Beide Gruppen zusammen verfolgten das Ziel der Verhaftung Jeschuas. Beim Prozess, dem Todesurteil und der Hinrichtung fehlen die Peruschim; ihre Rolle war bei der Verhaftung (18,3) ausgespielt. Protagonisten waren dort nur die führenden Priester.

Das heißt, es ist Veerkamp bewusst, dass zu Jesu Zeit die Parteien der Pharisäer und der priesterlichen Sadduzäer unterschiedliche Interessen verfolgten und dass die Verantwortung für die Kreuzigung Jesu hauptsächlich bei der mit der römischen Besatzungsmacht kollaborierenden Priesterschicht lag. Dass er dennoch die Pharisäer als mit den Priestern verbündete Gegner Jesu darstellt, hängt mit der veränderten Situation nach dem Jüdischen Krieg zusammen: Zur Zeit des Johannes spielen die Priester keine Rolle mehr; nur noch das rabbinische Judentum steht in der Nachfolge der Partei der Pharisäer den messianischen Gemeinden als Gegner gegenüber.

Johannes 7,33-36: Jesu Wort über die kleine Zeit und dass man ihn nicht finden wird

7,33 Da sprach Jesus: Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch,
und dann gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat.
7,34 Ihr werdet mich suchen und nicht finden;
und wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen.
7,35 Da sprachen die Juden untereinander:
Wo will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden könnten?
Will er etwa zu denen gehen,
die in der Zerstreuung unter den Griechen wohnen,
und die Griechen lehren?
7,36 Was ist das für ein Wort, das er sagte:
Ihr werdet mich suchen und nicht finden;
und wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen?

Als Reaktion Jesu auf den behördlichen Versuch, ihn zu verhaften (W241), ergreift Jesus Wengst zufolge in Vers 33 „wieder das Wort, als stünde er nicht unter unmittelbarer Bedrohung“:

Auch in dem, was er sagt, tritt Jesus als Souverän seines Geschicks auf, nicht als Opfer einer drohenden Festnahme. Und doch ist das, was er sagt, auf die dann viel später erfolgende Festnahme und ihre Folge bezogen: „Noch kurze Zeit bin ich bei euch, dann gehe ich weg zu dem, der mich geschickt hat.“ Er bleibt noch, wenn auch nicht lange. Er geht, aber nicht gezwungen. Und sein Weggang ist kein Fall ins Nichts und ins Bodenlose, sondern hat sein Ziel bei dem, der ihn gesandt hat.

Damit erscheint er „[g]egenüber denen, die ihm ein schmachvolles Schicksal bereiten wollen – das ihm schließlich auch widerfahren wird -, … in geradezu majestätischer Souveränität“.

Zum folgenden Satz Jesu in Vers 34: „Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden – wo ich bin, könnt ihr nicht hinkommen“, hebt Wengst zwei verschiedene Aspekte hervor, nämlich erstens, „dass Jesus ‚unfassbar‘ bleibt – auch wenn er schließlich festgenommen werden wird“, weil er „bei Gott aufgehoben“ ist. Zu dieser „Dimension der Ungreifbarkeit eines bei Gott Aufgehobenen“ findet Wengst eine Parallele „in einer rabbinische Erzählung <623> über das Ende des Mose“ (W242):

Nach ihr gebot Gott dem Todesengel, den „Lebenshauch“ des Mose, seine „Seele“, zu bringen. Als der zu Mose kam, wurde er von diesem zurückgewiesen. Gott schickte ihn ein zweites Mal. „Er ging zu dessen (des Mose) Ort, suchte ihn und fand ihn nicht.“ Darauf ging er nacheinander zum Meer, zu den Bergen und Hügeln, zum Gehinnom, zu den Dienstengeln. Von ihnen an die Menschen verwiesen, ging er zu Israel. Von den Israeliten erhielt er zur Antwort: „Gott kannte seinen Weg; Gott hat ihn aufbewahrt für das Leben der Welt und kein Geschöpf weiß von ihm.“ Das wird mit Dtn 34,6 begründet. Obwohl gestorben, ist Mose selbst dem Todesengel nicht verfügbar. Er kann ihn nicht finden, weil er sozusagen bei Gott aufgehoben ist.

Der zweite Aspekt des „Zu spät!“, den Wengst in den hier „gebrauchten Formulierungen“ entdeckt, setzt voraus, dass Jesu Gegner ihn nicht nur suchen werden, um ihn zu verhaften, und dass „Johannes … hier Jesus wie die Weisheit sprechen“ lässt. Diese sagt in Spr 1,28: „Dann werden sie nach mir rufen, ich aber werde sie nicht erhören. Sie werden mich suchen und nicht finden.“ In diesem Zusammenhang fragt Wengst:

Für wen aber gilt das „Zu spät!“ in Bezug auf das Suchen und Finden Jesu? Was verfehlen Juden, was fehlt ihnen, wenn sie Jesus nicht als Beauftragten Gottes wahrnehmen?

Diese Frage beantwortet Wengst nicht; Veerkamp würde sagen: Sie verfehlen das Leben der kommenden Weltzeit, das der Messias Jesus anbrechen lässt. Da im nächsten Vers 35 von „Griechen“ die Rede sein wird, kommt Wengst stattdessen auf eine seiner Lieblingsideen zurück:

Im Fortgang des Textes kommen andere in den Blick – „Griechen“ als Repräsentanten der Völker. Sie verfehlen, wenn sie Jesus nicht als Beauftragten Gottes wahrnehmen, die Möglichkeit des Zugangs zum Gott Israels. Sie dennoch zu ergreifen – kann es dafür „zu spät“ sein? „Zu spät!“ sollte nicht als eine Feststellung begriffen werden, sondern vielmehr als Mahnung, diese Möglichkeit, so früh es nur geht, also jetzt, zu ergreifen.

Wiederum verstehe ich Wengsts Absicht, nicht alle Juden pauschal wegen ihrer Ablehnung Jesu zu verurteilen und stattdessen Jesu Warnung vor dem „Zu spät!“ als Mahnung an uns Menschen der Völker zu begreifen, die nur durch Jesus Zugang zum Gott Israels bekommen können. Das Problem ist nur, dass es Johannes um dieses Thema überhaupt nicht geht. Für ihn sind die Griechen nicht wie für Paulus Repräsentanten der Völkerwelt, denen das Evangelium gebracht wird, weil die Juden es zunächst ablehnen, sondern in seinem Evangelium spielen sie allenfalls eine Nebenrolle. Wie der Gott Israels bereits dem zweiten Jesaja zufolge die Machthaber der Welt in seinen Dienst stellt, um Israel aus der Verbannung zurückzuführen, so steht jetzt auch die Befreiung der Welt von der Ordnung, die auf ihr lastet, durch den Messias Jesus ganz und gar im Zeichen der Sammlung ganz Israels und seines Lebens der kommenden Weltzeit. Und da sich die führenden Juden, mit denen Jesus hier streitet, dem Messias entgegenstellen, sind sie es auch, denen Jesus ankündigt, dass sie dieses Leben verfehlen werden. Die gleich erwähnten Griechen werden ja in keinster Weise als Adressaten Jesu bezeichnet.

Genau das bestätigt Wengst, indem er darauf hinweist, dass in den Versen 35-36 erneut von den „Juden“ die Rede ist:

Die positiven Stimmen sind verklungen. Was davor und danach an negativen Reaktionen angeführt war, bündelt er in dieser Bezeichnung. Auch jetzt kommt es nicht zum Gespräch: „Da sprachen die Juden zueinander.“ Sie haben Jesu Wort als Rätselwort empfunden und rätseln nun darüber. … Sie sehen in Jesus einen Menschen mit menschlichen Möglichkeiten vor sich. Eine solche Möglichkeit erwägen sie: „Wo will der hingehen, dass wir ihn nicht finden? Will er etwa in die griechische Diaspora weggehen und die Griechen lehren?“

Dieses „Missverständnis“ hat Johannes „höchst hintergründig formuliert, indem er die hier Vermutenden mehr sagen lässt, als sie verstehen können“, wozu Wengst Karl Barth <624> zu Wort kommen lässt:

„Ein törichtes und in seiner Torheit weises Wort […]. Das wird ja Jesu Hingang zum Vater in der Tat auch bedeuten, daß das Evangelium […] auf dem Weg über die Diasporajudenschaft zu den Heiden kommen wird.“

Obwohl Johannes das möglicherweise wirklich angedeutet haben mag, muss er das nicht unbedingt ohne Einschränkungen begrüßt haben. Nirgends in seinem Evangelium gibt es einen Aufruf zur Völkermission, nirgends die Berufung auch nur eines einzigen Griechen als Schüler Jesu, obwohl „einige Griechen“ (12,20) Jesus sehen wollen. Ahnte Johannes die Gefahr, dass Heidenchristen aus dem Messias Israels eine heidnisch-gnostische Erlöserfigur nach Art der Mysterienkulte machen könnten?

Nach Hartwig Thyen (T398) spricht Jesus in den Versen 33 und 34 „zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit von seinem kurz bevorstehenden Aufstieg zu dem, der ihn gesandt hat“. Zuvor hatte er das in 2,19; 3,14f.; 6,62 lediglich angedeutet:

Aber nicht diese Information über seine baldige Heimkehr zum Vater ist hier das Entscheidende, sondern die Betonung, daß die Zeit für die Umkehr seiner Hörer kurz ist, daß die ,kleine Weile‘, in der er noch unter ihnen ist und mit all seinen Gaben gesucht und gefunden werden kann, bald verronnen sein wird.

Dass das Wort „von der ,kleinen Weile‘“ also ganz im Sinn des Wengstschen „Zu spät!“ verstanden werden muss, begründet Thyen mit der Art, wie es an späteren Stellen (12,35 und 13,33) wiederaufgenommen wird.

Weiter ist die Rede Jesu „von seiner bevorstehenden Rückkehr zum Vater…, während die, die ihn festnehmen sollen, schon unterwegs sind“, nach Thyen

nicht ohne Ironie. Denn auch wenn die ,Diener‘ der ,Pharisäer und Hohenpriester‘ für dieses Mal noch mit leeren Händen zu ihren Auftraggebern zurückkehren müssen, werden sie es ja sein, die ihm durch seine Verhaftung im Garten jenseits des Baches Kidron (18,1ff) seinen eigentümlichen Weg zum Vater ,bahnen‘ werden, so daß auch in diesem paradoxen Sinn ,das Heil von den Juden kommt‘.

Da allerdings „die Ioudaioi unter dem ochlos {der Volksmenge}“ (T399) Jesu „alles entscheidendes Wort überhört haben“, dass er zu dem zurückkehrt, der ihn gesandt hat, müssen sie ihn missverstehen. Nach Thyen spekulieren sie darüber, ob er eventuell die diaspora tōn Hellēnōn, also „die unter die Heidenvölker zerstreuten Juden, in diesem Falle also der Juden, die im Machtbereich der Griechen leben“, aufsuchen will, mit der Absicht, dort „heidnische Griechen“ zu lehren (didaskein tous Hellēnas). Nicht mit einem Zitat von Barth, sondern von Ulrich Wilckens <625> zieht Thyen daraus einen ähnlichen Schluss, wie es Wengst getan hat:

„In dieser massiven Verkennung liegt aber für die Leser ein verborgener Doppelsinn: Zu ihrer Zeit ist die Lehre von Jesus, dem Christus, in der Tat in die Diaspora zu den Griechen gekommen“.

Auch nach Ton Veerkamp <626> zeigt sich Jesus „wenig beeindruckt“ von denen, die ihn verhaften wollen. Er spricht von der Zeit, in der er als der Messias bei seinem Volk ist, und verwendet dafür ein völlig neues Wort:

Nach kairos und hōra hören wir ein drittes Wort, chronos mikros, eine kurze Zeit. Es ist die „kurze Zeit“, in der der Messias bei seinem Volk und vor allem bei seinen Schülern ist (12,35; 14,9 – hier chronos ohne mikros; 16,16ff. – hier mikros ohne chronos). Das ist zu vergleichen mit der „langen Zeit“ (polyn chronon), in der Israel gelähmt war, 5,6. Chronos bedeutet „Zeitdauer“, die beiden anderen Wörter „Zeitpunkte, Augenblicke“. Die Zeit des Messias ist eine kurze Zeit, sie ist bei Johannes eine vorübergehende Periode.

Zur in den Augen seiner Zuhörer rätselhaften Rede Jesu meint Veerkamp, dass dieser das Missverständnis beabsichtigt. Wer auf Jesus nicht vertrauen will, wird ihn auch nicht verstehen können:

Der Messias gehe weg zu dem, der ihn gesandt hatte, also zu einem Ort, an den sie nicht gelangen können. Der Messias geht in die Verborgenheit Gottes ein. Dort wird jedes Suchen vergeblich sein. Jeschua drückt sich verklausuliert aus, das Missverständnis ist, wie in Kapitel 6, beabsichtigt. Die Menge diskutiert weiter und rätselt darüber, was gemeint sei, ob Jeschua ins Ausland, in die Diaspora, gehen wolle, um nach seinem Misserfolg in Judäa sein Glück in der Belehrung der Griechen – der griechisch sprechenden jüdischen Diaspora – zu versuchen oder, wie wir in 8,22 hören werden, sich selbst umzubringen. Das Missverständnis ist bei Johannes ein literarisches Mittel, um eine Diskussion, die zu nichts führen kann, abzubrechen. Es bleibt den Menschen verborgen, wer Jeschua eigentlich ist, solange sie nicht vertrauen.

Damit versteht Veerkamp anders als Wengst und Thyen die „Griechen“ in Vers 35 als griechisch sprechende Juden, und zwar wohl, weil er als Zielgruppe des johanneischen Jesus ausschließlich Israel, Samaria und die Diaspora-Juden versteht. Da Jesu Gegner hier aber ohnehin eine hypothetische Unterstellung vorbringen, könnten sie meines Erachtens auch heidnische Griechen meinen, selbst wenn Jesus eine solche Mission von sich aus nicht im Blick hat.

Mit dem Rätselraten der Ioudaioi endet die Phase der Auseinandersetzungen Jesu mit verschiedenen Volksgruppen in der Mitte des Laubhüttenfestes, die mit Vers 14 begonnen hatte. Dazu sagt Veerkamp lapidar:

Das Fest ist halb vorbei und nichts Neues ist geschehen.

Johannes 7,37-39: Jesu Rede am letzten Festtag über Ströme lebendigen Wassers

7,37 Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief:
Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!
7,38 Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden,
wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen.
7,39 Das sagte er aber von dem Geist,
den die empfangen sollten, die an ihn glaubten;
denn der Geist war noch nicht da;
denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

[17. Juli 2022] Für das (W243) in den Versen 37 und 38 folgende „Verheißungswort“, das Jesus „in größter Öffentlichkeit … spricht“, bestimmt Klaus Wengst zufolge „Johannes den Rahmen … zeitlich neu“:

Da die von Johannes gebrauchte Wendung „der letzte Tag des Festes, der große“, in der erhaltenen jüdischen Überlíeferung nicht begegnet, ist es für uns nicht von vornherein ersichtlich, welcher Tag gemeint ist, der siebte oder der achte.

Da nach den von Wengst konsultierten Quellen das „eigentliche Fest … nur sieben Tage“ umfasste, „wie u. a. das am siebten Tag zu Ende gehende Wohnen in der Laubhütte zeigt“, neigt er dazu, „im ‚letzten Tag des Festes, dem großen‘, den siebten und nicht den achten zu erblicken“. Ein „weiterer Grund“ dafür liegt darin, dass „auch die Wasserspende auf sieben Tage begrenzt“ war: <627>

Die Wendung „Haus des Wasserschöpfens“ scheint den ganzen Vorgang zu bezeichnen…: „Rabbi Jehoschua ben Levi hat gesagt: ‚Warum wurde das Haus des Wasserschöpfens so genannt? Weil man von dort die heilige Geisteskraft schöpft. Aufgrund von (Jes 12,3): Und ihr werdet mit Freude Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils.‘“ Hier ist eine auch für Joh 7,37-39 wesentliche Verbindung hergestellt. Sie erfolgt unter Bezug auf ein Bibelwort. Damit sind Zusammenhänge angedeutet, auf die bei der Besprechung des Zitates in V. 38 näher einzugehen ist.

Das (W244) von Jesus „mit lauter Stimme“ gerufene Wort Jesu „Wen dürstet, soll zu mir kommen und es soll trinken, wer an mich glaubt“, stellt Wengst in einen Zusammenhang mit Sirach 51,23f., Jesaja 55,1 und dem „ersten Teil des Gesprächs Jesu mit der samaritischen Frau“ in Johannes 4: „Den an Jesus Glaubenden wird verheißen, dass sie in diesem Glauben ihren Lebensdurst stillen.“

Anders als in der eben von Wengst wiedergegebenen Übersetzung, die „den Anfang von V. 38 noch zu dem auffordernden Verheißungswort Jesu“ gezogen hat,

ist es auch möglich, der Verseinteilung entsprechend am Ende von V. 37 einen Punkt zu setzen: „Wen dürstet, soll zu mir kommen und trinken!“ … V. 38 würde dann neu einsetzen und eine Aussage über die Glaubenden machen. Aber auch in diesem Fall wäre die in den „Strömen lebendigen Wassers“ ins Bild gesetzte Geisteskraft, die von ihnen ausgeht, nicht ihre eigene. Nach 20,22f. gibt sie Jesus als Auferweckter seinen Schülern, die in dieser Geisteskraft wirken und sie damit auch vermitteln sollen. … Da nach V. 39 die Glaubenden die Geisteskraft empfangen sollen, liegt es allerdings näher, dass in V. 38 als Ausgangspunkt der „Ströme lebendigen Wassers“ Jesus gedacht ist. Das wiederum spricht dafür, den Anfang von V. 38 zu V. 37 zu ziehen.

In Vers 38 zeigt nach Wengst die

Einführung mit „wie die Schrift sprach“…, dass ein Schriftzitat folgen soll: „Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Innern fließen.“ Doch ist diese Aussage weder in der hebräischen noch in der griechischen Bibel belegt noch in einer sonstigen uns bekannten Schrift des antiken Judentums zu finden. Es kann einer verlorenen Schrift entstammen.

Als Alternative ist es aber auch möglich, dass Johannes sehr frei auf verschiedene Stellen der jüdischen Schriften zurückgegriffen hat:

Jes 12,3 ist schon im Rahmen der Deutung der Bezeichnung „Haus des Wasserschöpfens“ angeführt worden. Diese Bibelstelle diente als Beleg dafür, dass „man von dort die heilige Geisteskraft schöpfte“. Diese Interpretation dürfte veranlasst sein durch die außerordentliche Freude bei der „Wasserprozession“ – als Ausdruck der heilvollen Nähe und Gegenwart Gottes.

Ausdrücklich findet sich (W244f.) das „metaphorische Verständnis von Wasser als Geisteskraft“ (W245)

in Jes 44,3, wo Gott zu seinem Volk sagt: „Ja, ich will Wasser auf Durstiges gießen und Ströme auf Trockenes. Ich will meine Geisteskraft auf deine Nachkommenschaft gießen und meinen Segen auf deine Nachfahren.“ Ein weiterer Hintergrund für das Bildwort in V. 38 kann in der Vorstellung von der in der Zukunft im Tempel sprudelnden Quelle bestehen, die am ausführlichsten in Ez 47,1-12 beschrieben ist. Sie führt als Strom zum Toten Meer und macht es gesund und fischreich. An beiden Ufern des Stromes stehen Bäume, deren Blätter nicht verwelken und die jeden Monat Früchte bringen. Die Früchte dienen als Speise und die Blätter als Arznei: Der Wasserstrom vom Zion her gibt also Heil und Leben.

So viel zum möglichen Hintergrund des Zitats. In der Zeitform unterscheidet es sich von der vorhergehenden Verheißung Jesu:

Den Dürstenden, die zu Jesus kommen und an ihn glauben, wurde verheißen, dass sie genug zu trinken bekommen, ihren Lebensdurst stillen können. Nun aber bietet das Zitat ein Futur: „Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Innern fließen.“ Das verweist auf etwas jenseits der erzählten Zeit. In dem bisher Erzählten ist Entscheidendes offenbar noch nicht geschehen; sondern steht aus: der Tod Jesu nämlich, auf den dieses Kapitel immer wieder anspielt. Für die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums spricht Jesus als derjenige, der seinen Tod bereits hinter sich hat.

Von daher lässt sich nach Wengst möglicherweise erklären, warum „als Ort, von dem „Ströme lebendigen Wassers fließen werden“, die koilía angegeben wird“, was wörtlich „Bauch“ bedeutet. Damit könnte „eine Beziehung zu dem hergestellt werden, was dann in 19,34 erzählt werden wird“, nämlich dass nach einem Lanzenstich aus der Seite Jesu Blut und Wasser herauskommt. Auf jeden Fall hat nach Vers 39

die Verheißung von der Stillung des Durstes eine Zukunft im Blick…, die über die erzählte Zeit hinausgeht und jenseits des Todes Jesu liegt: „Das sagte er von der Geisteskraft, die die bekommen würden, die auf ihn ihr Vertrauen setzen. Denn noch gab es keine Geisteskraft, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war.“ Der begründende Schlusssatz unterscheidet die Zeit vor und nach Jesu Tod und bindet die Gabe der Geisteskraft – und damit die Fülle des Lebens – an Jesu Tod, der so als ein heilvoller gekennzeichnet wird.

Dass hier zum „ersten Mal … von Jesu Weggang, von seinem Tod, als ‚Verherrlichtwerden‘ gesprochen“ wird, ist Wengst zufolge (W245f.) so zu

verstehen, dass Jesus mit seinem Tod zu dem geht, der ihn geschickt hat: zu Gott. Gott selbst lässt sich sozusagen von diesem niedrigen Tod in seinem Innersten betreffen, identifiziert sich mit ihm. Deshalb ist der Tod Jesu nicht das Letzte, was über Jesus zu sagen ist, und deshalb spricht Johannes gerade hier von Verherrlichung. Es geht ihm nicht darum, die harte Realität der Niedrigkeit des Todes Jesu zu glorifizieren, wohl aber will er bezeugen, dass in diesem Tod Gott präsent ist und ihn durch seine Gegenwart zu einer den Tod überwindenden Quelle des Lebens macht.

Das klingt wieder einmal christlich theologisch sehr schlüssig. Doch die Frage bleibt offen: Brauchte Gott Jesu Tod am Kreuz tatsächlich ganz allgemein zu dem Zweck, den Tod zu überwinden? Wenn ja, wird dadurch nicht letztlich geleugnet, was Wengst ja ausdrücklich nicht will, dass der Gott Israels ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist? Schon Hesekiel 37 oder Daniel 12,2 bezeugen die Macht des NAMENS über den Tod. Für Paulus bringt Jesu Kreuzestod die Überwindung der Trennung Israels von den Völkern, wodurch der Glaube an die Überwindung von Tod und Sünde auch den Völkern eröffnet wird. Johannes scheint Letzteres zurückhaltender zu sehen und sieht den Tod Jesu am Kreuz zentral als die Voraussetzung für die Überwindung der römischen Weltordnung, damit Israels Sammlung für das Leben der kommenden Weltzeit vollendet werden kann. Ich wiederhole mich, um eindringlich darauf aufmerksam zu machen, dass auch die Wiederholung scheinbarer christlicher Selbstverständlichkeiten nicht ihre Unumstößlichkeit garantiert.

Indem Johannes nach Wengst (W246) die „Ströme lebendigen Wassers auf die Geisteskraft“ bezieht, „die im Kontext von Sukkot vorgegeben war“, weist er

voraus auf die neue Gegenwart Jesu nach seinem Weggang, seine Gegenwart in der Kraft des Geistes. Sie wird er in den Abschiedsreden ausführlich zum Thema machen. Danach wird die in der Kraft des Geistes versammelte Gemeinde Lebensfülle haben. Ihr werden Verfehlungen vergeben (20,23), sodass sie „rein“ ist (13,10). Sie hält Jesu Gebote (14,15.21), sodass sie die Liebe untereinander als ihr Wesensmerkmal hat (13,34f.). So wird auch ihre Freude vollkommen gemacht (15,11; 16,20-24; 17,13).

Und wieder bleibt offen, in welcher Weise die „heilvolle Fülle des Lebens“, die „mit Sukkot verbunden ist, … in Jesus gegeben“ sein soll. Wengst schließt ausdrücklich aus, dass das, „wie es in der Auslegung immer wieder geschieht, zu einer ausschließenden Entgegensetzung gemacht“ wird, wie etwa bei Bultmann, <628> demzufolge

das am Laubhüttenfest situierte Jesuswort sage, „daß dem jüdischen Kult in dem in Jesus sich vollziehenden eschatologischen Geschehen das Ende gesetzt ist. An die Stelle der für das Laubhüttenfest charakteristischen Wasserspende, die als eine symbolische Darstellung des endzeitlichen Wassersegens und als eine Vorwegnahme des endzeitlichen Geistesempfanges gedeutet wurde, tritt Jesus als der Spender des Lebenswassers, des Geistes.“

Wenn Johannes aber eine „solche exklusive Antithese“ nicht im Sinn hat, was genau bringt der Messias Jesus in seinen Augen dann Neues? Was Wengst eben aufgezählt hat, Lebensfülle, Vergebung, Reinheit, das Halten der Gebote, vollkommene Freude – ist das nicht alles in dieser Allgemeinheit bereits Israels von seinem Gott verheißen? In der Auslegung der Abschiedsreden wird zu klären sein, inwiefern all diese Dinge von den jüdischen Schriften her auf die Rolle des Messias Jesus hin auszulegen sind, die er für den Anbruch des Lebens der kommenden Weltzeit eines neu versammelten Israel spielt. Wengst wird Johannes allerdings vermutlich wieder paulinisch auslegen, nämlich so, dass Jesus das, was den Juden gegeben ist, auch den Völkern zugänglich macht.

Hartwig Thyen (T399) verweist zu den Versen 37 und 38 nochmals darauf, dass das Laubhüttenfest „nach Ex 23,16; 34,22 am Ende des Jahres als Ernte- und Lesefest gefeiert“ wird und „nach Deut 16,13-15 sieben Tage lang“ währte und wohl nach dem Exil „um einen achten Tag, der mit der ,heiligen Festversammlung‘ begangen wurde“ erweitert wurde (T399f.):

Wie sein Name sagt, ist das Fest durch das siebentägige ,Wohnen‘ seiner Teilnehmer in ,Laubhütten‘ bestimmt. Eine prägende Rolle spielen ferner bestimmte Wasserriten und endlich die festliche Illumination des Vorhofs der Frauen. … Wie Sach 9-14 zeigt, war das Fest in der Zeit des zweiten Tempels von eschatologisch-messianischen Erwartungen erfüllt und hat Prophetentexte wie Jes 11f; Sach 12,19ff; 14,8ff; Ez 36,25; 47,1ff an sich gezogen:

… Darum hatte fraglos „auch die Wasserspende … in Verbindung mit den besonderen Freudenveranstaltungen einen eschatologischen und messianischen Aspekt. Jesus knüpft mit seinem Ruf offensichtlich an den Festgedanken und diesen besonderen Ritus an, wie er in 8,12 auf die Festbeleuchtung an der ,Stätte des Schöpfens‘ dem Frauenvorhof, anspielen dürfte“. <629>

Schwer zu entscheiden ist nach Thyen (T400), ob Johannes „den festlichen siebten oder den abschließenden achten Tag als den ‚letzten‘ und ‚großen‘ Tag des Laubhüttenfestes bezeichnet“, da „für keinen der beiden Tage die Bezeichnung ‚der Große‘ bezeugt ist“. Da „aber der Ritus des Wasserschöpfens am siebten Tage mit einer siebenmaligen Prozession um den Brandopferaltar besonders feierlich gestaltet war und weil das Wohnen in den Laubhütten an diesem Tag endete“, geschieht es vermutlich doch „am siebten, als dem ,letzten und großen Tag‘ des Laubhüttenfestes“ dass sich Jesus erhebt und feierlich ausruft: „Wen da dürstet, der komme zu mir / und es trinke, wer an mich glaubt! Wie die Schrift sagt: ,Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leibe fließen‘“.

Damit entscheidet sich auch Thyen dafür, die „Wendung ho pisteuōn eis eme {wer an mich glaubt}“ aus Vers 38 mit dem Ende des Verses 37 zu verbinden. Würde man alternativ diese Worte auf den folgenden Satz in Vers 38 beziehen,

müßte man dann aber das Pronomen autou {seinem} auf ho pisteuōn eis eme {wer an mich glaubt} beziehen, so daß sich statt aus der koilia {dem Inneren} des Erlösers nun aus dem Innersten des Glaubenden ,Ströme lebendigen Wassers‘ ergössen.

Das von „Vertreter[n] dieses Verständnisses“ angeführte (T401) Wort Jesu in Johannes 4,14 „an die Samaritanerin“ ist nur eine „vermeintliche Analogie“, weil es

in der Samaria-Episode … allein um das ,ewige Leben‘ des Einzelnen [geht], der von dem Wasser trinkt, das Jesus ihm gibt. Davon, daß die Samaritanerin durch ihr ,Trinken‘ selbst zur Wasser- und Lebensquelle für andere würde, ist jedoch keine Rede, und das ist auch nicht das Thema der Szene. Die einzige Quelle des lebenspendenden Wassers ist und bleibt vielmehr Jesus als der sōtēr tou kosmou {Retter der Welt}.“

In meinen Augen ist diese Argumentation aber nicht überzeugend. Letzten Endes ist allein der Gott Israels die Leben spendende Quelle, aus der auch der Messias Jesus schöpft, aber wo dessen Inspiration weitergegeben wird, wirkt sie doch genau durch diejenigen, die sie empfangen. Abgesehen davon habe ich bereits bei der Auslegung von Johannes 4,13-14 Thyen Annahme in Frage gestellt, dass es dort „allein um das ‚ewige Leben‘ des Einzelnen“ in einem jenseitsweltlichen Sinn geht.

Zur schwierigen Suche nach der Quelle des Vers 38 zu Grunde liegenden Schriftzitats geht Thyen (T402) zunächst auf Günter Reims <630> außerordentlich „breite Untersuchung“ ein, in der er

diesen lange und bisher stets vergeblich gesuchten Text … in Jes 28,16 gefunden zu haben [meint]! Doch da ist weder von Wasser noch vom Trinken und schon gar nicht davon die Rede, daß der Trinkende selbst zur unerschöpflichen Quelle würde, sondern allein davon, daß wer auf den von Gott auf dem Zion errichteten kostbaren Felsen baut, nicht zu Schanden werden soll…

Für „zutreffend“ hält Thyen dagegen (T403) nicht nur Bultmanns <631> Annahme, dass „die in der ,Schrift‘ nirgendwo nachweisbare Wendung ek tēs koilias autou {aus seinem Leibe} … durch das Heraustreten von Blut und Wasser aus der durchbohrten Seite Jesu (kai exēlthen euthys haima kai hydōr 19,34) … „veranlaßt“ bzw. absichtsvoll auf sie bezogen ist“, sondern auch dessen These,

daß es sich bei dem Satz: kathōs eipen hē graphē: potamoi ek tēs koilias autou rheusousin hydatos zōntos {wie die Schrift sagt: Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leibe fließen}, nicht um ein „direktes Zitat … wohl aber (um eine) deutliche Beziehungnahme auf eschatologische Weissagungen“ handele, die das heilszeitliche Entspringen einer unversieglichen Quelle aus dem Tempel oder aus Jerusalem verheißen“.

Diese eschatologischen Verheißungen der Schrift sind zumal Jes 12,3; Ez 47,1-12; Joel 4,18; Sach 13,1; 14,8. Jüdische Exegese hat diese Texte alsbald mit der Tradition vom wasserspendenden Felsen in der Wüste verbunden (Ex 17,6; Num 20,7ff; Ps 78,16).

In diesem Zusammenhang (T404) verweist Thyen vor allem auf „die letzten Kapitel des Sacharja-Buches“, die „eine prominente Rolle in unserem Evangelium“ spielen:

Die Auslegung der Szene mit dem Lanzenstich in die ,Seite‘ des Gekreuzigten (19,31-37) wird zeigen, daß da mit den Worten: opsontai eis hon exekentēsan {sie werden auf den sehen, den sie durchbohrt haben}, nicht nur mit einem isolierten Bibelwort ein ,Schriftbeweis‘ geführt wird, sondern daß dieses Zitat zugleich den gesamten Kontext von Sach 9-14 evoziert. Die Szenerie von Sach 14 ist die endzeitliche Freude, mit der die Erlösten im befreiten Jerusalem das Laubhüttenfest feiern und zusammen mit den ,Übriggebliebenen aus allen Völkern‘ JHWH Zebaoth als den universalen König anbeten.

Da in Sacharja 14 „davon die Rede“ ist, „daß es ‚an jenem Tage‘ weder Tag noch Nacht, sondern selbst um die Abendzeit hell sein wird (vgl. Joh 8,12) und daß Jerusalem ,lebendiges Wasser‘ entströmen wird (exeleusetai hydōr zōn ex Ierousalēm: 14,7f; vgl. Ez 47,8ff)“, und

weil sich innerhalb der erzählten Welt unseres Evangeliums Jesu Verheißung, daß aus seinem Leibe Ströme lebendigen Wassers entspringen werden, mit der Szene vom Lanzenstich und dem Hervorströmen von Blut und Wasser aus seiner durchbohrten Seite, für das eigens ein Augenzeuge aufgeboten wird (19,33-37), förmlich erfüllt, scheint es uns am nächsten zu liegen, als Quelle unseres Zitats Sach 14,7f anzusehen. Im übrigen ist Sach 14 wohl seinerseits ein intertextuelles Spiel mit Ez 47, wenn Sacharja statt des einen selbst das ,Tote Meer‘ lebendigmachenden Flusses gleich deren zwei aus Jerusalem hervorgehen läßt.

In Vers 39 redet Thyen zufolge „der Erzähler aus der nachösterlichen Perspektive der Glaubenden und in der Gewißheit der Gegenwart des Erhöhten“, die (T405) mit Worten Friedrich-Wilhelm Marquardts <632> folgendermaßen zu interpretieren ist:

„Man wird die Art und Weise, wie bereits Jesu Leben vor seiner Passion in den Evangelien geschildert wird, als erste Auslegung seines von der Macht des Todes über die Zeit befreiten Lebens verstehen müssen. Es ist jene anstößige Todesfreiheit, die ihn sein Leben kostet, aus deren Kraft er aber sein Leben schon von seiner ersten Stunde an geführt hat. Zu verstehen ist die biblische Darstellung des Wirkens, Lebens und Sterbens Jesu (aus der Kraft der angstbefreiten, vertrauenden Nähe) nur, sofern man Jesu Auferstehungsleben zuvor schon als die Kraft eines jeden richtigen jüdischen Lebens begreifen lernt. Jesus lebt bereits vor seinem Tod aus der Lebenskraft, die nach seinem Tod an ihm offenbar werden wird …“.

Darin, dass in „dem kommentierenden Satz: oupō gar ēn pneuma, hoti Iēsous oudepō edoxasthē {Noch gab es den Geist freilich nicht, weil Jesus ja noch nicht verherrlicht war}, … das zumal Jesu Abschiedsrede prägende Lexem doxazō {verherrlichen}“ zum ersten Mal im Johannesevangelium „im Munde seines geisterfüllten und darum auf Jesu ‚Verherrlichung‘ zurückblickenden Erzählers“ erscheint, zeigt sich nach Thyen wie auch an anderen Stellen eine überraschende „Korrelation der erläuternden Kommentare des Erzählers mit den Themen der Abschiedsrede“: <633>

Diese Kommentare betreffen außer dem doxasthēnai {Verherrlichtwerden} Jesu und der Verleihung des Geistes an unserer Stelle und 12,16, Judas (6,71, 12,6; 13,11), die „Stunde“ Jesu 7,30; 8,20), den Ausschluß aus der Synagoge (9,22; 12,42), die Bedeutung des Todes Jesu (11,51ff) und die Art seines Sterbens (12,33; 18,32).

Indem „sich dieser rückblickende Kommentar des Erzählers … an alle potentiellen Leser des Schrift gewordenen Evangeliums“ richtet, wird deutlich, wie es Thyen mit einem Zitat von Wilhelm Thüsing <634> ausdrückt,

„daß das Ev gar keine Belehrung über die religiöse Situation der Hörer des irdischen Jesus geben will, sondern sich bewußt ist, daß alle von Jesus berichteten Worte in ihrem eigentlichen Sinn vom Erhöhten gesprochen werden, und zwar durch den Parakleten.“

Ton Veerkamp <635> weist darauf hin, dass man in „der frühen Neuzeit, als unsere Vers­einteilung gemacht wurde, … Schwierigkeiten mit der Satzkonstruktion“ in den Versen 37 und 38 gehabt hat: „Die Verszahl 38 steht unmittelbar vor „der mir vertraut“. Auch er zieht diese Worte mit dem Inhalt des Verses 37 zusammen. In dem, was hier geschieht, wird ihm zufolge die

Verborgenheit des Messias … am letzten und großen Tag des Festes noch einmal vertieft. Jeschua wird zum zweiten Mal laut, er ruft aus:

Wenn jemand dürstet, komme er zu mir,
und trinke, wer mir vertraut,
wie die Schrift sagt …
Flüsse werden aus seinem Leib strömen,
lebendigen Wassers.

Hier haben alle Ausleger ein Problem, denn das Schriftzitat ist unauffindbar.

Inhaltlich geht es hier nach Veerkamp um etwas Ähnliches wie in Johannes 4:

Wir müssen zunächst an das Gespräch mit der Frau aus Samaria zurückdenken, wo es ebenfalls um „Durst“ und „lebendes Wasser“ ging. Auch dort hörten wir das Wort pneuma, „Inspiration“ („Geist“). Das Wasser, das Jeschua der Frau in Aussicht stellt, erweist sich als der lebensspendende Friede zwischen den beiden Völkern, die von einem neuen Geist inspiriert sind.

Dann fragt Veerkamp weiter nach möglichen Rückbezügen auf die jüdischen Schriften:

Was oder wer ist „lebendes Wasser“? Am klarsten ist die Antwort aus Jeremia 2,13: „Mich haben sie verlassen, den Brunnen des lebenden Wassers.“ Der Brunnen des lebenden Wassers ist der Gott Israels. Das Neue, das hier geschaffen werden soll, ist wie „ein Weg durch die Wüste, wie Ströme durch die Steppe“ (Jesaja 43,19). Das Schlusskapitel der großen Trostrede im Buch Jesaja beginnt, 55,1: „Oh, ihr Dürstenden alle, kommt zum Wasser …“ (vgl. oben bei der Besprechung von 6,7). Johannes Calvin <636> hatte schon recht, als er in seinem Kommentar schrieb, hier sei nicht eine „bestimmte Schriftstelle“ gemeint, „sondern das Zeugnis aus der gesamten Lehre der Propheten“.

In seiner Anm. 265 zur Übersetzung von Johannes 7,38 aus dem Jahr 2015 ergänzt Veerkamp, dass Jesus mit dem Wort koilia auch an das „Gespräch mit Nikodemus“ (Johannes 3,4) erinnert : „Ein Mensch kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter eingehen und geboren werden?“ Außerdem zieht auch er wie Thyen den Schluss des Prophetenbuches Sacharja als von Jesus zitierte Stelle in Betracht:

Die unmittelbar aufgerufene Schriftstelle findet sich in Sacharja 14,8: „Es wird sein an jenem Tag: lebendes Wasser wird ausgehen aus Jerusalem …; es wird sein: der NAME wird König sein über das ganze Land, an jenem Tag wird der NAME der EINE sein, sein Name der EINE.“ Dieser Vers ist wiederum ein Midrasch über Ezechiel 47,1ff. (potamoi, „Flüsse“). Koilia steht in der LXX 38mal für beten, „Bauch“, 24mal für meˁim, „Eingeweide“, viscera, und 12mal für qerev, „Inneres“. Wir übersetzen koilia mit „Leib“, die Vulgata schreibt venter, „Bauch“. Ek tēs koilias bedeutet „vom Mutterleib an“ (etwa Jesaja 44,2.24; 49,1 usw.; Jeremia 1,5). Das „Wasser aufquellend zum Leben der kommenden Weltzeit“ (4,14) ist die Inspiration, die zu einer messianischen Existenz befähigt. – Vgl. auch Johannes 19,34 und 1 Johannes 5,6.

Dass die Menschen, die diese Worte an Ort und Stelle hören, „aber nicht genau verstehen“ können, „was gemeint ist“, und dass Jesus dementsprechend auch nicht aus seiner Verborgenheit heraustritt, scheint dem Evangelisten selber klar zu sein, denn:

Johannes deutet sein Wort selber, indem er das Ende seiner Erzählung vorwegnimmt. Mit Wasser ist das gemeint, was man in der Kirche „Geist“ nennt und wir mit „Inspiration“ wiedergegeben haben. Diese Inspiration wird von Jeschua ausgehen, aber erst dann, wenn er sein Ziel erreicht haben wird (19,28ff.). Genaueres erfahren wir erst im großen Stück „Wenn er kommt, der Herbeigerufene (paraklētos) …“, 15,26-16,15. Sein Ziel hat Jeschua erreicht, wenn alle Illusionen über den Messias, alle törichten politischen Messiasprojekte ihr katastrophales Ende gefunden haben werden, wenn Jeschua gekreuzigt und endgültig in die Verborgenheit seines Gottes hineingegangen sein wird, erst dann wird die Inspiration von ihm ausgehen, die ganz Israel weltweit zusammenführen wird. „Flüsse lebenden Wassers“ werden dann weltweit vom Messias ausgehen, und genau das ist, was Johannes mit Inspiration der Heiligung meint.

Damit bezieht Veerkamp die Worte Jesu und das von ihm angeführte Schriftzitat anders als Wengst und Thyen punktgenau auf die politisch-diesseitig zu verstehenden Verheißungen der jüdischen Propheten, die mit der Sammlung ganz Israels den Anbruch der kommenden Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden erhoffen.

Johannes 7,40-44: Spaltungen im Volk wegen der Frage, ob Jesus der Messias ist

7,40 Etliche nun aus dem Volk, die diese Worte hörten, sprachen:
Dieser ist wahrhaftig der Prophet.
7,41 Andere sprachen: Er ist der Christus.
Wieder andere sprachen: Soll der Christus etwa aus Galiläa kommen?
7,42 Sagt nicht die Schrift:
Aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem, wo David war,
kommt der Christus?
7,43 So entstand seinetwegen Zwietracht im Volk.
7,44 Einige von ihnen wollten ihn ergreifen;
aber niemand legte Hand an ihn.

[18. Juli 2022] Nach Klaus Wengst (W246) löst Jesu „Verheißungswort … unterschiedliche Reaktionen bei den Leuten aus“. Einige stellen fest (Vers 40): „Das ist wahrhaftig der Prophet“, womit „der Prophet wie Mose nach Dtn 18,15.18“ gemeint ist, „eine prophetisch-messianische Gestalt, die in der Endzeit die Wunder des Auszugs und der Wüstenzeit wiederholen soll“. Meine Frage dazu wäre, welches endzeitliche Wunder dem Auszug aus Ägypten besser entsprechen könnte als die Überwindung der römischen Weltordnung? Auch (Anm. 409) nach Rudolf Schnackenburg <637> ist es

„beachtlich, daß die Bezeichung ‚der Prophet‘ Jesus nur nach der Speisung (6,14) und hier nach dem Wort von den ,Strömen lebendigen Wassers‘ beigelegt wird. Das kann mit der Erinnerung an Moses und das Wüstengeschehen zusammenhängen.“

Als andere (W247) ihre Überzeugung äußern: „Das ist der Gesalbte“, also der christos, der Messias, wird diese Bezeichnung, die „schon in 1,41 und dann in 4,25f.29 auf Jesus bezogen“ wurde und in 7,26 „in Form einer ironischen Frage“ erschien, durch wieder andere in Frage gestellt:

„Kommt denn etwa aus Galiläa der Gesalbte?“ Dass diese Frage zu verneinen sei, dafür führen sie die Schrift an. Das tun Sie nicht in Form eines Zitates, sondern unter Nennung von zwei Aspekten: „Hat nicht die Schrift gesprochen: Von der Nachkommenschaft Davids und aus Betlehem, dem Ort, wo David war, kommt der Gesalbte?“

Dass „der Gesalbte, der königliche Messias, aus der Nachkommenschaft Davids hervorgeht“, geht vor allem aus der „Natanweissagung in 2. Sam 7,12f.“ hervor, und Micha 5,1 belegt „Betlehem Efrata“ als den „Ort, aus dem der Messias kommt“:

Jesus erfüllt also dieses schriftgemäße Kriterium nicht. Er stammt aus Galiläa und ist kein Davidide. Folglich kann die gerade von anderen gemachte Aussage, er sei der Gesalbte, nicht zutreffen.

Falls Johannes und sein Publikum die in „Mt 1f. und Lk 1f.“ überlieferte Tradition kannten, „wonach Jesus in Betlehem geborener Davidide ist“,

kann man die Anführung des Einwands in V. 41b.42 als eine ironische Darstellung verstehen. Ohne es selbst zu merken, führen die Gegner Jesu Kriterien an, die voll und ganz auf ihn zutreffen. Ihr Einwand fällt in sich zusammen und wird im Gegenteil für die das Evangelium Lesenden und Hörenden zur Bestätigung der Messianität Jesu.

Wengst äußert allerdings Zweifel, ob die von Thyen „ständig wiederholte Formel vom ‚intertextuellen Spiel‘, hier ‚mit der Geburtsgeschichte des Matthäus‘“ (T410), sich „aus den Texten des Johannesevangeliums, die die Herkunft Jesu betreffen“, bestätigen lässt (W247):

Der Einwand in 7,41f. liegt auf derselben Ebene wie die Einwände in 6,42 und 7,27, die nicht in Frage gestellt werden. Entsprechend heißt es schon in 1,45 im Munde des Philippus, eines gerade von Jesus berufenen Schülers, der gegenüber Natanael ein Zeugnis für Jesus ablegt: „Von dem Mose in der Tora geschrieben hat und die Propheten, den haben wir gefunden: Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazaret.“‘ Diese Stelle wiegt schwer, da es sich um ein Bekenntnis handelt. Es ist also m. E. wahrscheinlicher, dass Johannes die Tradition von der davidischen Herkunft Jesu und seiner Geburt in Betlehem nicht kannte.

Möglich ist aber auch, dass er diese Tradition durchaus kannte, ihr aber ähnlich kritisch gegenüberstand wie etwa der Evangelist Markus. Dieser stand nach Andreas Bedenbender <638> unter dem unmittelbaren Eindruck des im Jüdischen Krieg katastrophal gescheiterten Versuchs zelotischer Kreise, gegen die Römer ein neues davidisches Großreich zu erkämpfen:

Markus schreibt unter anderen Umständen … als Matthäus und Lukas. Wenn seine beiden Seitenreferenten ihren Jesus eindeutig an David heranrücken können, wenn Lukas u.a. in Apg 1,6f. auch die Erwartung einer Wiederaufrichtung des „Reiches“ für Israel recht unbefangen aufzunehmen vermag, so spiegelt sich darin eine veränderte politische Lage: Ein oder zwei Jahrzehnte nach dem Jüdischen Krieg, aber immer noch lange vor dem Diaspora-Aufstand unter Trajan und dem Bar-Kochba-Aufstand unter Hadrian herrschte zwischen der römischen Hegemonialmacht und dem jüdischen Volk im großen und ganzen Frieden (wenn man Frieden als die Abwesenheit offener Kampfeshandlungen versteht). Das heißt: die messianischen Erwartungen des jüdischen Volkes wirkten sich damals nicht so explosiv aus wie davor und danach, darum konnten sie leichter positiv aufgenommen werden. In der zweiten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. dürfte es wohl nie so gute Gründe gegeben haben, von einem „davidischen“ Messias nichts mehr (oder doch: im Moment nichts) wissen zu wollen, wie während des Jüdischen Krieges und unmittelbar danach, also in den Tagen des Markus.

Da Johannes in 6,15 gewaltsame Versuche erwähnt, Jesus zum König auszurufen, und sogar die Erwähnung des Namens „David“ bis auf den einen Vers 7,42 vermeidet, ist es durchaus denkbar, dass auch er wie Markus jedem Anschein entgegenzuwirken versucht, Jesus könnte als zelotisch-messianischer Davide Anspruch auf den Königsthron in Jerusalem erheben und einen Aufstand vom Zaun brechen.

Die Aussage (W248) des Johannes in Vers 43: „Da gab es seinetwegen eine Spaltung unter den Leuten“, lässt Wengst zufolge

wieder die Situation zur Abfassungszeit des Evangeliums durchscheinen. Dass es „keine Spaltungen in Israel“ gebe, sondern einen weitgehenden Konsens darüber, wie das gemeinsame Leben zu gestalten sei, darauf waren die pharisäisch-rabbinischen Lehrer nach dem Krieg bedacht, weil es für die Möglichkeit des Überlebens der jüdischen Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung war. In dieser Situation musste die Verkündigung Jesu als Messias, die an dessen Anerkenntnis die rechte Gotteserkenntnis band, Spaltung hervorrufen – und damit auch entsprechende Abwehrreaktionen auf Seiten der Mehrheit.

In diesem Zusammenhang verweist Wengst darauf, dass das „Thema der Spaltungen … in der rabbinischen Überlieferung eine nicht unbedeutende Rolle“ spielt. Im Blick auf „die unterschiedlichen Traditionen der Schulen Schammajs und Hillels“ fand man „einen praktikablen Weg…, indem man die Entscheidungen der Schule Hillels für verbindlich erklärte – und dennoch auch die der Schule Schammajs tradierte“. Aber nicht alle Spaltungen konnten „in die jüdische Gemeinschaft integriert werden“, was auf jeden Fall für die „Spaltung ‚um Jesu willen‘“ gilt.

Der weitere erfolglose „Versuch, Jesus festzunehmen“, dient in Vers 44 Wengst zufolge (W249) „vor allem dazu, die letzte Szene des Kapitels vorzubereiten“.

Auch nach Hartwig Thyen (T407) mag die Aussage einiger aus dem Volk: „Dieser ist tatsächlich der Prophet“, mit der sie auf „Jesu Verheißung der ,Ströme lebendigen Wassers‘“ reagieren, dadurch hervorgerufen sein, dass sie sich „an die dem Mannawunder in Ex 17 folgende Tränkung der Durstigen durch das Wunder des aus dem Felsen hervorquellenden Wassers erinnern“:

Die Folge von Israels Rettung durch das Mannawunder (Ex 16) und durch die unmittelbar danach in Ex 17 erzählte wunderbare Wasserspende ist zum festen Topos in der biblisch-jüdischen Überlieferung geworden. So heißt es etwa in Psalm 105,40f: „Und er sättigte sie mit dem Brot vom Himmel / und den Felsen öffnete er, da quoll das Wasser hervor und rauschte als Strom durch die Wüste“. Diese feste Folge des Wasserwunders auf den Mannaregen vom Himmel spricht im übrigen auch entschieden dagegen, die überlieferte Folge der Kapitel 6 und 7 zu vertauschen.

Dass hier wie schon in Johannes 1,19ff. der „verheißene Prophet … durch den folgenden V. 41 klar von dem Messias (ho christos) unterschieden“ wird, berechtigt nach Thyen nicht dazu, „die prophetische Sendung des geisterfüllten Jesus von seinem königlich-messianischen Werk zu trennen.“ An dieser Stelle ist „weder von einer positiven noch auch von einer negativen Reaktion Jesu auf diese Prädikationen die Rede“, denn es reden „bis zum Ende des Kapitels nur noch unterschiedliche Gruppen von Leuten über Jesus und nicht mehr mit ihm“.

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang Thyens Auseinandersetzung mit Wolfgang Bittner, <639> der ihm zufolge „wohl ganz richtig“ sieht (T407f.),

daß der Evangelist Jesus nicht nach Analogie des Auftretens der von Josephus geschilderten ,Zeichenpropheten‘ und ihrer politischen Ambitionen verstanden wissen will. Weil die Menge ihn in solchen Spuren als ihren König zu instrumentalisieren trachtet, läßt er Jesus sich dem Zugriff der Menge entziehen. Wenn Bittner jedoch „die Wurzel der johanneischen sēmeia-{Zeichen-}Problematik“ in dem Streit darüber meint ausmachen zu können, „ob Jesus in einer unmittelbaren politischen Sendung steht bzw. dafür in Anspruch genommen werden kann“ (ebd. 154), geht er wohl zu weit. Denn die Rede von einem derartigen „Streit“ setzt doch voraus, daß solche Versuche in der Welt des Evangelisten noch akut gewesen sein müßten. Indem er eine strikte Alternative von „Prophet“ versus „Messias“ errichtet und vehement darauf insistiert, daß Jesus bei Johannes nicht „der Prophet wie Mose von Dtn 18,15.18, sondern der vom Geist erfüllte königliche Messias von Jes 11 sei, trennt er, was der Evangelist nur unterschieden wissen will.

Bittner scheint also anders als der von mir eben zitierte Bedenbender nicht davidische Messiashoffnungen, sondern zeichenprophetische Vorstellungen mit zelotisch-politischen Ambitionen zu verbinden, denen Johannes kritisch gegenübersteht. Da ich sein Buch nicht kenne, kann ich nur vermuten, dass „der vom Geist erfüllte königliche Messias“ in seinen Augen wohl in keinem Sinn politisch zu verstehen ist.

Thyen wiederum scheint einen Streit darüber, „ob Jesus in einer unmittelbaren politischen Sendung steht“, in der Zeit des Evangelisten Johannes für absolut anachronistisch zu halten. Genau diese Auffassung stelle ich schon deswegen in Frage, weil es zelotisch-messianische Bewegungen bis zum jüdischen Diaspora-Aufstand (115-117 n. Chr.) und zum Bar-Kochba-Aufstand (132-136 n. Chr.) auf jeden Fall noch gab.

Der umgekehrten Argumentation (T408) von Wayne Meeks, <640> statt in der „Erwartung eines königlichen Messias aus dem Hause Davids“ vielmehr „in der jüdischen Tradition von Mose als dem königlichen Propheten (‚Prophet-King‘) den Schlüssel zum Verstehen von Genese und Bedeutung der johanneischen Christologie“ zu sehen, steht nach Thyen schon der Umstand entgegen (T409),

daß es im Evangelium keinerlei Bekenntnis der Jünger oder anderer Glaubender zu Jesus als dem endzeitlichen Propheten gibt, sondern nur Mutmaßungen Ungenannter darüber, ob Jesus nicht dieser Prophet sein könnte. Und wenn das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias zum Ausschluß aus der Synagoge (9,22 u. 34!; 12,42;), ja nach 16,1ff möglicherweise gar ins Martyrium führt, ist doch wohl unübersehbar, daß das christos-Prädikat in der Welt des Johannes eine höhere Dignität hat als dasjenige des ,Propheten‘.

Gegenüber den „Anderen“, die in Vers 41a sagen: „Dieser ist der Christus“, wird in Vers 41b-42 „von Dritten“ der Einwand vorgebracht: „Kommt denn der Messias etwa aus Galiläa? Sagt demgegenüber denn nicht die Schrift, daß der Messias aus dem Samen Davids und aus Bethlehem kommen wird, dem Dorf, in dem David lebte?“ Aus dem Einwand dieser Leute, um den es bereits in 1,45f.; 6,42; 7,27 ging, ist

aber nur ihr eigenes Unwissen, keinesfalls jedoch zu erschließen, daß unser Evangelist und sein ,Erzähler‘ sowie sein mit den synoptischen Evangelien vertrauter ‚impliziter Leser‘ nicht um die bethlehemitische Geburt Jesu und um Judäa als seine idia patris (4,44) gewußt hätten.

Dafür spricht nach Thyen (T409f.), „daß in der jüdischen Überlieferung und messianischen Erwartung der Ortsname Bethlehem so gut wie keine Rolle spielt und daß Mi 5,2 im Zusammenhang mit der Geburt des Messias vor dem vierten Jahrhundert von den Rabbinen nie zitiert wird“. <641> Zudem sieht er (T410)

in dem ausdrücklich mit dem Zitat von Mi 5,2 begründeten Einwand gegen die Messianität des Galiläers Jesus ein intertextuelles Spiel mit der Geburtsgeschichte des Matthäus (Mt 2,4ff)… Dabei besteht die Ironie dieses Spiels darin, daß es jetzt ahnungslose Juden sind, die gegen die Messianität Jesu und das bessere Wissen des impliziten Lesers geltend machen, daß er nicht in Bethlehem geboren sei.

Zur ersten Verwendung des Wortes schisma, „Spaltung“, in Vers 43 vermerkt Thyen lediglich (T410f.), dass ihre „Art und Heftigkeit“ in Vers 44 sogleich durch den wiederum vergeblichen Versuch, „Jesus zu verhaften“, verdeutlicht wird.

Anders als Wengst und Thyen stellt Ton Veerkamp <642> die Verse 40-43 in einen politischen Zusammenhang, der letzten Endes auf die Fragen hinausläuft, die ich oben unter Bezug auf Andreas Bedenbenders Markus-Auslegung angesprochen habe:

Die Menschen ahnen, dass hier Entscheidendes geschieht. Alles politisch Entscheidende aber spaltet sie. Die einen ahnen hier den Messias. Diese Vermutung wird mit jenem Scheinwissen zertrümmert, mit dem überall und zu allen Zeiten eine neue politische Initiative kaputtgeredet wird. Der Messias komme aus Bethlehem, sagt der Prophet Micha:

Und du, Bethlehem Ephrata,
zu klein, um zu einem unter den Tausenden in Juda zu werden,
aus dir kommt jemand hervor,
der Israel regieren wird.
Seine Herkunft ist wie aus den Tagen der Vorzeit (5,1).

Der Messias wird wie David aus diesem Ort kommen, wird also die Rolle eines David spielen. Gerade dieses Gerücht um den Messias bekämpft Johannes. „David“ ist ein neues Königreich für Israel, und ein solches davidisches Messiasprojekt war in Jerusalem im Jahr 70 in einem katastrophalen Massaker geendet. Weiter erwähnt er David in seinem Evangelium mit keiner Silbe. Der Messias ist der leibliche Sohn Josephs – Jeschua ben Joseph – und eben nicht der Sohn Davids. Wenn überhaupt, ist er „Sohn Gottes“, einer wie Gott. Blaues davidisches Blut hat er bei Johannes nicht.

Mit dieser Einschätzung entspricht Veerkamp der Auffassung von Wengst. Ich bleibe aber dabei, dass Johannes dennoch die Bethlehem-Traditionen von Matthäus bzw. Lukas gekannt haben kann, sie aber wegen seiner strikt anti-zelotischen Haltung nicht aufgegriffen hat.

Zur Spaltung der jüdischen Volksmenge fasst Veerkamp die Lage folgendermaßen zusammen:

Die Leute waren gespalten. Manche meinten, die Werke seien das messianische Kriterium, andere, die richtige Herkunft müsse dazukommen. Die Sache bleibt für die Menge unentschieden, die Spaltung bleibt.

Einige Beamte versuchen ihn zu verhaften; das Vorhaben war – noch – undurchführbar.

Johannes 7,45-49: Jesus als Verführer des Volkes und Verfluchung des Volkes durch die Pharisäer

7,45 Da kamen die Knechte zu den Hohenpriestern und Pharisäern;
und die fragten sie: Warum habt ihr ihn nicht gebracht?
7,46 Die Knechte antworteten: Noch nie hat ein Mensch so gesprochen.
7,47 Da antworteten ihnen die Pharisäer: Seid ihr auch verführt worden?
7,48 Glaubt denn einer von den Oberen oder von den Pharisäern an ihn?
7,49 Nur das Volk tut‘s, das nichts vom Gesetz weiß; verflucht ist es.

Wodurch Klaus Wengst auf die Idee kommt (W249), dass bis zur jetzt geschilderten neuen Szene „drei Tage vergangen“ sind, erschließt sich mir nicht; Zeitangaben fehlen in diesen Versen. Nach Vers 45 kehren die „von ‚den Oberpriestern und den Pharisäern‘ ausgeschickten Wachleute“ erfolglos „zu ihren Auftraggebern, die als Behörde fungieren“, zurück und begründen ihren Misserfolg in Vers 46 mit den Worten: „Noch nie hat ein Mensch so geredet.“ Dazu stellt Wengst die Frage:

Spiegelt sich hier auch Erfahrung des Evangelisten wider, der sein Evangelium eben im Vertrauen auf die Kraft des Wortes Jesu schreibt und sich und seine Gruppe im Gegenüber zu einer Mehrheit erfährt, die auch noch über andere Möglichkeiten als die des bloßen Wortes verfügt? Es wäre dann aber gleich dazu zu sagen, dass es in der weiteren Geschichte der Kirche keineswegs beim alleinigen Vertrauen auf „die Macht des Wortes Jesu“ geblieben ist.

In den folgenden Versen 47-49 „werden jetzt ‚die Pharisäer‘ als allein weiter handelndes Subjekt genannt“. Das entspricht der Einschätzung von Wengst, dass diese „im Johannesevangelium als die entscheidende Gruppe auf der Gegenseite“ erscheinen. In dem, was sie sagen, geht es darum, „dass sie Jesus für einen Verführer halten“, und um die Frage, „wer sich nicht von Jesus imponieren lässt und wer offenbar auf ihn hereinfällt“:

Die führenden Personen, die es wissen müssen und an denen man sich orientieren sollte, halten nichts von dem für Jesus erhobenen Anspruch. Auf der anderen Seite stehen die unkundigen Leute, zu deren Repräsentanten die Wachleute werden: „Aber diese Leute, die die Tora nicht kennen – verflucht sind sie.“ Hier wird ein Gegensatz zwischen der Orientierung an der Tora und dem Glauben an Jesus – sofern er sich auch nur ansatzweise zeigt – aufgebaut.

Zu diesem Gegensatz, der auch „in 9,28 begegnen“ wird, „wenn ‚die Juden‘ gegenüber dem sich an Jesus haltenden Geheilten sagen: ‚Du bist Schüler von dem da, wir aber sind Schüler des Mose‘“, betont Wengst, dass sich Johannes „in diese Alternative nicht hineinziehen lassen“ will (W249f.):

Er konstruiert seinerseits eine andere, indem er die Schrift als Zeugen für Jesus beansprucht und denen Schrift- und Gotteskenntnis abspricht, die dieses Zeugnis nicht annehmen. Beides sind Positionen jenseits des Dialogs, Positionen nach einem festgefahrenen Gespräch. Die Gegenüberstellung könnte auch einen Hinweis auf die soziale Zusammensetzung der johanneischen Gemeinde enthalten, dass es nämlich in ihr kaum Bessergestellte und gesellschaftlich Einflussreiche gab.

Die Verfluchung der „Leute, die die Tora nicht kennen“, in Vers 49 lässt Wengst zufolge „auch erkennen, wie die pharisäisch-rabbinischen Lehrer diejenigen einschätzten, die die Tora und ihre Auslegung ignorierten und sich dann auch nicht an das Gebotene hielten“. Sie werden „in der rabbinischen Literatur“ als „am ha-árez {wörtlich: Volk des Landes}“ bezeichnet, „(vielleicht am ehesten verdeutscht mit ‚Landmensch‘, ‚Provinzler‘) bzw. im Plural amméj ha-árez.“ Pierre Lenhardt und Peter von der Osten-Sacken <643> schreiben über diesen Begriff, dass er

„als Bezeichnung für die Angehörigen des jüdischen Volkes gebraucht [wird], die – aus welchen Gründen auch immer – dem Gebot des Studiums von Bibel und mündlicher Lehre nicht nachkommen und sich deshalb auch religionsgesetzlich nicht so zu verhalten wissen und verhalten, wie es sich der von den Gelehrten vergegenwärtigten Tradition gemäß geziemt. Wenn deshalb der Begriff auch prinzipiell nicht soziologisch geprägt ist und Arme wie Reiche zum Am Haarez gehören können, so hat er doch aufgrund der schlechteren Ausgangsposition der Armen de facto eine besondere Nähe zu den sozial Schwachen.“

Rabbi Akiva bildet nach Osten-Sacken insofern eine Ausnahme unter den Rabbinen, als er

„seine Vergangenheit als Am Haarez mit seiner Zugehörigkeit zu den Gelehrten nicht einfach abgestreift bzw. das bei diesen verbreitete Bild vom Am Haarez übernommen (hat). Vielmehr läßt die Überlieferung erkennen, daß er in seiner Zeit als Weiser Israels sich in besonderem Maße der Sache der Armen angenommen hat und in diesem Sinne seiner Vergangenheit treu geblieben ist“.

Zu den Versen 45-47 ergänzt Hartwig Thyen (T411), dass die „Pharisäer“ ihren „Untergebenen“ auf Grund ihres Betroffenseins durch Jesu Worte

den Vorwurf des Abfalls vom rechten Glauben machen. Sie sind auf den hereingefallen, der das Volk verführt (alla plana ton ochlon: 7,12). planan und planaomai sind nahezu technische Ausdrücke für die endzeitliche Verführung der Glaubenden durch falsche Propheten und Pseudomessiasse. Indem Jesus sich selbst „Gott gleich“ (5,18) oder „zu Gott macht“ (10,33) verführt er das Volk zum Abfall Von JHWH als dem einzigen Gott. Die Bezeichnung Jesu als „Verführer“ (planos) scheint eine geläufige jüdische Anklage gegen Jesus gewesen zu sein (vgl. Mt 27,63…).

Die Verse 48 und 49 bezieht auch Thyen auf den rabbinischen Begriff des ˁam haˀarez (411f.), den er unter Rückgriff auf die Erfahrungen der Heimkehrer aus dem babylonischen Exil mit den im Lande Gebliebenen näher erläutert:

Bezeichnete diese Wendung ursprünglich – und ohne jeglichen negativen Akzent – entweder das gesamte Volk Israel (Ez. 12,19; 22,29; 39,13 u.ö.) oder aber dieses Volk im Unterschied zu denen, die es regierten (vgl. Jer 1,18; 34,19; 37,2; Ez 7,27; 2Kön 11,14.19 u.ö.), so erfährt sie in der Zeit der Heimkehr der Exilierten aus Babylon einen charakteristischen Bedeutungswandel. Bei Esra und Nehemia, denen später die Rabbinen folgen werden, wird die Wendung und zumal der Plural ˁamej haˀarez zur geringschätzigen Bezeichnung derer, die während des Exils unter fremder Herrschaft im Lande verblieben waren. Ihnen war nicht nur der hohe Stand der Tora-Gelehrsamkeit der aus Babylon Heimgekehrten unerreichbar, sondern deren ganze unter dem Einfluß des Deuteronomiums und der Erfahrungen des Exils völlig verwandelte JHWH-Religion war ihnen eine fremde Welt … Während die Heimkehrer stolz auf ihre Genealogien pochten und sich als die vermeintlich allein wahren Erben der Religion der Väter hoi Ioudaioi nannten, galten ihnen die Zurückgebliebenen als die der Tora unkundigen und darum unter deren Fluch stehenden ˁamej haˀarez.

Ton Veerkamp <644> spricht im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen Jesus nicht von einer Verführung zum Glaubensabfall, sondern von politischer Unzuverlässigkeit:

Unverrichteter Dinge kehren die Beamten zu ihren Auftraggebern zurück. Diese fragen sie, weshalb sie Jeschua nicht festgenommen hatten. Merkwürdig ist die Begründung der Beamten: „Nie hat ein Mensch so geredet!“ Nicht ein eventueller Widerstand der Menge, in der es viele Sympathisanten Jeschuas gab, sondern die Macht seiner Worte war es, die sie davon abhielt, handgreiflich zu werden. Den Peruschim schwante politische Unzuverlässigkeit: „Seid vielleicht auch ihr in die Irre geführt worden?“ Auch in der Menge hatte es Judäer gegeben, die der Ansicht waren, Jeschua führe andere Judäer in die Irre (7,12), weder die Obrigkeit noch die Peruschim hätten Jeschua vertraut. Mit den archontes (Oberen, Obrigkeit) sind nicht nur die führenden Priester gemeint, sondern überhaupt alle, die politische Macht ausübten.

Zum Vorwurf der Pharisäer gegen den ochlos, die Volksmenge, die ihr Vertrauen auf den Messias setzt, geht Veerkamp anders als Wengst und Thyen nicht näher auf die Hintergründe im Begriff ˁam haˀarez ein, sondern auf die Frage, ob die Verfluchung wegen ihrer Toralosigkeit zu Recht erfolgt:

Die Peruschim bringen ein neues Argument. Sie werfen der Menge nicht politische Ahnungslosigkeit vor, sondern Anomie, Toralosigkeit. Sie kennen die Tora nicht, sie erkennen die Tora nicht an, das ist der Vorwurf. Und wer in Israel die Tora nicht anerkennt, ist gemäß der Tora verflucht. Insofern haben die Peruschim Recht. Denn die Frage ist, ob die Menge tatsächlich die Tora nicht anerkennt. Aber so verkehren hier Judäer mit anderen Judäern, die eine Partei verflucht die andere!

Johannes 7,50-52: Nikodemus als Fürsprecher Jesu oder des verfluchten Volkes

7,50 Spricht zu ihnen Nikodemus,
der vormals zu ihm gekommen war und der einer von ihnen war:
7,51 Richtet denn unser Gesetz einen Menschen,
ehe man ihn angehört und erkannt hat, was er tut?
7,52 Sie antworteten und sprachen zu ihm:
Bist du auch aus Galiläa?
Forsche und sieh: Aus Galiläa steht kein Prophet auf.

Zu den erwähnten Pharisäern (W250) gehört auch Nikodemus (Vers 50), der in Kapitel 3 „als ein ‚Ratsherr‘ vorgestellt“ wurde und Jesus aufgesucht hatte. Er wendet (Vers 51) gegenüber „dem schon feststehenden Urteil der Behörde“ ein: „Richtet denn etwa unsere Tora den Menschen, ohne dass man ihn zuerst verhört und erkannt hätte, was er tut?“ Nach Wengst kann dabei „an Dtn 1,16f. gedacht sein, wonach Mose den Richtern geboten hat: ‚Hört an, was zwischen euren Brüdern ist, und richtet gerecht […]! Den Kleinen wie den Großen sollt ihr anhören!‘“ Diese „Intervention“ führt nur dazu (Vers 52), dass seine Ratskollegen ihn selbst „hypothetisch mit Jesus in Verbindung“ bringen, indem sie fragen: „Bist etwa auch du aus Galiläa?“

Auch das spiegelt die Situation zur Zeit des Evangelisten wider, in der es offenbar nicht opportun erscheint, mit Jesus in Zusammenhang gebracht zu werden.

Dieser „Verdächtigung und damit Einschüchterung“ folgt dann (W250f.), die Diskussion abschließend, „das Argument: ‚Forsche und sieh, dass aus Galiläa der Prophet nicht aufsteht!‘“ Damit wird nun auch der „in V. 40 geäußerten Meinung, er sei ‚der Prophet‘“, widersprochen, nachdem „in V. 41b.42 die Meinung, Jesus sei der Gesalbte, zurückgewiesen worden ist“. Zwar wird (Anm. 417) der bestimmte Artikel: „der“ Prophet

nur von einem verschwindend geringen Teil der handschriftlichen Überlieferung geboten. Dennoch ist er wahrscheinlich ursprünglich. Lautete die Aussage, „dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht“, müsste man entweder annehmen, dass Johannes sich irrt oder die in V. 52 Redenden sich irren lassen will. Denn in 2. Kön 14,25 wird als Herkunft des Propheten Jona ben Amittai ausdrücklich ein galiläischer Ort genannt.

Zwar scheint es (W251) über die Herkunft des einen Propheten, der wie Mose ist und für die Endzeit erwartet wird, „keine Festlegung zu geben. Doch ist sein Auftreten offensichtlich mit der Wüste verbunden, wie ja auch Mose selbst in der Wüste gewirkt hat“, so dass er nicht aus Galiläa kommen kann. „Jesus erfüllt dieses Kriterium nicht. Er stammt nicht nur aus Galiläa, sondern ist auch von dorther aufgetreten.“ Demgegenüber versuchten Wengst zufolge andere prophetische Gestalten „offenbar diesem Kriterium des Auftretens in der Wüste zu entsprechen“, von denen Josephus einige erwähnt, so (Bell. 2, 13, 4) „‚den ägyptischen Pseudopropheten‘, der sich selbst als Prophet ausgab, eine große Menge um sich sammelte und sie ‚aus der Wüste‘ auf den Ölberg führte“, weiter (Bell. 7, 11, 1) den „Weber Jonatan, der nach dem jüdisch-römischen Krieg nach Kyrene kam, Anhang unter den Armen gewann ‚und sie in die Wüste führte mit dem Versprechen, Zeichen und Wundererscheinungen zu zeigen‘“, und schließlich (Ant. 20, 5, 1) den „Propheten Theudas, der mit einer Menschenmenge an den Jordan zog und die Wunder der Wüstenzeit zu vollbringen versprach“.

Nach Hartwig Thyen (T412) erweist die in den Versen 50-51 erfolgende

Intervention des Nikodemus … die V. 48f als ein Musterbeispiel der ironischen Raffinesse des Evangelisten. Denn das Auftreten dieses Mannes, der ja nach 3,1 ein anthrōpos ek tōn Pharisaiōn {Mensch von den Pharisäern} und ein archōn tōn Ioudaiōn {Oberer der Juden} obendrein war, scheint der Frage der Pharisäer, ob denn etwa einer der Archonten oder der Pharisäer an Jesus glaube, den Boden zu entziehen und ihre allzu selbstsichere Antwort als pure Heuchelei zu erweisen.

In diesem Zusammenhang wendet sich Thyen nochmals entschieden dagegen, den Glauben des Nikodemus abzuwerten, den er zu Jesus wie viele andere Jerusalemer auf Grund seiner Zeichen gefasst hatte:

Gewiß, Nikodemus war damals unter dem Schutz der Nacht zu Jesus gekommen. Doch berechtigt das dazu, ihn ein für allemal als ein Geschöpf der Nacht und der Finsternis abzustempeln? War er denn nicht zu dem gekommen, der gesagt hat: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (6,37)?

In Thyens Augen erscheint Nikodemus

schon bei seinem ersten Auftreten als einer, der zwischen die Fronten geraten ist. Noch ist er nicht wirklich ein Jünger Jesu und doch zugleich auch nicht mehr gänzlich einer ek tōn Ioudaiōn {von den Juden}. Aber sollten nicht gerade die kritischen Worte dessen, der nicht gekommen ist, die Welt zu verurteilen, sondern sie zu retten (3,17), Nikodemus auf den Weg gebracht haben, auf dem er dem Leser beim Laubhüttenfest (7,50-52) und endlich beim Begräbnis Jesu (19,38-42) wieder begegnen wird?

Für Nikodemus spricht jedenfalls (T414), dass er „sich jetzt nicht mehr unter dem Schutz der Nacht (3,2) auf den Weg zu Jesus“ macht, sondern dass er „in der Öffentlichkeit des Tages und wohl vor den Ohren der soeben als des Gesetzes Unkundige verfluchten hypēretai {Diener} als Jesu Anwalt“ auftritt:

„Erlaubt uns unser Gesetz etwa, einen Menschen zu verurteilen, ohne daß man ihn zuvor angehört und sich über sein Tun ins Bild gesetzt hat?“ Nikodemus beantwortet seine Frage nicht selbst, wie seine Vorredner, sondern überläßt es ihnen, ihrer eigenen Gesetzlosigkeit innezuwerden. Sie, die sich als solche rühmen, die das Gesetz kennen, müssen ja wissen, daß das Gesetz sagt: „Höret eure Brüder an und richtet gerecht zwischen einem Mann und seinem Bruder“ (Dtn 1,16f; vgl. 19,18f; Lev 19,15ff u. ö.).

Die Worte des Nikodemus führen jedoch nicht zur Einsicht der Kritisierten, sondern zu deren Gegenangriff „gegen den, der ihnen die Wahrheit gesagt hat: ‚Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche doch (in der Schrift)! Da wirst du sehen, daß aus Galiläa kein Prophet erweckt wird‘ (egeiretai: V. 52).“ Wörtlich genommen stammt er natürlich nicht von dort; gemeint ist, ober er sich etwa auch von jenem Galiläer hat verführen lassen.

Hier kommen erneut „symbolische Obertöne“ der „Namen ,Galiläa‘ und ,Judäa‘ in unserem Evangelium über ihre topographische Funktion hinaus“ zum Vorschein:

Bereits in Joh 2,1-11 hatten wir gesehen, daß ,Kana in Galiläa‘ in gewissem Sinne als die Opposition von ,Jerusalem in Judäa‘ begriffen sein will (s. o. z. St.). … Daß Jesus in seiner Heimat, nämlich in Judäa und Jerusalem, die Ehre versagt wird, während er unter den Galiläern freundliche Aufnahme findet, haben wir oben zu 4,43ff bereits erörtert.

In einem solchen symbolischen Zusammenhang muss nach Thyen (T415)

die unser Evangelium bestimmende Bezeichnung der Opponenten Jesu als hoi Ioudaioi {die Juden} und die daran anschließende, oft allzu emotional geführte Debatte um den vermeintlichen oder tatsächlichen ,Antijudaismus‘ im Johannesevangelium gesehen werden. Im Gegensatz zu Nathanael, dem alēthōs Israēlitēs en hō dolos ouk estin {wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist} (1,47), bezeichnet Johannes dann diejenigen als hoi Ioudaioi, die Jesus abweisen, und weil sie ihn abweisen. Nicht wegen ihrer Gesetzestreue heißen sie so, sondern gerade weil sie im Widerspruch gegen das Gesetz Gottes den gerechten Jesus verfolgen und ihn zu töten trachten.

Anders als Wengst und andere Exegeten plädiert Thyen in Vers 52 für „die Lesart mit prophētēs ohne den Artikel ho“ als „den ursprünglichen Text“. Denn (T417) warum

sollte der Erzähler, der soeben durch die Stimme des Nikodemus offenbar gemacht hat, daß diejenigen, die das gemeine Volk verfluchen, weil es das Gesetz nicht kennt, selbst die elementarsten Gebote der Tora übertreten, warum sollte der sie nun nicht auch noch als solche überführen, die auch ihre Schriften nicht kennen?

So setzen (T415) „sich die Pharisäer auch sachlich ins Unrecht, wenn sie Nikodemus derart selbstsicher auffordern: ‚Forsche doch (in der Schrift), dann wirst du ja sehen, daß aus Galiläa kein Prophet ersteht‘.“ Denn in der rabbinischen Überlieferung <645> heißt es ausdrücklich: „R. Eli‘ezer (um 90) hat gesagt: Du hast keinen einzigen Stamm in Israel, aus welchem nicht Propheten hervorgegangen wären“. Außerdem (T416)

stammt nach einem der wenigen Schriftzeugnisse in dieser Sache, nämlich nach 2Kön 14,25, der Prophet Jona, Sohn des Amittai, aus dem galiläischen Gat-Hepher. Da aber das Präsens egeiretai fraglos futurische Bedeutung hat, ist hier wohl vor allem an die Verheißung Jesajas zu erinnern: Gott, der das Land Sebulon und Naphtali einst verachtet hat, wird die hodos thalassēs {den Weg am Meer}, die Gebiete jenseits des Jordan und das Galilaia tōn ethnōn {das Galiläa der Völker} wieder zu Ehren bringen. Und dann gilt: „Das Volk, das im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht. Und über die, die im Lande der Schatten des Todes wohnen, erstrahlt es hell“ (Jes 8,23-9,1). Im Licht dieser Verheißung dürfte Jesu ursprünglich unmittelbar auf V. 52 folgendes Wort: egō eimi to phōs tou kosmou ktl. {Ich bin das Licht der Welt usw.} (8,12) sich als ein absichtsvolles Spiel mit dem Jesajatext erweisen …

Nach Thyen (T217) nimmt Vers 52 also „nicht etwa die längst erledigte alte Diskussion von V. 40ff um den ,Propheten wie Mose‘ wieder auf, sondern damit suchen die Pharisäer Jesus als einen ,falschen Propheten‘ zu erweisen, der das Volk verführt.“ Damit bezieht sich Thyen auf Marinus de Jonge, <646> der

eindrucksvoll gezeigt [hat], daß Dtn 13,1-5 und 18,15-22 nicht nur für Joh 7, sondern ebenso für 3,34; 8,28.40; 12,49f; 14,10; und 17,8 von außerordentlicher Bedeutung sind. Aber wie in 4,19 und 9,17 geht es dabei nicht darum, Jesus als ,den Propheten wie Mose‘ zu identifizieren, sondern allein darum, den ,wahren Propheten‘, der Gottes Worte redet, vom ,falschen Propheten‘ zu unterscheiden, der seine eigene Ehre sucht. Allein das Prädikat ho christos wird im Evangelium positiv aufgenommen und im Sinne der Relation Jesu als des Sohnes zu Gott als seinem Vater reinterpretiert (vgl. nur 20,31). Während die biblische Unterscheidung von wahrer und falscher Prophetie und Zeugenschaft ein integrales Element zur Beschreibung dieser einzigartigen Relation ist, wird die Bezeichnung „der Prophet“ dagegen an keiner Stelle positiv aufgenommen.

Ton Veerkamp <647> interpretiert die Verse 49-51 insofern ganz anders, als er die Intervention des Nikomemus nicht auf die Verteidigung Jesu, sondern des soeben von den Pharisäern verfluchten Volkes bezieht:

Die Menge hat in diesem Gremium einen Anwalt. Tatsächlich sagt Nikodemus nichts anderes als das, was die Tora verlangt: Man müsse den Beschuldigten anhören und seine Handlungen abwägen, bevor man ihn verurteilt. Wer ist der Verurteilte? Jeschua? Wohl kaum. Jeschua sollte vorgeführt werden, man wollte ihn hören, um ihn dann zu verurteilen. Hier ist aber das Urteil ausgesprochen: „Verflucht“. Es ist Israel, das durch Israel verurteilt wird.

Ich halte diese alternative Auslegung für durchaus erwägenswert, denn es ist ja tatsächlich so, dass Jesus nach seiner Gefangennahme von Hannas und Pilatus befragt werden wird, während das Volk eine Verfluchung erfährt, die sogar Wengst und Thyen einfach als gegeben hinnehmen, ohne sie näher zu hinterfragen.

Die Aussage der Pharisäer, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht, bezieht Veerkamp auf den Messias:

Die Peruschim fühlen sich erwischt; sie haben die Menge verurteilt und hatten nicht das Recht dazu. Jetzt werfen sie Nikodemus vor, er sei aus Galiläa und deswegen vertraue er einem galiläischen Messiasprätendenten – aus Galiläa komme aber nun mal kein Messias, wie die Schrift sagt, eben Micha 5,1-2. Von dort kommen nur Terroristen. Jeschua wird auf die Frage seiner Herkunft eingehen, 8,12ff.

[Johannes 7,53 – 8,11: Gehört Jesu Freispruch für die Ehebrecherin in einen christlichen oder jüdischen Kontext – und in welcher Weise?]

7,53 [Und sie gingen fort, ein jeder in sein Haus.
8,1 Jesus aber ging zum Ölberg.
8,2 Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel,
und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie.
8,3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau,
beim Ehebruch ergriffen,
und stellten sie in die Mitte
8,4 und sprachen zu ihm:
Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden.
8,5 Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?
8,6 Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen,
auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen.
Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
8,7 Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen:
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
8,8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
8,9 Als sie das hörten, gingen sie hinaus,
einer nach dem andern, die Ältesten zuerst;
und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.
8,10 Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr:
Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?
8,11 Sie aber sprach: Niemand, Herr.
Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht;
geh hin und sündige hinfort nicht mehr.]

[19. Juli 2022] Nach Klaus Wengst (W252) ist der „Abschnitt 7,53-8,11 … kein ursprünglicher Bestandteil des Johannesevangeliums“, sondern ein „sekundärer Einschub“, der „als Bibeltext“ erst „ab dem vierten Jahrhundert bezeugt“ ist und sich „vereinzelt auch nach 7,36 und 21,25 sowie nach Lk 21,38 und 24,53“ findet:

Die Stellung nach Lk 24,53 und Joh 21,25 kennzeichnet ihn deutlich als Anhang. Bei den übrigen Verortungen handelt es sich um Versuche, ihn in einen sinnvollen Kontext einzustellen. Lk 21,37f gibt an, dass Jesus in der letzten Woche in Jerusalem tagsüber im Tempel lehrte und nachts zum Ölberg ging. Das ist auch die Szenerie dieses Abschnitts. Joh 7,36 bildet den Schluss der szenischen Einheit, in der Jesus sagte: „Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern fällt ein gerechtes Urteil!“ (7,24) Die weitaus am häufigsten vorgenommene Stellung zwischen 7,52 und 8,11 dürfte einmal vorausblicken auf die Aussage Jesu in 8,15: „Ihr urteilt nach dem Fleisch, ich verurteile niemanden“ und sie im Zusammenhang sehen mit dem Vor-Urteil „der Pharisäer“ in 7,45-52.

Allerdings darf nach Wengst (W253) „doch nicht übersehen werden“, dass diese Erzählung „inzwischen viele Jahrhunderte lang als biblischer Text im kirchlichen Gebrauch ist.“ Seine „enorme Wirkungsgeschichte“ macht es notwendig, dass „sich eine Auslegung des Johannesevangeliums auch diesem Abschnitt stellen“ muss, zumal viele Ausleger „bis in die Gegenwart“ hinein „in ihm alte Tradition, ja ‚authentische Jesusüberlieferung‘ … sehen. Nach Schnackenburg <648> unterliegt eine solche Rückführung auf Jesus ‚keinen ernstlichen Einwänden‘“, obwohl dieser jedoch (Anm. 422) die Frage nicht befriedigend zu beantworten vermag, „warum diese kostbare Erzählung keine Aufnahme in die kanonischen Evangelien gefunden hat.“ Demgegenüber formuliert Wengst als seine „negative These“, die er im Folgenden begründet:

So wie die Geschichte erzählt ist, passt sie in keinen jüdischen Kontext, weder in den der Zeit Jesu noch in einen späteren. Sie geht nicht auf Jesus zurück und stammt auch nicht aus jüdisch geprägter Gemeindetradition.

Zur Begründung bestreitet Wengst (W254), dass die in der Frage an Jesus (Verse 4-5) vorausgesetzte Behauptung über die „auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin“ zutrifft: „In der Tora hat Mose uns geboten, solche zu steinigen.“ Sowohl in 3. Mose 20,10 als auch in 5. Mose 22,22 bleibt „die Hinrichtungsart“ offen; die Steinigung kommt nur unter bestimmten Umständen in Betracht. Die „pharisäisch-rabbinische Überlieferung“ plädiert, wenn „in der Tora die Hinrichtungsart nicht genannt ist, … für Erdrosseln als die leichteste“ (W254f.):

Dass aber das eine oder das andere, also die Hinrichtung eines Ehebrechers oder einer Ehebrecherin durch Steinigung oder Erdrosseln jemals tatsächlich erfolgt wäre, dafür gibt es keinen einzigen Beleg. Das ist kein Zufall. Es entspricht dem Verfahren der Rabbinen, bei Delikten, die nach der Tora mit der Todesstrafe zu ahnden sind, so viel Barrieren in den Prozess einzubauen, dass Todesurteile unmöglich werden. … Die in der Tora mit Hinrichtung sanktionierten Delikte werden so konstruiert, dass sie mit den im tatsächlichen Leben vorkommenden nicht übereinstimmen, damit keine Todesurteile gefällt und ausgeführt werden müssen.

Daher kann (W255) die „Geschichte Joh 7,53-8,11 in einem jüdisch bestimmten Kontext der Zeit nach 70“ nicht entstanden sein. Aber auch für die Zeit vor dem Jahr 70

gibt es keinen einzigen Beleg für Hinrichtung von Ehebrechern. Schon in der zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts entstandenen Weisheitsschrift des Jesus Sirach ist bei Ehebrecherinnen wohl öffentliche Schmähung im Blick, aber nicht von ferne die Hinrichtung (Sir 23,22-26).

Auch im Blick auf Vers 6a kann sich Wengst „keine Geschichte“ vorstellen, „die man sich als tatsächlich geschehene vorstellen kann“, denn woraufhin sollten Jesu Gegner ihn „auf die Probe … stellen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen“? Etwa darauf, wie Schnackenburg meint [227], ob „er die sonst gepredigte Barmherzigkeit aufgeben oder dem klaren Wortlaut der Tora widersprechen“ soll? Aber dem „‚klaren Wortlaut der Tora‘ hat implizit schon Jesus Sirach widersprochen und auf ihre Weise tun es die Rabbinen.“

Daher folgt Wengst dem Urteil Hans von Campenhausens, <649> der die Entstehung der Geschiche „aus den Bedingungen der vorkonstantinischen Kirche des zweiten Jahrhunderts“ erklärt (W255f.):

Ihre „einzige Aussage: Jesus, der Milde und Verzeihende, ist bereit, auch den Ehebruch, zum mindesten den einmaligen Ehebruch, barmherzig zu vergeben“, war im zweiten Jahrhundert „von höchster Aktualität“. Die Kirche versteht sich in Distanz zur sündhaften Welt. In ihr wird anders gelebt als „draußen“. Und nun kommt es doch vor, dass auch in ihr schwerwiegende Verfehlungen begangen werden, wie man sie nicht erwarten sollte und dürfte. Wie ist damit umzugehen? Die Geschichte von der Ehebrecherin wendet sich gegen rigoristische Bestrebungen, die „Sünder“ aus der Kirche auszuschließen.

Indem nun aber (W256) die Kritik der „nichtjüdischen Erzähler dieser Geschichte in der Kirche des zweiten Jahrhunderts … an den unbarmherzigen Rigoristen in den eigenen Reihen … in die Zeit Jesu“ zurückprojiziert wird,

wird die kritisierte Position der unbarmherzigen Rigoristen – eine Position innerhalb der Kirche! – auf das jüdische Gegenüber Jesu projiziert. Aus den Evangelien bekannte Gegenspieler Jesu, „die Schriftgelehrten und die Pharisäer“, müssen diese Rolle übernehmen und werden so zum Typ eines rigiden Legalismus – ganz im Gegensatz zu den tatsächlichen pharisäisch-rabbinischen Lehrern. So enthält schon die Erzählung selbst ein judenfeindliches Potential, das sich dann in der Auslegung immer wieder ausgewirkt hat – bis in die Gegenwart hinein.

Als Beispiel dafür führt Wengst (Anm. 432) die Auslegung von Ulrich Wilckens <650> an:

„Jesus urteilt in der Tat anders als die Tora; wo diese der Frau das Todesurteil spricht, verurteilt er sie nicht, sondern schickt sie auf den Weg des Lebens“. Jesus und das Judentum stehen sich hier gegenüber wie Leben und Tod.

Trotzdem hält Wengst (W257) die Geschichte für „eine meisterhafte Erzählung. Es käme nur darauf an, sie so auszulegen, dass es nicht auf Kosten des Judentums geschieht“. Diese Auslegung beginnt Wengst damit, dass der Hintergrund der in Vers 3 dargestellten Situation klar benannt wird:

Es geht nicht um Ehebruch im Jerusalem der Zeit Jesu. Es geht um Ehebruch und andere schwere Vergehen in der Kirche des zweiten Jahrhunderts, die in Distanz zur Welt steht, sich durch ihre „Reinheit“ von der Welt abgrenzen will. Was soll mit denen geschehen, die diese „Reinheit“ so schwerwiegend beflecken? Sollen sie aus der Kirche hinausgewiesen werden, sodass sie für die Mitglieder der Gemeinde gleichsam tot sind?

Jesu Wort: „Wer von euch sündlos ist, werfe als erster einen Stein auf sie“, ist Wengst zufolge

von großer suggestiver Kraft. Zu versagen und sich zu verfehlen, sind Möglichkeiten, die niemandem fremd sind. Waren es manchmal nicht nur glückliche Umstände, die davor bewahrten, nicht schon Ärgeres getan zu haben? Das fordert zur Nachsicht heraus.

Dem Einwand (Anm. 434) von Campenhausens [168]: „Kein Mensch ist ohne Sünde, und so macht das Wort Jesu streng genommen überhaupt alle Justiz, zumindest jede Blutjustiz unmöglich. Ist diese Konsequenz wirklich gewollt?“ stellt Wengst die Frage gegenüber: „Aber was spricht dagegen, das Wort Jesu auch so zu lesen, dass es ein Argument gegen die Todesstrafe ist?“

Das zweimalige Schreiben Jesu auf die Erde (Verse 6b und 8) sieht Wengst zunächst als Verzögerung seiner Antwort, dann als hervorhebende Einrahmung seines Wortes und schließlich als „Gelegenheit“ für die Angeredeten,

wegzugehen, einer nach dem anderen. Die Erzählung lässt also die Gegenspieler Jesu immerhin von dem ihnen zunächst unterstellten gesetzlichen Rigorismus Abschied nehmen. So hat sich die Kirche in ihrer Geschichte keineswegs immer verhalten.

Mit dem abschließenden Wort Jesu an die Frau: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ bliebe nach Wengst auf

der Ebene der Erzählung … manches offen: Was wird nun aus der Frau? Wie stellt sich ihr Mann zu ihr? Auf der Ebene der Kirche, für die erzählt wird, ist die Sache klar: Sünde soll vergeben werden, damit neues, von Sünde befreites und freies Leben möglich wird.

Hartwig Thyen (T416) verzichtet in seinem Johannes-Kommentar darauf, die Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin auszulegen, da er zu Recht voraussetzt,

daß die nach Ausweis der Handschriften und ihres Stils unjohanneische Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin (7,53-8,11) erst spät ihr sicheres Asyl in unserem Evangelium gefunden hat. Daß durch ihre Einfügung das reizvolle Spiel mit dem durch Jes 9,23f gestifteten Zusammenhang zwischen 7,52 und 8,12ff zerstört wurde, haben wir in der Festschrift für Klaus Berger <651> eingehend begründet.

Auf genau diese Begründung werde ich erst in der Auslegung von Johannes 8,12 zurückkommen. Da Thyen sich aber in seinem Festschrift-Beitrag über die Erzählung von der Ehebrecherin „nicht auf den faden Erweis ihrer ‚Unechtheit‘ beschränkt, sondern diese eindrucksvolle Erzählung wenigstens durch eine knappe Kommentierung zu würdigen versucht“ hat, mag ich nun auch diese in meine vergleichende Würdigung der Auslegungen von Wengst, Thyen und Veerkamp einbeziehen.

Zum {FB434} „eindeutig als nicht ‚johanneisch‘“ zu bezeichnenden Stil der Erzählung weist Thyen dort unter anderem darauf hin,

daß der in der synoptischen Passionserzählung prominente ‚Ölberg‘ (oros tōn elainōn) außer in 7,53 bei Johannes trotz dessen großer Nähe zu dieser Erzählung nie genannt wird. Ebenso findet sich das Lexem grammateus {Schriftgelehrter} bei ihm – gegenüber 58 Vorkommen in den Synoptikern – nur hier in 8,3, und zwar in der zumal bei Matthäus beliebten Verbindung hoi grammateis kai hoi Pharisaioi {die Schriftgelehrten und die Pharisäer}. Das Gleiche gilt für presbyteros {Ältester} (8,9).

Zum Beginn (FB435) der Einbeziehung des Textes der „Erzählung von Jesu Begegnung mit der Ehebrecherin“ in den biblischen Text schreibt Thyen:

Angeführt von der Vulgata {lateinische Bibelübersetzung} und dem Codex Bezae Cantabrigensis (D), wird die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin vom gesamten textus receptus {allgemein akzeptierter Text} bezeugt, dem bekanntlich bis heute nahezu alle Bibelübersetzungen folgen. Da die Revision der lateinischen Überlieferung des Textes der Evangelien, die Hieronymus im Auftrag von Papst Damasus I durchgeführt hat, fraglos den Grundstock der späteren Vulgata bildet, könnte man diesen gelehrten Kirchenvater zugleich als denjenigen ansehen, der unserer bis dahin nomadisierenden Erzählung zwischen Joh 7,52 und 8,12 ihre feste Bleibe verschafft hat…

Ausführlich beschäftigt sich Thyen sodann (FB436) mit möglichen Spuren vorjohan­neischer Formen der nun im Johannesevangelium überlieferten Erzählung, etwa (FB437) „im Werk des blinden Didymos von Alexandria (ca. 310-394)“ oder im weitgehend verschollenen „Evangelium nach den Hebräern“, das (FB438) „ein von Anfang an griechisch verfaßtes Evangelium der griechisch sprechenden jüdischen Christen (= „Hebräer“) Alexandrias“ war.

Äußerst skeptisch ist Thyen den Versuchen gegenüber (FB440), aus den „zahllosen Varianten der Episode … in Handschriften…, die den Text unseres Johannesevangeliums bieten“, so etwas wie „die ‚ursprüngliche‘ vorjohanneische Erzählung rekonstruieren und sogar deren Ursprung im Leben Jesu begründen zu können“. <652>

Außerdem betont Thyen (FB440f.):

Dass wir es bei unserer Erzählung im übrigen nicht mit einem Stück der oft beschworenen sogenannten ‚mündlichen Tradition‘ zu tun haben, sondern mit dem Fragment eines schriftlich überlieferten Erzählzusammenhangs – möglicherweise aus dem weithin verschollenen, aber Euseb noch bekannten „Evangelium nach den Hebräern“ -, machen schon ihre eröffnenden Verse 7,53 und 8,1 evident.

Damit teilt auch Thyen (FB441) die oben bereits von Wengst angeführte Auffassung von Campenhausens [166],

daß wir es hier von Anfang an mit einer literarischen und zudem hoch poetischen Bildung zu tun haben. Das aber erweckt erhebliche Zweifel an ihrer Historizität. „Das anfängliche Schweigen Jesu, das zweimalige, gebückte Schreiben auf dem Erdboden, das Hin und Her im Gespräch mit der Ehebrecherin – all diese Einzelheiten wirken ‚novellistisch‘ und literarisch und, historisch geurteilt, sehr wenig ursprünglich“.

Somit ist nach Thyen (FB443) die „Historizität unserer Szene“ nahezu unmöglich. Vehement wendet er sich gegen die Behauptung von Ulrich Becker [174], hier sei bezeugt, dass der historische Jesus selbst für die Aufhebung der Tora plädiert habe:

Ganz und gar phantastisch und durch keine Silbe in der Erzählung selbst nahegelegt erscheint uns U. Beckers Versuch, den Kern der Szene als ein wirkliches „Streitgespräch“ des historischen Jesus mit den Pharisäern seiner Zeit zu erweisen, in dem es um die Frage gegangen sei, „ob eine Ehebrecherin nach den Bestimmungen von Lev 20,10 und Dtn 22,22“ wirklich gesteinigt und nicht vielmehr erwürgt werden müsse … {siehe oben die Ausführungen von Wengst über das Erdrosseln als leichteste Hinrichtungsart}. Darum sei die geltende Torapraxis hier gerade nicht von Jesus selbst, sondern von seinen pharisäischen Antagonisten in Frage gestellt worden. Jesus plädiere vielmehr weder für diese noch für jene Auslegung der Tora, sondern gegen diese selbst. Ja, daß „Jesus … in diesem Falle eindeutig gegen die Thora und ihre Vertreter – für die Ehebrecherin“ entscheide, gilt Becker sogar als sicheres Indiz für die Authentizität der Szene!

Als Hauptargument gegen die Historizität unseres Textes (FB445) führt Thyen folgende Überlegung an:

Wenn auch eingeschränkt durch das römische Privileg des ius gladii, war die Tora im Judentum auch noch zur Zeit Jesu nicht nur religiöses Gebot, sondern zugleich die irdisch-politische Rechtsordnung des jüdischen Volkes mit festgesetzten Verfahren und Sanktionen für ihre Verletzung. Darum ist das auf seine Weise unnachahmliche und nicht zufällig immer wieder zitierte tiefsinnige „Jesuswort“: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ im Kontext seines irdischen Lebens und vor Zeugen des todeswürdigen Verbrechens einer Frau schlechterdings undenkbar. Weil nach jüdisch-christlicher Überzeugung aber alle Menschen – und also auch jeder Richter und Beamte – vor Gott schuldig und Sünder sind, liefe Jesu Wort auf einen völligen forensischen Nihilismus hinaus. Es machte jede Art irdischer Strafjustiz unmöglich und implizierte zugleich die totale Verwerfung der Israel in Gestalt der Tora gegebenen Rechtsordnung.

Daher ist Thyen (FB446) „mit von Campenhausen [170ff.] entschlossen“,

die Erzählung und ihr zentrales Wort „nicht mehr Jesus selbst zuschreiben, sondem darin vielmehr einen Satz aus der frühen christlichen Kirche erkennen“, die zwar dem Staat nicht das Recht bestritten habe, gegen wirkliche Verbrecher entsprechende Sanktionen zu verhängen, aber als „eine Enklave des Himmels in einer verlorenen und ihr feindlich gesinnten Welt“ für den Umgang miteinander alles Richten ihrem himmlischen Herrn überlassen und irdisch unter der Devise gelebt habe: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ So gesehen, gewinnt die Erzählung ihren ganzen Charme zurück und erweist sich als nicht weniger „geisterfüllt“ als irgendein vermeintlich „echtes“ Jesuswort.

In diesem Zusammenhang versucht Thyen abschließend, auch „das zweimalige ‚Sich-zur-Erde-Bücken‘ Jesu und sein ‚Schreiben-in-den-Staub‘“ zu deuten, nämlich als „eine prophetische Zeichenhandlung Jesu“, durch die man sich, wie Schnackenburg [228f.] sagt, „mit den Vätern Ambrosius, Augustinus und Hieronymus an Jer 17,13 erinnern lassen [kann]: epi tēs gēs graphētōsan, hoti enkatelipon pēgēn zōēs ton kyrion {sie müssen auf die Erde geschrieben werden, denn sie verlassen den HERRN, die Quelle des lebendigen Wassers}“.

Damit kommt Thyen zu einem ähnlichen Ergebnis wie Wengst für die Auslegung der Erzählung von der Ehebrecherin, aber auf ihre antijüdische Wirkungsgeschichte geht er nur ganz am Rande ein.

Ton Veerkamp <653> nennt den Abschnitt Johannes 7,53 – 8,11 ein „Intermezzo“ und erwähnt nur kurz, „dass es schon in der Antike bzw. dem byzantinischen Mittelalter Diskussionen über die Authentizität unseres Intermezzos gegeben hat.“ Die Frage, die ihn interessiert, ist aber nicht, „ob Johannes der Verfasser des Fragments war. Die Frage ist: Hilft das Intermezzo, den Kontext Johannes 7-8 genauer zu verstehen?“ Dazu stellt er fest, darin in Übereinstimmung mit Wengst und Thyen:

Das Fragment ist ein durchkomponiertes Ganzes, es ist eine schriftstellerische Leistung eines großen Erzählers. Woher stammt es, aus welchem Kontext, warum ist dieser Kontext, irgendein bekanntes oder unbekanntes Evangelium, nicht überliefert? Auf diese Fragen gibt es keine befriedigende Antwort, es sei denn, der Theologe fügt eine von ihm verfasste oder vorgefundene Erzählung ein, um die Probleme, die er mit dem Text hat, zu lösen. Welche hatte er? Warum lässt der Erzähler Jeschua auf einmal zum Ölberg gehen, um am näch­sten Morgen wieder im Tempel aufzutauchen? Und warum an dieser Stelle?

Die Lösung Hans von Campenhausens, auf die sowohl Wengst als auch Thyen zurückgreifen, „dass unser Intermezzo christlichen Ursprungs ist, entstanden aus einer Debatte, ob man in der Kirche mit Ehebrecherinnen so unnachgiebig umgehen soll, wie es die Tora angeblich vorschreibt“, hält Veerkamp schlicht für unbelegt: „Nur, wo sind die Dokumente, die diesen Sitz im Leben nachweisen? Fehlanzeige!“

Ton Veerkamp hält es dagegen für möglich, dass ein in der vorigen Szene offen gebliebenes Problem zum Anlass für einen späteren Lösungsversuch wurde:

Das Problem versteckt sich in der Szene mit den Beamten, den Peruschim und Nikodemus. Das ganze Volk wird verflucht, ohne gehört worden zu sein. Dagegen wandte Nikodemus ein, die Tora verurteile keinen Menschen, ohne dass seine Schuld festgestellt wird. Uns will scheinen, dass mit dem Intermezzo ein Problem gelöst werden soll, das Johannes aufruft, aber nicht löst: Wie wäre es, wenn die Schuld feststeht, wie handelt der Messias dann? In der vorangehenden Szene wird ein recht absolutes und negatives Urteil über die Menge ausgesprochen. Nikodemus fasst das zumindest als Verurteilung auf. Im Passus 8,12-20 geht es ebenfalls um „Urteilen“ und „Urteil“ (krinein, krisis). Ein sachlicher Zusammenhang mit unserem Intermezzo ist gegeben.

Weiter beschäftigt sich auch Veerkamp mit rabbinischen Überlieferungen, die für die Szene mit der Ehebrecherin von Interesse sein könnten:

Die Mischna (Sanhedrin 7,4) listet jene Straftaten auf, die durch Steinigung zu ahnden sind: Inzest, Bestialität, Homosexualität, Gotteslästerung und Abgötterei. Weiter werden erwähnt: Elternverfluchung, Rebellion und schwere Vergehen gegen die Eltern und Schändung des Schabbat. Die Mischna geht in dieser Auflistung nicht über das hinaus, was in der Tora (Leviticus 19, Deuteronomium 22) festgehalten wird. Der Rechtskasus, der Jeschua zur Entscheidung vorgelegt wird, ist Ehebruch. Wir erwarten, dass Jeschua sich die Gründe für die Urteilsfindung sagen lässt. Er fragt aber weder nach Zeugen noch befragt er die Frau. Nach Nikodemus muss die Beschuldigte erst gehört werden, bevor von Schuld die Rede ist. Jeschua verhält sich abnorm. Oder ist der Casus ein ganz anderer?

Die entscheidende Frage ist also nach Veerkamp, ob es sich hier überhaupt um den buchstäblichen Fall einer Frau geht,

die in flagranti beim Ehebruch erwischt wurde. Wenn wir die Erzählung so lesen, als ob es sich hier um eine private Frau handeln würde, haben wir es mit einer ziemlich frauenfeindlichen Erzählung zu tun. Vom männlichen Komplizen im Ehebruch – denn zum Ehebruch gehören zwei, und beide wären nach Deuteronomium 22,22 des Todes schuldig – ist nirgendwo die Rede.

Das legt nach Veerkamp folgende Auslegung dieser Geschichte nahe:

Wie Andreas Bedenbender <654> detailliert nachgewiesen hat, handelt es sich hier nicht um den individuellen Fall eines privaten Ehebruchs. Die Frau repräsentiert in der Schrift mehr als diese eine und einmalige Person. Es ging bei den Gesprächen zwischen Jeschua und der Menge um die Anomie, Toralosigkeit. …

In der Schrift handelt es sich beim Thema Ehebruch fast immer um den Bruch des Treueverhältnisses zwischen dem Volk Israel und seinem Gott. Es kann beim christlichen (!) Erzähler kein Zweifel daran bestehen, dass Israel in die Irre gegangen ist, denn es vertraut dem Messias nicht. Die Frau, die Tochter Jerusalems, steht hier pars pro toto Israel. Dann haben wir tatsächlich einen anderen Rechtskasus. Israel ist in flagranti erwischt. Wer urteilt, wer vollstreckt dann das Urteil? Das ist tatsächlich die eigentliche Frage. Wer kann in diesem Fall überhaupt richten? Die Peruschim haben gerichtet. Sie, Judäer, haben die, die Tora nicht kennen, ebenfalls Judäer, verurteilt, eben verflucht. „Niemand von euch tut die Tora“, so hat Jeschua gesagt (7,19). Wenn die Tora der Maßstab ist, wer ist dann ohne Verirrung (anhamartētos)? Wer ohne Verirrung ist, mag das Urteil vollstrecken.

Auf diese Weise muss man die Erzählung nicht wie Wengst vor antijüdischer Auslegung und Verwendung schützen, indem man sie vollständig aus dem jüdischen Kontext herausnimmt und in einen christlichen Kontext versetzt. Vielmehr hat sie von vornherein den Zweck, Israel, die jüdische Volksmenge, das toraunkundige Landvolk, von der Verfluchung durch seine eigene Führung zu befreien.

Andreas Bedenbender hat in seinem oben zitierten Artikel auch einen Vorschlag gemacht, wie das Schreiben Jesu in den Sand verstanden werden könnte:

In der Schrift schreibt der Finger Gottes das Zehnwort auf Steintafeln. Hier schreibt Jeschua mit seinem Finger (Übereinstimmung) auf Sand (Differenz) und ohne deutlich zu machen, was er schreibt (Differenz). Bedenbender vermutet, Jeschua schreibe die Sünde auf, meißelt sie nicht in Stein, sozusagen haltbar für die Ewigkeit, sondern schreibt sie in den Sand, vergänglich.

Damit wird aber nicht die Tora oder „das Zehnwort rückgängig gemacht“. Es wird ja „nicht gesagt, was Jeschua geschrieben hat“. Allerdings scheint der „christliche Theologe“, der hier am Werk ist, zu bestätigen, dass unter den Bedingungen einer weltweiten Versklavung unter eine Tora-feindliche Weltordnung „keine Tora mehr“ gilt, „weil Tora nicht mehr durchführbar ist“, denn, so Jesus (Johannes 7,19): „Niemand tut die Tora!“ So lautete auch

die Schlussfolgerung des Paulus, Römer 7,10: „Das Gebot zum Leben, gerade das ist zum Tode!“ Deswegen urteilt (krinei) bzw. verurteilt (katakrinei) der Messias nicht. Das ist die Hauptsache.

Mit einer letzten Beobachtung untermauert Veerkamp seine Überzeugung, dass die Erzählung von der Ehebrecherin, die das irrende Israel symbolisiert, sehr gut in das Johannesevangelium hineinpasst, wenn auch ihr Vokabular nicht johanneisch sein mag:

Das Stück endet mit dem Satz: „Auch ich verurteile dich nicht. Gehe und verirre dich nicht wieder.“ Das hat er auch zum geheilten Gelähmten gesagt, 5,14. Verirrung ist: dem Messias nicht zu vertrauen. Der Erzähler hat seine Erzählung so genau in den Duktus des Evangeliums eingefügt, dass man denken könnte, sie sei durch und durch „johanneisch“. Deswegen ist die Diskussion, ob von Johannes oder nicht, müßig. Die Erzählung ist auf alle Fälle ein sehr präziser Kommentar zu den Kapiteln 7 und 8.

Johannes 8,12: Jesus als das Licht der Welt, um den Gang nicht in der Finsternis zu gehen

8,12 Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach:
Ich bin das Licht der Welt.
Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben.

[22. Juli 2022] Zu dem (W260) „umfangreichen Stück“ Johannes 8,12-59 ist sich Klaus Wengst bewusst, dass nach wie vor Jesus als Lehrender „im Bereich des Tempels vorgestellt“ ist, den er erst „in V. 59 verlässt“. Diese

Situation des Lehrens im Tempel verbindet Kap. 8 mit Kap. 7, gemäß dem Jesus in der Mitte von Sukkot zum Tempel hinaufsteigt und an dessen letztem Tag dort redet. Auch einzelne Motive aus Kap. 7 nimmt Kap. 8 wieder auf. Der Anfang in 8,12 bietet keine neue szenische Einleitung, knüpft also unmittelbar an das Vorangehende an. Durch die Einschaltung von 7,53-8,11 folgt Kap. 8 im Abstand eines Tages. Ohne diese Einschaltung bleibt der Anschluss unbestimmt. Die Eingangswendung in 8,12: „Da redete Jesus wiederum zu ihnen und sagte“ kann unmittelbar an den letzten geschilderten Auftritt Jesu in 7,37-39 anschließen.

Verwunderlich ist dann aber die Annahme von Wengst, die offenbar dennoch das 8. Kapitel vom vorherigen inhaltlich abgrenzen soll:

Während aber alle Szenen mit Jesus als Akteur in Kap. 7 ausdrücklich auf Sukkot bezogen waren, ist das in Kap. 8 nicht der Fall.

Denkt man allerdings an die das Laubhüttenfest ebenso wie das Wasserschöpfen bestimmenden Illuminationsriten, so kann die in 8,12 auftauchende Lichtsymbolik ebenso daran anknüpfen wie die Heilung des Blinden und die Diskussion über Blindheit im übertragenen Sinn im Kapitel 9. Auch der Jubel und die Freude Abrahams, die Jesu Lehre im Tempel im 8. Kapitel thematisch beschließen, stehen in einer engen Verbindung mit der auf die endzeitlichen Verheißungen bezogenen überschwänglichen Festfreude von Sukkot.

Mit seiner Bemerkung: „Auch jetzt wird von keinem neuen Handeln Jesu erzählt“, lässt Wengst weiterhin erkennen, dass er den inhaltlichen Zusammenhang der Kapitel 7 bis 10,21 – obwohl er ihn formal durchaus anerkennt – zu wenig ernstnimmt. Wenn Wengst mit einem neuen Handeln ein neues Zeichen Jesu meint, dann folgt es, und zwar konsequent auf die Lichtsymbolik bezogen, eben in Gestalt der Heilung des Blinden. Vielleicht könnte man auch sagen, dass angesichts der verfahrenen Diskussionslage, die sich in den Kapiteln 7 und 8 immer mehr zuspitzt, ein gewaltiges Wunder notwendig ist, um Israels Blindheit zu überwinden und ihm die notwendige Erleuchtung, Aufklärung, Einsicht in das befreiende Wirken des Messias Jesus zu ermöglichen. Darin, dass Jesus mit seinem egō eimi {ICH BIN} jetzt erneut im Namen des Gottes Israels spricht und sich mit dem Licht identifiziert, das dieser dem Volk bringt, „das im Finstern wandelt“ (Jesaja 9,1), bereitet er diese neue Machttat vor, die er als die Verkörperung dieses NAMENS vollbringen wird.

Diese Zusammenhänge lässt Wengst weitgehend außer Acht, indem er sich in der Auslegung des Kapitels 8 inhaltlich ganz auf den hier beschriebenen Streit konzentriert:

Was dargestellt wird, sind – das wieder im Unterschied zu Kap. 7 – durchgehend direkte Auseinandersetzungen zwischen ihm und „den Pharisäern“, die ab V. 22 zu „den Juden“ werden. Dabei geht es immer wieder um die Legitimität des Anspruchs Jesu, der zu Beginn in Form einer Selbstprädikation erhoben wird: „Ich bin das Licht der Welt“.

Weiterhin sieht Wengst zwar das Kapitel 8 „durch szenische Angaben in V. 20, V. 30 und V. 59“ gegliedert, „die jeweils auf das Vorangehende zurückblicken und also Abschlussbildungen sind“, aber die daraus entstehenden Einheiten lassen sich ihm zufolge „inhaltlich nicht präzis fassen“, sondern mit „unterschiedlichen Motiven … immer wieder um das eine schon genannte Thema“ kreisen. Bereits im Vorhinein übt Wengst scharfe Kritik am Evangelisten, indem er schreibt:

Das Kapitel demonstriert eindrücklich die Unmöglichkeit eines Dialogs, wenn ein exklusiver Anspruch erhoben wird und die Diskussion allein darum geführt werden soll. Dass hier kein wirklicher Dialog stattfindet, obwohl … {fast} ausschließlich Redebeiträge vorliegen, zeigt schon deren höchst ungleiche Verteilung. Daran wird deutlich, dass es Johannes allein um die Stärkung der eigenen angefochtenen Position geht. Die ist im letzten Teil so verfestigt, dass nur noch eine zutiefst feindliche Gegenüberstellung bleibt, in der diejenigen, die den erhobenen Anspruch nicht zu teilen vermögen, geradezu verteufelt werden.

Aber nun konkret zu Johannes 8,12. Dieser Vers folgte im Johannesevangelium ursprünglich unmittelbar auf 7,52. Wengst stellt sich den Anschluss an diesen Vers folgendermaßen vor:

Die vorangehende Szene (7,45-52) spielte unter denen, die Wachleute ausgeschickt hatten, um Jesus festzunehmen, wobei Johannes wohl an eine Sitzung des Synhedriums dachte. Die neue Szene beginnt ohne eine genaue Situationsangabe mit der Bemerkung, dass „Jesus wiederum zu ihnen redete“. Zuletzt war Jesus in 7,37-39 als redend dargestellt worden, worauf es in 7,40-44 Auseinandersetzungen über ihn gab. Wie immer der zeitliche Abstand von 8,12 auf 7,37 vorgestellt ist, für das Bewusstsein der Lesenden und Hörenden wird mit der einführenden Bemerkung von 8,12 über die Synhedriumsszene hinweg an diese früheren Szenen angeknüpft. Die Synhedriumsszene wirkt insofern auf die neue Szene ein, als hier „die Pharisäer“ Jesu Gesprächspartner sind, die dort die Wortführer waren.

Indem Jesus auf die in „7,40-44 über ihn geäußerten Vermutungen, auf den dort um ihn geführten Streit“ nicht direkt eingeht, sondern souverän „entscheidet und sagt, was gilt: ‚Ich bin das Licht der Welt‘“, greift er Wengst zufolge auf, was im Buch Jesaja über den Gottesknecht gesagt ist:

Nach Jes 42,6f. und 49,6 wird der Gottesknecht nicht nur „zum Bund für das Volk“, Israel, bestimmt, der die Stämme Jakobs und die Aufbewahrten Israels wieder aufrichtet, sondern auch „zum Licht der Völker, zu öffnen die Augen von Blinden“, „um meine Hilfe zu sein bis ans Ende der Erde“. Nach 1. Hen 48,4 ist der Menschensohn „das Licht der Völker“. Diese biblisch-jüdische Tradition nimmt Johannes mit der Selbstprädikation Jesu als „Licht der Welt“ auf. Nichts zwingt dazu, das im Gegensatz zu Israel und der Tora zu interpretieren.

Trotz des letzten Satzes steht unausgesprochen für Wengst natürlich auch hier wieder seine Absicht im Vordergrund, für das Johannesevangelium wie für Paulus und die anderen Evangelisten die Ausrichtung auf eine Mission der Völker zu belegen. Allerdings zwingt an den Aussagen bei Jesaja über die Völker auch nichts dazu, sie im Sinne einer Völkermission zu begreifen, denn dort nimmt der Gott Israels die Völker, speziell den persischen König Kyros, in den Dienst der Befreiung Israels von der babylonischen Unterdrückung; er will nicht die Tora zu ihnen bringen und diese für die Völker verbindlich machen. Eine dementsprechende Zielsetzung, nämlich die Befreiung der Menschenwelt von der römischen Weltordnung, die auf ihr lastet, als Voraussetzung für die Sammlung und Befreiung ganz Israels, ist auch für Johannes wahrscheinlicher als die Annahme, er hätte eine Völkermission im Sinn, von der er nirgends auch nur ein Wort verlauten lässt.

Inhaltlich nimmt Johannes 8,12 Wengst zufolge die Aussage über das Licht auf, die sich „im Prolog (1,5-9)“ auf „das Wort“ bezogen hatte:

Dort wurde deutlich, dass im Licht des Auftretens Jesu die Welt, so wie sie ist, in keinem guten Licht erscheint, dass es also um den überführenden Charakter des Lichtes geht. Mit „Licht“ ist daher „Wahrheit“ assoziiert – ein Begriff, der im Verlauf des Kapitels noch eine Rolle spielen wird. Bei „Licht“ geht es im Johannesevangelium immer auch um Wahrheit und bei Wahrheit – das zeigte die weitere zwischen dem Prolog und 8,12 stehende Stelle mit Lichtterminologie in 3,19-21 – nicht um eine Theorie, sondern um das Tun der Wahrheit, um rechtes Handeln. Wahrheit erweist sich im Gehen auf dem rechten Weg.

Weil dieser Zusammenhang besteht, verbindet Jesus auch seine „Selbstaussage…, das Licht der Welt zu sein, sofort mit der Nachfolge“, womit letzten Endes die „Nachfolge des ans Kreuz gehenden Jesus“ gemeint ist, deren Bedeutung „in der Erzählung von der Fußwaschung (13,1-20) deutlich“ gemacht wird.

Indem Wengst (W262) die mit der Nachfolge Jesu verbundene negative Verheißung, „nicht in der Finsternis umher“ zu gehen, „nicht orientierungslos in einer diffusen Welt“ zu bleiben, mit der „in der biblisch-jüdischen Tradition an die Tora“ gebundenen Verheißung vergleicht: „Leuchte meiner Füße ist Dein Wort und ein Licht für meinen Weg“ (Ps 119,105), stellt er die Frage:

Was zwingt dazu, beide Aussagen – dass Jesus die ihn Folgenden nicht im Dunkeln gehen lässt und dass auch die Worte der Tora das die nicht tun lassen, die sich mit ihnen beschäftigen – in striktem Gegensatz zueinander zu verstehen? Auch im Johannesevangelium ist Jesus nicht von „der Schrift“ ablösbar. Wenn er als „Licht der Welt“ den Völkern zur Orientierung verhilft und ihnen eine „Grundausrichtung“ vorgibt und vermittelt, ist damit die Frage nach dem konkret Gebotenen nicht aufgehoben, sondern allererst gestellt.

Erneut zeigt sich hier die Wengstsche Tendenz, christliche Absolutheitsansprüche gegenüber dem Judentum, die aus dem Johannesevangelium gefolgert werden, dadurch abzuwehren oder abzumildern, dass er die Völker als Hauptadressaten des Evangeliums sieht, denen durch Jesus das vermittelt wird, was die Juden bereits in ihrer Tora empfangen haben und weiter empfangen werden. Das mag für Paulus und Lukas, Markus und Matthäus zutreffen, aber ziemlich sicher nicht für Johannes.

Die andere mit der Nachfolge Jesu verbundene Aussage verheißt positiv,

„Licht des Lebens“ zu haben, Licht für das Leben, um das Leben so führen zu können, dass wirklich von „Leben“ geredet werden kann. Nach Ps 56,14 ist es das nicht unmittelbar vom Tod bedrohte und vorm Straucheln der Füße bewahrte Leben, „damit ich einhergehe vor Gott im Licht des Lebens“. Die zum rechten Leben nötige Klarheit haben, Orientierung und Richtung gewinnen – darum geht es.

Dazu merkt Wengst an (Anm. 438), dass ein Midrasch zu Psalm 56,14 <655> „die Wendung ‚im Licht des Lebens‘ doppelt aus[legt]: ‚im Lande Israel‘ ‚in dem großen Licht im Garten Eden‘“. Ich denke, dass Johannes als ein jüdisch denkender Messianist genau in diesem Sinne das Licht des Lebens auf Israels Leben der kommenden Weltzeit beziehen könnte.

Auch für Hartwig Thyen gilt, wie wir bereits in der Einleitung zum großen johannei­schen Kapitel über das Laubhüttenfest gesehen haben, dass er trotz des engen Anschlusses von Johannes 8,12 an 7,52 – den er noch genauer als Wengst wahrnimmt und beschreibt – nicht die Konsequenz zieht, das gesamte Kapitel 7 in seinen zentralen vierten Akt mit hineinzunehmen, der bis 12,50 reichen soll. Als Grund dafür kann ich mir eigentlich nur vorstellen, dass ein solcher überlanger mittlerer Akt die von Thyen im Anschluss an E. A. Wyller und Gunnar Østenstad sorgfältig (wenngleich in meinen Augen künstlich) herausgearbeitete innere Symmetrie dieses vierten Aktes und die Gesamtästhetik des aus sieben Akten plus Prolog und Epilog bestehenden Johannesevangeliums (zer)stören würde.

Wie dem auch sei: In seiner Auslegung von 8,12 sagt Thyen zwar (T422), dass das Wort palin {wieder} „den neuen Akt eröffnet“, aber dann geht er nur noch darauf ein, dass es „zugleich auch das Folgende mit dem Vorausgegangenen“ verbindet:

Weil die vorige Szene zuletzt von dem Disput zwischen Nikodemus und den Pharisäern beherrscht war, muß Jesus jetzt erneut namentlich und nicht nur pronominal wieder eingeführt werden, während die disputierenden Pharisäer mit dem Pronomen autois {ihnen} bezeichnet werden. Das heißt, daß Jesus jetzt unter die Disputierenden tritt und mit seinem egō-eimi-Wort: „Ich bin das Licht der Welt …“ nun seinerseits für den verstummten Nikodemus eintritt.

Eine weitere Verbindung mit 7,52 besteht darin, dass Jesus „den von den Pharisäern als einer ek tēs Galilaias {aus Galiläa}, das heißt wohl: als ein Quasi-Jünger Jesu, verdächtigten Nikodemus“ dadurch rechtfertigt (T423), dass sich in Jesu Auftreten als dem Licht der Welt die Verheißung des Lichts der Völker (Jesaja 42,6) erfüllt, wodurch zugleich (gemäß Jesaja 8,23 – 9,1) die „zuvor verachteten Gebiete Sebulons und Naphtalis … sowie das ,Galiäa der Heiden‘ wieder zu Ehren“ gebracht werden.

Interessant ist demgegenüber Thyens Auslegung der zweiten Hälfte von 8,12:

Der „soteriologische Nachsatz“: ho akolouthōn emoi ou mē peripatēsē en tē skotia, all‘ exei to phōs tēs zōēs {Wer mir nachfolgt, tappt nicht in der Finsternis umher, sondern wird das Licht des Lebens haben}, macht deutlich, daß der Genitiv tou kosmou {der Welt} das Licht als die Gabe bezeichnet, die jedem, der ihm „nachfolgt“, das Leben unter der Verheißung eröffnet, nie mehr in der Finsternis umherirren zu müssen.

Hier setzt Thyen ohne weitere Begründung (wie Wengst) voraus, dass das Wort kosmos die gesamte Menschenwelt im Sinne all derer bezeichnet, die sich zur Nachfolge Jesu entschließen können, unabhängig davon, ob sie zu den Juden oder zu den Völkern gehören. Auch er hält es (wie Wengst) nicht für notwendig zu erwägen, ob Johannes nicht möglicherweise vom Licht der Welt ähnlich wie Jesaja vom Licht der Völker gesprochen haben könnte, nämlich in dem Sinne, dass die Befreiung der Völker vom Joch ihrer Unterdrückung die Voraussetzung für die Sammlung und Befreiung ganz Israels darstellt, um die es damals wie zur Zeit des Johannes dem Gott Israels in erster Linie ging.

Für Ton Veerkamp <656> steht der mit Johannes 8,12 beginnende Abschnitt aus inhaltlichen Gründen eindeutig im Zeichen des Laubhüttenfestes, denn „Sukkot war ein Fest der Lichter“, und dieses

ganze Lichterfest macht für Johannes nur Sinn, wenn man im Messias das Licht erblickt. Der Vers 8,12 ist eine Überschrift über den ganzen Abschnitt 8,13-9,41.

Sogleich macht Veerkamp deutlich, dass in seinen Augen Jesus als das Licht der Welt nicht eine religiöse Wahrheit verkörpert, die den Menschen der Völker missionarisch vermittelt werden soll. Dieses Licht scheint vielmehr in einen kosmos hinein, der vorgibt, wohlgeordnet zu sein, aber tatsächlich eine menschenmörderische Unterdrückungsmaschinerie (siehe 8,44) darstellt:

„ICH BIN ES: das Licht der Welt.“ Das Licht ist das Licht der Aufklärung, es klärt die Menschen darüber auf, was mit der Ordnung dieser Welt los ist. Das Licht ermöglicht den Gang unter den Bedingungen der Weltordnung. Die Sache mit dem Licht der Welt wird deutlicher werden, wenn der Blinde sehend wird, in Kapitel 9. … Der Messias ist für die Menschen der einzige Lichtblick in einer Zeit, wo durch die herrschende Ordnung alles finster ist. Den Gang kann man unter den Bedingungen der Weltordnung nur gehen, wenn man sich dem Messias anvertraut. Anderenfalls würde man, so toratreu man sich auch immer in der Welt verhält, die Weltordnung nur bestätigen, man „geht“ dann „mit der Finsternis“. Unter den heutigen Umständen, sagt Johannes, sei der Gang (Halakha) nur mit dem Messias Jeschua möglich.

Ähnlich wie Wengst beschreibt Veerkamp die „kommenden Abschnitte“ des achten Johannes-Kapitels als „schwierige und deprimierende Lektüre“, denn die

Kontrahenten stehen sich in Vehemenz und Aggressivität nicht nach, und sie reden vollständig aneinander vorbei – in einer Weise, die keine Verständigung zulässt. Hier wie in der Brotrede redet die Sekte um Johannes wie Sekten nun mal reden, sektiererisch, rechthaberisch, zu keinem Zugeständnis bereit.

Trotzdem ist Veerkamp – wohl mehr und anders als Wengst – davon überzeugt, dass „Johannes in diesen Abschnitten sehr wesentliche Einsichten mitzuteilen“ hat. Er ermahnt uns deshalb nachdrücklich: „Wir müssen sehr sorgfältig zuhören.“

Johannes 8,13-20: Jesu vom VATER bestätigtes Selbstzeugnis in der Schatzkammer des Tempels

8,13 Da sprachen die Pharisäer zu ihm:
Du gibst Zeugnis von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr.
8,14 Jesus antwortete und sprach zu ihnen:
Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr;
denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe;
ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe.
8,15 Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand.
8,16 Wenn ich aber richte, so ist mein Richten wahr,
denn ich bin’s nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat.
8,17 Auch steht in eurem Gesetz geschrieben,
dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei.
8,18 Ich bin‘s, der von sich selbst zeugt;
und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir.
8,19 Da sprachen sie zu ihm: Wo ist dein Vater?
Jesus antwortete: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater;
wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater.
8,20 Diese Worte redete Jesus an dem Gotteskasten, als er lehrte im Tempel;
und niemand ergriff ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

[23. Juli 2022] Nach Klaus Wengst (W262) wenden „die Pharisäer“ gegen Jesu in Vers 12 abgelegtes Selbstzeugnis „formal völlig korrekt“ und auch in Übereinstimmung mit dem, was Jesus in 5,31 selbst gesagt hatte, in Vers 13 ein, dass es „nicht verlässlich“ ist, eben weil er über sich selbst Zeugnis abgelegt hat:

Warum nimmt Johannes diese Rechtsregel an dieser Stelle noch einmal auf, zumal es ihn dazu zwingt, Jesus anschließend im formalen Widerspruch zu 5,31 reden zu lassen? Er kann damit deutlich machen, dass es bei dem Gegenstand des Zeugnisses, um den es hier geht, gar kein anderes als ein Selbstzeugnis geben kann. Der Gegenstand ist ja kein allgemein zugänglicher objektiver Tatbestand, sondern Jesus als der Gesandte Gottes – anders formuliert: Gottes Selbstzeugnis durch Jesus. Dieses Zeugnis ist auf seine Selbstevidenz angewiesen. Von daher erschließt sich auch noch einmal die Wahl der Lichtmetaphorik. Denn Licht ist selbstevident.

In Vers 14 beansprucht Jesus (W263) „in direktem Gegensatz zu seiner Aussage in 5,31“ auch „für den zutreffenden Fall, dass er für sich selbst Zeugnis ablegt, dennoch Verlässlichkeit und also Geltung“. Dieser Gegensatz ist in Wengsts Augen „nur ein formaler, aber kein sachlicher“, denn bereits in 5,32-40 hatte „‚der Vater‘ … über Jesus … nicht anders als im Selbstzeugnis Jesu“ sein Zeugnis ablegen können:

Jetzt gilt das Zeugnis Jesu dadurch als beglaubigt und also als wahr und verlässlich, dass er weiß, „woher ich gekommen bin und wohin ich gehe“. Über seinen Ursprung und sein Ziel bei Gott hatte Jesus vorher in 7,28f. und 7,33-36 gesprochen. Diejenigen, die Jesus sozusagen von außen wahrnehmen, meinen sehr genau zu wissen, woher er gekommen und wohin er gegangen ist, nämlich als Josefs Sohn (6,42) aus Nazaret (1,46) in Galiläa (7,41) bis ans Kreuz (12,34). Und dieses Wissen enthält keine falschen Tatbestände. Aber indem sie nicht erkennen, dass Jesus genau darin den Weg von Gott zu Gott gegangen ist, wird ihnen doch Nichtwissen über Ursprung und Ziel seines Weges bescheinigt: „Ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe.“

Genau diese mangelnde Wahrnehmung von Jesu „Ursprung und Ziel bei Gott“ bezeichnet Jesus in Vers 15 als ein Urteil „nach dem Fleisch“, also allein „nach den allen zugänglichen und nachvollziehbaren Fakten“. Aber „Jesus ist erst wirklich erkannt in der Wahrnehmung des in ihm präsenten Gottes.“

In diesem Zusammenhang (Vers 15b und 16a)

setzt Jesus dem Urteil nach dem Fleisch sein eigenes Handeln entgegen: „Ich verurteile niemanden.“ Es folgt aber sofort eine gegenteilige Feststellung: „Und wenn ich doch urteile, ist mein Urteil verlässlich“, wobei „verlässlich“ hier den Sinn von „wirklich“ und „wirksam“ gewinnt. Wenn Johannes beides so hart nebeneinander stellt, will er auch beides sagen. Der Zusammenhang zwischen beiden Aussagen dürfte dann so zu denken sein: Von Gott her, wie er auch und gerade in Jesus als vergebender Gott begegnet, soll es keine Verurteilung geben. Es kommt aber gleichsam zur Selbstverurteilung der Menschen, wenn und Insofern sie sich diesem Gott verweigern und deshalb im Dunkeln tappen und ins Leere laufen.

Auch dieses Nicht-Richten und Richten Jesu gewinnt seine „Wirklichkeit“ Wengst zufolge dadurch, wie Jesus in Vers 16b begründet,

dass er „nicht allein“ sei, „vielmehr: ich und der Vater, der mich geschickt hat“. Gott ist nicht nur Ursprung und Ziel des Weges Jesu, sondern auch seine Mitte. Betrachtet man Jesus allein für sich, wird man lediglich ein Urteil „nach dem Fleisch“ über ihn fällen können. Johannes aber kann Jesus von Ostern her nur in der Dimension Gottes wahrnehmen und stellt ihn so dar, dass er mit Gott zusammen gesehen werden muss.

Indem betont wird (W264), „dass Jesus nicht allein ist, sondern dass er mit dem Vater zusammen zu sehen ist“, soll nach Wengst außerdem „dem biblisch-jüdischen Prozessrecht Genüge getan werden, das zwei Zeugen zur Bedingung macht“:

Die Aussage von den zwei Zeugen bezieht sich auf Dtn 17,6, wonach die Todesstrafe nur „aufgrund der Aussage von zwei Zeugen oder drei Zeugen“ vollzogen werden darf, nicht aber „aufgrund eines einzigen Zeugen“, und auf Dtn 19,15, wo diese Regel auf alle Delikte ausgedehnt wird.

Dass Jesus in diesem Zusammenhang in Vers 17 von „eurer Tora“ spricht, „signalisiert keineswegs Distanz zur Tora“, was Wengst mit einer ganzen Reihe rabbinischer Stellen belegt. Jörg Augenstein <657> weist außerdem

auf ein analoges Phänomen im Deuteronomium und im Buch Josua hin, wenn „Mose und Josua in Reden zum Volk Wendungen wie ,euer Gott‘, ,eure Väter‘, ‚das Land, das euch gegeben wird/wurde‘ oder ,der Bund, der euch gegeben wurde‘ (benutzen)“. Diese „Redeweise dient dazu, der Rede Nachdruck zu verleihen“.

Die Anwendung des „Zeugnisrecht[s] auf die vorliegende Situation“ in Vers 18 wirkt allerdings nach Wengst „sehr gesucht“ (W265):

Sicher wird auch Johannes gewusst haben, dass er – streng genommen – dem Zeugenrecht nicht genügt. Denn einmal ist einer der Zeugen Jesus selbst, der aber gerade in Frage steht. Er kann als Zeuge schon von dem Grundsatz her nicht in Anschlag gebracht werden, dass niemand für sich selbst Zeugnis ablegen darf. Und zum anderen erfolgt das Zeugnis des sendenden Vaters ja nicht unabhängig von Jesus, sondern vollzieht sich ausschließlich in dessen Wort. Wenn Johannes dennoch das Zeugenrecht hier aufnimmt, ist das außer im Bestreben, auf bestimmte Weise die Übereinstimmung mit ihm herzustellen, darin begründet, dass er zugleich damit die Besonderheit dieses Zeugnisses deutlich machen kann. Der in Jesus präsente Gott lässt sich nicht objektiv von außen konstatieren.

Die Erwähnung des Vaters veranlasst die Gesprächspartner Jesu in Vers 19 zur Frage: „Wo ist dein Vater?“ Dass sie nicht fragen: „Wer ist dein Vater?“, hat in Wengsts Augen zwei gute Gründe.

Erstens „lässt Johannes mit der Frage nach dem Wo die Frage nach dem Ort der Präsenz Gottes gestellt sein“, die Josef Blank <658> zufolge „nach dem Ende des zweiten Tempels Juden und Christen gleichermaßen bewegte“ und in dessen Augen „der eigentliche Diskussionshintergrund für die Aussagen von Kapitel 8“ war. Diese Frage ist für Johannes „durch Jesus beantwortet. Das Zeugnis des Vaters erklingt in Jesu Selbstzeugnis.“

Zweitens aber wird im „jüdischen Kontext, in dem das Evangelium geschrieben ist, … ‚der Vater‘ als bekannt vorausgesetzt. … Es geht nicht um einen bisher unbekannten Gott, sondern um den in Israel bekannten Gott.“ Darauf hatte an anderer Stelle (bei der Auslegung von Johannes 4,23-24) bereits Thyen hingewiesen, aber es schadet nichts, erneut die entsprechende Belegstelle bei Karl Barth <659> anzuführen:

Barth weist bei der Besprechung dieses Textes darauf hin, dass es „merkwürdigerweise im ganzen Johannesevangelium keine Stelle“ gibt, an der Jesus ein Zeugnis über den Vater ablegt, sondern immer nur umgekehrt der Vater über Jesus und Jesus über sich selbst. „Jesus, der unbekannte Sohn Gottes, wird bekannt durch den bekannten Vater.“ Etwas weiter schreibt er: „Alles hängt daran, daß man mit seinem Zeugnis von sich selbst zusammenklingen hört das Zeugnis des Vaters. Der Vater aber ist bekannt. Jesus appelliert an diese Größe als an eine bekannte Größe.“

Obwohl also der Gott Israels als der Vater Jesu von Johannes als bekannt vorausgesetzt wird, ist „in der Situation des Johannesevangeliums der Ort der Präsenz dieses bekannten Gottes“ umstritten. Weil Jesu Gegner die Gegenwart Gottes in Jesus bestreiten,

formuliert Johannes als Wort Jesu: „Weder mich kennt ihr noch meinen Vater. Wenn ihr mich kenntet, kenntet ihr auch meinen Vater.“ Aufgrund der Voraussetzung, dass der Vater sich im Sohn zeigt, dass der Gott Israels in Jesus präsent ist, wird geschlossen, dass den Vater überhaupt nicht kennt, wer ihn nicht im Sohn erkennt. Die gerade noch vorausgesetzte Bekanntheit Gottes als des für Jesus Zeugnis Ablegenden schlägt angesichts der Ablehnung dieses Zeugnisses um in die Behauptung völliger Unkenntnis Gottes. Die Logik dieses Umkehrschlusses schließt zuvor vorausgesetzte Gemeinsamkeit aus und beansprucht Exklusivität.

Das Problem in der Johannes-Auslegung ist nun nach Wengst (W266), dass zwar „die von Barth gemachte Textbeobachtung mit der Konsequenz der vorausgesetzten Bekanntheit Gottes in der Auslegung in aller Regel keine Aufnahme gefunden hat“, im Gegensatz dazu aber von vielen Exegeten „der negative Umkehrschluss betont nachgesprochen“ wird. Er zitiert dazu zunächst nur Ulrich Wilckens: <660>

„Gottes Erkenntnis erschließt sich nur durch Jesus, der ihn offenbart“. Es ist auffällig, dass hier und bei anderen immer wieder das Wort „offenbaren“ gebraucht wird, das im Text nicht vorkommt (vor allem von Bultmann im gesamten Kommentar geradezu inflationär gebraucht). Das aber legt sich nahe, wenn der johanneische Umkehrschluss zu einem geschlossenen Zirkel verabsolutiert wird. Dann drängt sich allerdings die Konsequenz auf, dass Jesus einen bis dahin unbekannten Gott „offenbart“, und es führt auf der anderen Seite zu negativen Aussagen über das Judentum.

So äußert sich (Anm. 448) Adolf Schlatter <661> folgendermaßen „[g]eradezu bösartig“:

„So, wie Jesus sie (die Sohnschaft Gottes) hat, hält der Jude sie für unmöglich, und so, wie der Jude sie für sich in Anspruch nimmt, ist sie eine Lüge. Darum kann der Jude nur dann an Jesus glauben, wenn seine unechte, scheinbare Gottessohnschaft widerlegt ist“.

Und Michael Theobald <662> konstatiert (W266):

„Der negative ,Umkehrschluss‘, dass Gott in seinem wahren Wesen verfehlt, wer den Sohn ablehnt, ist […] unausweichlich.“ Noch einmal dekretiert er: „Präzis geht es um die Präsenz Gottes als Vater in seinem einzigen Sohn Jesus, eine Präsenz, die nicht nur einzigartig ist, sondern auch erst das wahre Wesen Gottes als des Vaters Jesu Christi erschließt“.

Hier zeigt sich in Reinkultur, wie weit sich ein Christentum, das die jüdischen Wurzeln des Messias Jesus vergessen hat, vom Zeugnis der Evangelien entfernt hat, insofern diese von den jüdischen Schriften her interpretiert werden müssen. Nein, Jesus ist nicht der erste und einzige Sohn seines Vatergottes, dessen wahres Wesen er als dieser Sohn erst erschließen müsste. Umgekehrt ist Jesus nach dem Johannesevangelium zunächst insofern als der monogenēs, der einzige Sohn, zu verstehen, als er der neue Isaak ist und den erstgeborenen Sohn Gottes, Israel, repräsentiert (vgl. dazu die Auslegung von Johannes 3,16 durch Veerkamp). Nur als solcher verkörpert Jesus als der Menschensohn und Messias Gottes zugleich auch den befreienden NAMEN dieses Gottes, den er seinen VATER nennt.

Für Wengst wird bei Theobald jedenfalls nicht klar, worin das „wahre Wesen Gottes“ bestehen soll, das Jesus angeblich offenbart:

Es wird nicht klarer, wenn er es als „sein eigentliches Wesen“ bezeichnet [573] und wenn er als „eigene Evidenz“ der „Christusoffenbarung“ beschreibt: Diese „ist nichts anderes als die innere Glaubwürdigkeit, die der Sohn ausstrahlt, da er sein Leben ganz in den Dienst dessen gestellt hat, ,der ihn gesandt hat‘ […]. Es ist die Lauterkeit dessen, der, in Wort und Tat mit sich selbst identisch, auf den Vater-Gott verweist [575].

Nochmals fragt Wengst, ob aus der „positive[n] Intention, die Präsenz Gottes in Jesus herauszustellen“, kurzerhand „der negative Umkehrschluss gefolgert werden“ darf, „dass Gott überhaupt nicht kennt, wer ihn nicht in Jesus erkennt“. Und er betont, dass „dieser Umkehrschluss“ nicht erst „in der Auslegung eine Sogwirkung ausübt zu negativen Aussagen über das Judentum“, sondern dass bereits im Kapitel 8 „dieser Sog dazu führen“ wird,

dass „die Juden“ geradezu verteufelt werden. Deshalb gilt es, sich vor dem Nachsprechen des des Umkehrschlusses zu hüten. Es geht nicht an, dem Judentum seine Gottesbeziehung abzusprechen. Dass Johannes den negativen Umkehrschluss formuliert hat, mag verständlich sein aufgrund der bedrängenden Erfahrungen, die er und die Seinen vonseiten der jüdischen Mehrheit machen mussten. Dass wir diesen Umkehrschluss nicht mehr machen, ist dringend geboten aufgrund der viel schlimmeren Erfahrungen, die Juden seinetwegen erleiden mussten und in denen es ihnen unkenntlich wurde, dass der christlich propagierte „Vater Jesu Christi“ mit dem Gott Israels identisch sei.

Darin ist Wengst angesichts der Jahrhunderte langen missbräuchlichen Auslegung und Verwendung des Johannesevangeliums Recht zu geben.

Dennoch ist zu fragen, ob der von ihm so benannte „Umkehrschluss“ zureichend dadurch erklärt werden kann, dass diejenigen, die sich zu Jesus als dem Messias bekennen, von der jüdischen Mehrheit massive Repressalien erfuhren und mit ihrer umgekehrten Feindseligkeit nur die natürliche Haltung der Opfer gegenüber ihren Unterdrückern zeigten. <663> Der Jesus zumindest in anderen Evangelien zugeschriebenen Feindesliebe hätte es kaum entsprochen, Böses mit Bösem zu vergelten.

Die jüdische Religionswissenschaftlerin und Kennerin des Johannesevangeliums, Adele Reinhartz <664> hat solchen Rechtfertigungsversuchen für den Evangelisten Johannes jedenfalls entschieden widersprochen und behauptet, dass man sein Evangelium nur als eine Missionsschrift für Heiden betrachten kann, die Jesus als Kinder Gottes in den Bund mit Gott einlädt, aus dem sich die Juden selbst ausschließen. Für die schon bald heidenchristlich dominierte Kirche trifft dieser Vorwurf sicherlich auch zu.

In meinen Augen ist es allerdings noch nicht der Evangelist Johannes selbst, der sich als Angehöriger der neuen Religion des Christentums pauschal gegen die durch Jesus überholte Religion des Judentums wendet. Aber auch als ein innerjüdisch argumentierender Messianist ist er nicht einfach nur ein armes Opfer der Verfolgung seiner innerjüdischen Gegner, denn er greift tatsächlich seine rabbinischen Gegner mit harten Bandagen an. Weil sie den vom Gott Israels gesandten Messias nicht anerkennen, kennen sie Gott überhaupt nicht mehr. Sie wenden sich von seinem befreienden NAMEN ab und spielen stattdessen dem weltweit herrschenden Widersacher des Gottes Israels in die Hände, den die Priester in 19,15 ihren einzigen König nennen, dem Kaiser Roms. Der ist daher ihr Vater, nicht mehr der Gott Israels.

Auch gegenüber einer solchen theologisch-politischen Argumentation, die fanatisch-sektiererische Formen annimmt, ist deutliche Kritik angebracht, und es mag schwieriger als bei der traditionell-christlichen Auslegung sein, die Frage zu beantworten, ob und in welcher Weise die ihr möglicherweise zu Grunde liegende Wahrheit ihre Aktualität bis heute bewahrt haben könnte. Aber falls dieses Szenario zutrifft, ist zumindest von vornherein ausgeschlossen, dass es Johannes um die Ablösung einer jüdischen durch eine neue christliche Religion geht.

Die „szenische Bemerkung“ in Vers 20, die den Abschnitt beschließt, kommentiert Wengst recht knapp (W266f.):

Zunächst macht Johannes eine Ortsangabe: „Diese Worte redete er an der Schatzkammer, als er im Heiligtum lehrte.“ Mit der „Schatzkammer“ ist wahrscheinlich eine Halle im Frauenvorhof gemeint, die dreizehn Kassen für Abgaben, Opferverrichtungen und Spenden enthielt. Schließlich wiederholt Johannes noch einmal die Aussage von 7,30: „Und niemand nahm ihn fest, weil seine Stunde noch nicht gekommen war.“ Damit erinnert er daran, dass das hier Erzählte im größeren Zusammenhang der Passion steht, dass aber Jesus Souverän auch dieses Geschehens ist.

Hier hätte Wengst auch vermerken können, dass die Wiederaufnahme der Aussage von 7,30 vor allem auf die enge Verbindung der beiden Kapitel 7 und 8 hinweist.

Hartwig Thyen behandelt die von Wengst ausführlich ausgelegten Verse 8,13-20 in viel knapperer Form. Die Verse 13-15 legt auch er (T424) im Rückblick auf 5,31 und den dortigen Kontext aus:

Waren es in jenem Zusammenhang von Joh 5 noch die Jesus vom Vater gegebenen „Werke“, die zusammen mit dem Vater für ihn zeugten (5,36ff), so erklärt er – in scheinbarem Widerspruch zu jenem früheren Wort – jetzt: „Ja selbst wenn ich von mir zeuge, so ist mein Zeugnis dennoch wahr, denn ich weiß ja, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe“. Die ,Wahrheit‘ auch seines Zeugnisses für sich selbst begründet Jesus also mit seinem Wissen um sein Woher und sein Wohin.

Über Wengst hinaus bemerkt Thyen zu den Versen 17-19:

Der Hinweis auf das Gesetz (Dtn 19,15) ist in diesem Zusammenhang als ein argumentum a minore ad maius {Schluss vom Kleineren auf das Größere} zu verstehen: Wenn nach dem Gesetz schon das übereinstimmende Zeugnis wenigstens zweier Menschen zur Überführung eines Schuldigen ausreicht, um wieviel verbindlicher muß dann das übereinstimmende Zeugnis des Vaters und seines göttlichen Sohnes sein: „Ich bin es, der von sich selbst zeugt, und es zeugt für mich der Vater, der mich gesandt hat. Da sagten sie zu ihm: Wo ist denn dein Vater? Und Jesus antwortete: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater, denn wenn ihr mich kenntet, dann kenntet ihr auch meinen Vater“.

Zum Vers 20, der den Abschnitt abschließt, zitiert Thyen (T425) den Ort der Rede Jesu „bei der Schatzkammer“ des Tempels kommentarlos. Dass ihn dort „keiner verhaftete“, erinnert ihm zufolge lediglich „an 7,30“ und an den immer noch bestehenden Verhaftungsbefehl (7,32; vgl. 7,45ff).

Ton Veerkamp <665> sieht das mit 8,13 beginnende Streitgespräch in engem Zusammenhang mit der zuvor erfolgten Verfluchung der Volksmenge durch die Pharisäer und dem vergeblichen Versuch, Jesus zu verhaften:

Die Kontrahenten sind nicht allgemein Judäer, sondern die Peruschim, die Wortführer beim Empfang der erfolglosen Beamten und bei der Verurteilung der Menge, die die Tora nicht kennt. Da sich Jeschua als ihr Lehrer schützend vor die Menge stellt, betrifft die Verurteilung auch ihn.

Inhaltlich beginnt das Streitgespräch mit dem Thema der Vertrauenswürdigkeit Jesu:

Seine Gegner behaupten: Weil Jeschua Zeugnis über sich selbst gibt, ist das, was er zu sagen hat, nicht vertrauenswürdig. Offenbar reflektiert dieser Passus eine Diskussion zwischen der Synagoge und der Ekklesia oder Gemeinde des Johannes. Der Messias der Ekklesia sei nicht durch das Zeugnis irgendwelcher unabhängigen Zeugen legitimiert. Die Antwort, die wir hier bekommen, ist kaum geeignet, skeptische, gar feindliche Beobachter der Ekklesia zu überzeugen.

Jesu Antwort, dass er über sein Woher und Wohin Bescheid wisse, deutet Veerkamp nicht rein formal auf seine Herkunft vom Gott Israels und seine Rückkehr zu ihm; ihm zufolge beruft sich Jesus hier auf „das entscheidende Rechtskriterium in Israel“, nämlich „den Gang nach dem Wort Gottes“, die Halakha:

Jeschua sagt, auch wenn er über sich selbst Zeugnis gebe, sei das Zeugnis vertrauenswürdig; Begründung: er wisse, woher er komme, sie, seine Gegner, wüssten das nicht. Das Wort „woher“ deutet den Ursprung an. Ursprung kann in Israel nur der Gott Israels sein. Das Wort „wohin“ deutet das Ziel an, eben jenen Zustand, in dem der Wille Gottes getan wird. Jeschua weiß von sich selbst, dass er nur von Gott her handelt und redet und dass er kein anderes Ziel als den Willen Gottes kennt. Kommen und gehen bedeuten zusammen die Halakha, den Gang nach dem Wort Gottes. Sie ist das entscheidende Rechtskriterium in Israel.

Dem johanneischen Jesus zufolge weichen seine Gegner von dieser Rechtsgrundlage ab, indem sie ihn mitsamt der messianischen Bewegung ablehnen. Sie wollen nicht die Befreiung Israels von der unterdrückenden Weltordnung, nicht den Anbruch der kommenden Weltzeit, sondern verfolgen ihre eigenen Interessen, indem sie sich mit der römischen Besatzungsmacht arrangieren. Vor diesem Hintergrund interpretiert Veerkamp die Verse 15-16, in denen es um das Richten nach dem Fleisch im Gegensatz zu einem vertrauenswürdigen Richten geht:

Seine Gegner hantieren mit einem anderen Rechtskriterium, dem Kriterium ihrer politischen Interessen, eben dem Fleisch. So kann und will Jeschua über keinen Menschen urteilen. Wenn er aber urteilt, dann wird sein Urteil vertrauenswürdig, weil sein Kriterium der Wille Gottes ist. Das ist natürlich ein Problem; einerseits wird nicht, andererseits wird doch geurteilt. Geurteilt wird erst, als der bar enosch, der MENSCH, in seinem Richteramt bestätigt wird, wenn er das Ziel, den Aufstieg zum VATER, erreicht haben wird. Die Grundvorstellung einer finalen, endgültig vertrauenswürdigen Gerechtigkeit ist allen messianischen Gruppen gemeinsam. Darin unterscheiden sie sich nicht vom rabbinischen Judentum.

Die Art der Berufung Jesu in den Versen 17-19 auf die „in eurer Tora“ vorgesehene „Vorschrift der Gerichtsordnung…, wonach ein Zeugnis von zwei unabhängigen Zeugen bestätigt sein muss“, hält Veerkamp für „mehr als fragwürdig“, zumal Jesus von einer Voraussetzung ausgeht, nämlich seiner einzigartigen Beziehung zum Gott Israels, die von seinen Gegnern nicht geteilt wird, ja, von der sie nicht die geringste Ahnung haben:

Die Prozessordnung der Tora schreibt das Zeugnis zweier Menschen vor, Deuteronomium 19,15, die sich vom Ankläger und vom Angeklagten unterscheiden. „Ich und der VATER“ sind aber nicht zwei unabhängige Zeugen. Das Missverständnis ist daher vorprogrammiert. Erstens bleibt der Vorwurf stehen, Jeschua fungiere in seinem Prozess zugleich als Angeklagter und als Zeuge. Zweitens fassen seine Gegner das Wort „Vater“ nicht als Bezeichnung des NAMENS auf. Sie fragen: „Wo ist dein Vater?“ – nämlich jener Joseph aus Nazareth. Vom Sohn könnt ihr, sagt Jeschua, auf den VATER schließen, und vom VATER auf den Sohn. Da ihr kein Wissen vom VATER, also vom Gott Israels, habt, könnt ihr kein Wissen von mir haben und umgekehrt: Hättet ihr Wissen von mir, hättet ihr Wissen von Gott bzw. dem VATER und dann wäre die Forderung der Prozessordnung mehr als erfüllt: Der Gott Israels selber gibt Zeugnis über den, den er gesandt hat. Aber die Gegner haben schlicht keine Ahnung, weder über ihn, seine Herkunft, seine Bestimmung, noch über Gott. Sie urteilen nach der Sachlage ihrer Tagespolitik, eben „nach dem Fleisch“.

Dass dies „alles nun in der bewachten Schatzkammer, dem gazophylakeion“, stattfindet, ist für Veerkamp keine belanglose Ortsangabe. Er erinnert daran, dass dieser Ort von anderen Evangelisten als ein Symbol der Ausbeutung armer Leute auf Grund ihrer religiösen Hingabe angeprangert wird: <666>

Er war der Ort im Heiligtum, der als Auffangbecken für die Früchte der Mehrarbeit der Bevölkerung diente. Hier sammelte sich das Mehrprodukt, das die regionale Zentralinstanz abschöpfte. Von ihm lebten das politische Personal, das Priestertum und seine vielen Helfer. In der messianischen Bewegung war der Ort schlecht angeschrieben, Lukas 21,1-4 und vor allem Markus 12,41ff. Dort erschien die bewachte Schatzkammer als der Gipfel der religiösen Perversion. Die Witwe gibt „ihr ganzes Leben“, nachdem wir hörten, wie Schriftgelehrte und Peruschim „Häuser der Witwen wegfraßen“. Matthäus mag seine Gründe gehabt haben, den Passus auszulassen; es kann kaum daran gezweifelt werden, dass die kleine Geschichte in der messianischen Bewegung verbreitet war.

Vor einem solchen Hintergrund wird nun nach Veerkamp auch verständlich, warum Jesu Gegner sein Auftreten als Gefährdung der öffentlichen Ordnung betrachten. Jesus verkündet in ihren Augen nicht einfach nur unerträgliche religiöse Botschaften, sondern sein messianischer Anspruch richtet sich radikal gegen die bestehende politische Ordnung:

Dass nun Jeschua seine Lehre gerade hier vortrug, wird von seinen Gegnern als direkter Angriff gegen das Heiligtum als Zentralinstanz einer Ausbeutungsordnung verstanden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bemerkung in 8,20, dass die Ortsandeutung gazophylakeion eine politische Pointe hatte. Wenn wir nun von dieser Stelle zurücklesen, verstehen wir, dass durch diese Worte ein wahrhaftes Urteil (krisis alēthinē) über das Gemeinwesen und seine zentralen Institutionen gesprochen wurde. Wir verstehen dann auch, warum seine Gegner mit dem Gedanken an die Inhaftierung und Tötung reagieren müssen. Sie konnten Jeschua nur als Staatsfeind sehen.

Johannes 8,21-24: Wer von diesem kosmos ist, wird an seinen Verirrungen sterben

8,21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen:
Ich gehe hinweg,
und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben.
Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.
8,22 Da sprachen die Juden:
Will er sich denn selbst töten, dass er sagt:
Wohin ich gehe, da könnt ihr nicht hinkommen?
8,23 Und er sprach zu ihnen:
Ihr seid von unten her, ich bin von oben her;
ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.
8,24 So habe ich euch gesagt, dass ihr sterben werdet in euren Sünden;
denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin,
werdet ihr sterben in euren Sünden.

[24. Juli 2022] In der nun beginnenden neuen Szene (W267) wird Klaus Wengst zufolge fortgesetzt, was „kein wirkliches Gespräch ist“, indem man entweder „übereinander“ redet oder „verhärtete Positionen“ austauscht. In Vers 21 wiederholt Jesus ein Motiv aus 7,34 „in verschärfter Form“:

„Ich gehe weg und ihr werdet mich suchen und durch eure Sünde sterben. Wo ich hingehe, dahin könnt ihr nicht kommen.“ Im Unterschied zu 7,34 kündigt Jesus seinen Gesprächspartnern nicht mehr nur an, dass sie ihn nicht finden, sondern – darin besteht die Verschärfung – durch ihre Sünde sterben werden.

Dass Menschen durch ihre Sünde bzw. Sünden sterben, ist ein Motiv „aus der biblisch-jüdischen Tradition“. So heißt es etwa in 5. Mose 24,16, „dass Väter nicht wegen der Söhne und Söhne nicht wegen der Väter sterben sollen, sondern: ‚Jede Person durch ihre Sünde – so sollen sie sterben.‘“ Umgekehrt gilt nach Wengst:

„Leben wird gewonnen im Vertrauen auf Gott. Dementsprechend kann negativ als „die eigentliche Sünde“ mit Schnackenburg <667> „der Unglaube“ bezeichnet werden. Wenn aber die Präsenz Gottes exklusiv an Jesus gebunden wird, wie es in der Erzählung des Johannesevangeliums Juden gegenüber geschieht, werden diese zu den Ungläubigen schlechthin, weil es ihnen nicht möglich ist, die Präsenz Gottes in Jesus zu erkennen. Und so werden sie in einer das Johannesevangelium nur nachsprechenden Auslegung notwendig zu Typen des Unglaubens und bleiben auf ihn festgelegt. Das aber ist angesichts der jüdischen Tradition mit ihren vielfältigen Glaubenszeugnissen eine Unmöglichkeit.

Wengst lehnt also weiter den Exklusivitätsanspruch des johanneischen Jesus konsequent ab, insofern dieser Juden, die nicht an Jesus glauben, überhaupt ihr Gottvertrauen abspricht.

Zum Stichwort „Suchen“ in Vers 21 meint Wengst, dass es „kaum in einem positiven Sinn gemeint sein“ kann, sondern eher mit der Absicht, Jesus festzunehmen oder gar zu töten. Und selbst wenn (W268) diese „Festnahme“ und die Tötung gelingt, kommen sie nicht dorthin, wo er hingeht:

Die Ankündigung eines feindlichen Suchens auch noch nach Jesu Weggang dürfte sich darauf beziehen, was die Gemeinde an Einschränkung und Behinderung ihrer Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten erfährt, womit Werk und Wirkung Jesu in Frage gestellt werden. Demgegenüber wird sie hier dessen vergewissert, dass Jesus mit dem, was er gewirkt und bewirkt hat, sozusagen nicht totzukriegen ist, weil er bei Gott in einer Weise lebt, die den Tod nicht mehr fürchten muss. Es geht also nicht um ein „Zu spät!“ für ein schließlich doch noch positives Suchen nach Jesus, sondern um ein „Unmöglich!“ für den Versuch, dem Werk und der Wirkung Jesu ein Ende zu setzen.

Wenn Wengst allerdings über Jesus schreibt: „Glaubendem Suchen dagegen ist er gerade nach seinem Weggang zugänglich“, so wird darüber im Zusammenhang mit Johannes 13,33 noch nachzudenken sein, denn dort sagt Jesus auch seinen Schülern: „Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.“

In Vers 22 reagieren die „Gesprächspartner Jesu … wie in 7,35 mit einem Missverständnis“, indem sie darüber spekulieren, ob „sich Jesus der Festnahme durch Selbstmord entziehen wolle“, wie es im Zweiten Jüdisch-Römischen Krieg die „Verteidiger von Masada“ taten, „die sich der Gefangennahme bei der drohenden Eroberung der Festung vonseiten der Römer durch kollektiven Selbstmord entzogen“ (vgl. Josephus, Bell. 7, 8, 6 – 7, 9, 2).

Jesus Antwort auf „die vermutete Selbstmordabsicht“ besteht in Vers 23 aus „einer doppelten Herkunftsbestimmung“:

„Ihr seid von unten, ich bin von oben. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.“ Die erste Gegenüberstellung nennt einen positiven und einen negativen Aspekt, die zweite nur einen negativen, der dann für Jesus verneint wird. Die Kategorie „unten“ aus der ersten Gegenüberstellung wird durch „diese Welt“ in der zweiten aufgenommen. Gemeint ist also das, was vor Augen liegt (7,24), der Bereich des „Fleisches“ (8,15) – die Welt der bloßen Fakten, aber auch des Unrechts und der Gewalt, des Scheins und der Täuschungen. Mit „dieser Welt“ hat Jesus nichts zu tun; von ihr ist er nicht bestimmt. Als Sohn des Vaters, von ihm geschickt, und also als Beauftragter Gottes hat er seine Herkunft „oben“, kommt mit ihm in „dieser Welt“, sie überführend und verändernd (7,7), Gottes Wirklichkeit zum Zuge.

Im Grunde gibt Wengst hier die jüdische, auch rabbinische, Gegenüberstellung dieser Welt als der jetzigen, von Unrecht und Gewalt beherrschten Weltzeit, ˁolam ha-se, und der erhofften kommenden Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden auf dieser Erde unter dem Himmel, ˁolam ha-baˀ, wieder, allerdings ohne sie ausdrücklich zu nennen. In seinem anschließenden Exkurs über rabbinische Hintergründe geht er nur auf zwei Stellen <668> ein, die belegen sollen, dass auch Jesu Gesprächspartner „wissen, dass der Mensch in der Spannung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ steht, denn er ist (W268f.) „eine Bildung von den Oberen her und eine Bildung von den Unteren her“. Dabei erweckt seine Art der Zitierung der zweiten Stelle den Eindruck, als ob er die jüdische Einsicht, dass Gott den Himmel für sich selbst reserviert, den Menschen aber die Erde als Lebensraum bestimmt hat, relativieren wollte (W269):

Vor allem aber ist mit der Gabe der Tora Gott selbst von oben nach unten gegangen und hat Mose von unten nach oben gehen lassen: „Als der Heilige, gesegnet er, seine Welt erschuf, fasste er einen Beschluss und sprach (Ps 115,16): ‚Der Himmel ist der Himmel des Ewigen, aber die Erde hat er den Menschenkindern gegeben.‘ Als er die Tora geben wollte, löste er den ersten Beschluss auf und sprach: ,Die Unteren sollen zu den Oberen hinaufsteigen und die Oberen zu den unteren hinabsteigen. Und ich selbst mache den Anfang.‘ Da stieg der Ewige hinab auf den Berg Sinai (Ex 19,20) und zu Mose sprach er: ,Steige hinauf zum Ewigen!‘ (Ex 24,1)“

Unausgesprochen scheint Wengst damit andeuten zu wollen, hier sei die Grenze zum unverfügbaren Gott in der Weise überwunden worden, dass Menschen nach ihrem Tod zu Gott in seinen jenseitigen Himmel gelangen können. Diese Schlussfolgerung geht mir aber zu weit. Das Herab- und Hinaufsteigen beschränkt sich ja auf die Begegnung von Oben und Unten auf dem Berg Sinai mit dem Ziel der Übergabe der Tora, damit das Volk Israel auf der Erde unter dem Himmel Gottes in Freiheit, Recht und Frieden leben kann. Ich denke, dass Johannes vom Abstieg und Aufstieg des Messias und Menschensohnes Jesus in analoger Weise redet, damit der Geist der liebevollen Solidarität Gott, agapē, den Schülerinnen und Schülern Jesu übergeben werden kann, um die durch seinen Kreuzestod ermöglichte und bald anbrechende kommende Weltzeit auf Erden tätig zu erwarten.

In Vers 24 nimmt Jesus seine Aussage aus Vers 21 über das „Sterben durch eure Sünde“ auf und erweitert sie folgendermaßen:

„Ich habe euch also gesagt, dass ihr durch eure Sünden sterben werdet. Wenn ihr nämlich nicht darauf vertraut, dass ich‘s bin, werdet ihr durch eure Sünden sterben.“ Wie schon in 6,20 lässt das „Ich bin‘s“ die biblisch-jüdische Tradition anklingen, in der Gott selbst sein „Ich bin‘s“ spricht. In Jesus als seinem Beauftragten spricht Gott selbst; er identifiziert sich mit ihm und seinem Geschick.

Es verwundert nicht, dass Wengst erneut Schwierigkeiten mit dieser Aussage hat, die „wiederum exklusiv gefasst“ ist. Zweimal sogar ist vom Sterben „durch eure Sünden“ die Rede; gemeint sein kann zum einen, dass „diejenigen keine Vergebung ihrer Sünden erlangen, die sich dem verweigern, der als ‚Lamm Gottes‘ ‚die Sünde der Welt trägt‘ (1,29), und dass zum anderen solche Verweigerung als die Sünde schlechthin gilt.“ Diese Aussage darf Wengst zufolge aber nicht „gegenüber Juden formuliert werden, die u. a. Jahr für Jahr bis heute den Versöhnungstag begehen“. Statt die Konsequenz zu ziehen, das Johannesevangelium als antijüdisch abzutun, versucht er es als durch Jesus vermittelte Botschaft vom Gott Israels für die Völker zu retten:

Mit Blank <669> möchte ich den Vers positiv so aufnehmen, wobei ich allerdings in Klammern eine kleine Ergänzung hinzufüge: „Jesus selbst ist jetzt die Stätte der göttlichen Gegenwart, der ,Ort‘, an dem der Mensch (aus den Völkern) in der Welt Gott begegnen kann.“

So mag man in christlicher Demut versuchen, das Johannesevangelium gegen den Strich zu bürsten und den interreligiös vertretbaren Weizen von der antijüdischen Spreu zu trennen. Dem Johannesevangelium in seinen ursprünglichen Intentionen wird eine solche Auslegung aber kaum gerecht, denn nirgends vertritt es eine Völkermission, und überall erwartet es gerade von den Juden, auf Jesus zu vertrauen.

Hartwig Thyen (T425f.) betont zu Vers 21, dass Jesus nach seiner Rede in der Schatzkammer „erneut zu den gleichen Zuhörern (autois {ihnen})“ spricht:

Und wie in V 12 eröffnet er seine Rede wieder mit dem emphatischen egō {Ich}: „Ich gehe weg und ihr werdet mich suchen, und (dann) werdet ihr in euren Sünden sterben. (Denn) wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht gelangen“. … [D]ieses „Ich“ Jesu beherrscht den gesamten Abschnitt und erreicht in dem zweimaligen absoluten egō eimi {ICH BIN} in den V. 24 und 28 seine absichtsvolle Klimax {Höhepunkt}.

Allerdings sieht Thyen in Jesu Aussage (T426)

kein definitives Urteil, gilt doch auch von ihr: „Ich verurteile niemanden“ (V. 15), sondern Paränese {Ermahnung}, die gewinnen und retten will. Und sie kommt, wie V. 30 zeigt, ja auch zum Ziel. Aufgerufen sind die Hörer also dazu, die schwindende Zeit der Gegenwart Jesu zu nutzen, umzukehren und anstelle des Todes das Leben zu wählen. Freilich darf diese paränetische Aussage nicht so verstanden werden, als müßten alle, die dem irdischen Jesus nicht glauben, in ihren Sünden sterben. Denn nach Joh 7,39 ermöglicht und eröffnet ja gerade erst Jesu ,Verherrlichung‘ oder – mit unserem V. 8,21 gesagt – sein ,Weggehen‘ die Möglichkeit, unter dem Geleit des Geistes an ihn zu glauben und am ewigen Leben des Sohnes teilzugewinnen.

Das ist Thyen Art und Weise, mit dem Problem umzugehen, dass es Juden sind, die hier zum Glauben an Jesus aufgefordert werden, da sie sonst in ihren Sünden sterben werden. Ihm genügt es, dass Johannes davon ausgeht, dass es auf jeden Fall Juden gibt, die sich von Jesu Rede überzeugen lassen. Damit ist aber nicht das Problem gelöst, das Wengst immer wieder auf der Seele liegt, was mit denjenigen Juden ist, die bis in die heutige Zeit hinein aus den unterschiedlichsten und mehr als verständlichen Gründen nicht an Jesus glauben wollen und können.

Als biblischen Hintergrund der Verse 21ff. erwägt Thyen im Anschluss an Delbert Burkett, <670> dass

ein Spiel mit Amos 8,11f zugrunde liegen könnte: „Siehe, Tage werden kommen, spricht der Herr, da werde ich einen Hunger ins Land senden, doch nicht Hunger nach Brot noch Dürsten nach Wasser, sondern einem Hunger darauf das Wort des Herrn zu hören. Sie werden von Meer zu Meer wandern, vom Norden bis zum Westen werden sie herumirren auf der Suche nach dem Wort des Herrn, und werden es niemals finden (kai ou mē heurōsin)“. Burkett sagt dazu: „Solange das Wort bei ihnen ist, haben sie die Möglichkeit zu hören, was Gott sagt. Wenn Jesus aber weggeht, werden sie das Wort vergeblich suchen, ohne zu wissen, dass das, was sie suchen, Jesus ist“.

Die Tuscheleien der Juden in Vers 22, ob sich Jesus „etwa selbst töten“ will, hält Thyen für

insofern zutiefst ironisch, als sein Weg zum Vater Jesus tatsächlich in den Tod führen wird. Und da nach Joh 10,18 niemand die Macht hat, ihm das Leben zu nehmen, wird er sich in gewisser Weise tatsächlich „selbst töten“… Freilich ist der Weg, den Jesus da im Auge hat, nicht die verabscheuenswürdige ,Todsünde‘ des Selbstmords (vgl. Gen 9,5 und 2Sam 17,23), wie die Zuhörer zu argwöhnen scheinen, sondern der Weg des ,guten Hirten‘, der sein Leben für seine Schafe freiwillig (ap‘ emautou {von mir aus}) hingibt.

In der Auslegung der Verse 23 und 24 setzt sich auch Thyen mit der Frage auseinander, ob die wiederholte Aussage, dass seine Gesprächspartner in ihren Sünden sterben werden, ein „Urteil über irgendwelche empirischen Juden oder gar über das jüdische Volk“ darstellen könnte, was er jedoch strikt verneint, weil die von Jesus gegebene „Begründung dafür, daß sie nicht dahin gelangen können, wohin Jesus geht“, schlicht und einfach „die Grundbefindlichkeit der gesamten adamitischen Menschheit“ ist:

„Ihr seid ,von unten‘, ich aber bin ,von oben‘; ihr seid von dieser Welt, ich aber bin nicht von dieser Welt. Darum habe ich euch gesagt, daß ihr in euren Sünden sterben werdet.“ … [Dieser „Grundbefindlichkeit] zu entrinnen, gibt es, wie Jesus Nikodemus gesagt hatte, nur den durch eine neue ,Geburt von oben‘ eröffneten Weg des Glaubens: „Denn wenn ihr nicht glaubt, hoti egō eimi {dass ICH BIN}, dann werdet ihr in euren Sünden sterben“ (V. 24).

Wie gesagt, für Thyen stellt es kein Problem dar, dass damit die Juden in die Grundbefindlichkeit der gesamten Menschheit eingeordnet werden, ohne zu berücksichtigen, dass sie Gott durch ihre heiligen Schriften genauestens kennen. Im Endeffekt läuft die Verweigerung des Glaubens an Jesus also doch auf ein Verdammungsurteil für die entsprechenden „empirischen Juden“ bzw. „das jüdische Volk“ hinaus, insofern die Mehrheit der Juden Jesus eben nicht als Messias anerkennt.

Zu der Formulierung hoti egō eimi {dass ICH BIN} in Vers 24 betont Thyen, dass sie nach 4,26 und 6,20 (T427) „das dritte der absoluten egō-eimi-Worte des Evangeliums“ darstellt, „dem in unserem Kapitel mit den V. 28 und 58 noch zwei weitere folgen werden“. Wenn er bemerkt, dass vor „dem Hintergrund von Ex 3,14 … das egō eimi im ‚Deutero-Jesaja‘ genannten Teil des Jesajabuches geradezu zum Namen Gottes geworden“ ist, dann meint er wohl, dass der in 2. Mose 3,14 mit egō eimi hō ōn {ICH BIN der Seiende} übersetzte Gottesname JHWH, der an dieser Stelle mit ˀehjeh ˀascher ˀehjeh {Ich geschehe, als der ich geschehe} deutend umschrieben wird, im zweiten Jesajabuch in dieser abgekürzten Form den Gottesnamen vertritt.

Dass Jesus in diesem Zusammenhang das Sterben in den Sünden aus Vers 21 wiederholt, führt Thyen in Anlehnung an Burkett [152] auf ein Spiel mit Jesaja 43,25 zurück, wo es wörtlich heißt: „ICH BIN, ICH BIN (es), der deine Übertretungen tilgt und deiner Sünden nicht gedenkt.“ Für Thyen zeigt sich darin, dass „Johannes Jesus diese Theophanie-{Erscheinung Gottes-}Formel wieder und wieder in den Mund legt, … von Anfang an bereits der Anspruch“, dass Jesus sich mit Gott gleichsetzt, wie er es ausdrücklich in 10,30 tun wird. Was genau mit dieser Gleichsetzung gemeint sein kann, die ich präziser als die Verkörperung des NAMENS des Gottes Israels umschreiben möchte, ist von der Bedeutung eben dieses NAMENS her immer wieder genauestens zu prüfen.

Dankenswerterweise verdeutlicht Thyen an dieser Stelle mit einem Zitat von Astrid Schlüter, <671> dass er jedenfalls keine Neudefinition Gottes durch Jesus im Sinne einer Überbietung der Eigenschaften eines alttestamentlichen Stammesgottes im Sinne hat:

„Während Gott sich im AT mit der Formel direkt kundtut, ist die Selbstkundgabe Jesu indirekter Art: Er bezieht sich mit seinem egō eimi auf jenes, das der Vater längst gesprochen hat, d. h. er identifiziert sich über den Vater, indem er über sich selbst sagt, was nur Gott zukommt. Gerade die Formel, die Gottes Unableitbarkeit und Selbstbegründung bekundet, wird im Munde Jesu zum Ausdruck seiner Abhängigkeit vom Vater. Nicht Gott wird hier also offenbart, sondern Jesus offenbart sich als Sohn“. … Ein Jesus, der sich in der heiligen Stadt Jerusalem und im ,Haus seines Vaters‘ (2,16) im intertextuellen Spiel mit den heiligen Texten seines Volkes das göttliche egō eimi zu eigen macht, mit dem sich JHWH seit den Tagen Moses diesem Volk offenbart hat, darf keinesfalls als der Offenbarer eines unbekannten Gottes begriffen werden.

Insofern sieht Thyen hier völlig andere Voraussetzungen gegeben als in der Apostelgeschichte 17,22ff., wo „der ,lukanische Paulus‘ dagegen im heidnischen Athen auf einen Altar mit der Inschrift AGNŌSTŌI THEŌI {DEM UNBEKANNTEN GOTT} gestoßen sein will und den Athenern nun Jesus Christus als den Offenbarer dieses Unbekannten präsentiert“. In diesem Fall „mag das insofern hingehen, als Paulus hier ja eines interreligiösen Anknüpfungspunktes bedarf, wenn er den heidnischen Athenern den Gott seiner Väter und dessen Sohn Jesus Christus nahe bringen will.“

Ton Veerkamp <672> analysiert zu den Vers 21 und 22, in dem Jesus den Satz aufnimmt: „Ich weiß, wohin ich gehe; ihr wisst nicht, wohin ich gehe“, genauestens die Unterschiede zu Johannes 7,33ff. Dort hieß es: „Ihr werdet mich suchen und werdet mich nicht finden“, worauf die Judäer sich fragten: „Wo soll er denn hinziehen, dass wir ihn nicht finden können?“ Das heißt, es

taucht zweimal das Wort „finden“ auf. Jeschua setzt zumindest bei einigen unter ihnen voraus, dass sie den Messias finden wollen. In Johannes 8,21f. wird das Wort „finden“ unterdrückt. Statt dessen unterstellen seine Gegner Suizidneigung bei ihm. Hier ist die Atmosphäre vergiftet. „Finden“ wollen sie gar nicht mehr.

Entsprechend härter fällt auch die Reaktion Jesu aus, indem er (Vers 23) antwortet:

„Ihr seid von dem, was unten ist, ich bin von dem, was oben ist. Ihr seid von dieser Weltordnung, ich bin nicht von dieser Weltordnung. Deswegen sagte ich euch, dass ihr an euern Verirrungen sterben werdet.“ Die beide Begriffe „oben“ und „unten“ werden jetzt inhaltlich gefüllt. „Oben“ ist: „von Gott her, durch den Willen Gottes bestimmt“. „Unten“ ist: „von den Erfordernissen der geltenden Weltordnung her“. Es handelt sich also nicht um religiöse bzw. gnostische, sondern um politische Gegensätze.

Innerhalb dieser politischen Konfliktlage ist also die Bedeutung des harten Wortes zu klären, mit dem Jesus seinen Gegnern den Tod androht (Vers 24):

„Ich gehe hin, ihr werdet mich suchen, aber mit [oder: an] euern Verirrungen werdet ihr sterben.“ …

In den gängigen Kommentaren bedeutet das Wort hamartia Sünde, und Sünde sei hier, so heißt es, Unglaube. Das ist formal nicht unrichtig, aber es erklärt nicht, was gemeint ist.

Was genau kann aber „Sünde“ im Sinne einer Abirrung von der Tora Gottes, einer Verfehlung der befreienden Wegweisung des NAMENS, unter den Bedingungen des weltweiten Unterdrückungssystems, wie es der Evangelist Johannes zu seiner Zeit erlebt, bedeuten? Johannes schreibt die Absichten des rabbinischen Judentums bereits den Pharisäern (Peruschim) zur Zeit Jesu zu:

Die Peruschim vertraten eine ganz bestimmte politische Strategie. In der von Rom beherrschten Weltordnung geht es darum, einen Ort zu finden, an dem die Judäer nach ihrer Tora leben können. Das ist ohne einen politischen Kompromiss nicht durchführbar. Johannes meint, dass genau diese Strategie das Ende für die Judäer und überhaupt für Israel bedeuten würde. In den Nischen, die die Römer den Jehudim lassen, werden sie über kurz oder lang durch die römische Macht politisch und ideologisch gleichgeschaltet werden.

Bei dem Wort „Sünde“ denkt Johannes also nicht an die Verfehlungen einzelner Menschen, sondern ähnlich wie die Propheten Israels, wenn sie den Untergang ganz Israels oder Judas voraussagten, an die Verirrungen des gesamten Volkes, die natürlich in erster Linie dessen politisch-religiöse Führung zu verantworten hat. In seiner Anm. 281 zur Übersetzung von Johannes 8,21 aus dem Jahr 2015 schreibt Veerkamp:

In 1,29 haben wir hamartian tou kosmou mit „die Verirrung der Weltordnung“ übersetzt. Das Wort meint also das, was „verkehrt, falsch, irre“ an der realen Weltordnung ist. Hier hören wir das Wort zum zweiten Mal. Die beiden Stellen sind aufeinander zu beziehen; die „Verirrung“ der Judäer ist darin zu suchen, dass sie durch ihre Taten die „Verirrung der Weltordnung“ hinnehmen. In 8,23 und erst recht 8,44 wird das deutlich werden, wenn man korrekt übersetzt. Da diese Weltordnung nach Johannes gerichtet und verurteilt ist, also ihrem Ende entgegengeht, sind die zum Scheitern verurteilt, die, nach Johannes, auf die Karte dieser Weltordnung gesetzt haben, deswegen „an eurer Verirrung sterben“. Die Verweigerung, Jeschua als dem Messias zu vertrauen, ist nicht die Ursache, sondern die Folge der Komplizenschaft mit der Weltordnung.

Die einzige Möglichkeit, den Folgen dieser „Sünde“ zu entgehen, besteht darin, auf den Messias Jesus zu vertrauen, der durch seinen Tod am Kreuz die gesamte Weltordnung in ihrer tödlichen Macht überwindet:

„Unter den Bedingungen der herrschenden Weltordnung nach der Tora Gottes leben“ war für Johannes, aber auch für Paulus und die ganze messianische Bewegung, eine Illusion. Ihnen ging es um eine völlig andere, um eine radikal neue Ordnung der Welt: Nicht in der Welt anders leben, sondern eine andere Welt tätig erwarten, das war und ist der Gegensatz.

Versteht man Johannes auf dieser Linie, die von der Gerichtsverkündigung der jüdischen Propheten ausgehende zu den Juden führt, die Jesus als den Messias des Gottes Israels proklamieren, dann muss man ihm zwar vorhalten, dass er die jüdische Mehrheit seiner Zeit mit schärfster, ja überzogener und möglicherweise nicht einmal gerechtfertigter Polemik angreift, aber er tut dies nicht mit der Absicht, die jüdische Religion aufzuheben oder das Vertrauen auf den Gott Israels durch das Vertrauen auf einen ganz anderen Vatergott Jesu zu ersetzen. Erst recht geht es nicht um antijüdische Diffamierung:

Der Ausdruck „an euern Verirrungen sterben“ war keine moralische Disqualifikation der Juden, sondern ein politisches Urteil über die Strategie der Gegner. Der Gegensatz von 8,21f. ist antagonistisch; hier sind keine Kompromisse mehr möglich. Die Vorstellung des „antagonistischen Widerspruches“ stammt aus dem Marxismus, und sie erklärt sehr genau, um was es hier geht. Gnostizismus scheidet als Erklärungsrahmen aus. Johannes nimmt mit „oben“ und „hier“ jene modischen – gnostischen – Ausdrücke auf, aber er erdet sie politisch: unten = Parteigänger des herrschenden Systems und oben = kein Parteigänger des herrschenden Systems.

Es mag uns am Anfang des 21. Jahrhunderts für aus der Zeit gefallen anmuten, einen biblischen Text mit marxistischen Kategorien auszulegen. Hier geht es aber nicht darum, Begrifflichkeiten aus dem 19. oder 20. Jahrhundert in das 1. Jahrhundert einzutragen, sondern zu prüfen, ob der Gegensatz zwischen Rom als einem neuen weltweiten ägyptischen Sklavenhaus und dem Messias des aus dem Sklavenhaus befreienden NAMENS nicht tatsächlich politisch zu begreifen ist. Genau genommen ist jedoch gerade die bis heute gängige Vorstellung, Johannes habe den Glauben an Jesus als eine Ersetzung des jüdischen Gottvertrauens begriffen (oder, wie Wengst es abschwächend verstehen will, als eine Ausweitung des Angebot des jüdischen Gottvertrauens an die Völker), eine Eintragung späterer heidenchristlicher Vorstellungen in sein ursprünglich jüdisch-messianisches Evangelium.

Die Formulierung egō eimi {ICH BIN} in Vers 24 bezieht Ton Veerkamp eindeutig auf den NAMEN des Gottes Israels, der in seinem Messias Jesus erneut und dieses Mal endgültig befreiend an seinem Volk inmitten der Völker wirken will:

Johannes räumt mit allen Mystifikationen auf. Der Satz „Wenn ihr nicht dem Egō eimi vertraut, werdet ihr an euren Sünden sterben“, fasst das gerade Gesagte bündig zusammen. Wer, so könnten wir umschreiben, nicht vertraut, dass Exodus 3,14, das ˀehje ascher ˀehje (LXX: egō eimi ho ōn), nach wie vor gültig ist, wird untergehen. Denn das egō eimi steht hier absolut, ohne Prädikat, und das schreibt die Übersetzung vor: „ICH WERDE DASEIN.“

Zwar bezieht sich Veerkamp in diesem Zusammenhang nicht wie Thyen auf den biblischen Hintergrund von Jesaja 43,25, aber er würde diese Stelle sicher als Bestätigung seiner Einschätzung sehen, dass nur das Vertrauen auf den NAMEN das Volk Israel vor dem Untergang bewahrt. Gemeint ist bei Johannes wie bei Jesaja nicht der Tod als individuelle Bestrafung von Sündern, erst recht nicht die Verdammung der Menschen in die Hölle nach ihrem Tod, sondern das Sterben Israels in Form von Unterdrückung, Deportation, Terror und Krieg – und letzten Endes das Ausbleiben des Lebens der kommenden Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden.

Johannes 8,22-30: Jesus ist der, der immer das in des VATERS Augen „Gerade“ tut

8,25 Da fragten sie ihn: Wer bist du denn?
Und Jesus sprach zu ihnen: Was soll ich euch zuerst sagen?
8,26 Ich habe viel über euch zu reden und zu richten.
Aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig,
und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt.
8,27 Sie erkannten aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach.
8,28 Da sprach Jesus zu ihnen:
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet,
dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir aus tue,
sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich.
8,29 Und der mich gesandt hat, ist mit mir.
Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.
8,30 Als er das sagte, glaubten viele an ihn.

[25. Juli 2022] Nach Klaus Wengst (W270) reagieren Jesu Gegner auf die „schroffe Antwort Jesu mit ihrer Zuweisung von ‚oben‘ und ‚unten‘ und mit ihrem exklusiven Anspruch“ in Vers 25 mit einer Rückfrage, die in seinen Augen nur rhetorisch gemeint sein kann: „Wer bist du denn schon, dass du solche Ansprüche stellst?“ Daraufhin fragt Jesus ebenfalls rhetorisch: „Was rede ich überhaupt noch mit euch?“ Damit versteht er (Anm. 458) den Ausdruck tēn archēn {wörtlich: im Blick auf den Anfang, zuerst} so, wie es „schon die alten griechischen Ausleger getan haben“, und beklagt (W270), dass hier „nur Monologe geführt“ werden und dass Johannes von Jesu Gegnern ein negatives Bild entwirft, „das sich in der Überlieferung und Auslegung des Textes verfestigt und unheilvoll ausgewirkt hat.“ Andere Auslegungsmöglichkeiten dieses Verses zieht Wengst überhaupt nicht in Betracht, obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass Jesus in Vers 26 trotz seiner „gerade angezeigten Resignation, dass Reden sinnlos sei“, dennoch weiter redet. Aber was wäre, wenn die Fragen in Vers 25 gar nicht rhetorisch gemeint sein sollten?

Wegen der in seinen Augen unerträglichen antijüdischen Zuspitzung der folgenden Verse kann Wengst offenbar nicht anders, als die Darstellung des johanneischen Jesus einer durchgehenden und zum Teil nicht unbedingt angemessenen Kritik zu unterziehen. So redet Jesus zwar weiter, was er eigentlich nicht wollte,

allerdings in einer Weise, die einem wirklichen Dialog widerspricht: „Über euch könnte ich viel reden und urteilen.“ Auf die eigene Infragestellung durch die anderen, wer man denn schon sei, folgt die Ankündigung, viel Negatives über die anderen sagen zu können. Sie wird nicht ausgeführt, aber doch ausgesprochen, was dem Gesprächsklima gewiss nicht förderlich ist.

Im zweiten Teil von Vers 26 erkennt Wengst dann eine Aussageabsicht, die dem unmittelbar Vorangehenden widerspricht:

In der Fortsetzung der Rede fällt sich Jesus sozusagen selbst ins Wort. Statt der Ausführung der angekündigten Möglichkeit folgt ein weiteres Mal die Beschreibung der eigenen Position: „Aber der mich geschickt hat, ist verlässlich. Was ich von ihm gehört habe, das rede ich zur Welt.“ Er sagt damit einmal mehr, wer er ist und was er tut. Der Text kann so gelesen werden, dass Jesus die rhetorische Frage, wer er sei, doch ernst nimmt und sie beantwortet. Anstatt die Polemik auszuführen, wird das eigene Zeugnis durchgehalten: Er ist nichts als Bote des ihn Sendenden.

Indem Jesus dabei „die Welt“ als Adressaten seiner Botschaft bezeichnet, kann Wengst zufolge „konkret die jüdische Welt gemeint sein (vgl. 18,20). Es kann aber auch anklingen, dass sich in Jesus der Gott Israels an die ganze Welt wendet.“ Eine dritte Möglichkeit bleibt außerhalb des Horizonts der von Wengst erwogenen Möglichkeiten, nämlich dass Jesus die Weltordnung überwinden muss, damit Israel inmitten der Völker leben kann.

Die „kommentierende Bemerkung“ des Evangelisten in Vers 27: „Sie erkannten nicht, dass er vom Vater zu ihnen sprach“, spiegelt nach Wengst (W271) „die Erfahrung der Gemeinde des Evangelisten wider, dass ihr Zeugnis von ihren jüdischen Landsleuten nicht akzeptiert wird.“ Der Umstand, dass Jesus in Vers 28 an diese Bemerkung anknüpft, „als hätten die Gesprächspartner Jesu geredet“, zeigt

in aller Deutlichkeit, dass es sich hier in keiner Weise um Wiedergabe eines tatsächlichen Gesprächs zwischen Jesus und anderen Juden handeln kann, sondern es liegt eine auf der literarischen Ebene durchgeführte Reflexion des Evangelisten von Auseinandersetzungen seiner Zeit vor. „Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich‘s bin und nichts von mir aus tue, sondern wie mich der Vater gelehrt hat, das rede ich.“

Dass die Erhöhung des Menschensohnes , von der in 3,14 und in 12,32.34 im Passiv die Rede ist, hier auf „die Angeredeten als dessen Subjekt“ bezogen wird, kann (Anm. 460) im Sinne einer Tendenz gedeutet werden, „nach der die Juden überhaupt zu den Verantwortlichen für die Kreuzigung Jesu gemacht werden“. Damit sind nach Wengst aber allenfalls „die führenden Juden“ gemeint, insbesondere „die Oberpriester und ihre Wachleute“, und Johannes „gibt auch Pilatus Schuld (19,11).“

Da Jesu Kreuzigung (W271) nur insofern als „Erhöhen“ im Sinne von „Verherrlichen“ gedeutet werden kann, „wenn gleichzeitig Gott Subjekt ist, wenn gerade in ihr Er selbst zum Zuge kommt“, und da „die Erkenntnis dieser ‚Erhöhung‘ wiederum den Glauben voraussetzt, ist deutlich, dass deren Ankündigung an den vorgestellten Adressaten vorbeigeht und vielmehr der Vergewisserung der eigenen Gemeinde gilt“:

Als Gegenstand der angekündigten Erkenntnis bei der Erhöhung erscheint wieder das absolute „Ich bin‘s“, ergänzt um die Aussage, dass Jesus nichts von sich aus tut, sondern nur auftragsgemäß redet. In der Ohnmacht des Kreuzes kann er in der Tat nicht von sich aus handeln. Aber dass sich gerade darin sein Auftrag vollendet (19,28-30), ist dem bloßen Faktum des Kreuzes nicht abzugewinnen, sondern geht nur denen auf, die es zugleich als „Erhöhung“ begreifen.

In Vers 29 (W271f.) greift Jesus auf Vers 16 zurück und

unterstreicht, dass Jesus der Ort der Präsenz Gottes ist: „Und der mich geschickt hat, ist mit mir. Nicht hat er mich allein gelassen, denn ich tue jederzeit das ihm Wohlgefällige.“ Nachdem gerade der Tod Jesu im Blick war, dürften auch diese Aussagen von daher motiviert sein: Jesus hat sich bis zuletzt, bis in den Tod hinein auftragsgemäß verhalten und Gottes Willen getan; Gott hat ihm seinerseits die Treue bewahrt, auch und gerade in seinem Tod, mit dem er sich identifiziert.

Die diese Szene abschließende Bemerkung (W272) in Vers 30 hält Wengst für überraschend: „Als er das redete, gewannen viele Vertrauen auf ihn.“ Er kann sich das nur so erklären, dass „sich Johannes außer den direkten Gesprächspartnern Jesu, den führenden Juden, eine größere Zuhörerschaft vorgestellt“ hat, „was bei der Verortung im Tempelbereich leicht denkbar ist.“ Allerdings misst Wengst dieser Feststellung keine große Bedeutung bei, denn das Gespräch wird „in der nächsten Szene“ nicht etwa „einen besseren Verlauf“ nehmen. „Die Fronten werden sich im Gegenteil weiter verhärten.“ Könnte es aber nicht sein, dass Johannes nach wie vor davon ausgeht, dass die jüdische Öffentlichkeit gespalten ist, dass nicht alle Juden Jesus ablehnen, dass insbesondere die von den Pharisäern verfluchte Volksmenge zu ihm steht, dass Jesus definitiv nicht ganz Israel verdammen will, sondern nur diejenigen, die sich der Befreiung Israels entgegenstellen, indem sie ihn nicht akzeptieren?

Hartwig Thyen (T427) geht ganz anders als Wengst an die Frage heran, die Jesus in Vers 25 gestellt wird:

„Da fragten sie ihn: Wer bist du denn?“ Diese Frage setzt wohl voraus, daß sie das absolute egō eimi {ICH BIN} nicht begriffen haben und nun nach dem in ihren Augen fehlenden Prädikat dazu fragen…

Und zur Antwort Jesu: „tēn archēn ho ti kai lalō hymin {wörtlich: im Blick auf den Anfang, was ich euch auch sage}“ verweist Thyen zunächst auf die „Mehrdeutigkeit“ dieses kurzen Satzes „und die Schwierigkeit, ihn zu übersetzen. … Im wesentlichen werden die folgenden drei Problemlösungen vorgeschlagen“.

Die erste Möglichkeit ist die (T428), auf die mit vielen anderen auch Wengst zurückgegriffen hat, nämlich „den Satz als eine (ärgerliche) Gegenfrage Jesu“ zu lesen.

Dazu ziehen sie die beiden Lexeme ho {das} und ti {was} zu einem als „warum“ verstandenen hoti zusammen und begreifen die Wendung tēn archēn adverbial im Sinne von „überhaupt“.

Zweitens „verstehen zahlreiche Ausleger das ho ti im Sinne des hebräischen mah als Indiz dafür, den Satz als Ausruf zu verstehen: ,Ach, daß ich überhaupt noch mit euch rede!‘“

Thyen selbst plädiert im Anschluss an Barrett <673> für eine dritte Möglichkeit, denn

diese grammatisch durchaus möglichen Versuche paßten „so schlecht zum nächsten Vers (polla echō peri hymin lalein {vieles habe ich über euch zu sagen})“ und erschienen ihm gegenüber „so unsinnig, daß man sich gegen diese Möglichkeit entscheiden“ müsse. Er will den Satz darum als Aussage und Antwort Jesu auf die Frage: „Wer bist du?“ verstehen. Dazu plädiert er für die Lesart ho ti und ergänzt das seiner Meinung nach implizierte egō eimi aus V. 24: „tēn archēn ist dann wiederzugeben ,zuerst‘, ,am Anfang‘, ‚im Anfang‘… Wir müssen wählen zwischen der Übersetzung a) ich bin von Anfang an, was ich euch sage, und b) ich bin, was ich euch von Anfang an sage“. Weil sie dem Präsens lalō {ich rede} besser entspreche, plädiert Barrett für die erstere.

Auch Thyen entscheidet sich für die Übersetzung: „(Ich bin) von Anfang an, was ich euch sage“ und erwägt als „Hintergrund unseres ,Ich-Bin-Wortes‘ und seiner Bestätigung durch den hier erörterten strittigen Satz … die Folge der V. 10 bis 12 von Jes 43“:

Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr wisst und mir glaubt und erkennt, dass ich‘s bin. Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der HERR, und außer mir ist kein Heiland. Ich hab‘s verkündigt und habe auch geholfen und hab‘s euch hören lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und ich bin Gott.

Ich gebe diesen Text hier in der Lutherübersetzung wieder; zu bedenken ist, dass das von Luther mit „Heiland“ wiedergegebene hebräische moschiaˁ bzw. griechische sōzōn angemessener mit „Retter“ oder „Befreier“ zu übersetzen ist.

Thyen verweist außerdem auf Burkett, <674> der darauf aufmerksam macht,

daß Jesus die Frage: „Wer bist du?“ nicht damit beantwortet, wer, sondern was er ist: „Er erklärt, dass er genau das ist, was er sagt“. Damit beziehe er sich wohl auf das ,Wort Gottes‘ (vgl. 12,48; 15,3; siehe das mögliche Spiel mit Am 8,11f zu 6,59), so daß er erkläre, eben das Wort Gottes zu sein, das er sage. Denn dieses Wort sagt er ja nicht nur, sondern er ist es leibhaftig. Burkett sieht in unserem strittigen Satz darum eine Korrespondenz zu Joh 1,1a, dessen en archē {im Anfang} dem tēn archēn {von Anfang an}, dessen ēn {war} dem egō eimi {ich bin}, und dessen ho logos {das Wort} dem ho ti kai lalō hymin {das, was ich euch sage} entspreche: „Auf die Formulierung ‚am Anfang‘ würde normalerweise ein Verb in der Vergangenheitsform folgen. Das Präsens des göttlichen Namens ‚Ich bin‘ im Kontext kann jedoch die normale Verwendung der Zeitform verändern, wie in 8,58: ,Bevor Abraham war, bin ich‘.“

Indem Jesus in Vers 25 also nicht einfach auf eine rhetorische Frage in sinnloser Polemik mit einer eben solchen Retourkutsche reagiert, sondern auf den Gottesnamen anspielt, wie ihn der zweite Jesaja verwendet, schließt Thyen zufolge an

den so verstandenen Satz … nun der folgende V. 26 sinnvoll an: ,Vieles habe ich über euch zu sagen und zu urteilen (krinein). Aber der mich gesandt hat, der ist wahrhaftig, und ich (emphatisches kagō) sage der Welt (nur), was ich bei ihm gehört habe‘. In den Zusammenhang des Jes 42f bestimmenden ,Rechtsstreites‘ JHWHs gehören auch die Stichworte des „Richtens“ und „Zeugens“.

Dabei will Thyen die Aussage Jesu über das, was er bei seinem Vater gehört hat (T429), keinesfalls darauf beziehen, was „weithin als ausgemacht gilt“, seit Wilhelm Bousset <675>

im Blick auf Joh 1,18; 3,11.32; 7,16; 8,26.28.38.47; 12,49; 14,10 erklärt hat: „Der Sohn verkündet, was er in der Ewigkeit beim Vater gehört (geschaut) hat“…, … {nämlich} daß in all diesen Fällen der mythische Gedanke im Spiel sei, Jesus rede hier von dem, was er vor seiner lnkarnation als präexistenter Logos bei Gott ,gesehen‘ und ,gehört‘ habe.

Vielmehrt folgt Thyen W. H. Cadman, <676> demzufolge Johannes (T430)

[allein in Weg, Wort und Geschick des jüdischen Mannes Jesus … Johannes den Himmel geöffnet [sieht]. Wohl ist Jesus nach Joh 1,18 der ,Exeget des Vaters‘, aber seineın Wort entsprechend: ,Wer mich sieht, der sieht den Vater‘ (14,9), erfolgt sein exēgeisthai {Auslegen} des Vaters dadurch, daß er sich selbst auslegt. Und da sich nach Cadmans kaum zu bestreitender Einsicht, alle Aussagen Jesu auf seine irdische Person und Aktivität beziehen, gewinnt Jesus sein Selbstverständnis nach Johannes nicht aus irgendeinem präinkarnatorischen Wissen über Gott, die Welt und sich selbst, sondern ebenfalls allein aus der Anschauung seines eigenen irdischen Daseins, das er als seine ,Sendung‘ begreift.

Nicht verwunderlich ist nach Thyen, dass nach Vers 27 Jesu Gegner nicht begreifen, „daß er vom Vater zu ihnen gesprochen hatte“, da sie nämlich „den absoluten Sinn dieses egō eimi mißverstehen und ein Prädikat vermissen, wenn sie fragen: ‚Wer bist du?‘“. Kann es aber sein, dass Jesus, wie Thyen annimmt, in den folgenden Versen 28-29 „dieses Defizit nun beheben“, also seine jüdische Gegner davon überzeugen will, dass er tatsächlich eins ist mit dem Gott Israels? Jesus sagt ihnen (T430):

„Wenn ihr den Sohn des Menschen erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen: ICH BIN, und daß ich nichts von mir selbst her tue, sondern nur sage, was mich der Vater gelehrt hat. Und der mich gesandt hat, der ist mit mir. Und er läßt mich nicht allein, denn ich tue allezeit, was ihm wohlgefällig ist“.

Auf Thyens wiederholten Versuch (T431), die Vorstellung vom Sohn des Menschen statt von Daniel 7 von Sprüche 30,1-4 her zu begreifen, mag ich nicht eingehen, gestehe ihm aber zu, dass in 8,28 „absichtsvoll mit Jes 52,6“ und schließlich auch 53,13 gespielt werden mag.

Inhaltlich versteht Thyen (T432) vom Vers 30 her, der „als positiven Erfolg des Redens Jesu erklärt, daß daraufhin ‚viele an ihn glaubten‘“, den Vers 28

nicht als Gerichtsdrohung, sondern als positive Verheißung … Von diesen „Vielen“ muß man aber die pepisteukotes {die geglaubt hatten} der durch V. 31 eröffneten neuen Rede Jesu unterscheiden (s.u. z. St.). Für dieses heilvolle Verständnis von tote gnōsesthe hoti egō eimi {dann werdet ihr erkennen} spricht auch der durchgehend positive Gebrauch des Lexems ginōskein {wissen, erkennen} und dessen häufige und enge Konnotation mit pisteuein {glauben, vertrauen} bei Johannes; vgl. … V. 27f; 6,69 …

Bestätigt wird „dieses Verständnis von V. 28 dadurch“, dass der Vers „auf der Ebene der evangelischen Erzählung vorausweist auf die Szene mit dem Lanzenstich in die Seite des Gekreuzigten (19,31-37)“. Dort wird „als die dadurch ‚erfüllte Schrift‘ … Sach 12,10“ zitiert:

„Sie werden schauen auf den, den sie durchbohrt haben“. … Dieses Zitat und unser V. 28 „haben insofern die gleiche Struktur, als beidemal das Subjekt diejenigen sind, die Jesus zu Tode gebracht haben, und insofern, als beidemal ihr Blick auf Jesus gerichtet wird.

Keinen Grund sieht Thyen jedenfalls dafür (T425), den in Vers 30 durch die Rede Jesu veranlassten Glauben vieler Juden „anders zu verstehen als die Reaktion seiner Jünger auf die archē {den Anfang} seiner Zeichen“ in 2,11, zumal „ja auch der definitive Beschluß der Hohenpriester und der Pharisäer, Jesus zu töten, in 11,47ff den Glauben vieler Juden an ihn voraus[setzt]“.

Ton Veerkamp <677> meint zur ersten Hälfte von Vers 25: „Sie haben die Botschaft verstanden, aber sie fragen ihn: ‚Wer bist denn du?‘“ Hier bin ich mir nicht ganz sicher, ob es nicht heißen müsste: „Sie haben die Botschaft nicht verstanden“. Oder deutet Veerkamp diese Frage bereits von Vers 30 her als beginnende Einsicht?

Die Antwort Jesu (Vers 25b) deutet Veerkamp, indem er auf die inhaltliche Bedeutung des Wortes archē im Sinne eines grundlegenden Prinzips verweist. Und er knüpft an den prinzipiellen Gegensatz an, den er im vorigen Vers wahrgenommen hat, der zwischen der römischen Weltordnung und dem Gott Israels besteht:

Die Antwort: „Zunächst, um zu beginnen, das, was ich zu euch rede.“ Am Anfang (archē, tēn archēn) muss schonungslose Klarheit hergestellt werden. Der Widerspruch besteht zwischen dem, was in Israel Gott genannt wird, dem NAMEN – oder, mit Johannes, dem VATER – auf der einen Seite, Rom auf anderen Seite. Hic Rhodus, hic salta {hier ist Rhodos, hier springe = zeig hier, was du kannst!}. Man könnte noch viel sagen und be-, verurteilen, aber hier geht es ums Prinzip, um die archē.

Genau das, was Jesus „hier über den antagonistischen Widerspruch sagt“, begreifen seine Gesprächspartner jedoch nicht. Kann es aber sein, dass seine Kreuzigung ihnen die Augen dafür öffnen wird? In Vers 28 scheint Jesus genau das vorauszusagen:

Deswegen wird Jeschua das mit seinem Tod zeigen müssen: Wenn der Mensch, bar enosch, in die Hände Roms gerät, muss er am römischen Kreuz enden. Das Kreuz ist das Ende aller politischen Illusionen und so – und nur so! – erlöst es. Wenn sie ihn so „erhöht“ sehen werden, dann werden sie „erkennen, dass ICH ES BIN“. … Hier hören wir zum zweiten Mal das egō eimi absolut. Die jetzt aktuelle Gestalt des ICH WERDE DASEIN, des NAMENS, ist diese und keine andere Erhöhung des Messias.

Wir wissen natürlich: Die hier ausgedrückte Voraussage Jesu hat sich nicht erfüllt. Sein Tod am Kreuz hat seine Gegner nicht zur Erkenntnis geführt, dass er den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert. Im Gegenteil:

Tatsächlich war das Kreuz für seine Gegner gerade das schlagende Argument gegen seine Messianität, ein Messias verliere nicht, nie!

Und auch für uns, insofern wir als Christen auf Jesus vertrauen wollen, ist der Kreuzestod dieses Messias eine gewaltige Herausforderung: „Was daran erlösend sein soll, müssen wir uns immer wieder fragen“.

Zu Vers 29 weist Ton Veerkamp schließlich noch auf den biblischen Zusammenhang hin, von dem her der Satz: hoti egō ta aresta autō poiō pantote {wörtlich: dass ich das ihm Wohlgefällige tue allezeit}, verstanden werden muss. Veerkamp zufolge ist es letzten Endes dieser Zusammenhang, der viele in der jüdischen Volksmenge dazu veranlasst, auf Jesus zu vertrauen:

Was Jeschua tut und sagt ist nichts anderes als das, wofür der NAME, der VATER, steht. Er verfolgt keine eigenen politischen Programme, sein Programm ist der Gott Israels – nichts als nur das. Er, Jeschua, ist mit Gott, und sein Gott ist mit ihm. Jeschua sagt das mit jenem biblischen Satz, der nur für ganz wenige Könige in Israels Geschichte gilt: Sie taten „das Gerade (jaschar) in den Augen des NAMENS“. Jeschua stellt sich in die Reihe der Geraden Israels. Das war überzeugend, erzählt Johannes: „Als er dies redete, vertrauten ihm viele.“

Johannes 8,31-36: Befreiende Wahrheit oder versklavende Verirrung für Kinder Abrahams

8,31 Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten:
Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort,
so seid ihr wahrhaftig meine Jünger
8,32 und werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen.
8,33 Da antworteten sie ihm:
Wir sind Abrahams Nachkommen
und sind niemals jemandes Knecht gewesen.
Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden?
8,34 Jesus antwortete ihnen und sprach:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.
8,35 Der Knecht aber bleibt nicht ewig im Haus;
der Sohn bleibt ewig.
8,36 Wenn euch nun der Sohn frei macht,
so seid ihr wirklich frei.

[26. Juli 2022] Mit Vers 31 beginnt nach Klaus Wengst (W272) ein neuer Abschnitt, der bis auf den letzten Vers 59 „eine einzige, durch keine situationsschildernde oder kommentierende Bemerkung unterbrochene Wechselrede zwischen Jesus und ‚den Juden‘“ darstellt:

Letztere werden zu Beginn als zum Glauben Gekommene charakterisiert. Davon ist aber alsbald nichts mehr zu spüren. Die Wechselbeziehung setzt sich auch am Ende fort, allerdings nicht mehr im Wort, sondern in handgreiflicher Tat: „Die Juden“ heben Steine auf und wollen Jesus damit bewerfen. Er aber verbirgt sich und verlässt den Tempel. Der Schluss dokumentiert damit eindrücklich das endgültige Scheitern eines Gesprachs, das an keiner Stelle ein wirkliches Gespräch war.

In Vers 31 kann nach Wengst allerdings (W273)

das hier gebrauchte Partizip Perfekt (pepisteukótas {zum Glauben Gekommene oder geglaubt Habende}) die Bedeutung des Plusquamperfekts haben und solche bezeichnen, die an Jesus geglaubt hatten, aber jetzt nicht mehr an ihn glauben. Dann wären nicht die in V. 30 genannten zum Glauben Gekommenen im Blick, sondern ganz andere, nämlich Apostaten {vom Glauben Abgefallene}.

Das ist nach Wengst zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Denn wenn in Vers 30 in der griechischen Verbform des Aorist

mitgeteilt wird, dass Menschen „zum Glauben kommen“ bzw. „Vertrauen gewinnen“ und unmittelbar anschließend dasselbe Verb im Perfekt als Partizipialobjekt steht, müssen das einen solchen Text Lesende und Hörende so verstehen, dass von den vorher zum Glauben Gekommenen nun als Glaubenden die Rede ist. Wären mit der Perfektform ganz andere gemeint, müsste das durch eine ergänzende Angabe kenntlich gemacht werden.

Außerdem weist Wengst darauf hin, dass nirgends, wo „im Neuen Testament sonst das Partizip Perfekt von pisteúein (‚glauben‘) gebraucht wird (Apg 15,5; 16,34; 18,27; 19,18; 21,20.25; Tit 3,8)“, es „die Bedeutung des Plusquamperfekts“ hat.

Wengst nimmt also an, dass die eben zum Glauben Gekommenen gleich wieder vom Glauben abfallen, zumal schon die „Glaubensaussage von V. 30 … vom vorangehenden Kontext her überhaupt nicht motiviert“ war, „die Gesprächspartner alsbald wieder ‚die Juden‘ sind“ und der „Gesprächscharakter … in 8,12-30 von dem in 8,31-59 nicht unterschieden“ ist. Dass „ehemalige Gruppenmitglieder sich zur Kompensation ihres einstigen ‚Irrtums‘ bei der Bekämpfung der Ketzerei besonders“ hervortun, kann nach Wengst die „extreme Schärfe des Abschnitts 8,31-59“ erklären, aber es „macht die hier geführte Argumentation mit ihren Urteilen nicht zu einer unschuldigen“.

Gegen Wengst ist jedoch einzuwenden, dass auch an anderen Stellen im Johannesevangelium abrupte Wechsel der Gesprächspartner Jesu vorkommen, die aus dem Zusammenhang erschlossen werden müssen. Kaum verständlich wäre es, Leute, die eben erst zum Glauben gekommen sind, schon in den nächsten Versen als Abtrünnige zu verteufeln, zumal dann, wenn die zum Vertrauen Gekommenen gar nicht die eben angeredeten führenden Juden bzw. Pharisäer sind, sondern nicht näher Genannte aus der Volksmenge. Ist es nicht denkbar, dass Jesus das neu gewonnene Vertrauen Vieler aus der Volksmenge zum Anlass nimmt, sich nun noch einmal besonders an die zu wenden, die ihm ja auch einmal vertraut, aber sich, wie am Ende von Kapitel 6 berichtet, von ihm abgewendet hatten?

Jesu Eröffnung des neuen Gesprächsgangs in Vers 31 mit den Worten: „Wenn ihr bei meinem Wort bleibt, seid ihr in Wahrheit meine Schüler“, erinnert Wengst zufolge an die erste „Schülergeschichte des Evangeliums in 1,35-39“, denn auch dort „‚blieben‘ die ersten beiden Schüler bei Jesus“. Was Jesus jetzt sagt, ist außerdem durch die „nachösterliche Situation“ geprägt,

wenn nun vom Bleiben beim Wort Jesu die Rede ist. In seinem Wort ist er präsent. So bleibt bei ihm, wer sein Wort, wie es im Evangelium überliefert ist, liest und hört, es bedenkt und sich daran hält. So erweist sich wahre Schülerschaft Jesu nicht zuletzt in einer nicht abbrechenden Lektüre des Evangeliums, die in ihm die verbindliche Stimme Jesu zu hören sucht.

Allerdings ist das Evangelium nach Wengst nicht etwa für eine „isolierte Privatlektüre geschrieben worden“, vielmehr bildete es einen „Lesetext in der versammelten Gemelnde. Nur weil es auch so gebraucht wurde, ist es uns überhaupt erhalten.“

Und indem (W274) die „Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler Jesu“ beharrlich zusammen und bei der Sache bleibt, „in der Solidarität der Bedrängten“, ist sie nach Vers 32 dazu in der Lage, die Wahrheit zu erkennen, die frei machen wird:

Die Wahrheit, dass Gott den Weg Jesu bis in die tiefste Erniedrigung am Kreuz mitgeht, diese Wahrheit, die sich im Wort Jesu zusagt und sich im Bleiben bei ihm als tragfähig erweisen wird, macht in der Tat frei von der Kumpanei mit der starken Welt, der Recht und Gerechtigkeit gleichgültig sind und die auch über Leichen geht. Das ist die spezifische Sünde, die Johannes hier, wie der weitere Text zeigt, vor allem im Blick hat. Von ihr wird frei, wer im Bleiben beim Wort Jesu auf den in ihm sich zusagenden Gott setzt. Die Zusage der Befreiung gilt nicht im Blick allein auf diese spezifische Sünde, da Jesus ja schon in 1,29 als „Lamm Gottes“ bezeugt wurde, „das die Sünde der Welt trägt“.

Interessant ist, dass Wengst hier Jesu „Zusage der Befreiung“ auf verschiedene Arten der Sünde bezieht, von denen eine spezifische mit gesellschaftlicher Unterdrückung zu tun hat, während er die andere offenbar als die allgemeine Sündenlast aller Menschen versteht, die von Jesus als dem „Lamm Gottes“ getragen wird. Außer Betracht bleibt bei ihm damit die Möglichkeit, dass Johannes mit der „Sünde der Welt“ genau die gesellschaftliche Grundverfehlung des weltweit herrschenden Systems der Pax Romana meint, die der Messias Jesus als die Verkörperung des befreienden NAMENS tragen und überwinden wird.

Die verwunderte Rückfrage der von Jesus Angesprochenen in Vers 33: „Nachkommenschaft Abrahams sind wir und waren niemandem jemals versklavt. Wieso sagst du: ,Ihr werdet frei werden‘?“ ist nach Wengst sehr verständlich, da sie

aus ihrer eigenen Geschichte und Tradition Erfahrungen der Befreiung und die Zusage und Verheißung von Befreiung kennen. Wenn Johannes sie allein an Jesus bindet, abstrahiert er dann nicht von der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die mit der Erwählung Abrahams begann? Hier stellt sich in der Tat ein Grundproblem. Es ist eine Aporie der messianischen Verkündigung gegenüber dem Judentum, das fragt, was ihm denn dieser Messias Jesus ohne messianisches Reich bringe, was ihm nicht auch ohne ihn verkündigt und zugesagt ist.

Was Wengst hier dreifach als „Grundproblem“, „Aporie“ und „uneingestandene Verlegenheit“ bezeichnet, spiegelt sich ihm zufolge (Anm. 678)

auch in der inhaltsleeren Behauptung Barths <678> wider, die er als Quintessenz von V. 34 gibt: „Auch Abrahams Geschlecht ist nur frei, indem es durch den Sohn frei gemacht wird. Will es sich durch ihn nicht frei machen lassen, so ist es eben auch nicht frei“.

Wäre die Konsequenz, die aus dieser Verlegenheit zu ziehen wäre, nicht das Eingeständnis, dass dem johanneischen Jesus gegen das rabbinische Judentum eben nicht Recht zu geben ist? Vielleicht besteht aber auch bei Wengst wie bei Barth ein grundlegendes Missverständnis dessen, worauf Johannes hinaus will: Wenn Jesus unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter die Weltordnung zwar gegen messianische Abenteuer auftritt, die nur in die Katastrophe führen, aber durch seinen Tod am römischen Kreuz dennoch Roms Todesmacht überwindet, so dass mit dem Anbruch der kommenden Weltzeit die messianische Hochzeit gefeiert werden kann, dann abstrahiert Johannes nicht von Abraham, sondern er knüpft an ihn an und sieht Abrahams Freude in Jesu Sieg über die Weltordnung begründet.

Wengst beschränkt sich im Grunde weiter darauf (W275), die in seinen Augen unerträglich exklusiven Aussagen des Johannes neben die dadurch nicht überholten Aussagen der jüdischen Tradition zu stellen. So betont er mit Recht, dass Israel frei ist, weil mit Abraham „das Mitgehen Gottes mit seinem Volk“ beginnt,

das er den Vätern und Müttern bewährt, das er durch Mose dem in Ägypten versklavten Volk neu zusagen lässt (Ex 3,14) und mit dem er sich als Befreier aus Ägypten erweist. Er geht mit ins verheißene Land (Dtn 31,3.6-8) und er geht auch mit in jedes Exil.

Die Antwort Jesu in Vers 34: „Alle, die die Sünde tun, sind Sklaven der Sünde“, ist Wengst zufolge

im Rahmen der jüdischen Tradition kein wirklicher Einwand. Auch nach ihr müssen sich die Kinder Abrahams in einem Tun bewähren, das dem seinen entspricht. Auch nach ihr gilt, dass der Sünde immer mehr verfällt, wer sich auf sie einlässt. Aber es gibt auch die Möglichkeit der Umkehr und es gibt Vergebung.

Nun weist nach Wengst der „Fortgang der Rede Jesu … allerdings darauf hin, dass ‚Sünde‘ hier in einem spezifischen Sinn verstanden ist“, nämlich mit der Verweigerung des Glaubens an Jesus gleichgesetzt wird:

Wenn Jesus zum alles entscheidenden Kriterium auch gegenüber Juden gemacht wird, dann können sie – erkennen sie dieses Kriterium nicht an – sonst sagen und tun, was sie wollen, das Urteil wird immer dasselbe sein, dass nämlich keine „echte Treue“ vorliege. Aufgrund dieser Exklusivität waltet eine geradezu zwanghafte Logik, die nur noch ein antithetisches Gegenüber zulässt und sehr schnell zur Verteufelung der anderen Seite führen wird. Diese Logik ist in ihrem Ansatz zu durchschauen und in Frage zu stellen; sie darf nicht mehr nachgesprochen werden.

Die Frage ist dann allerdings, ob mit diesem Kerngedanken des Johannesevangeliums dann nicht doch auch – trotz Wengsts gegenteiliger Bemühungen – das ganze Evangelium als antijüdisch be- und verurteilt werden müsste. Die einzige Alternative, die ich sehe, ist die von Veerkamp vertretene Annahme, dass Johannes als Jude scharfe innerjüdische Kritik an rabbinischen Juden übt, die das Vertrauen auf den Messias Jesus verweigern und damit dem bestehenden römischen System der Versklavung in die Hände spielen. Das ist nicht antijüdisch, kann aber sowohl inhaltlich als auch im Blick auf die Wahl der argumentativen Mittel ebenfalls kritikwürdig sein.

Was Jesus in Vers 35 als „Allgemeinsatz“ über den „gerade genannten Begriff des Sklaven“ formuliert: „Der Sklave aber bleibt nicht auf immer im Haus; der Sohn bleibt auf immer“, bezieht sich nach Wengst einerseits „auf die vom Abfall gekennzeichnete Situation“. Wer nicht bei Jesus bleibt, ist „ein Sklave der Sünde“, wobei als „Sünde … dann in erster Linie die Apostasie“ gilt. „Wer bleibt, erweist sich als ‚Sohn‘, als zugehörig. Zugleich aber ist mit der Formulierung ‚der Sohn‘ – wie gleich deutlich wird – Jesus im Blick. Der Sohn, der im Haus bleibt, ist der Erbe; ihm kommt souveräne Freiheit zu.“

Auch den folgenden Vers 36 interpretiert Wengst zunächst allein aus der besonderen Situation des Glaubensabfalls in der johanneischen Gemeinde:

Als derjenige, der in das Herrenrecht eintritt, kann „der Sohn“ seinerseits frei machen. „Wenn also der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein.“ Nach dem vorangehenden Kontext geht es um Befreiung von der Sünde. Als die besondere Sünde war die Apostasie im Blick. Sie bedeutet in der Situation und Perspektive des Johannes den Überschritt aus erlittener Ohnmacht in eine Position relativer Macht. Demgegenüber hieße Befreiung durch den Sohn, in der Ohnmachtssituation auszuhalten, in ihr und nicht jenseits ihrer Stärke zu gewinnen im Vertrauen auf den im gekreuzigten Jesus präsenten Gott. So gelesen, ist diese Aussage Zuspruch an die bedrängte Gemeinde.

Da diese innergemeindlich tröstende Aussage im Text des Evangeliums „sich aber als Anrede an diejenigen“ gibt, „die wenig später wieder als ‚die Juden‘ erscheinen“, gerät Johannes in eine Argumentation hinein, die sich in Wengsts Augen im Kreise dreht. Diesen „Juden“ nämlich

wird hiermit implizit gesagt, dass sie nicht „wirklich frei“ seien, weil sie sich nicht vom Sohn frei machen lassen. Dabei ist die Argumentation zirkulär. Von der Exklusivität des Anspruchs Jesu her ergibt sich als entscheidende Sünde, nicht auf Jesus zu vertrauen. Von dieser Sünde macht er diejenigen frei, die auf ihn ihr Vertrauen setzen. Dass diese Argumentation aus der Sicht der jüdischen Mehrheit seltsam erscheinen muss, liegt auf der Hand. Es scheint, dass ihr Johannes in der Weiterführung der Rede Jesu durch den folgenden Gedanken mehr Evidenz geben möchte. Aber er begibt sich damit auf eine schiefe Ebene, die ihn in zutiefst fragwürdige Folgerungen abgleiten lässt.

Nach Hartwig Thyen (T433) stellt die „neue und fraglos die polemischste Debatte Jesu mit seinen jüdischen Antagonisten in unserem Evangelium“ in der „langen Passage 8,31-59“ eindeutig eine Auseinandersetzung mit „Apostaten“ dar (T436), „wie solche denn ja häufig zu den schärfsten Bestreitern dessen werden, was ihnen zuvor als unverbrüchliche Wahrheit erschienen war.“ Aus seiner ausführlichen Begründung dafür, „daß die pepisteukotes autō Ioudaioi“ {die an ihn geglaubt habenden Juden}, nicht diejenigen sein können, die eben zum Glauben an Jesus gekommen sind, sondern ehemalige Schüler, „die einst an Jesus geglaubt hatten, ihn jetzt aber zu töten trachten“, greife ich nur wenige Argumente heraus.

Erstens (T434) hat „die V. 30 beschließende Wendung pisteuein eis auton {an ihn glauben} bei Johannes nirgendwo eine negative Färbung…, als könne es sich hier um irgendeinen nur ,halben‘ oder sonstwie defizitären Glauben handeln“.

Da zweitens (T435) „die in 8,31 genannten hoi pepisteukotes autō Ioudaioi Jesus aber von Anfang an feindlich begegnen und ihn zu töten trachten, ist es ausgeschlossen, die Wendung im präsentischen Sinn der indikativischen Perfektformen zu verstehen“, vielmehr muss man sie in einem „plusqamperfektischen Sinn“ begreifen. Vielleicht sind es die vielen seiner Schüler, „die Jesus wegen der unzumutbaren ‚Härte‘ seines logos verlassen und ihm die ,Nachfolge‘ aufgekündigt hatten (6,60-66)“. Darin mag sich auch nach Thyen (T436)

die schmerzliche Erfahrung der Abwendung zahlreicher jüdischer Christen vom messianischen Bekenntnis zu Jesus spiegeln, die nach der Katastrophe des jüdischen Aufstandes gegen Rom und dem damit verbundenen Debakel des Messianismus ihre Zuflucht in dem relativ geschützten Raum der Synagoge gesucht haben.

Indem Jesus solchen Apostaten „und allen potentiellen ,Anschlußtätern‘“ Jesus nun sagt: „Nur wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr in Wahrheit meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“, und

diesen Satz von der befreienden ‚Wahrheit‘ seines Wortes in V 36 dann durch die Erklärung variiert: ean oun ho hyios hymas eleutherōsē, ontōs eleutheroi esesthe („Allein wenn euch der ,Sohn‘ frei macht, seid ihr wirklich Freie“), so wird ja deutlich, daß das Lexem alētheia {Wahrheit} hier, ebenso wie in Joh 14,6, als ein Prädikat dessen verstanden werden muß, der zuvor in den V. 24 u. 28 zweimal das absolute egō eimi {ICH BIN} ausgesprochen hatte. Denn weil Jesus dieses Wort nicht nur sagt, als sei es die von einem Lehrer ablösbare Lehre, sondern weil er in Person der fleischgewordene logos ist, wird es dem „Bleiben in meinem Wort“ entsprechend in 15,4 heißen: meinate en emoi, kagō en hymin {bleibt in mir, wie ich in euch} (s.u. z. St.).

Bemerkenswert ist nun, dass Thyen „die biblisch-jüdische Rede von Gottes ,Wahrheit‘ (ˀemeth – LXX: alētheia)“ als den „feste[n] Grund“ betrachtet, „in dem auch das johanneische Sprechen von der ,Wahrheit‘ wurzelt, und nicht der hellenistisch-gnostische Dualismus von wahrer göttlicher Wirklichkeit im Gegensatz zum bloßem Schein und pseudos {Lüge} aller bloßen eidōla {Bilder, Idole} des Irdischen“, wie das andere Exegeten tun. B. C. Lategan <679> weist außerdem (T436f.)

zu Recht darauf hin, daß auch die enge Konnotation von alētheia {Wahrheit} und ginōskō {wissen, erkennen} in unserem V. 8,32…, ebenfalls aus dem biblischen Zusammenhang von ˀemeth {Treue} und jadaˁ {(an)erkennen} begriffen sein will. Mit dem Erweis der biblischen Wurzeln des egō-eimi-Sagens Jesu, sowie des semantischen Feldes von alētheia und ginōskō bei Johannes ist aber zugleich gegeben, daß für dessen Rede vom „Erkennen der Wahrheit“ die primär ethischen Momente der ,Wahrhaftigkeit‘, ‚Wahrheit‘, ,Treue‘ und ,Verläßlichkeit‘, sowie des Erkennens als eines vertrauensvollen ,An-Erkennens‘ konstitutiv sind.

Hier macht Thyen sehr viel deutlicher als an anderen Stellen, dass der johanneische Begriff der alētheia auf jeden Fall vom biblischen Begriff der „Treue“ und „Verlässlichkeit“ des Gottes Israels her ausgelegt werden muss.

Damit wendet sich Thyen auch dagegen (T437), Jesu mit einen Prädikat versehene egō-eimi-Worte, wie etwa der Satz: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (14,6), seien „als sogenannte ‚Rekognitionsformeln‘ (Bultmann)“ zu begreifen, „deren egō nicht Subjekt, sondern Prädikatsnomen wäre“, und damit „polemisch gegen irgendwelche konkurrierenden Ansprüche anderer gerichtet, wie das oft behauptet wird“. Denn dann hätte Jesus seines Erachtens „damit ja aufgehört, selbst Subjekt und Inhalt der ,Wahrheit‘ zu sein, er hätte sich vielmehr einem vorgegebenen ,Begriff von Wahrheit‘ unterworfen, an dem sein Anspruch dann zu messen wäre“.

Mittlerweile kann ich dieser Argumentation folgen, wenn dabei Folgendes beachtet wird: Jesus ist weder als Objekt oder Prädikatsnomen einem außerhalb des NAMENS zu verortenden Wahrheitsbegriff unterworfen noch ist er in der Weise das Subjekt des egō eimi, dass er den von ihm repräsentierten Gott neu definiert. Vielmehr verkörpert er als der vom Gott Israels Gesandte die Treue des NAMENS, den Weg des NAMENS, das Licht des NAMENS usw.

Zu Vers 33 äußert sich Thyen ganz anders als Wengst. Der hatte ja die Aussage der Juden über ihre Freiheit auf Grund ihrer Abrahamskindschaft mit den durchaus auch politischen Befreiungserfahrungen und -verheißungen ihrer Tradition verbunden. Thyen dagegen meint, es verstehe sich „von selbst“, dass

die Juden hier – anders als jene, die Jesus auf Grund seiner wunderbaren Brotvermehrung gewaltsam (harpazein {rauben}) als ihren König salben wollten (6,14f) – mit ihrem Einwand nicht ihre politische Freiheit im Auge haben und gewiß weder ihr Sklavendasein in Ägypten noch ihre babylonische Gefangenschaft noch auch die Beschwernisse ihres gegenwärtigen Lebens unter der Herrschaft der Römer vergessen haben, sondern von ihrer religiösen Freiheit reden…

Dabei sieht er die Worte eleutheroun und eleutheros {befreien und Freiheit}, die bei Johannes nur „hier, in der kurzen Passage 8,32-36“, vorkommen, „kaum zufällig … eng mit der Rede von ,Abraham‘ als dem Vater der Juden verknüpft. Denn die Berufung auf Abraham als ‚unseren Vater‘ ist stereotyper Ausdruck jüdischer Erwählungsgewißheit“.

Dass in den Versen 34 und 35 „der Rede von der Freiheit der Kinder Abrahams nun noch der Gegensatz zwischen dem Bleiben des freien Sohnes im (Vater)haus und dem Nicht-Bleiben des Sklaven hinzugefügt wird“, erinnert Thyen zufolge (im Anschluss an verschiedene Autoren, die ich nicht aufzählen möchte) „an die Genesis-Erzählung von der Verstoßung der Sklavin Hagar und ihres Sohnes Ismael aus dem Hause Abrahams … (Gen 21,8-14), die auf seine Weise ja auch Paulus in Gal 4,21-31 verarbeitet hat.“ Dafür spricht insbesondere (T438), dass hier von „dem“ Knecht und „dem“ Sohn mit bestimmtem Artikel die Rede ist. Dabei wird hier die Vorstellung des ewig bleibenden Sohnes auf Jesus übertragen, „der nach V. 36 als der Freiheit verleihende ,Sohn‘ die unter die Sünde Versklavten befreien wird“.

Anders als Wengst und ähnlich wie Thyen nimmt auch Ton Veerkamp <680> in Vers 31 eine Änderung des Adressatenkreises wahr. Jetzt ist von Apostaten die Rede:

Die fast unerträgliche Vehemenz, mit der Jeschua auf diese neuen Gegner einschlug, kann nur aus dem Text selber erschlossen werden. Es geht um Judäer, „die ihm Vertrauen geschenkt hatten“ (pepisteukotus autō Ioudaious), dies jetzt aber nicht mehr tun. Das setzt ein Plusquamperfektum voraus. Eine Sekte kann von Abtrünnigen nur mit Hass reden.

Zwar sieht es Veerkamp als eine

zusätzliche Schwierigkeit…, dass im weiteren Verlauf (8,48) von Judäern ohne weiteren Zusatz die Rede ist. Es geht aber auch dort um jene ganz bestimmten Judäer, die „den Gang nicht länger mit Jeschua gingen“, 6,66. Das entschuldigt nicht jene grenzenlose Vehemenz, mit der Johannes über die „Renegaten“ – so hießen bei Kommunisten die Abtrünnigen – herzieht. Offenbar haben die enttäuschten Messianisten der Gruppe um Johannes vorgeworfen, sie gehöre gar nicht zu Israel, wahrscheinlich, sie seien Angehörige der Gojim {Völker, Heiden}. Er dreht den Spieß um. Für ihn waren sie „Kinder (Same) Abrahams“ und somit „Kinder des Volkes Israel“: Ihr, enttäuschte jehudische Messianisten, solltet euch fragen, ob ihr eigentlich noch „Kinder Abrahams“ seid. Um diese Frage geht es im folgenden.

Den Inhalt der neu einsetzenden Rede Jesu in den Versen 31 und 32 interpretiert Veerkamp von der politischen Bedeutung der Worte menein, „bleiben“, und alē­theia, „Wahrheit, Treue, Verlässlichkeit“ her:

Jeschua macht eine grundsätzliche Bemerkung, die er in seinen Abschiedsreden ständig wiederholen wird – vor allem in Kapitel 15 nach der traditionellen Zählung. Das Verb menein hat mit Standfestigkeit zu tun. Die politische Lage erfordert nach Johannes gerade jetzt – nach der Zerstörung Jerusalems – Standfestigkeit. Diese fehlt, wie wir bei der Besprechung vom Zerfall der messianischen Gemeinde (6,60ff.) sahen. Diese Standfestigkeit ist kein verbohrter Konservatismus, sondern beruht auf der Treue Gottes zu Israel. Das bedeutet das Wort alētheia. Diese Treue macht die Menschen frei.

Bis zu diesem Punkt könnte Jesus bzw. seine messianische Bewegung mit den rabbinischen Gegnern noch einig sein. Das hatten ja auch Wengst und Thyen herausgestellt: Jesu Gesprächspartner betonen, dass sie als Abrahamskinder bereits frei sind. Die Frage ist also, in welcher Weise hier Freiheit in neuer Weise verstanden wird:

Was ist Freiheit? In der Schrift steht das griechische Wort eleutheros für das hebräische chofschi oder chor. Letzteres übersetzt Buber mit Edler, gemeint ist eine Schicht, die frei von irgendwelchen Abgaben oder Arbeitsverpflichtungen ist. Chofschi ist der Zustand nach der Entlassung aus dem Sklavenzustand, also befreit von der Verpflichtung, dem Besitzer des Sklaven Dienste zu leisten, frei also im Gegensatz zu versklavt.

Hier wird gesagt: „Wenn ihr mit meinem Wort standfest bleibt, seid ihr wirklich meine Schüler, und ihr werdet die Treue erkennen und die Treue wird euch freimachen.“ Wenn Jeschua verlangt, dass die Freiheit nur durch die Konzentration auf das Wort Jeschuas gegeben wird, dann fassen sie das als Preisgabe ihrer judäischen Identität auf.

Genau wie Wengst breitet nun Veerkamp die Überzeugung des rabbinischen Judentums aus, durch die Beschäftigung mit der Tora Freiheit zu erlangen und zu bewahren:

In der Mischna werden die Menschen als freie oder adlige Menschen (bene-chorin) bezeichnet, die sich mit der Lehre der Tora (thalmud thora) beschäftigen (Mischna Avot 6,2). Die Beschäftigung mit der Tora macht die Menschen also frei. Obwohl das Mischnazitat aus dem sechsten Kapitel von Mischna Avot (qinjan thora) sehr viel jünger als Johannes ist, handelt es sich wohl um eine ursprüngliche und wesentliche Vorstellung des rabbinischen Judentums, dass die Tora frei macht: Sie sind als Judäer „Samen Abrahams“, als solche niemals Sklave (doulos, ˁeved) und deswegen der Befreiung nicht bedürftig. Ihre Identität ist Freiheit. Wozu sollte sie die Treue noch befreien? Es heißt in dieser Mischnastelle:

Es gibt für dich keinen Freien (ben-chorin)
es sei denn der, der sich um die Lehre der Tora (thalmud thora) bemüht.
Jeder, der sich um die Lehre der Tora bemüht,
erklimmt Höhe um Höhe, denn es heißt [Numeri 21,18b-19.]:
Von Mattana nach Nachaliel, von Nachaliel nach Bamot.

Wie gesagt, diese Stelle stammt aus sehr viel späterer Zeit. Die Bemühung um das thalmud thora war Johannes bekannt. Seine Gegner sagen: Wenn jemand sich um die ganze Tora bemüht und versucht, die Tora zu leben, kann er nie Sklave der Weltordnung sein.

Diese Überzeugung seiner rabbinischen Mitjuden kann Johannes jedoch nicht teilen, und zwar Veerkamp zufolge nicht aus religiösen, sondern politischen Gründen: „Johannes hält das bestenfalls für eine Illusion, eigentlich für ein böses und verbiestertes Festhalten an einer Tradition, die überholt ist.“ Warum? Weil unter römischen Bedingungen ein Leben nach den Vorschriften der Tora ebenso wenig möglich ist wie zu Moses Zeiten im Sklavenhaus Ägypten. Damals musste und konnte Mose das Volk Israel auf Grund der Treue Gottes bis dorthin bringen, wo das Land der Freiheit zum Greifen nahe war; heute muss und kann der Messias Jesus durch seinen Tod am Kreuz dem Römischen Imperium den Todesstoß versetzen, so dass das Leben der kommenden Weltzeit anbrechen kann. Wer aber dieses Vertrauen auf Jesus nicht aufbringt, sondern sich mit den herrschenden Umständen arrangiert, der wird, wie es in Vers 34 heißt, zu einem poiōn tēn hamartian, einem Täter dieser Sünde der Komplizenschaft mit Rom als dem Widersacher des befreienden Gottes Israels, und damit versklavt er sich selbst unter die versklavende Weltordnung:

Jeschua sagt: „Die Treue (nicht die Tora!) macht frei, die Verirrung (hamartia) versklavt.“ Die Kinder Israels waren „Samen Abrahams“ und dennoch waren sie Sklaven in Ägypten. Wer in Rom zwar nicht das Heil, aber doch einen Modus vivendi erblickt, irrt, er wird durch diese Verirrung zwangsläufig unfrei, er muss politische Rücksichten nehmen. „Sklave der Verirrung“ heißt im Endeffekt Sklave Roms.

Jeschua erläutert das mit einem Midrasch über Genesis 21,9-12. Sara verlangte von Abraham, den Sohn der Sklavin (paidiskē, ˀamah) wegzuschicken. Der Sohn Saras bleibt im Haus. Der Sohn der Sklavin, Ismael, ist Sklave und darf nicht im Haus des VATERS bleiben. An diesem Punkt weicht Jeschua von der Erzählung ab: der Sohn, der im Haus bleibt, wird die Sklaven freimachen und ihnen so einen Platz im Haus verschaffen.

Zur Problematik der Abrahamskindschaft in den messianischen Gemeinden fügt Veerkamp weitere Überlegungen hinzu:

Gesegnet soll der Samen Abrahams sein. Für die messianischen Gemeinden in der Diaspora, die aus Juden und Nichtjuden (Gojim) bestehen, ist das natürlich ein Problem. Samen Abrahams sind die Gojim nicht. Paulus rettete sich damit aus der Affäre, dass er den Samen Abraham als Singular auffasst, und dieser Singular, diese einzelne Person, ist der Messias (Galater 3,16). <681> Die Frage war: Wer gehört dazu, wer nicht? Das wurde auch in anderen messianischen Gemeinden diskutiert. Die von Matthäus und Lukas gemeinsam benutzte Quelle (Matthäus 3,9; Lukas 3,8) sagt: „Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken.“

Diese Ansicht ist problematisch. Indem die Messianisten sagen, die biologische Nachkommenschaft aus Abraham spielt keine Rolle mehr, es geht nur noch um das Vertrauen auf den Messias, ist es zur Enterbung des leiblichen Israels, das dem Messias Jeschua misstrauisch gegenüber steht, nur noch ein kleiner Schritt: Die Christen seien erwählt, die Juden verworfen. Geht Johannes diesen Schritt? Wir lassen die Frage zunächst stehen.

Veerkamp wird diese Frage schließlich so beantworten, dass nach Johannes zwar diejenigen Juden, die sich der Befreiung durch den Messias Jesus verweigern, mit der dem Untergang geweihten versklavenden Weltordnung untergehen werden, ähnlich wie die Propheten Israels und Judas ihrem Volk den Untergang angekündigten, wenn sie dem befreienden und Recht schaffenden NAMEN den Gehorsam verweigerten. Der Evangelist vertraut aber darauf, dass dennoch ein heiliger Rest aus ganz Israel einschließlich Samarias und der jüdischen Diaspora sich im Vertrauen auf Jesus in seiner messianischen Gemeinde versammelt, um nach der Überwindung der Todesmacht der römischen Weltordnung durch Jesu Kreuzestod den Anbruch der kommenden Weltzeit tätig zu erwarten. Die Perspektiven des Paulus und Lukas, die Juden auf dem Umweg über die Mission der Völker für Jesus zu gewinnen, oder des Matthäus, die Tora durch das Evangelium von Jesus zu den Völkern zu bringen, werden im Johannesevangelium nirgends ausdrücklich ausgesprochen. Zwar muss die Menschenwelt von der sie versklavenden Weltordnung befreit werden, das steht allerdings wie beim zweiten Jesaja im Dienst der Befreiung Israels. Zwar kommen einzelne Griechen in den Blick (12,20), die sich für Jesus interessieren, aber von ihnen ist mit äußerster Zurückhaltung die Rede, als ob Johannes befürchtet, was schon bald auch eintritt, dass sie der Befreiung Israels entgegenwirken werden, indem sie die entstehende Kirche dominieren und behaupten, das wahre Israel zu sein.

Johannes 8,37-40: Wer Jesus töten will, tut nicht die Werke Abrahams

8,37 Ich weiß wohl, dass ihr Abrahams Nachkommen seid;
aber ihr sucht mich zu töten,
denn mein Wort findet bei euch keinen Raum.
8,38 Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe;
und ihr tut, was ihr von eurem Vater gehört habt.
8,39 Sie antworteten und sprachen zu ihm:
Abraham ist unser Vater.
Spricht Jesus zu ihnen:
Wenn ihr Abrahams Kinder wärt,
so tätet ihr Abrahams Werke.
8,40 Nun aber sucht ihr mich zu töten,
einen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe,
die ich von Gott gehört habe.
Das hat Abraham nicht getan.

[28. Juli 2022] Klaus Wengst zufolge (W277) „gesteht Jesus seinen Gesprächspartnern“ in Vers 37 zwar formal die Abrahamskindschaft zu, aber mit „dem sofort folgenden Hinweis auf die unterstellte Absicht, ihn zu töten, behauptet er jedoch, dass sie faktisch nicht frei, sondern ‚Sklaven der Sünde‘ seien.“ Da es für diesen Vorwurf im gegebenen Zusammenhang keinen Anlass gibt, obwohl er allerdings „in der bisherigen Erzählung durch 5,18; 7,1.19.25 vorbereitet“ ist, sieht Wengst darin ein vorgeprägtes Motiv, einen „Topos“, der sich „für Johannes und seine Gemeinde“ von selbst verstand, zum einen weil in ihren Augen „führende Juden entscheidend daran beteiligt waren, was zur Hinrichtung Jesu führte“, und zum andern auf Grund der „eigene[n] Erfahrung der johanneischen Gruppe“:

Es fanden sich gerade auch in diesem Abschnitt Indizien, dass das Problem der Apostasie eine Rolle spielte; und Apostaten mögen leicht dazu neigen, ihren einstigen „Irrtum“ in Gestalt derjenigen zu bekämpfen, die ihm noch anhängen. Die Fixierung „der Juden“ auf die Tötungsabsicht gegenüber Jesus dürfte Rückprojektion aus der eigenen Situation sein, in der man sich von der umgebenden jüdischen Mehrheit bedrängt fühlt.

Interessant ist nun, „dass die in den Kapiteln 5, 7 und 8 ‚den Juden‘ unterstellte Tötungsabsicht“ nach Wengst gar nicht zu dem passt, „was Johannes in der Passionsgeschichte tatsächlich erzählt“. Dort sind es nämlich „konkret nur die Oberpriester“, denen Johannes „größere Schuld“ am Tod Jesu zuschreibt „als Pilatus (19,11)“. Dass „Repräsentanten der jüdischen Führung … aus Gründen politischer Opportunität Jesus als potentiellen Aufrührer dem römischen Präfekten in die Hände gespielt haben (vgl. Joh 11,47-50)“, ist sogar historisch wahrscheinlich. Erst „als man sich um Jesu willen im Gegensatz zur jüdischen Mehrheit findet“, wird die Erinnerung daran im Sinne einer allgemeinen Tötungsabsicht der Juden verallgemeinert. Bei Johannes erscheint es Wengst zufolge geradezu „als zwanghaft, wie er sie einführt und dann auf ihr beharrt. Da zudem unsere Erfahrung eine ganz andere ist, verbietet es sich in jedem Fall, diese Unterstellung nachzusprechen.“

Als warnendes Beispiel (Anm. 474), wohin „ein interpretierender Nachvollzug“ führen kann, verweist Wengst auf Bultmanns <682> Auslegung:

Nachdem er die Berufung der Juden auf die Abrahamskindschaft so gedeutet hat, dass sie diese damit zu einem „sicheren Besitz“ machen, womit „die zur bloßen Vergangenheit entstellte Geschichte zur zukunftraubenden, d. h. lebenraubenden Macht (wird)“, fährt er unmittelbar anschließend fort: „[…] ihr Woher ist das des Todes; ihr Vater ist, wie V. 38 andeutend sagen wird, der Teufel. Und so ist ihre Mordabsicht nur das ihrem Selbstverständnis entsprechende Verhalten“. Eine Seite weiter spricht er zweimal vom „Mordwillen der Juden“. Auch hier ist auf das Erscheinungsjahr dieses Kommentars hinzuweisen: 1941. Sein Autor war alles andere als ein „Deutscher Christ“ und natürlich sind für ihn „die Juden“ durchgängig „die Repräsentanten der Gott feindlichen Welt“. Aber angesichts der zitierten Formulierungen scheint es mir offensichtlich zu sein, dass eine solche Hermeneutik nicht ausreicht.

In der Begründung für die Tötungsabsicht der Juden (W277): „weil mein Wort bei euch nicht durchdringt“, zeigt sich nach Wengst einmal mehr (W278), „dass das Problem der Apostasie den unmittelbaren Hintergrund bildet“. Wenn aber der „Tatbestand, dass das Wort Jesu bei ‚den Juden‘ nicht ‚ankommt‘, … ihre Absicht“ begründet, „ihn zu töten“, dann muss diese „Logik … zur Verteufelung der Gegenseite“ führen:

Und in der brisanten Form von „den Juden“ als „Ungläubigen“ und „Gottesmördern“ hat sie in der Geschichte der stark gewordenen Kirche immer wieder für Juden tödliche Folgen gehabt.

Diese „zur Verteufelung führende Logik“ tritt in Vers 38 schon deutlich hervor. Jesus betont erneut: „Was ich beim Vater gesehen habe, rede ich“, über seine Gesprächpartner sagt er: „Auch ihr tut nun, was ihr vom Vater gehört habt.“

Wenn aber jeweils das gesagt und getan wird, was beim Vater gesehen oder gehört wurde, das Reden Jesu und das Tun seiner Gesprächspartner jedoch gerade nicht einander entsprechen, dann wird von solchen Prämissen die Behauptung einer unterschiedlichen Vaterschaft erzwungen. So steuert das Folgende konsequent auf die Teufelskindschaft „der Juden“ zu. Die entscheidende Prämisse ist dabei die Fixierung des Gegenübers Jesu auf die Absicht, ihn zu töten. Diese Prämisse ist entschieden in Frage zu stellen.

Nachdem Jesu Gesprächspartner in Vers 39 „der impliziten Bestreitung ihrer Abrahamskindschaft“ widersprochen haben, indem sie betonen: „Unser Vater ist Abraham“, wendet Jesu ein, dass dem auch „die Taten Abrahams“ entsprechen müssten, womit die rabbinische Tradition grundsätzlich auch übereinstimmt. Aber in Vers 40 unterstellt Jesus seinen Gesprächspartnern, diesem Kriterium nicht zu entsprechen: „Jetzt aber sucht ihr mich zu töten – einen Menschen, der ich zu euch die Wahrheit geredet, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan.“ Dieser bereits in Vers 37 erhobene Vorwurf (W278f.) ist allerdings „hier genauso unmotiviert wie dort. Denn die Gesprächspartner Jesu haben in der Zwischenzeit nichts anderes getan, als Abraham ihren Vater zu nennen.“ Nach Wengst erfährt und deutet die johanneische Gemeinde ihre späteren Auseinandersetzungen mit jüdischen Gegnern offenbar in dem Sinne, „dass Jesus, ‚der die Wahrheit geredet hat‘, in ihrer Gegenwart mundtot gemacht werden soll.“

Auch Hartwig Thyen (T439) betont zu Vers 38, dass in beiden Satzhälften absichtsvoll „nur von ‚dem Vater‘ (tō patri bzw. tou patros) die Rede“ ist, um nicht „zu früh die Identität des jeweiligen Vaters“ zu enthüllen, so dass Jesu Gegner das Gesagte erst einmal missverstehen müssen:

Nur das nicht durch das Possessivum definierte tō patri ermöglicht es den Antagonisten Jesu ja, nun zu erklären: „Unser Vater ist (doch) Abraham!“ Worauf Jesus dann erwidern kann: „Wenn ihr (wirklich) Abrahams Kinder wäret, dann tätet ihr auch Abrahams Werke. Dagegen sucht ihr jetzt aber, mich zu töten, einen Menschen, der ich euch (doch nur) die Wahrheit gesagt habe, die ich bei Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. Ihr tut die Werke eures Vaters“.

Dazu hebt Thyen besonders hervor:

Anders als bei Paulus ist hier nicht vom Glauben, sondern von den Werken Abrahams und davon die Rede, daß einer tut, was sein Vater tat, denn der Glaube und die im Liebesgebot gipfelnde Ethik sind bei Johannes untrennbar miteinander verbunden.

Im Hintergrund des in Vers 37 und 40 erhobenen Vorwurfs, Jesus töten zu wollen, sieht Thyen jüdische Auslegungen der Bibelstelle 1. Mose 21,9-10, auf die bereits die Verse 34-36 angespielt hatten. An sich wird dort „nur erzählt, daß Sarah den Sohn Hagars, der Ägypterin, mit ihrem Sohn Isaak ,spielen‘ sah (paizonta – HT {Hebräischer Text}: mɘzacheq)“; die Lutherbibel übersetzt: „dass er lachte“, was auch eine mögliche Bedeutung des hebräischen Wortes zachaq ist. Es gibt aber „Targume {Bibelübertragungen ins Aramäische} und Midraschim {rabbinische Auslegungen}“, die „das Spielen der beiden Halbbrüder“ ausspinnen. Mit „der beliebten Methode des Vergleichs ähnlicher Wörter (gezerah schavah), in diesem Fall von mizchaq {lachen, spielen} mit dem Lexem schachaq (einen Kampf führen) von 2Sam 2,14“ kommt etwa Rabbi Jismael im Tosefta-Traktat Soṭa zu der Deutung: „Dieser Vergleich lehrt, daß Sarah gesehen hatte, wie Ismael Pfeile nahm und auf Isaak schoß, in der Absicht ihn zu töten“. Diese Deutung überträgt Jerome Neyrey <683> folgendermaßen auf unseren johanneischen Zusammenhang:

„Ich nehme an, dass dieses letztere Verständnis von Ismael als Mörder auch in der johanneischen Argumentation zum Tragen kommt, denn Jesus wirft seinen Zuhörern vor, dass sie ‚ihn zu töten suchen‘ (8,37: siehe 8,28.40.44 und 59). Tatsächlich fungiert dieses ,Suchen‘ Jesu gerade als Beweis dafür, dass die Zuhörer nicht von Abraham durch Isaak, sondern durch Ismael abstammen, denn sie tun, was Ismael getan hat, nämlich versuchen zu töten“.

Thyen sieht im „Verhalten derer, die sich hier ‚Abrahams Kinder‘ nennen“, außerdem einen „Gegensatz zu Abraham“, wie er nach 1. Mose 18,1ff. „die Boten Gottes ‚aufnahm‘“, während sie selber (T440) nach dem Satz des Prologs handeln: „‚Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf‘ (1,11), ja sie trachten gar, ihn zu töten. ‚Das hat Abraham nicht getan‘.“

Nach Ton Veerkamp <684> ist der Tötungsvorwurf gegenüber den Juden in Vers 31, den „wir hier schon zum sechsten Mal“ hören, offenbar „für Johannes zur Obsession geworden“. Wie Wengst führt er ihn auf die „heftigen Anfeindungen“ zurück,

denen seine Gruppe seitens der Synagoge in ihrem Ort ausgesetzt war. Darauf werden wir erst bei der Erklärung von 16,2 näher eingehen. Soviel sei hier gesagt, dass der Konflikt für beide Seiten bedrohlich, ja, lebensbedrohlich war.

Wie erklärt Jesus den Gegensatz, dass die „Gegner … ‚zwar‘ Samen Abrahams“ sind, „‚aber‘ sie suchen Jeschua zu töten“? Veerkamp formuliert hier ein wenig ungenau:

Jeschua fängt bei der Erklärung jenes „aber“ mit der Feststellung an, er rede das, was er beim VATER gesehen (!) hat, sie tun das, was sie von ihrem Vater gehört haben.

Inhaltlich stimmt das, aber wörtlich ist in beiden Satzhälften, wie Thyen betont hatte, nur vom Vater ohne Possessivpronomen die Rede. Anders als die Lutherbibel müsste man wörtlich übersetzen: „Was ich beim Vater gesehen habe, rede ich; und ihr tut, was ihr gehört habt vom Vater.“ Bisher kann man nur ahnen, welcher Gegensatz hier herausgearbeitet wird, und aus dem Zusammenhang schließen, dass hier zwei verschiedene Väter gemeint sind:

Es handelt sich also um den verwirrenden Gegensatz VATER/Vater. Für Jeschua ist VATER der Gott Israels, der Impuls seines ganzen Lebens. Auch die Gegner handeln aus einem Impuls, der ihren Lebensgang bestimmt, aus ihrem Vater. Sie fassen das genealogisch auf, ihr Vater sei Abraham. Euer Werk, so Jeschua, sei, dass ihr mich zu töten sucht, das sei kein Werk Abrahams, sondern das Werk eures Vaters. Abraham hat seinen Sohn nicht getötet, da sei „Gott“ (VATER) vor. Ihr sucht mich, den monogēnes {den Einziggezeugten} (1,14.18), den neuen Isaak, zu töten. Euer Gott (Vater) muss der absolute Gegensatz zu meinem Gott sein.

So erwägt Veerkamp über Wengst und Thyen hinaus eine weitere Möglichkeit, den Tötungsvorwurf zu erklären, indem er ihn nämlich auf die Opferung Isaaks bezieht, die von Abraham durch das Eingreifen des NAMENS nicht vollzogen werden musste, während die jüdischen Gegner Jesu den Tod Jesu als des zweiten Isaak betreiben.

Eine andere Auslegungsrichtung als Wengst, demzufolge hier alles auf die Verteufelung der Juden hinausläuft, deutet Veerkamp dadurch an, dass er die Frage stellt, von welchem Gott sich Jesu Gegner bestimmen lassen: vom Gott Israels oder von einem ganz anderen Gott.

Johannes 8,41-47: Wer dem Gesandten des NAMENS die Liebe verweigert, hat dessen Widersacher zum Vater

8,41 Ihr tut eures Vaters Werke.
Da sprachen sie zu ihm:
Wir sind nicht aus Hurerei geboren;
wir haben einen Vater: Gott.
8,42 Jesus sprach zu ihnen:
Wäre Gott euer Vater, so liebtet ihr mich;
denn ich bin von Gott ausgegangen und komme von ihm;
denn ich bin nicht von mir selber gekommen,
sondern er hat mich gesandt.
8,43 Warum versteht ihr meine Rede nicht?
Weil ihr mein Wort nicht hören könnt!
8,44 Ihr habt den Teufel zum Vater,
und nach eures Vaters Begierden wollt ihr tun.
Der ist ein Mörder von Anfang an
und steht nicht in der Wahrheit,
denn die Wahrheit ist nicht in ihm.
Wenn er die Lüge redet,
so redet er aus dem Eigenen;
denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.
8,45 Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.
8,46 Wer unter euch kann mich einer Sünde überführen?
Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?
8,47 Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte;
ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid.

[29. Juli 2022] Indem Klaus Wengst zufolge (W279) „Johannes ‚die Juden‘ in einen grundsätzlichen Gegensatz zu Abraham“ manövriert, bereitet „er immer deutlicher eine andere Vaterschaft für sie“ vor (Vers 41): „Ihr vollbringt die Taten eures Vaters“. Dieser andere Vater wird aber noch nicht genau benannt. Klar ist nur, „dass mit ihm nicht Abraham gemeint sein kann.“ Da mit dem „Vorwurf, Abraham nur nominell zum Vater zu haben“, aber auch „ihre ungeteilte Hinwendung zu Gott bestritten“ und der „Vorwurf des Götzendienstes“ verbunden ist, „wehren sich die Gesprächspartner Jesu mit der Verneinung dessen, ‚im Ehebruch erzeugt‘ zu sein, und sagen ihre Zugehörigkeit zu dem einen Gott aus: ‚Einen haben wir zum Vater: Gott.‘“

Darauf antwortet Jesus in Vers 42 mit dem Satz:

„Wenn Gott euer Vater wäre, liebtet ihr mich.“ Der unausgesprochene, aber sozusagen laut gedachte Umkehrschluss lautet: Da ihr mich nicht liebt, sondern mich im Gegenteil umbringen wollt, ist Gott auch nicht euer Vater. Wieder ist zu betonen, dass wesentlicher Bestandteil dieser Logik die unterstellte Tötungsabsicht ist. Dass ihn lieben müsste, wer Gott zum Vater hat, begründet Jesus einmal mehr damit, dass er nicht eigenmächtig handelt, sondern nichts anderes ist als von Gott beauftragter Bote: „Denn ich bin von Gott ausgegangen und komme von ihm. Nicht von mir selbst nämlich bin ich gekommen, sondern er hat mich gesandt.“

Was folgt aus diesem Vers des Johannesevangeliums für die christliche Verkündigung? Karl Barth <685> spricht die „Behauptung der Vaterschaft Gottes allein für diejenigen, die Jesus lieben, … in aller Bestimmtheit“ nach und betont diese sogar

noch schärfer …, als der Text es tut. Er schreibt: „Gott zum Vater haben heißt Jesu Jünger sein. Wo das Zweite […] nicht eintritt, da ist auch das Erste nicht vorhanden. Offenbarung wäre eben nicht Offenbarung, wenn sie nicht in dieser Strenge und Ausschließlichkeit Gehorsam forderte. Ein Minimum von Toleranz und Nachsicht wäre die Leugnung der Offenbarung“.

Klaus Wengst lehnt diesen christlichen Absolutheitsanspruch mit guten Gründen ab (W280):

Wenn ich dem Evangelisten an dieser Stelle nicht nachspreche, geht es mir nicht um „Toleranz und Nachsicht“, sondern einmal um Gerechtigkeit, was die unterstellte Tötungsabsicht betrifft, und zum anderen und vor allem um Anerkenntnis Gottes als des in Israel schon bekannten und weiter bekannten Gottes, der seine Geschichte mit diesem Volk hatte und weiter hat. Von daher und im Blick auf die inzwischen tatsächlich abgelaufene Geschichte zwischen Christen und Juden müsste V. 42a als Anrede an Christen heute so gefasst werden: „Wenn ihr an den Sohn glaubtet, durch den ihr zum Vater gekommen seid, liebtet ihr sein Volk, das er erwählt hat.“

Dieser Neuausrichtung der christlichen Theologie in interreligiöser Verantwortung stimme ich von ganzem Herzen zu. Man muss sich dabei aber dessen bewusst sein, dass hier Johannes nicht einfach ausgelegt, sondern kritisch gegen den Strich gelesen wird. Komplizierter wird die Sache dadurch, dass in meinen Augen das hier von Wengst gegen den Strich Gelesene schon in der späteren antijüdischen Lektüre der späteren heidenchristlich dominierten Kirche besteht, während für den jüdisch-messianischen Evangelisten die Liebe zu Jesus tatsächlich identisch ist mit der Liebe zu dem Volk, das dessen VATER erwählt hat. Sein innerjüdischer Kampf richtet sich gerade gegen diejenigen Juden, die durch die Ablehnung des Messias Jesus dem Gott Israels und damit auch dem Ziel der Befreiung Israels untreu geworden sind.

Was Jesus in Vers 42 zum wiederholten Male über sein Verhältnis zu Gott sagt, zeigt in Wengsts Augen, „dass es keine neuen Argumente mehr gibt. Dieselben Thesen werden unermüdlich wiederholt. Die Positionen stehen sich unversöhnlich gegenüber.“

Darum ist auch Jesu Frage in Vers 43: „Warum versteht ihr meine Rede nicht?“ letztlich nicht ernst gemeint. Er beantwortet sie ja sofort selbst: „Weil ihr mein Wort nicht hören könnt“. Dabei geht es bei dem Wort ginóskein im ersten Satz „nicht um ein bloßes Verstehen oder Erkennen, sondern zugleich damit ein Anerkennen“, und das Wort akoúein im zweiten Satz meint mehr als ein akustisches „Hören auf das Wort Jesu“, nämlich „dass es sich zu eigen gemacht und ihm gehorcht wird.“

In der dreimaligen Erwähnung des Wortes Jesu in diesem Abschnitt nimmt Wengst eine „Steigerung zum Negativen“ wahr, was das Verhältnis seiner Gesprächspartner zu diesem Wort betrifft:

Zunächst wurde in V. 31 das Bleiben im Wort zur Bedingung wahrer Schülerschaft erklärt und dabei ein zeitweiliger Aufenthalt im Raum dieses Wortes vorausgesetzt. In V. 37 hieß es, dass das Wort Jesu bei diesen Hörern nicht durchdringe, nicht Raum greife bzw. keine Fortschritte mache. Und jetzt wird schlicht konstatiert, dass sie gar nicht hören könnten. Mir scheint das Ausdruck dessen zu sein, dass es zwischen der johanneischen Gruppe und der jüdischen Mehrheit keine wirkliche Kommunikation mehr gab.

Vers 44 soll nun nach Wengst erläutern, dass „Jesu Gesprächspartner sein Wort nicht hören können“, ein Vers, der ihm zufolge „wahrscheinlich der problematischste im ganzen Johannesevangelium“ ist:

„Ihr habt den Teufel zum Vater“, heißt es zu Beginn. Hier wird die Konsequenz gezogen, die das Vorangehende vorbereitete. Im Pochen auf die den Gesprächspartnern Jesu unterstellte Tötungsabsicht wurde ihnen bestritten, dass sie Kinder Abrahams, Kinder Gottes sein könnten. Und so wird auf diesen anderen Vater geschlossen, den Teufel. Diese äußerste und äußerst arge Zuspitzung, die „die Juden“ zu Kindern des Teufels erklärt, wird aus einer Wirklichkeit heraus vorgenommen, die Johannes mit seiner Gruppe als äußerst bedrängend erfährt.

Was ich in dieser Auslegung von vornherein problematisch finde, ist das Fehlen jeglicher Überlegung, was das griechische Wort diabolos, das Johannes hier verwendet, im biblischen Kontext bedeutet. Damit setzt Wengst voraus, dass die Vorstellung, die in unserem Köpfen vom „Teufel“ existiert, einfach so auf das Johannesevangelium angewendet werden kann.

Die Parallele einer ähnlichen Verteufelung findet Wengst in der „Qumrangemeinde“, deren „Gründer … gewaltsam aus Jerusalem verdrängt worden“ waren und die (W280f.) „auch weiterhin Anfeindungen und Nachstellungen ausgesetzt“ ist (W281):

Auch sie bezeichnet daraufhin ihre Feinde als Teufelskinder, als „Kinder Belials“, wobei in Qumran so wenig wie im Johannesevangelium ein prinzipieller Dualismus besteht. So heißt es an einer Stelle: „Und ich will dir Ruhe verschaffen vor allen deinen Feinden (2 Sam 7,11), d.h. dass er ihnen Ruhe verschaffen wird vor allen Kindern Belials, die sie straucheln lassen, um sie zu vernichten durch ihren Trug, wie sie mit einem Plan Belials kamen, um die Kinder des Lichts straucheln zu lassen und trügerische Pläne gegen sie zu planen, um sie für Belial zu ergreifen in schuldiger Verirrung“. <686> Beide Reaktionen machen nicht zuletzt das Elend einer je verfahrenen Situation deutlich. Die als bedrückend empfundene Erfahrung, abgedrängt zu werden, führt zur Verteufelung derer, von denen man sich verleumdet und bedroht fühlt.

Bevor Wengst Vers 44 weiter auslegt, betont er zunächst, dass der auf die Juden bezogene Satz: „Ihr habt den Teufel zum Vater“, heutzutage auf keinen Fall mehr nachgesprochen werden darf. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass sich ein „bemerkenswerter Umgang mit diesem Text“ bei Origenes <687> findet:

Er stellt die Aussagen von 8,41 („Ihr tut die Werke eures Vaters“) und 8,44 („Ihr seid aus dem Teufel als eurem Vater“) zusammen und bezieht sie mit Hilfe von 1. Joh 3,8-10 („Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel usw.“) auf „uns“: „Solange wir Sünden tun, haben wir die Herkunft aus dem Teufel noch nicht ausgezogen, auch wenn wir meinen, an Jesus zu glauben. […] An den Früchten werden wir erkannt, wessen Kinder wir sind“.

Im Gegensatz dazu muss Martin Luther <688> als außerordentlich negatives Beispiel in die „verhängnisvolle Nachgeschichte“ von Johannes 8,44 eingeordnet werden:

Angesicht politischer Machthaber, die die Juden nicht aus dem Land treiben, sondern „vielleicht jetzt auch barmherzig sein wollen über die Juden“, schreibt er in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“: „Was wollen wir armen Prediger demgegenüber tun? Zuerst wollen wir glauben, dass unser HERR Jesu Christus wahrhaftig sei, der von diesen Juden, die ihn nicht annahmen, sondern kreuzigten, dieses Urteil spricht: ‚Ihr seid Schlangengezücht und Teufelskinder‘, wie es sein Vorläufer, Johannes Baptista, auch sagt, obwohl sie seine Blutsfreunde waren. Nun werden uns unse Herrschaften und alle diese barmherzigen Heiligen, die den Juden wohlwollen, zumindest den Raum lassen, dass wir Jesus Christus glauben mögen, unserm HERRN, der freilich alle Herzen besser kennt als diese barmherzigen Heiligen, dass diese Juden Schlangengezücht und Teufelskinder sein müssen, d. h. dass sie uns ebenso viel Gutes gönnen wie ihr Vater, der Teufel […].“

Nachdem Luther im Namen Jesu den Juden gegenüber jede Barmherzigkeit ablehnt, greift er kurz darauf zu weiteren unerträglichen Formulierungen der Entmenschlichung und Verteufelung der Juden (W281f.):

„Wer nun Lust hat, diese giftigen Schlangen und jungen Teufel, d. h. die ärgsten Feinde Christi, unseres HERRN, und unser aller, zu herbergen, zu füttern und zu ehren, und begehrt, sich schinden, berauben, plündern, schänden, zu bespeien, zu fluchen zu lassen und alles Übel zu erleiden, der lasse sich diese Juden treulich befohlen sein. Ist‘s nicht genug, so lasse er sich auch ins Maul tun oder krieche ihnen in den Hintern und bete dieses Heiligtum an, rühme sich danach, er sei barmherzig gewesen, habe den Teufel und seine jungen Teufel gestärkt, um unseren lieben HERRN und das teure Blut zu lästern, womit wir Christen erkauft sind. So ist er dann ein vollkommener Christ, voller Werke der Barmherzigkeit, die ihm Christus belohnen wird am jüngsten Tage mit den Juden im ewigen höllischen Feuer.“

Weiter wird in Vers 44 (W282) nach Wengst mit der „Herkunft vom Teufel“ sofort ein bestimmtes Tun verbunden: „Und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun.“

Im Hintergrund steht die Deutung der Paradiesgeschichte von Gen 3, die in der Schlange den Teufel sieht. Dementsprechend bezeichnet er den Teufel als „einen Mörder von Anfang an“. Hier ist eine Deutung von Gen 3 vorausgesetzt, wie sie in Weish 2,24 vorliegt: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt“.

Ganz so glatt lässt sich die Aussage von Vers 44 aber doch nicht auf diese biblischen Parallelstellen zurückführen. Weder in 1. Mose 3 noch in Weisheit 2,24 ist von einem Menschenmörder, anthrōpoktonos, die Rede, vielmehr geht es darum, dass durch die Einflüsterungen der Schlange hier und durch den Neid des diabolos dort der Tod als solcher in die Welt kommt.

Anschließend stellt Wengst von einer Allgemeindefinition des Teuflischen her den „Mord“ neben die „Negation von Wahrheit“ (W282f.):

Teuflisch ist, was Mord produziert, und teuflisch ist die Negation von Wahrheit. So stellt Johannes parallel neben die Charakterisierung des Teufels als „eines Mörders von Anfang an“: „Und in der Wahrheit steht er nicht.“ Er hat seinen Ort nicht in der Wirklichkeit, jedenfalls nicht in der Wirklichkeit Gottes, die wirkliches Leben will, ermöglicht und bewirkt, sondern in ihrer Verneinung, „weil keine Wahrheit in ihm ist“. … So wie er seinen Stand nicht in der Wahrheit hat, hat umgekehrt die Wahrheit bei ihm keinen Raum. „Wenn er die Lüge redet, redet er aus dem Eigenen, denn ein Lügner ist er und der Vater davon.“ Lüge ist Anmaßung, der keine Wirklichkeit entspricht, Propaganda des Nichtigen, die Wirklichkeit vortäuscht und Tod produziert.

Über diesen allgemeinen Erwägungen berücksichtigt Wengst hier nicht, worauf er andernorts großen Wert legt, dass das Wort alētheia bei Johannes in erster Linie die Treue des Gottes Israels bezeichnet.

Bis zu einem gewissen Grad kann man Wengst zufolge den Vers 44 „aus seiner Entstehungssituation heraus verstehen“, denn es

darf nicht vergessen werden, dass Johannes hier nicht allgemein über „den Teufel“ oder „das Böse“ reflektiert, sondern bezogen auf eine bestimmte Situation lässt er Jesus zu einem bestimmten Gegenüber sprechen, das er damit verteufelt. In dieser gewiss als bedrückend erfahrenen Situation werden „Wahrheit“ und „Leben“ exklusiv für die eigene Position beansprucht, sodass für die Gegenseite nur „Mord“ und „Lüge“ bleiben.

Damit werden aber die Aussagen des Johannes „nicht zu unschuldigen“, und zwar „erst recht nicht, wenn sie in der Auslegungsgeschichte nachgesprochen werden.“ Von daher hält Wengst es für

verfehlt, V. 44 irgendeinen positiven Sinn abgewinnen zu wollen. Auf der Text­ebene stehen Jesus „die Juden“ gegenüber. Wie immer anders sie man deutet – sie müssen als Repräsentanten für etwas Negatives dienen; und dieses Negative wird auf die konkret existierenden Juden durchschlagen. Oft genug leistet dem schon unbedachtes Formulieren der Ausleger Vorschub.

Letzteres belegt Wengst (Anm. 486) mit Formulierungen von Rudolf Bultmann, <689>

der natürlich die Feindschaft „des Menschen“ überhaupt gegen die „Offenbarung“ meint. „Die Pointe des Ganzen liegt ja zweifellos darin, den jüdischen Unglauben mit seiner Feindschaft gegen Wahrheit und Leben als der Teufelskind­schaft entspringend zu charakterisieren“ [241]. „Durch ihren Unglauben zeigen die ,Juden‘, daß sie Teufelskinder sind. Diese Teufelskindschaft bestimmt ihr Sein: sie sind darauf aus, die Begierden ihres Vaters zu vollziehen; das heißt: sie sind auf Mord und Lüge aus“ [242]. „Es ist bei dem grundsätzlichen Charakter der Aussage nicht zu fragen, ob der den Juden indirekt gemachte Vorwurf des Mordwillens noch eine spezielle Motivierung hat. Die Feindschaft gegen die Offenbarung ist als solche Feindschaft gegen das Le­ben“ [243]. „Und deshalb darf nicht gefragt werden, inwiefern die Juden etwa in der vorliegenden Diskussion ,gelogen‘ haben. Ihr ganzes Verhalten ist Lüge“ [244].

Aus Vers 44 folgt zwingend (W283), was Jesus in Vers 45 sagt: „Ich aber – weil ich die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.“ Die Gegner müssen Jesus „Wahrheit“ als Reden „aus dem Eigenen“ verstehen, können nicht akzeptieren, dass er „der Gesandte Gottes sei“ (W283f.):

Die Tragik der Situation des Johannesevangeliums liegt darin, dass sich in härtester Auseinandersetzung alles auf diesen einen Punkt zuspitzt und allein an der Stellung zur Person Jesu Wahrheit und Lüge auseinandertreten. Denen nichts als Lüge zugesprochen wird – und damit Nicht-Wirklichkeit, wird schließlich auch die Existenzberechtigung abgesprochen werden, sodass Mord dann gerade mit dem eigenen absoluten Wahrheitsanspruch verbunden sein wird. Davon ist die Gemeinde des Johannesevangeliums weit entfernt. Aber unter geänderten Machtverhältnissen ist das keine bloß theoretische Gefährdung der Kirche geblieben, sondern mörderische Wirklichkeit geworden.

Es folgen nach Wengst (W284) in Vers 46 zwei rhetorische Fragen Jesu. Die erste – „Wer von euch überführt mich einer Sünde?“ – soll lediglich bestätigen, dass Jesus die Wahrheit sagt. Allerdings könnten die „unmittelbar von Jesus Angeredeten“ diesbezüglich „nach der bisherigen und weiteren Erzählung des Evangeliums durchaus etwas anführen, da sie Jesus ja Sabbatbruch und Blasphemie vorwerfen (5,16.18; 9,14; 10,33).“ Daraus schließt Wengst, dass hier eigentlich die „Leser- und Hörerschaft“ des Johannes „darin bestärkt werden“ soll, „dass Jesus die Wahrheit sagt, die er selber ist, damit sie bei seinem Wort bleibt und so wahre Schülerschaft bewährt.“

Auch Vers 46b ist nicht als „eine wirkliche Frage“ zu verstehen: „Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?“, denn sie wird – wie die formal ähnliche und sachlich genau entsprechende Frage in V. 43 – sofort von Jesus beantwortet: „Wer von Gott ist, hört die Worte Gottes. Deswegen hört ihr nicht, weil ihr nicht von Gott seid.“ Diese „deterministisch klingende Sprache“ meint Wengst zufolge aber „keine vorangehende Festlegung oder Vorherbestimmung auf die eine oder andere Seite.“ Das erläutert Wengst folgendermaßen:

Nach dem Johannesevangelium ist ursprünglich nur Jesus selbst „von Gott” (z. B. 8,42). Er bezeugt, was er beim Vater gehört und gesehen hat (3,32); er ist der Exeget Gottes (1,18). Seine Schüler sind ursprünglich nicht „von Gott“, sondern er hat sie „aus der Welt erwählt“ (15,19). Sie hören dadurch die Worte Gottes, dass sie auf ihn hören. Sie sind dadurch „von Gott“, dass sie sich in ihrem Leben von den Worten Jesu prägen und bestimmen lassen und bei ihnen „bleiben“.

Nicht durch Vorherbestimmung, sondern

im Vollzug des Hörens“ erweist sich also, „wovon sich Menschen bestimmen lassen und wovon sie dann auch bestimmt sind. Das Problem des Verses liegt allerdings darin, dass er gegenüber Juden das Hören der Worte Gottes exklusiv an das Hören der Worte Jesu bindet und es ihnen, da sie nicht auf Jesus hören, bestreitet, überhaupt auf Gott zu hören und von ihm bestimmt zu sein.

Nach Wengst dürfen wir diese Argumentation „in keiner Weise nachsprechen, sondern müssen es wahrnehmen, dass es in der Geschichte und Gegenwart des Judentums ein aufmerksames Hören auf ‚die Worte Gottes‘ gibt.“

Nach Hartwig Thyen (T440) erklärt Jesus in Vers 41 gegenüber seinen Gegnern: „Ihr tut die Werke eures Vaters“, ohne diesen „schon beim Namen genannt zu haben“, um deutlich zu machen, „daß sie sich jedenfalls zu Unrecht auf Abraham als ihren Vater berufen“, denn es können ja

diejenigen, die „einen Menschen zu töten trachten, der ihnen doch nichts als die reine Wahrheit sagt, die er bei Gott gehört hat“ (V. 40), nicht „zum Samen Abrahams gehören“, sondern müssen die Kinder eines Anderen sein.

Dass die Juden sich daraufhin mit dem betont vorangestellten hemeis {wir} „dagegen verwahren“, nicht ek porneias {aus Unzucht, Ehebruch} gezeugt zu sein, zeigt nach Thyen „den Stolz der Redenden darüber, Glieder des erwählten Volkes des einzigen Gottes zu sein“, was sie auch ausdrücklich betonen: hena patera echomen ton theon {einen Vater haben wir, Gott}. Keinen Anlass sieht Thyen dafür, die Abwehr des Vorwurfs der Unzucht durch Jesu Gegner als Gegenangriff zu deuten, wie es zum Beispiel Günther Schwarz <690> tut. Dieser will

die Erklärung der Juden: „Wir stammen nicht aus einem Ehebruch!“ um den Vorwurf: „Wie du!“ ergänzen …, weil der Satz nur durch diese Ergänzung „hinreichend motiviert“ sei: „Der in diesem Zusammenhang übliche rabbinische Terminus war das Wort mamzer (Mamser, ein in Blutschande Gezeugter, ein Bastard). Wenn feststeht, daß dieser Satz überhaupt den Mamser-Vorwurf beinhaltet, und daran gibt es keinen Zweifel (!), dann kann er nicht anders als indirekt auf ihn (sc. Jesus) gemünzt gewesen sein“.

Thyen zufolge (T441) wird durch die Berufung der Gegner Jesu „auf den einzigen Gott als ihren Vater … klar, daß sie die symbolischen Obertöne der Rede Jesu von wahrer Abrahams-Kindschaft durchaus verstanden haben.“ Nach Ulrich Wilckens <691> verwahren sie

„sich dagegen, sie könnten als Abrahams Kinder etwa nicht Gottes Kinder sein, sondern aus irgendeiner ,Hurerei‘ mit Fremdgottheiten gezeugt sein. Im AT haben die Propheten das Gottesverhältnis im Bilde einer Ehe zwischen Jahwe als liebendem Ehemann und Israel als seiner einziggeliebten Ehefrau dargestellt. Der Bruch des 1. Gebots erscheint so im Bild ehelicher Untreue (vgl. Hos 1-3; 1,1-9; Jer 2f; 13,20-27; Ex 16,23). In diesem Zusammenhang ist der Protest der Juden in V. 41 zu verstehen: Sollte Jesus ihnen zugleich mit ihrer Abrahamskindschaft etwa gar ihre Gotteskindschaft absprechen? …“.

Nach Thyen steht also „hinter und über der Vaterschaft Abrahams diejenige ihres Gottes …, der Abraham berufen und sie als seine Nachkommen zusammen mit ihrem Stammvater erwählt und gesegnet hat“, was (T441f.) aus biblischen Stellen wie 2. Mose 4,22; 5. Mose 32,6; Jeremia 3,3f.19; Jesaja 63,16; 64,7; Maleachi 1,6 eindeutig hervorgeht. Jedenfalls wird (T442) die „Gebetsanrede Gottes als ‚unser Vater‘“ schon in „der religiösen Praxis“ vorausgesetzt, die im Hintergrund der griechischen Septuaginta steht, zum Beispiel in 1. Chronik 29,10 und Sirach 23,1.4.

In der „erschreckende[n] Schärfe“ dessen, „daß Jesus seine jüdischen Antagonisten hier zu ,Teufelskindern‘ erklärt und ihre Behauptung, Gott zum Vater zu haben, vehement bestreitet“, sieht Thyen einen Widerspruch zur johanneischen Überzeugung (4,22), dass „das Heil … von den Juden“ kommt. Vor einer „detaillierten Erörterung“ der „grammatischen und inhaltlichen Probleme … des gesamten Abschnitts 8,41-47“ fasst er ihn inhaltlich folgendermaßen zusammen (T442f.):

Wenn schon von der irdischen Abrahamskindschaft gilt, daß sich nur mit Recht auf sie berufen kann, wer ,Abrahams Werke‘ tut und ,Barmherzigkeit‘ übt wie der Patriarch (V. 40), dann gilt das natürlich auch und erst recht für die Inanspruchnahme Gottes als ,Vater‘. Darum eröffnet Jesus seine lange und scharfe Anklage nun mit dem irrealen Bedingungssatz: „Wenn Gott euer Vater wäre, dann müßtet ihr mich lieben, mich, der ich doch von Gott ausgegangen und (zu euch) gekommen bin. Denn nicht aus eigenen Antrieb bin ich gekommen, sondern weil jener mich gesandt hat“ (V. 42). Und danach erst deckt er auf, wen er zuvor im Auge hatte, als er sagte, „Ihr tut die Werke eures Vaters“ (V. 41): Warum begreift ihr denn nicht, was ich euch sage (tēn lalian tēn emēn {meine Rede})? Nun, ihr könnt mein Wort nämlich darum gar nicht hören, weil der Teufel euer Vater ist und ihr (nur) danach trachtet, die Begierden (dieses) eures Vater zu vollbringen. Der war (nämlich) ,von Anfang an‘ (ap‘ archēn) ein Mörder (anthrōpoktonos) und stand nicht in der Wahrheit, weil die Wahrheit in ihm keinen Ort hat. Nur wenn er lügt, ist er in seinem Element (ek tōn idiōn lalei {redet er aus dem Eigenen}), denn er ist ein Lügner und der Vater der Lü­ge. Weil ich (im Gegensatz zu ihm: de) die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht. Denn wer von euch könnte mich auch nur irgendeiner Sünde überführen? Sa­ge ich also die Wahrheit, warum glaubt ihr mir dann nicht? (Denn) wer ,aus Gott ist‘ (was ihr ja von euch behauptet, wenn ihr sagt: hena patera echomen, ton theon {einen Vater haben wir, Gott}), der hört Gottes Worte. Ihr aber hört (sie) darum nicht, weil ihr nicht aus Gott seid.

In Vers 44 bestehen zwei grammatische Schwierigkeiten (T443): der erste Teilsatz: „hymeis ek tou patros tou diabolou este“ ist eigentlich mit „Ihr stammt vom Vater des Teufels“ zu übersetzen, und auch im „begründenden Schlußsatz: hoti pseustēs estin kai ho patēr autou“ ist wörtlich davon die Rede, dass „ein Lügner“ auch „sein“ Vater ist, nämlich der Vater des Teufels. Zur Interpretation (T444) weigert sich Thyen wie sonst auch, auf irgendeine „imaginäre ‚Quelle‘ zurückzugreifen und dazu noch den Evangelisten mit deren Mißverständnis zu belasten“, vielmehr beschränkt er sich „auf die Interpretation des überlieferten Textes“. So ist ihm zufolge der Genitiv mit bestimmtem Artikel „tou diabolou durch seinen Kontext ganz eindeutig als Apposition definiert, die den in V. 41 ohne nähere Bestimmung eingeführten ,Vater‘ der Widersacher Jesu hier endlich mit Namen nennt“. Das „abschließende autou {vom ihm}“ wiederum ist „als die pronominale Wiederaufnahme von pseudos {Lü­ge}“ zu begreifen: „Denn er ist ein Lügner und der Vater allen Lügens“.

Die „Behauptung einiger Exegeten, der ,ursprüngliche‘ Text des Evangelisten müsse nicht den Teufel, sondern den Brudermörder Kain als den ,Vater der Juden‘ bezeichnet und vom Teufel als von dem ,Vater Kains‘ gesprochen haben“, ist nach Thyen „allzu spekulativ … und [hat] im überlieferten Text keinerlei konkreten Anhalt“. Günter Reim <692> sieht allerdings in seiner entsprechenden Studie (T445f.) „im Blick auf den Kontext und die darin ,erzählte Welt‘ … ganz richtig, daß ‚der johanneische Jesus nicht generell von Teufelskindschaft der Juden (spricht), sondern nur im Gegenüber zu einer bestimmten Gruppe, die ihn steinigen möchte‘“. Zwar mag (T446) „die Aussage vom lügnerischen Wesen des Teufels … den Leser/Hörer an den Betrug Evas durch die Paradiesesschlange erinnern“ und der Satz über den Mörder von Anfang an „als Spiel mit der Erzählung von Kains Brudermord in Gen 4“ begriffen werden, „was 1Joh 3,12-15 ja durchaus nahelegt“, aber „angesichts der Rede von der Abrahams-Kindschaft der Juden … sowie der Rede vom ‚Bleiben des hyios im Hause‘ im Gegensatz zum ‚Nicht-Bleiben des doulos‘“ liegt es „doch wohl näher …, hier an die ungleichen Brüder Isaak und Ismael zu denken“:

Vor allem aber kann, nachdem Jesu Antagonisten mit ihrer Behauptung: hena pateran echomen ton theon {einen Vater haben wir, Gott}, Gott als ihren Vater ins Spiel gebracht hatten, und nachdem Jesus diesen Anspruch durch den Irrealis: „Wenn Gott euer Vater wäre, dann müßtet ihr mich lieben …“, bestritten hat (V. 42f), nicht mehr irgendein irdischer Stammvater, heiße er nun Abraham oder Kain, sondern in V. 44 nur noch der diabolos als der himmlische Gegenspieler Gottes derjenige sein, „aus dem“ Jesu Antagonisten sind, und dessen epithymia {Begierde} sie zu vollbringen trachten. Sie sind nicht die Söhne Kains, sondern wie Kain sind sie ek tou ponērou {von dem Bösen} (1Joh 3,12).

Nach Thyen ist es vor allem „die Wendung: ekeinos anthrōpoktonos ēn ap‘ archēs {der war von Anfang an ein Menschenmörder}“, die über „die durch Kains Brudermord eröffnete ,unendliche Geschichte‘ irdischen Mordens hinaus auf deren Anstifter weist“. Zur Begründung verweist er auf E. L. Miller, <693> der nachgewiesen hat, dass

die für Johannes spezifischen Verbindungen en archē, ex archēs und ap‘ archēs, sowie tēn archēn {in, aus, vom Anfang an usw.} (8,25) stets eine Bedeutung [haben], die sich der Reduktion auf eine simple temporale, historische oder chronologische Interpretation widersetzt. … Das gilt auch für die Wendung in 8,44: „Er [der Teufel] war ein Mörder von Anfang an (ap‘ archēs), wobei es sich hier nicht um eine christologische, sondern um eine diabolische Transparenz handelt. In dieser Aussage erinnert die Formulierung ‚von Anfang an‘ unweigerlich, wie die meisten Ausleger betonen, an die Beihilfe des Teufels zum Mord an Abel durch Kain oder an die arglistige … Verstrickung des Menschengeschlechts in die Sterblichkeit oder an beides. Dass sich die präpositionale Formulierung jedoch auch auf das Wesen des Teufels bezieht, legen die unmittelbar folgenden Zeilen nahe: ‚… und [der Teufel] ist der Wahrheit fremd, denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er eine Lüge spricht, spricht er aus seinem Wesen heraus, denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.‘ Dass es bei diesen weiteren Behauptungen in erster Linie um ein Interesse am Wesen und nicht an der Geschichte geht, ist offensichtlich“.

In Vers 45 (T447) stellt sich Jesus Thyen zufolge mit seinem betont durch egō eingeleiteten Satz „weil ich, im Gegensatz zu eurem ,Vater‘, der ja prinzipiell lügt, aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht“ „natürlich dem Teufel und nicht irgendwelchen irdischen Lügnern entgegen“. Daraus ergibt sich folgende Auslegung der Verse 45-47:

Indem er die Wahrheit sagt, vollbringt er das Werk Gottes. Als Gerechter kann er seinen Antagonisten darum die rhetorische Frage stellen: „Oder könnte etwa irgendeiner von euch mich einer Sünde überführen?“ Daß das keiner kann, setzt der folgende Satz voraus: „Wenn ich aber die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir dann nicht? Wer aus Gott ist, der erhört die Worte Gottes. Ihr dagegen vermögt sie darum nicht zu erhören, weil ihr nicht aus Gott seid.“ Wir haben das Verbum akouein hier nicht mit „hören“ als Bezeichnung eines bloßen Sinneseindrucks, sondern durch „erhören“ wiedergegeben, weil im biblischen Sprachgebrauch unseres Autors die ethische Komponente des „Ge-Horchens“ … von akouein unabtrennbar ist.

Nach Ton Veerkamp <694> begreifen Jesu Gegner, „was gemeint ist“, als er ihnen vorhält: „Ihr tut die Werke eures Vaters“. Darum entgegnen sie:

„Wir sind nicht aus Unzucht gezeugt worden: Den EINEN haben wir als VATER.“ Sie verweisen auf Deuteronomium 6,4: „Höre Israel, der NAME ist unser Gott, der NAME EINER.“ Es geht um die Frage, wer wirklich der Gott sei in Israel, im Israel der Tage Jeschuas und der Tage seiner Gegner. „Unzucht“, porneia, senuth, bedeutet in der Schrift durchgängig Abwendung Israels vom NAMEN als von seinem Gott und Hinwendung zu fremden Göttern. Sie haben richtig verstanden: die porneia sei Heidentum, sie seien zu Römern geworden.

Damit bezieht Veerkamp anders als Wengst und Thyen die Schärfe der hier vorliegenden Auseinandersetzung auf den politischen Gegensatz zwischen einem jüdischen Messianismus, der die römische Weltordnung überwinden will, und einem rabbinischen Judentum, das sich in den Augen des Johannes mit den gegebenen Verhältnissen unter der Herrschaft Roms abfindet und sich in ihnen einrichtet. Von daher kann auch er, ähnlich wie Wengst, nur konstatieren, dass hier aneinander vorbei geredet wird:

Jetzt ist keine Verständigung mehr möglich. Wenn die Mitglieder der Gesellschaft sich nicht mehr über „Gott“, über die Grundordnung, verständigen können, ist Bürgerkrieg angesagt. Wenn die christlichen Hörer und Hörerinnen nicht begreifen, dass die Ambivalenz der Vokabel „Gott“ und des NAMENS das theologische und deswegen politische Hauptproblem der judäischen Gesellschaft in der Antike war, werden sie die Schrift niemals verstehen können. Der „Gott“ ist nicht „Nicht-Gott“, und „Nicht-Gott“ ist nicht der „Gott“. <695> Explizit behandelt das Buch Hiob das Problem. Die Frage ist hier: was funktioniert jeweils als VATER, als Gott Israels?

Diese politische Bestimmung „Gottes“ geht direkt auf die jüdische Heilige Schrift zurück, in der „Gott“ einen klar definierten NAMEN trägt, der auf die Befreiung und das Recht für sein Volk Israel ausgerichtet ist. Alles, was sonst Gott genannt wird, kann sich mit diesem befreienden Gott nicht messen, es sind unterdrückende und ausbeutende Gott-Nichtse, stehen als „Nicht-Gott“ dem einen Gott Israels, der zugleich der einzige Gott der Welt überhaupt ist, gegenüber. Da Jesus diesen NAMEN verkörpert, hält er denjenigen, die ihn ablehnen, in den Versen 42 und 43 vor, dass sie damit auch den Gott Israels durch einen „Nicht-Gott“ ersetzen:

Jeschua verlangt von seinen Gegnern, dass sie ihn so sehen, wie er sich selbst sieht, als den von Gott Ausgegangenen und Gekommenen, als den Gesandten, der nur das tut und redet, was ihm aufgetragen wurde. Warum, so fragt Jeschua, könnt ihr das nicht begreifen, warum könnt ihr nicht zuhören? Jeschua beantwortet diese Frage selbst und damit zugleich die Frage nach der jeweils wirklichen Vaterschaft.

Jesu Antwort auf diese Frage besteht nun in Vers 44 aus dem Satz,

der bis heute eine Feindschaft auslöst, die zum unbegreiflichen und nicht nachvollziehbaren Verbrechen führte, das unter dem Namen Auschwitz bekannt ist. Der Satz in der traditionellen Übersetzung lautet: „Ihr stammt vom Teufel als eurem Vater und wollt die Gelüste eures Vaters tun. Er war ein Menschenmörder von Anfang an …“

Anders als Wengst und Thyen hält Veerkamp eine Klärung dessen für notwendig, was in der Bibel überhaupt das hier verwendete Wort diabolos bedeutet, die ich hier in aller Ausführlichkeit wiedergebe:

Wir müssen zunächst das Wort diabolos erklären. In den modernen Sprachen wurde das Wort unübersetzt übernommen: diabolos, diablo, diable, diawol, djævel, devil, duivel, devil. Überall ist das Wort aus dem sogenannten Neuen Testament in diese Sprachen eingedrungen. Die Assoziation ist überall ähnlich gewesen. Mit dem Wort wurde ein übermenschlicher und extrem böser Geist angedeutet. Das griechische Wort diabolos steht aber für das hebräische Wort ßatan. Auch dieses Wort gehört zu den modernen Sprachen. Die Bedeutung ist dort die gleiche.

In der Schrift kommt das Wort ßatan 32mal vor, sechsmal als Verb, 26mal als Substantiv. 14mal begegnet es im Buch Hiob. Siebenmal ist ßatan eindeutig der politische Gegner (1/2 Samuel, 1 Könige). In 1 Könige 11 lassen die griechischen Übersetzer das Wort ßatan unübersetzt stehen. Es handelt sich dabei um Jerobeam, <696> der sich gegen König Salomo auflehnte, später einen Sezessionskrieg gegen dessen Sohn Rehabeam führte und das Nordreich Israel gründete.

Auch in der Geschichte von Balak und Bileam taucht der Satan auf. Bileam soll im Auftrag von Balak Israel verfluchen. Als dieser sich auf den Weg machte, trat ihm der Bote des NAMENS „als Satan“ in den Weg (Numeri 22,22). Der Esel Bileams war klüger als sein Herr, er erkannte den Boten Gottes als Gegner des politischen Auftrags Bileams.

In keinem von allen 32 Fällen handelt es sich um einen übernatürlichen bösen Geist. Auch am himmlischen Hof in den Büchern Hiob und Sacharja trat ein himmlischer Funktionär als Staatsanwalt und so als Gegner im himmlischen Gerichtsverfahren auf. Wenn es um eine himmlische Gestalt geht, dann wird sie immer von Gott her gesandt bzw. beauftragt; nirgendwo ist er der abgrundtiefe Böse.

Wenn man das Wort diabolos vor diesem Hintergrund betrachtet, dann geht es Veerkamp zufolge auch im Johannesevangelium

um einen mächtigen Gegner, der eben nicht von Gott gesandt ist, also um einen mächtigen irdischen Gegner. Dieser Gegner hat „Begierden“ (epithymiai). Sie sind sachlich identisch mit der Begierde – Raffgier ist besser – der Weltordnung (epitymia tou kosmou, 1 Johannes 2,16f.). Johannes 8,44 und 1 Johannes 2,16f. sind die einzigen Stellen im johanneischen Schrifttum, wo das Wort für Raffgier auftaucht, ausgerechnet in Verbindung mit diabolos. <697> Der Satan ist ein irdischer Satan, er ist die Weltordnung, er ist Rom.

Dass dieser irdische Satan oder Teufel aber dennoch dem Gott Israels in angemaßter göttlicher Macht gegenübersteht, zeigt sich, wie Veerkamp weiter ausführt, in der Passionsgeschichte des Johannesevangeliums:

Eindeutig wird das alles, als die führenden Priester in der Szene vor dem Prätorium dem Pilatus versicherten: „Wir haben keinen König, es sei denn Caesar!“ Sie erklären, wo ihre eindeutige politische Loyalität liegt, wer ihr „Gott“ sei. Denn die Funktionsvokabel „Gott“ bezeichnet die Konvergenz aller irdischen Loyalitäten. Für die führenden Priester liegt der Konvergenzpunkt in Cäsar. Diese Stelle 19,15 erklärt unsere Stelle 8,44 – und umgekehrt. Jeschua wirft seinen Gegnern vor, sie machen die Politik Roms, Rom sei ihr Gott und ihr Vater. Sie lassen sich in ihrem politischen Handeln von den Interessen der herrschenden Weltordnung bestimmen, ihr gelte ihre Solidarität. Deswegen können sie mit dem Messias nicht solidarisch sein („lieben“ – agapan).

Bestätigt wird diese Auslegung dadurch, dass alle näheren Beschreibungen des diabolos in Vers 44 buchstäblich auf das römische Imperium und seinen Kaiser zutreffen:

Alle können wissen, dass dieser Satan, dieser diabolos, ein Menschenmörder ist, nach dem Massaker, das die Römer nach der Zerstörung Jerusalems anrichteten. In diesem Satan steckt keine Treue, er redet „Lug und Trug“ (pseudos), „prinzipiell (ap‘ archēs)“. Wer mit Rom Politik macht, ist „ein Betrüger (pseustēs) wie sein Vater“.

Daran anknüpfend findet Jesus in den Versen 45-47 nach Veerkamp nochmals deutliche Worte über die alētheia, womit nicht einfach allgemein die „Wahrheit“ gemeint ist, sondern die „Treue“ des befreienden NAMENS:

Jeschua redet über die Treue, über die Treue Gottes Israel gegenüber, und genau diesem Wort vertrauen sie nicht, sagt Jeschua. Keiner kann ihn beschuldigen, dass er sich irrt, sich und die anderen in die Irre führt, wo er doch von der Treue Gottes redet, einer Treue, die Rom diametral gegenübersteht. Da sie als Realpolitiker von der überragenden politischen Realität Roms ausgehen, können sie nicht hören, was Jeschua zu sagen hat.

Johannes 8,48-53: Statt als Lebensgeber gewürdigt zu werden, wird Jesus als Besessener entehrt

8,48 Da antworteten die Juden und sprachen zu ihm:
Sagen wir nicht mit Recht, dass du ein Samariter bist
und von einem Dämon besessen bist?
8,49 Jesus antwortete: Ich bin nicht besessen,
sondern ich ehre meinen Vater,
aber ihr nehmt mir die Ehre.
8,50 Ich suche nicht meine Ehre;
es ist aber einer, der sie sucht und richtet.
8,51 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit.
8,52 Da sprachen die Juden zu ihm:
Nun erkennen wir, dass du von einem Dämon besessen bist.
Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sprichst:
Wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht schmecken in Ewigkeit.
8,53 Bist du mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist?
Und die Propheten sind gestorben.
Was machst du aus dir selbst?

[30. Juli 2022] Klaus Wengst zufolge (W285) gehen in Vers 47 Jesu Gegner, die „jetzt erstmals in diesem Abschnitt ausdrücklich als ‚die Juden‘ bezeichnet“ werden, nach „einem relativ langen Redeabschnitt Jesu“ nun „zum Gegenangriff“ über:

„Sagen wir nicht zu Recht, dass du ein Samariter und besessen bist?“ Die Einführung des hier gebrachten Vorwurfs mit: „Sagen wir nicht zu Recht?“ kennzeichnet ihn als einen gängigen. Im Blick auf die Erzählung lässt sich das aber nur für die an zweiter Stelle genannte Besessenheit verifizieren. Dass Jesus besessen sei, wurde ihm schon in 7,20 gesagt. Das wird gleich in V. 52 wiederholt werden und dann noch einmal in 10,20. Dagegen findet sich der an erster Stelle stehende Vorwurf, er sei ein Samariter, nur hier. Wenn er dennoch als gängiges Urteil gilt, weist das auf die Zeit des Evangelisten. Dessen Gruppe erscheint aus der Sicht der jüdischen Mehrheit auf einer ähnlichen Ebene wie die Samariter. Es gibt außerordentlich viel Gemeinsames, aber einen gravierenden Unterschied.

Dieser Unterschied besteht eben darin, dass neben „dem Vorwurf, ein Samariter zu sein, … der der Besessenheit“ steht. Die „Mehrheit“ einer Gesellschaft neigt dazu,

Verhalten, das von dem in ihr gängigen abweicht, auf Besessenheit zurückzuführen. Das gilt besonders für Repräsentanten der politischen Ordnung gegenüber solchen, die diese Ordnung stören könnten. Als Gefahr für die Bemühungen um Stabilisierung in der schwierigen Lage nach dem jüdisch-römischen Krieg konnte auch die johanneische Gruppe erscheinen, insofern sie einen von den Römern Gekreuzigten für den Messias hielt.

Als Beispiel für Menschen, die in dieser Weise dämonisiert wurden, führt Josephus (Bell. 2, 13, 4) „in der Zeit vor dem jüdisch-römischen Krieg“ die „Schwarmgeister und Betrüger“ an, „die unter dem Vorwand göttlicher Eingebung Unruhe und Aufruhr hervorriefen und die Menge durch ihr Wort in dämonische Begeisterung versetzten“.

Aus Jesu Antwort in Vers 49, in der er zuächst den Vorwurf der Besessenheit verneint und positiv entgegensetzt: „sondern ich ehre meinen Vater“, geht nach Wengst hervor,

dass der Vorwurf der Besessenheit auf den hohen Anspruch Jesu bezogen ist. Was von außen als geradezu besessene Anmaßung erscheint, ist in der Innenperspektive Ehrung Gottes. Jesus ist nichts sonst als gehorsamer Sohn, der den Willen des Vaters ausführt und ihm damit die Ehre gibt. Da er allein darin seine Ehre sucht, wirft er denen, die ihm das als Besessenheit auslegen, am Ende des Verses vor: „Aber ihr entehrt mich.“

Das Thema seiner Ehre (W286) führt Jesus in der Weise fort, dass er in Vers 50 auf der einen Seite (wie schon in 5,41-45 und 7,18) betont: „Ich jedoch suche nicht meine Ehre“. Dem entspricht im Evangelium Jesu „Weg in die äußerste Erniedrigung und Niedrigkeit“ am Kreuz:

Da Gott aber seine Ehre im Kreuz Jesu gesucht hat (5,44), kann schon im Blick auf das Kreuz von „Verherrlichung“ gesprochen werden. Dementsprechend fährt Jesus fort: „Er ist da, der sie sucht und der urteilt.“ Jesus verweist auf Gott, bei dem seine Ehre aufgehoben ist; Gott ist der Richter, der ihm zum Recht verhelfen wird.

Indem Jesus in Vers 51, anknüpfend an Vers 31 und mit „doppeltem Amen eingeleitet“, die Verheißung äußert: „Wer mein Wort hält, sieht nie und nimmer den Tod“, spricht er Wengst zufolge „die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums“ an, die „beim Wort Jesu“ bleibt, indem sie

es im Ausharren in der Gemeinde umsetzt in solidarische Praxis. Die Verheißung nimmt auf, was schon in 5,24 gesagt war: Der Überschritt vom Tod zum Leben ist geschehen in der Solidarität der bedrängten Schülerschaft Jesu. Das Wort, das er ihr sagt, mit dem er ihr die Liebe Gottes vermacht und als sein Vermächtnis das Liebesgebot hinterlässt (13,34f.), ist der tragfähige Grund, der Leben gibt und im Leben erhält, der Leben verheißt auch angesichts des Todes und trotz des Todes.

Dieses Wort ist auf „der erzählten Ebene … allerdings ‚den Juden‘ gesagt. Hier hat es die Funktion, den Konflikt weiter voranzutreiben.“ Die Juden nämlich sehen dadurch ihren Vorwurf bestätigt (Vers 52): „Jetzt haben wir erkannt, dass du besessen bist.“ Sie begründen das folgendermaßen: „Abraham ist gestorben, auch die Propheten – und du sagst: ,Wer mein Wort hält, schmeckt nie und nimmer den Tod.‘“ Das Verheißungswort Jesu wird sprachlich leicht variiert, aber sachlich zutreffend wiederholt. Indem (W287) die Gesprächpartner in Vers 53 weiter fragen: „Bist du etwa größer als unser Vater Abraham, der gestorben ist? Auch die Propheten sind gestorben“, machen sie deutlich, dass sie „sehr wohl herausgehört“ haben, „dass Jesus mit dem hier erhobenen Anspruch auf eine andere Ebene zu stehen kommt als Abraham und die Propheten.“ Aber Jesu Anspruch vermögen sie dennoch nicht anzuerkennen:

Für die Zeitebene des Evangelisten ist verschärfend hinzuzufügen: Dieser Anspruch, der Abraham und die Propheten übersteigt, wird für jemanden erhoben, der nicht nur wie Abraham und die Propheten gestorben, sondern der gekreuzigt worden ist. Johannes versucht, Jesus mit der biblischen Tradition und ihren Gestalten zu verstehen. Zugleich verortet er ihn aber auf einer diesen Gestalten überlegenen Ebene. Dazu veranlasst ihn, wie gleich auch in diesem Zusammenhang deutlich wird, das Osterzeugnis, dass Gott Jesus von den Toten aufgeweckt, dass er hier schon endzeitlich-neuschöpferisch gehandelt hat. Für diejenigen aber, die dieses Zeugnis nicht nachvollziehen können, birgt dieser die Tradition übersteigende Anspruch die Gefahr in sich, die Einheit und Einzigkeit Gottes zu beeinträchtigen und also Gott zu lästern. So lautet die schließliche Frage an Jesus: „Wozu machst du dich selbst?“

Nach Hartwig Thyen (T447) darf daraus, dass Jesus nur auf den zweiten Teils des Vorwurfs seiner Gegner eingeht: „Sagen wir etwa nicht mit Recht, daß du ein Samariter und von einem Dämon besessen bist?“, nicht „eine besondere Nähe und/oder Sympathie Jesu (oder einer vermeintlichen ‚johanneischen Gemeinde‘) zu samaritanischer Theologie“ geschlossen werden. Er geht davon aus,

daß die Juden mit dem Vorwurf, Jesus sei von einem Dämon besessen, sein Wort von ihrer Teufels-Kindschaft zu konterkarieren und ihm so mit ,gleicher Münze‘ heimzuzahlen suchen. Die gegen Jesus gerichtete Anklage, er sei von einem Dämon besessen, kennen wir schon aus 7,20 und seine Gegner werden sie in 8,52 und 10,20 wiederholen. Einer „kanonischen Lektüre“ ist sie aus dem synoptischen Vorwurf geläufıg, Jesus treibe die Dämonen mit Hilfe Beelzebuls, des Herrschers über die Dämonen, aus (Mk 3,22ff; Mt 12,22ff. 9,34; 11,18; Lk 11,14ff). Ob Johannes diese Passagen als ,Prätexte‘ voraussetzt, ist darum schwer zu entscheiden, weil er – sicher nicht absichtslos – über den gesamten Komplex der Exorzismen Jesu schweigt.

Das Wort Jesu über das Sterben in euren Sünden (8,24) könnte nach Thyen (T447f.) aber durchaus „als ein Signal dafür verstanden werden, daß der Erzähler hier mit dem Disput über die ,unvergebbare Sünde‘ in den eben genannten synoptischen Texten spielt.“ Ob Johannes (T448) „die Erzählungen über Dämonen-Austreibungen“ deswegn ignoriert, weil er die „vielen Dämonen auf den einen archōn tou kosmou toutou {Fürsten dieser Welt} als ihren Herrscher“ reduziert, den Jesus „durch seine ,Erhöhung‘ an das Kreuz“ besiegt, wird, so Thyen, „unten zu 12,31; 14,30 und 16,11 zu erörtern sein.“

Weiter fasst Thyen „Jesu Reaktion auf den Vorwurf der Juden, er sei von einem Dämon besessen, wie ein Samaritaner“, in den Versen 49-51 wie folgt zusammen:

„Ich (für meine Person) bin jedenfalls mitnichten von einem Dämon besessen. Ich erweise vielmehr nur meinem Vater die ihm allein gebührende Ehre, die ihr mir (als dem von ihm Gesandten und damit zugleich auch ihm, dem Sender) verweigert. Im Gegensatz zu euch (de) suche ich nicht meinen eigenen Ruhm. Da ist vielmehr ein anderer, der um (meinen) Ruhm besorgt ist und (über die, die mich beleidigen) urteilen wird. Amen, Amen ich sage euch: Wenn einer mein Wort bewahrt, wird er den Tod in Ewigkeit nicht schauen“.

Dabei nimmt er das Bleiben bei seinem Wort aus Vers 31 wieder auf, allerdings mit dem Unterschied,

daß es, dem generalisierenden Charakter des doppelten Amen entsprechend, jetzt tis {wer} anstelle von hymeis {ihr} heißt. Mit diesem unscheinbaren Austausch der Lexeme erhebt der Erzähler das „Einst“ unseres erzählten Streitgesprächs in den Rang einen unvergänglichen Verheißung für jeden potentiellen Leser.

In den Versen 52-53 „mißverstehen Jesu Antagonisten seine Rede, als hätte er für sich und für die Seinen je Unsterblichkeit reklamiert“, obwohl er, so Thyen, „von Anfang an und zunehmend deutlicher“ von seinem bevorstehenden Tod gesprochen hat:

Darum will beachtet sein, daß Jesu Verheißung, wer immer sein Wort bewahre, den Tod nicht sehen werde in Ewigkeit … unmittelbar auf den Satz folgt: estin ho zētōn kai krinōn {es ist Einer, der sucht und richtet}. Und diese Folge kann ja nur bedeuten, daß gerade im Blick auf das unbestreitbare und unbestrittene Sterbenmüssen aller Menschen der Weltenrichter als der zētōn kai krinōn {Suchende und Richtende} alle, die in dem Wort dessen bleiben, den er gesandt hat, vor dem Geschick des ewigen Todes und des Ausgelöschtseins aus seinem Gedächtnis bewahren will.

Zum wiederholten Male muss hier darauf hingewiesen werden, dass Thyens jenseitsweltliche Interpretation des ewigen Lebens nicht unbedingt der Vorstellung des Johannes entspricht, der wohl eher Israels Leben der kommenden Weltzeit auf der Erde unter dem Himmel Gottes erwartete.

Dass „die jüdischen Antagonisten Jesu seinen Satz jetzt nahezu wörtlich wiederholen“, dabei jedoch nicht vom Sehen, sondern vom Schmecken des Todes reden, begreift Thyen (T449) „als ein absichtsvoll gesetztes Signal“ für ein Spiel mit Markus 9,1:

Und er sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie sehen das Reich Gottes kommen mit Kraft.

Dabei transformiert er „die synoptische Rede von der basileia tou theou {Königreich Gottes} hier, wie auch sonst stets, … in diejenige vom ,ewigen Leben‘.“

Interessant ist nun, mit welcher Begründung Thyen den erstmals von Edwin A. Abbott <698> vertretenen Vorschlag ablehnt, „daß theōrēsē {sehen} auf den spirituellen, geusētai {schmecken} dagegen auf den physischen Tod bezogen werden müsse“. Er meint nämlich, dass

jede derartige Trennung einer spirituellen Welt von den widerständigen Realitäten der physischen Welt … die symbolische Sprache unseres Evangeliums zu Unrecht zur allegorischen Rede von einer ,Hinterwelt‘ [macht]. Demgegenüber besagt jedoch schon der fundamentale Prologsatz: kai ho logos sarx egeneto [und das Wort ward Fleisch], programmatisch, daß der vom Vater zu ihrer Rettung in die Welt entsandte Sohn sich bis hin zum Erweis der ,größten Liebe‘, die einer überhaupt üben kann, nämlich bis hin zum ,Sterben für seine Freunde‘ (15,13) und zur ,Hingabe seines Fleisches für das Leben der Welt‘ (6,51) rückhaltlos auf diese empirische Welt eingelassen hat.

Anscheinend geht diese Einsicht Thyen aber nicht so weit, dass er auch das Leben der kommenden Weltzeit als eine irdische Realität begreifen würde, ganz im Sinne der biblisch-prophetischen Verheißungen.

Ton Veerkamp <699> legt den doppelten Vorwurf der Gegner Jesu und Jesu Reaktion darauf in den Versen 48-50 folgendermaßen aus:

Auf den Vorwurf, „ihr könnt nicht zuhören, weil ihr nicht aus Gott seid“, kann nur die Antwort kommen: „Du bist besessen“ (daimonion echeis). Nicht nur das; Jeschua wird auch zu einem Samaritaner (Samaritēs) gemacht, d.h. zu einem, mit dem die Judäer nicht verkehren (4,9). Wie wir in Johannes 4 gesehen haben, gehören die Samaritaner zu den Kindern Israels. Nicht das Wort Samaritaner entwürdigt, sondern die Absicht, Jeschua aus der Gemeinschaft der Judäer, also Israels, zu entfernen. Jeschua fasst den Vorwurf als „Entwürdigung“ auf (atimazete). Seine Würde (timē) und seine Ehre (doxa) erhält Jeschua nicht von Menschen, sondern von einem, der „sucht und urteilt“. Was sucht Jeschuas Gott? Solche, „die sich vor ihm durch Treue inspiriert verneigen“ (4,23). Dieser wird „urteilen“, Jeschua muss sich hier nicht verteidigen.

Nach Veerkamp ist es das Stichwort des Urteils, das Jesus dazu veranlasst, „[u]nvermittelt … auf das alte Thema Weltzeitleben“ umzuschalten,

und zwar mit dem Ausdruck Amen, amen, mit dem die folgende Aussage besonderes Gewicht erhält. Das Urteil ist Gottes Sache, das haben wir wiederholt gehört, und wer das Wort Urteil hört, denkt an den Tod. Wer sich an das Wort Jeschuas hält, wird den Tod nicht schauen, bis die neue Epoche beginnt (eis ton aiōna). Das scheint den Gegnern der totale Unsinn zu sein. Sterben werden wir alle, gestorben sind alle, von Abraham bis zu den Propheten: „Zu wem machst du dich selbst?“

Johannes 8,54-59: Jesu Ehre vom VATER und Abrahams Freude über den Tag Jesu

8,54 Jesus antwortete: Wenn ich mich selber ehre, so ist meine Ehre nichts.
Es ist aber mein Vater, der mich ehrt, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott.
8,55 Und ihr kennt ihn nicht, ich aber kenne ihn.
Und wenn ich sagen würde: Ich kenne ihn nicht, wäre ich ein Lügner wie ihr.
Aber ich kenne ihn und halte sein Wort.
8,56 Abraham, euer Vater, wurde froh, dass er meinen Tag sehen sollte,
und er sah ihn und freute sich.
8,57 Da sprachen die Juden zu ihm:
Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen?
8,58 Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Ehe Abraham wurde, bin ich.
8,59 Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen.
Aber Jesus verbarg sich und ging zum Tempel hinaus.

[31. Juli 2022] In Johannes 8,54 übersetzt Klaus Wengst das Wort doxa nicht mit Ehre, sondern mit Herrlichkeit. Ihm zufolge zeigt die Antwort Jesu auf die Frage seiner Gegner: „Wozu machst du dich selbst?“,

dass er an dieser entscheidenden Stelle nicht von irgendeinem großartigen und beeindruckenden Reden und Handeln Jesu her argumentiert, sondern allein von Gott, von seinem österlichen Handeln her: „Wenn ich mich selbst verherrlichte, wäre meine Herrlichkeit nichts.“ Jesus sucht gerade nicht die eigene Ehre, sondern geht den Weg in die größte Unehre: ans Kreuz. Auf diesem Weg kann er sich selbst gar nicht verherrlichen, sondern geht aller Ehre und Herrlichkeit radikal verlustig. Er kann sich nur ganz und gar Gott anheimgeben. Der aber sucht seinerseits seine Ehre im Kreuz Jesu: „Es ist mein Vater, der mich verherrlicht“. Diese Aussage kann nur vom Glauben her gemacht werden, dass Gott Jesus von den Toten aufgeweckt hat. Daran hängt die Gewissheit des auf Jesus bezogenen Glaubens. Nur der Glaube, dass in diesem Weg Jesu und gerade an seinem Ende Gott selbst zum Zuge kommt, lässt hier von „Herrlichkeit“ sprechen.

Dieser Gott, der in Jesus gegenwärtig ist, ist aber „nicht irgendein Gott“, sondern der, von dem seine jüdischen Gegner sagen: „Unser Gott ist er.“ Das heißt für Wengst:

Obwohl „die Juden“ nur zehn Verse vorher bezichtigt worden sind, vom Teufel zu sein, den Teufel zum Vater zu haben, gilt doch, dass es derselbe Gott ist, den Jesus im Johannesevangelium seinen Vater nennt und von dem sie als ihrem Gott reden. Man wird sagen müssen, dass es gerade diese Voraussetzung desselben Gottes ist, die die Auseinandersetzung in der Situation des Evangelisten so unerbittlich scharf werden lässt.

Die Schärfe dieses Streits zeigt sich wieder, wenn Jesus in Vers 55 seinen Gegnern vorwirft, genau den Gott Israels nicht zu kennen: „Aber ihr habt ihn nicht erkannt, ich jedoch kenne ihn.“ Dazu zitiert Wengst (W287f.) als rabbinische Parallele, <700> dass

Rabbi Tarfon bei Gefahr einen Götzentempel betreten will, auf keinen Fall aber das Haus von Häretikern, und das damit begründet, dass Götzendiener Gott nicht kennen und ihn verleugnen, Häretiker ihn kennen und doch verleugnen.

Das heißt (W288): In dieser Auseinandersetzung „ist nicht die Selbigkeit Gottes, des Gottes Israels, sondern der Ort seiner Präsenz“ umstritten:

Johannes spitzt diesen Streit um die Präsenz Gottes in Jesus zu einem scharfen Entweder-Oder über die Erkenntnis Gottes überhaupt zu. Wer die Präsenz Gottes in Jesus bestreitet, dem bestreitet er, Gott zu kennen.

Indem Jesus sagt: „Und wenn ich sagte: ,Ich kenne ihn nicht‘, würde ich gleich euch zum Lügner“, bezeichnet er „die Juden“ als „Lügner“, so wie „in V. 44 der Teufel … charakterisiert worden“ war:

Weil sie die Präsenz Gottes in Jesus nicht wahrnehmen können, werden sie auf die Seite des Teufels gestellt. Solche Logik eines radikalen Entweder-Oder dürfte sich aus der realen Situation nähren, in der Jesusbekenner als Häretiker eingeschätzt und behandelt wurden und sich an den Rand gedrängt erfuhren. Die so Ausgeschlossenen schließen ihrerseits die Ausschließenden aus der Erkenntnis Gottes aus, indem sie diese exklusiv an die Anerkennung seiner Präsenz in Jesus binden.

Dass die Verteufelung der Juden durch Jesusbekenner aus ihrer Opferrolle heraus verständlich ist, wie J. Louis Martyn meint und wogegen sich Adele Reinhartz zu Recht verwahrt, hatte Wengst bereits zur Auslegung von Johannes 8,19 erwogen (vgl. dort insbesondere meine Anm. 663 und Anm. 664). Aber wie soll man aus dem antijüdischen Fahrwasser herauskommen, wenn man Jesus auf rein religiöser Ebene als den bekennt, in dem nun der Gott Israels präsent sein soll, während er zuvor in der Tora präsent war? Wengst meint zwar, dass er Letzteres für die Juden nach wie vor bleiben soll, auch wenn sie Jesus nicht als Messias anerkennen, aber damit stellt er sich definitiv gegen den Johannestext. In meinen Augen ist die Agitation der Johannesgruppe gegen rabbinische Juden, die gegenüber messianischen Abtrünnigen nochmals eine Verschärfung erfährt, nur dann einigermaßen nachvollziehbar, wenn sie in einem innerjüdischen Kontext begriffen wird: Dann werden Juden nicht von Jesusanhängern verteufelt, die sich im Grunde schon von der Religion des Judentums verabschiedet haben und sich inzwischen für das wahre Israel halten, sondern messianische Juden werfen ihren anti-messianischen Mitjuden deren Feindschaft gegen den Messias vor, die in ihren Augen einer Kollaboration mit Rom als dem politischen Widersacher des befreienden Gottes Israels und seines Messias gleichkommt. Auch eine solche politische Verteufelung in dieser überzogenen Form muss man aus heutiger Sicht kritisieren, da sich die Hoffnung des Johannes auf den baldigen Anbruch der kommenden Weltzeit ja nicht erfüllt hat und statt dessen die christliche Kirche ihren Siegeszug antrat, die zur Rechtfertigung der Enterbung Israels und der Verteufelung der Juden nur allzugern auf das Johannesevangelium zurückgriff.

Zurück zur Auslegung von Wengst (W288). In Johannes 8,55 war „die Möglichkeit, dass Jesus Gott etwa nicht kennen könnte, nur aufgetaucht …, um seine Gesprächspartner negativ zu qualifizieren“; dagegen stellt er die positive Aussage: „Aber ich kenne ihn und halte sein Wort“:

Damit stellt er einen Bezug auf die Verheißung in V. 51 her. Kenntnis Gottes und Halten seines Wortes gehören zusammen. Kenntnis Gottes gibt es durch sein Wort und diese Kenntnis bewährt sich im Halten des Wortes. Indem Jesus sich als den charakterisiert, der Gottes Wort hält, macht er deutlich, dass sein Wort kein anderes ist als das Wort Gottes. Der Hinweis auf das Wort Gottes enthält zugleich die Möglichkeit, aus der den Kontext bestimmenden Logik des Entweder-Oder herauszukommen – wenn Christen wahrnehmen, dass es Kennen und Halten des Wortes Gottes im Judentum gab und gibt.

Aber, wie gesagt: Diese Möglichkeit gibt es nach der rein religiösen Auslegung des Johannesevangeliums nicht. Die Frage ist, aus welchem religiösen Grund es so scharf bestreiten sollte, dass es ohne das Vertrauen auf Jesus keine Kenntnis Gottes gibt, wenn damit das Judentum nicht doch als defizitäre Religion abgeurteilt wird. Nachvollziehbarer ist für mich, dass Johannes in einer theologisch-politischen Perspektive rigoros die Möglichkeit bestreitet, dass die Tora unter römischen Bedingungen noch gehalten werden kann. Es kann im weltweiten Sklavenhaus kein jüdisch-tora-konformes Leben mehr geben, getrennt von den Völkern in einem eigenen Gelobten Land! Da aber nach den johanneischen Messianisten der Kreuzestod des Messias Jesus bereits den römischen Widersacher und seine Weltordnung überwunden und das Leben der kommenden Weltzeit hat anbrechen lassen, müssen alle, die sich dieser Hoffnungsperspektive verschließen, als Kollaborateure mit Rom und Gegner des befreienden Gottes Israels gelten, der den Messias gesandt hat.

In Vers 56, so Wengst, „kommt Jesus auf die Gestalt Abrahams zurück“, um die noch ausstehende Frage von Vers 53 zu beantworten,

ob er denn größer sei als „unser Vater Abraham“. Er antwortet so, dass er die Perspektive Abrahams einnimmt und diesen auf sich blicken lässt: „Abraham, euer Vater, hat darüber gejubelt, dass er meinen Tag sehen sollte. Und er hat ihn gesehen und sich gefreut.“

Im Hintergrund dieser Aussagen Jesu sieht Wengst (W288f.) rabbinische Traditionen: <701>

Nach jüdischen Traditionen hat Gott Abraham Zukünftiges gezeigt. Er ließ ihn den Gehinnom sehen, dazu die Gabe der Tora, die Spaltung des Schilfmeeres, das Heiligtum samt den Opferordnungen und die vier Königreiche, die Israel versklaven würden. Nach einer weiteren Tradition offenbarte er ihm nach der ersten Meinung nur diese Weltzeit, nach der zweiten diese und die kommende Weltzeit. Letzteres ist in V. 56 vorausgesetzt, wenn es heißt, dass Abraham darüber gejubelt hat, den Tag Jesu zu sehen. Dessen Zeit gilt damit als die endzeitliche Heilsfülle, die Abraham prophetisch erblickt. So wird er Jesus zugeordnet. Wie sollt dieser daher nicht „größer“ sein?

Damit stellt sich natürlich wieder die Frage, was konkret mit der endzeitlichen Heilsfülle gemeint ist. Läuft diese darauf hinaus, dass Jesu Auferstehung als Unterpfand für ein christliches Leben in der Gewissheit der Auferstehung zum jenseitsweltlichen ewigen Leben gelten darf? Oder meint Johannes den Anbruch der kommenden Weltzeit, nachdem Jesus am Kreuz diese Welt, nämlich die versklavende römische Weltordnung, bereits endgültig besiegt hat?

Im Einwand (W289) der Gesprächspartner Jesu in Vers 57: „Du bist noch keine fünfzig Jahre und hast Abraham gesehen?“, kehren sie die Blickrichtung um. Sie stellen zwar nicht in Frage, dass „Abraham bis in die Gegenwart der Gesprächsteilnehmer gesehen hat“:

Aber woher weiß Jesus, dass Abraham über das Sehen seines „Tages“ gejubelt und sich gefreut hat? Das könnte er nur wissen, wenn er seinerseits Abraham gesehen hätte. Dafür aber reicht sein Lebensalter bei weitem nicht weit genug zurück. Aus ihrer Perspektive gesehen dient die Erwähnung, dass Jesus noch keine 50 Jahre alt ist, also dazu, seinen Anspruch ad absurdum zu führen.

Die Antwort Jesu in Vers 58 stellt heraus, dass er „auf einer anderen Ebene als der chronologisch ablaufender Zeit zu verstehen ist“. Er antwortet nämlich:

„Bevor Abraham war, bin ich.“ Johannes schreibt nicht, dass Jesus vor Abraham war. Er setzt vielmehr wieder das absolute „Ich bin“, das das biblische „Ich bin“ Gottes aufnimmt. In Jesus spricht Gott selbst sein „Ich bin da“, ist er präsent. Diese Aussage kann angesichts des Todes Jesu nur vom Zeugnis her gemacht werden, dass Gott in der Auferweckung Jesu endzeitlich neue Schöpfung heraufgeführt hat und so im verkündigten Jesus weiter spricht und schafft, wie er im Anfang durch das Wort geschaffen hat. Dass Jesus so in die Dimension Gottes gehört, hatte schon der Prolog herausgestellt. In dieser Weise, die die Kategorie der fortlaufenden Zeit sprengt, ist er vor Abraham.

Formal stimmt Wengst darin mit der Auffassung Veerkamps überein. Aber inhaltlich beschränkt sich bei ihm die endzeitliche Neuschöpfung auf die Schaffung einer neuen Gemeinde aus den Völkern, die zum Gottesvolk der Juden hinzukommt, wie Paulus und Lukas es verstehen. Dass sich im biblischen „Ich bin“ Gottes sein befreiender NAME kundtut, der im Kreuzestod des Messias mit der Überwindung Roms die neue Weltzeit heraufführt, kommt für ihn nicht in den Blick.

Nach Wengst muss jedenfalls die „ungeheure Dichte, in der hier Gott und Jesus zusammengedacht werden“, seine Gesprächspartner ungeheuer „befremden“, ja, „geradezu als gotteslästerlich“ erscheinen, denn von ihnen wird ja „der Osterglaube“, der die Voraussetzung dafür darstellt, „nicht geteilt“. Daher besteht ihre letzte Antwort auf Jesus in dieser Auseinandersetzung in Vers 59 schließlich aus einer

handgreifliche[n] Reaktion…: „Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen.“ Ohne dass es verbalisiert wird, ist damit ausgedrückt, dass das Reden Jesu als Gotteslästerung gilt; denn nach Lev 24,11-16 soll der Gotteslästerer gesteinigt werden.

Damit, so Wengst (Anm. 503) „wird zugleich die vorher unterstellte Tötungsabsicht bestätigt.“ Allerdings bringt Jesus diese zu diesem Zeitpunkt erneut zum Scheitern, denn (W289)

auch hier stellt Johannes Jesus als den Überlegenen dar: „Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Heiligtum.“ Hatte Jesus schon das letzte Wort, so beschließt er die Szene auch durch seine Tat. Damit ist diese quälende Diskussion beendet.

Hartwig Thyen zufolge (T449) haben Jesu Gegner am Ende von Vers 53 ihre

Anklage Jesu als eines hybriden {vermessenen} Gotteslästerers und seiner Rede als ‚dämonischer Anmaßung‘ … in die rhetorische Frage gekleidet: tina seauton poieis? {Was machst du aus dir selbst?} Doch in Anknüpfung an diese Frage und im Widerspruch zu ihr antwortet Jesus ihnen nun: „Ja, wenn ich danach trachtete, meinen eigenen Ruhm zu begründen (wie ihr mir unterstellt), dann wäre dieser Ruhm in der Tat nichts als eitle Hybris. Doch es ist ja mein Vater, der meinen Ruhm ausbreitet (ho doxazōn me), von dem ihr behauptet: ‚er ist unser Gott‘.

Auch seine Auslegung der Verse 54-55 kleidet Thyen in die Form einer schlichten Nacherzählung (T449f.):

Wenn Jesus dann fortfährt: „Doch den kennt ihr (gar) nicht (ouk egnōkate auton). Ich aber kenne ihn. Und wenn ich je behaupten wollte, ihn nicht zu kennen, machte ich mich zum Lügner, wie ihr Lügner seid. Ich kenne ihn jedoch und bewahre sein Wort. Abraham, euer Vater, brach in Jubel aus darüber, daß er meinen Tag sehen sollte. Und voller Freude sah er ihn!“, so bestreitet er damit nicht etwa Gottes Offenbarungen in der Geschichte Israels, sondern die Asebie {Gottlosigkeit} seiner konkreten Antagonisten in dieser Szene.

Ähnlich (T450) wie Johannes in seinem fünften Kapitel „bereits Mose als den Zeugen Jesu aufgerufen“ hatte, was er in 12,37ff. auch mit Jesaja tun wird, so bringt er hier Jesus in eine sehr intensive Beziehung zu Abraham. Dazu beruft sich Thyen wieder auf Friedrich-Wilhelm Marquardt, <702> der zu

unserem achten Kapitel erklärt …, Johannes habe darin „eine dreiteilige Diskussion zwischen ,den Juden‘ und Jesus über die Bedeutung Abrahams zusammengestellt: 1. über die Freiheit von Abrahams Nachkommen: ob sie wirklich Freiheit sei, d.h. ob sie auch praktizierte Freiheit von der Sünde sei (8,30-36); 2. über die Abrahams-Kindschaft: ob sie anderswie einen Wert beanspruchen könne als im Tun der Werke Abrahams (8,37-47); 3. über Abrahams Sterblichkeit und seinen eschatologischen Jubel (8,48-59).“

Diesen dritten Gesprächsteil deutet Marquardt folgendermaßen:

„,Euer Vater‘ – also der Ahn der Juden – steht genauso in einer Beziehung zu Jesus wie zu ihnen, wenn auch nicht in der gleichen; Jesu Verhältnis zu Abraham ist mehr als genealogisch, nämlich geschichtlich. Zwischen ihnen besteht eine Freuden- und Jubelrelation; vom Wortsinn aus könnte man auch von einer demonstrativen Beziehung sprechen: Jesus sagt, daß Abraham voll Stolz und Freude für ihn demonstriert habe. Johannes läßt Jesus von dieser Jubeldemonstration wie von einem sich steigernden Geschehnis sprechen. Zuerst jubelte Abraham dem zu, daß er den Tag Jesu sehen sollte, dann sah er den Tag auch wirklich, und indem er ihn sah, freute er sich; im Jubel Abrahams steigern sich also eine Verheißung und eine Erfüllung, er ist in sich bewegt, wird ausgelöst von einer Zukunft, ausgekostet aber in einer Gegenwart. – Abrahams Jubel richtet sich nicht auf Jesu Person, sondern auf seinen ,Tag‘; wir wissen schon: auf Jesu Todes- und Verherrlichungstag; wie Mose, wie Jesaja, so ist auch Abraham intensiv auf Tag und Stunde der Lebensverherrlichung Jesu ausgerichtet“.

Damit unterscheidet Marquardt Thyen zufolge zu Recht zwischen den beiden Sätzen: „Abraham, euer Vater, brach in Jubel darüber aus, daß er meinen Tag sehen sollte“ und dem anderen: „Er sah ihn wirklich und freute sich“. Beide verweisen „auf eine sich steigernde Folge zweier Ereignisse im Leben Abrahams“. Thyen sieht damit (T450f.) „den Patriarchen Abraham als Zeugen Jesu und der durch ihn angebrochenen eschatologischen Freude über die Jahrhunderte hinweg unmittelbar neben Johannes den Täufer“ gestellt, der in 3,29 ebenfalls von seiner erfüllten Freude gesprochen hatte.

Den „Tag Jesu“ will Thyen (T451) gegen Marquardt allerdings nicht nur auf „die ‚Stunde‘ seiner Erhöhung und Verherrlichung, also sein Sterben und Auferstehen“ beziehen:

Denn Jesu bei Johannes singuläre Rede von seinem „Tag“ dürfte sicher nicht absichtslos die biblischen Texte vom jom jhwh (Am 5,18ff u. ö.) sowie die synoptischen vom „Tag“ oder von „den Tagen des Menschensohnes“ (Lk 17,22ff parr. u. ö.) und deren eigentümliche Transformation in der ,johanneischen Eschatologie‘ in Erinnerung rufen. Darum dürfte hē hēmera hē emē {mein Tag} hier das Ganze der ,Sendung‘ Jesu bezeichnen von der Inkarnation des logos an bis hin zur Verherrlichung des erhöhten Menschensohns und seiner durch den Parakleten vermittelten bleibenden Gegenwart…

Worauf aber ist „die Verheißung, die Abrahams Jubel auslöste“, zu beziehen? Nach Thyen kann man angesichts der zahlreichen Möglichkeiten darüber nur „Mutmaßungen“ anstellen, etwa

daß durch Abraham „alle Geschlechter der Erde gesegnet sein sollen“ (Gen 12,3); daß Abraham der Verheißung glaubte, seine Nachkommenschaft werde so zahlreich sein wie das Heer der himmlischen Sterne, und daß dieser Glaube ihm „zu Gerechtigkeit angerechnet wurde“ (15,5f); daß der Hundertjährige „lachte“ als ihm Isaaks Geburt aus der längst unfruchtbaren Sara verheißen wurde (Gen 17,17). … Auch daß nach Gen 18,1 JHWH selbst bei der Terebinthe von Mamre Abraham erschien, wird man ebenso wie die Erzählung von der Akeda {Bindung} Isaaks (Gen 22) in den Kreis der möglichen Anspielungen einbeziehen müsse, zumal die letztere das jüdische Denken ja auf vielen Feldern so nachhaltig bestimmt hat. Und endlich könnte Johannes, ähnlich wie Paulus in Gal 3,16, ja auch die erneute Verheißung, die an Abraham erging, als er anstelle seines Sohnes das von Gott dazu ersehene Lamm geopfert hatte (Gen 22,16ff), christologisch gedeutet haben. … Sicher scheinen nur die Aoriste ēgalliasato {er jubelte} und idē {er sah} zu verbürgen, daß wir beide Anlässe der Freude Abrahams in seinem irdischen Leben suchen müssen… {und nicht etwa} auf einen Abraham …, der postmortal im Paradies zum Augenzeugen der Inkarnation geworden wäre…

Den Abschluss des Kapitels 8 in den Versen 57-59 fasst Thyen so zusammen (T452):

„Da sagten die Juden zu ihm: Du bist doch noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, und da willst du Abraham gesehen haben? Und Jesus antwortete ihnen: ,Amen, Amen ich sage euch: Ehe Abraham wurde (prin Abraam genesthai), bin ich‘. Daraufhin hoben sie Steine auf, um ihn damit zu steinigen. Doch Jesus verbarg sich vor ihnen und ging aus dem Tempel hinaus“.

Dabei sieht Thyen die „,fünfzig Jahre‘ … als eine ,runde Zahl‘ dem um viele Jahrhunderte ,älteren‘ Abraham gegenübergestellt“; Jesus hat dementsprechend noch nicht einmal das „Pensionsalter“ der Leviten erreicht, die mit Fünfzig „aus ihrem Tempeldienst“ scheiden. Anders als Wengst sieht Thyen in der Frage seiner Gegenspieler: „und du als ein noch nicht Fünfzigjähriger willst Abraham gesehen haben?“, ein erneutes „Mißverständnis“, denn diesen „Anspruch“ hatte „er gar nicht erhoben“.

Die Formulierung: „Ehe Abraham wurde, bin ich“, die „das grammatisch harte Präsens eimi“ statt eines „Tempus der Vergangenheit“ bietet, sieht Thyen einerseits (T452f.) als
ein Spiel mit dem schon aus 6,20; 8,24 und 28 geläufigen absoluten und durch Jes 42f inspirierten egō eimi, zum anderen aber werden hier wie bereits im Prolog: „gebräuchliche Wörter auf ungewöhnliche Weise verwendet“. Damit hatte F. Kermode <703> die Beziehung zwischen dem ēn {war}, das in den beiden Eingangsversen des Prologs gleich vierfach gebraucht wird, und dem ihm folgenden egeneto {wurde} charakterisiert (s. o. zu Joh 1,1f). Wie das eimi {bin} von 8,58 im Selbstzeugnis Jesu, so hatte das ēn {war} in der hymnischen Sprache des Prologs nicht den episodischen Sinn eines „Es war einmal …“, sondern diente der dreifaltigen Bestimmung des logos hinsichtlich seiner Existenz (en archē ēn {er war im Anfang}), seiner Relation zu Gott (ēn pros ton theon {er war bei Gott}) und seiner Prädikation als Gott (theos ēn {er war Gott}). Mit einem vierten ēn {war} rekapituliert V. 2 das noch einmal. Es geht also nicht darum, die Geschichte einer vergangenen Zeit zu erzählen, sondern allein darum, mit Hilfe der Wörter ēn {war} und egeneto {wurde} das ewige „Sein“ des Logos jenseits von Sein und Zeit zu preisen. Beide Wörter definieren sich wechselseitig und das macht sie zur „Achse“, um die sich in diesem Prolog alles dreht; und indem ihr Kontext sie vom normalen Sprachgebrauch trennt, werden sie zu einer „eigentümlich verschlüsselten Kraft“, die sie für die Lektüre des gesamten Evangeliums bestimmend werden läßt.

Schon zur Auslegung von Johannes 1,1a habe ich meine Bedenken dazu geäußert, dem Gott Israels auf diese Weise ein ewiges „Sein“ im Sinne griechisch-philosophischer Begrifflichkeiten zuzuschreiben. Da Thyen jedoch an dieser Stelle das viermalige „war“ des Prologs mit dem „bin“ von 8,58 parallelisiert, kann ich jetzt noch deutlicher herausarbeiten, warum es so problematisch ist, wenn Thyen schreibt (T453):

Wie das ēn im Prolog so bezeichnet hier das eimi das Sein im Unterschied zum Werden und Geschehen (egeneto). Während alles Werden und Geschehen einen Anfang ebenso wie ein Ende hat, ist das Sein dagegen anfangs- und endlos. ēn prädiziert ebenso wie hier eimi den transzendenten Schöpfer, egeneto aber die Welt der geschaffenen Dinge.

Das entscheidende Problem mag sein, dass Thyen von der griechischen Übersetzung des NAMENS mit egō eimi ho ōn {Ich bin der Seiende} her auch griechisch-philosophische Deutungen des Wesens Gottes übernimmt, als ob der NAME ein anfangs- und endloses und letztlich unveränderliches Sein ausdrücken wolle. Im hebräischen Urtext wird der Gottesname JHWH dagegen mit der Formulierung ˀehjeh ˀascher ˀehjeh gedeutet, die man wörtlich mit „ich geschehe, als der ich geschehe“ übersetzen müsste und deren zentraler Inhalt die Befreiung Israels aus jedem Sklavenhaus ist, und zwar sogar dann, wenn sich Israel selbst in ein solches verwandelt hat oder wenn im Dienst der Befreiung Israels die ganze versklavende Weltordnung überwunden werden muss (was Jesus in Johannes 16,33 als Ergebnis seines Wirken darstellt).

Zwar ist Thyen Recht zu geben, wenn er zu den Worten egō eimi erläutert:

Und wie dieses ,Ich bin‘ immer zugleich ein ,Ich war‘ und ein ,Ich werde sein‘ einschließt, so läßt sich auch das ēn des Prologs nicht auf irgendeinen kalenderzeitlichen Abschnitt reduzieren, sei das in die Zeit vor dem Sündenfall oder sei es in die Zeit des historischen Jesus.

Der Gegensatz dazu ist aber nicht etwa ein überzeitliches ewiges unveränderliches Sein eines Gottes, der der Gottesvorstellung griechischer Philosophen nahekommt, sondern ganz im Gegenteil ein immer wieder neues veränderndes befreiendes Wirken des Gottes Israels, durch den jede angeblich unveränderliche Weltstruktur ihr statisches Sein verliert. Es ist dieser NAME, der sich in Jesus verkörpert.

Wenn man also die Worte ēn in Johannes 1,1-2 und eimi in 8,58 so eng aufeinander zu beziehen versucht wie Thyen, dann ist es viel naheliegender, das Präsens des eimi von 8,58 auch in die Übersetzung von 1,1-2 zu übertragen und dort das Wort ēn lieber mit „ist“ zu übersetzen als mit „war“ (wie es ja auch Ton Veerkamp vorgeschlagen hat). So bleibt deutlich, dass Gottes Wort immer wieder neu seine befreiende Kraft erweist, bis hin zum endzeitlichen Wirken des Messias Jesus.

Zu Vers 59 geht Thyen zwar kurz auf Spekulationen anderer Exegeten ein, warum dort überhaupt Steine herumlagen oder ob es den „nahezu unvorstellbaren Vorgang einer Steinigung innerhalb des heiligen Tempelbezirks“ gegeben haben könnte, aber da er unsere Szene kaum für historisch hält, „sondern sie als eine fiktionale Komposition des Evangelisten“ ansieht, „braucht uns hier die Frage nach der Wahrscheinlichkeit einer Steinigung im Heiligtum und nach dem Woher der dazu notwendigen Steine nicht zu kümmern.“

Das im Passiv stehende Wort ekrybē, das gewöhnlich mit „er verbarg sich“ übersetzt wird, will Thyen „hier als wirkliches Passiv beim Wort … nehmen: ‚er wurde verborgen‘. In diesem Sinn erklärt Morris: <704> „Johannes will damit vielleicht andeuten, dass Gott seinen Sohn beschützt hat. Es geht nicht so sehr darum, dass Jesus sich durch überlegene Klugheit vor ihnen verbergen konnte“.

Nach Ton Veerkamp <705> sind die Verse 54-55 von der totalen Identifikation Jesu mit dem Gott Israels her zu verstehen:

Das Thema „Ehre“ erklingt wieder. Die Ehre kommt von jenem Gott, den auch die Gegner für ihren Gott halten. Sie erkennen ihn aber nicht. Wenn beide Parteien das Wort „Gott“ bemühen, meinen sie jeweils etwas anderes. Wenn ich, so Jeschua, sagen würde, ich habe kein Wissen von Gott, wäre ich wie ihr, ein Betrüger. Er hat sich derart mit dem Gott Israels identifiziert, dass alles, was er sagt und tut, von Gott selbst kommt: „Sein Wort bewahre ich!“ Wer das nicht hören will, zeigt, dass er kein Wissen von Gott hat.

Eine Frage ist im bisherigen Streitgespräch noch offen geblieben:

Bleibt das Thema Abraham. Was heißt Weltzeitleben, fragen sie, sogar Abraham sei gestorben, was solle also dieses Gerede über „nicht sterben“? Zu wem machst du dich selber?

Also Abraham. Abraham ist zwar gestorben, aber noch nicht fertig mit dem Leben. Sein Lebensziel sei erreicht, so Jeschua, wenn „sein Tag“ gekommen sein wird. Abraham, euer Vater, habe gejubelt, dass er Jeschuas Tag sehen soll. Euer Vater – das wird nie in Abrede gestellt. Jeschua sagt ihnen, dass ihr Vater den Tag Jeschuas bejubeln sollte. Er, der ja nach der Auffassung aller Judäer inklusive Jeschua in der Verborgenheit Gottes lebt, hat ihn tatsächlich gesehen. Im Evangelium ist oft von Jeschuas Stunde die Rede, nur an dieser Stelle von seinem Tag. Der Tag, um den es hier geht, ist die hēmera eschatē, der Tag der Entscheidung.

Wie so oft, nimmt Jeschua das unvermeidliche Missverständnis in Kauf. Jeschua ist kein sehr alter Mann, nicht einmal fünfzig Jahre alt, also kann Abraham seinen Tag nicht gesehen haben. Das ist kein platter Einwurf, wie sollten sie denn sonst reagieren?

Um „den entscheidenden Satz“ auszulegen, der durch diesen Einwurf veranlasst wird und den Veerkamp folgendermaßen übersetzt: „Bevor Abraham geboren wurde: ICH WERDE DASEIN“, holt er weit aus. Denn für

das Verständnis dieses Verses ist die korrekte Lektüre des Buches Tholedoth/Genesis notwendig. Es erzählt, wie Israel zum Erstgeborenen unter den Völkern wurde. Es ist das Buch der geneseis {Zeugungen} (Plural), auf Hebräisch: tholedoth. Das Buch ist durch eine Reihe von geneseis, tholedoth, strukturiert, von Adam bis Jakob: tholedoth ˀAdam (5,1), tholedoth Noach (6,9), tholedoth bene-Noach (10,1), tholedoth Schem (11,10), tholedoth Terach (11,27), tholedoth Jischmaˀel und tholedoth Jitzchaq (Söhne Abrahams, 25,12 und 25,19), tholedoth ˁEsaw und tholedoth Jaˁaqov (Söhne Isaaks, 36,1 und 37,2). <706> Der Ausdruck tholedoth ˀAvraham kommt nirgendwo vor {vgl. die Auslegung von Johannes 1,13}. Abraham wurde von Terach, seinem VATER, gezeugt. Er ist das Subjekt des Zeugens seines Sohnes Isaak. Dieses aber ist ein Element der tholedoth Jitzchaq, Genesis 25,19:

Dies sind die Zeugungen Isaaks.
Abraham zeugte Isaak.
Isaak war ein Vierzigjähriger,
als er Rebekka nahm, die Tochter Betuels, des Aramäers …

Der Inhalt des Kapitels Zeugungen Terachs ist der Lebensweg Abrahams. Dass Abraham Isaak zeugte, ist das bestimmende Moment des Lebenswegs Isaaks gewesen. Prin Abraam genesthai darf nicht übersetzt werden: „Bevor Abraham war, bin ich.“ Das ist Ontologie, keine Schriftauslegung. Vielmehr ist an jalad, „zeugen“, zu denken, daher: „Bevor Abraham gezeugt/geboren wurde, ist der NAME da“, der Abraham zum Vater des Erstgeborenen unter den Völkern machte, vor der entscheidenden Wende in den Zeugungen (tholedoth) der Menschheit (ˀadam) gilt: Ich werde dasein, ˀehje, egō eimi.

Von daher ergibt sich für die Auslegung von Johannes 8,58 folgender Zusammenhang zwischen Jesus und Abraham:

Jeschuas politisches Programm ist bei Johannes die Wiederherstellung Israels als Erstgeborenes unter den Völkern, 10,16 in Verbindung mit 11,52. Abraham ist der Anfang gewesen, Jeschua ist die Vollendung des Lebenswegs Abrahams. Deswegen wird Jeschua Messias der Titel monogenēs, „Einziggeborener“, beigegeben; er ist der Ehrentitel Isaaks, des Einzigen (jachid, monogenēs) Abrahams, Genesis 22,2. Der Einziggeborene war die Freude Abrahams. Er sieht, dass das, was sein Gott durch ihn begonnen hat, durch Jeschua vollendet wird, die Toledot Israels. Es geht um die Werdung Israels (Genesis), und nur darum. Der NAME ist da, immer, vor der Genesis Israels, nach der Vollendung Israels, bevor Abraham, euer, unser Vater, geboren wurde, ist der NAME.

Warum kommt es nun zu dem Punkt, „an dem Steine Argumente ersetzen“, woraufhin sich Jesus der Konfrontation entzieht, „er verbarg sich“? Nach Veerkamp haben Jesu Gegner die von ihm erläuterte

Lektüre des Buches Genesis durch Johannes … nicht verstanden. Die Formulierung von 8,58 wird von ihnen als eine Provokation aufgefasst. Die Gegner können hier nur eine „Antastung des NAMENS“ (Leviticus 24,12) sehen. Das „Ich“ beziehen sie auf Jeschua selbst, der in frevelhafter Weise das ˀehje von Exodus 3,14 für sich in Anspruch nehme. Nach ihnen „tastet“ Jeschua „den NAMEN an“. Die Tora sieht für eine solche „Antastung des NAMENS“, also Gotteslästerung, die Todesstrafe durch Steinigung vor. Offenbar hat der „Kult“ des Messias Jeschua – Mein Herr und mein Gott, Johannes 20,28! – in den messianischen Gemeinden die Synagoge dazu gebracht, eine solche Gotteslästerung zu unterstellen. Freilich bemüht sich Johannes bzw. seine messianische Gemeinde nicht sonderlich darum, diesen Verdacht zu zerstreuen.

An dieser Stelle denke ich etwas anders als Veerkamp. Von Larry W. Hurtado <707> habe ich mich überzeugen lassen, dass Jesus von denen, die in ihm den Messias Israels sahen, bereits sehr früh gemeinsam mit dem VATER als die einzigartige Verkörperung des NAMENS angebetet wurde. Immerhin gab es eine solche Verehrung, die er „binitarisch“ nennt, bereits zu der Zeit, als Paulus mit der Jerusalemer Gemeinde in Kontakt kam, als unumstrittene Praxis auch in den so genannten judenchristlichen Gemeinden, was er folgendermaßen begründet:

Soweit wir den Briefen des Paulus entnehmen können, gab es nie einen Konflikt oder eine Beschwerde von Jerusalemer Führern oder von jenen Judenchristen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, Merkmale des paulinischen Christentums zu korrigieren, über die Christusverehrung, die in den paulinischen Gemeinden praktiziert wurde. Die natürlichste Schlussfolgerung ist, dass sich die Art der Anbetungsformen nicht sehr von dem unterschied, das in den judäischen Kreisen befolgt wurde, mit denen Paulus diese Kontakte hatte.

Daher dürften die Gegner Jesu im Johannesevangelium mit ihrer Einschätzung, Jesus begreife sich zumindest auch als Subjekt des egō eimi, meines Erachtens durchaus nicht im Unrecht sein. Damit steht und fällt allerdings ganz und gar nicht die ansonsten überzeugende Interpretation Veerkamps. Dass die totale Identifikation Jesu mit dem befreienden NAMEN im Sinne einer Antastung des NAMENS verstanden oder missverstanden werden konnte, deutet ja auch Veerkamp selbst im Schlusssatz seiner Auslegung zu Johannes 8,58 an. Für mich ist entscheidend, dass der jüdische Messianist Johannes Jesus als die Verkörperung alles dessen begreift, worauf der befreiende NAME des Gottes Israels in seinem Willen und Wirken hinaus will. Zur Antastung dieses NAMENS wird die Identifikation Jesu mit Gott dann, wenn dessen befreiender NAME unkenntlich wird, indem der rächende und strafende Gott Israels von Jesus und seiner allumfassenden Liebe her angeblich neu definiert werden muss.

Johannes 9,1: Jesus sieht im Vorübergehen einen Blindgeborenen

9,1 Und Jesus ging vorüber
und sah einen Menschen, der blind geboren war.

[1. August 2022] Klaus Wengst (W292) nimmt zwischen Johannes 8,59 und 9,1 einen deutlichen Einschnitt wahr, da mit „dem Steinigungsversuch in 8,59 und dem Herausgehen Jesu aus dem Tempel … der in 8,12 begonnene Zusammenhang seinen Abschluss gefunden“ hat und mit 9,1 „ein neuer eröffnet“ wird, „der zeitlich unmittelbar anschließt und örtlich außerhalb des Tempelbereichs in Jerusalem spielt.“ In der (Anm. 504) „spannend“ gestalteten „Szenenfolge in Kap. 9“ sieht er besonders deutliche Anspielungen „auf die Situation der Gemeinde des Evangelisten“. Wengst zufolge hat J. Louis Martyn <708>

in seinem wichtigen Buch (History) vor allem an diesem Kapitel zu zeigen versucht, dass hier ein synchrones Geschehen auf zwei Ebenen zur Darstellung kommt: einmal die erzählte Geschichte, die in der Zeit Jesu spielt, und gleichsam auf einer Bühne darüber die Auseinandersetzungen zwischen an Jesus glaubenden und nicht an Jesus glaubenden Juden im jüdischen Viertel der Stadt, in der der Evangelist und seine Gemeinde lebten.

Fast das ganze Kapitel 9 (W292) handelt von der Heilung eines Blindgeborenen durch Jesus und deren Folgen; die Auseinandersetzung Jesu „mit ‚welchen von den Pharisäern‘“, die sich daran anknüpft, „ist mit der Aussage in V. 41 nicht abgeschlossen, sondern wird in 10,1-18 breit entfaltet“, so dass Wengst den in 9,1 begonnenen Textzusammenhang erst in 10,21 abgeschlossen sieht, in dem „ausdrücklich auf die zu Anfang erzählte Blindenheilung“ Bezug genommen wird.

Obwohl nach Wengst in 10,22 mit der „Zeitangabe“ des Chanukka-Festes eine neue Szene eingeleitet wird und auch bemerkt (W293), dass das „jetzt erzählte Geschehen … unmittelbar an das Vorangehende“ anschließt, als sich „Jesus einer ihm drohenden Steinigung entzogen“ hatte, „indem er sich verbarg und aus dem Bereich des Tempels hinausging“, sieht er doch die Blindenheilung in keinem engen Zusammenhang mit dem bisherigen Geschehen am Laubhüttenfest, das in 7,2 begann und mit der Lichtsymbolik und dem heftigen Streit mit jüdischen Gegnern direkt auf das dadurch vorbereitete Zeichen der Blindenheilung zusteuerte.

Zum Vers 9,1 – „Im Vorübergehen erblickte er einen von Geburt an Blinden“ – stellt Wengst lediglich fest, dass es „keine Frage von Interesse“ sei, woran es denn „zu erkennen gewesen sei, dass sich der Blinde von Geburt an in dieser Situation befand“:

Es genügt, dass Johannes hiermit seiner Leser- und Hörerschaft diese Information gibt und sie bei den in der Erzählung Beteiligten als bekannt voraussetzt. Dass mit der Angabe „von Geburt an“ die Schwere des Falles und damit die Schwierigkeit der Heilung unterstrichen werden solle, wird zumindest nicht ausdrücklich gemacht.

Hartwig Thyen (T455) hatte bereits deutlich gemacht, dass er die „Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen … als die zweite Szene seines vierten Aktes (8,12-12,50)“ behandelt, aber in seinen Augen

ist sie für sich betrachtet, ebenso wie die Erzählung von der Auferweckung des toten Lazarus (11,11-44), doch ein eigenes kleines Dramolett mit einer Folge von sieben deutlich voneinander unterscheidbaren Auftritten wechselnder Konstellationen ihrer Personen. Und wie hier Jesu vorausgegangene Rede und sein Streit mit den Ioudaioi (8,20-59) durch das sēmeion der Heilung eines Blindgeborenen gleichsam autorisiert wird (9,1-39), so wird sein Dialog mit seinen Jüngern über die Krankheit des geliebten Freundes Lazarus (11,1-10) in den V. 11-44 durch das sēmeion von dessen Auferweckung aus dem Grabe seine Verifikation erfahren.

Zum Übergang vom 8. zum 9. Kapitel geht Thyen kurz auf W. D. Davies <709> ein, der

die letzten Worte des vorigen Szene: kai exēlthen ek tou hierou {und er ging aus dem Tempel hinaus}, in dem Sinne symbolisch begreifen will, daß der „Ich-Bin“, indem er den Tempel verlasse, nun den Ioudaioi definitiv den Rücken kehre, um sich der leidenden Menschheit zuzuwenden, die er in der Gestalt des Blindgeborenen vor den Toren des Tempels repräsentiert sieht…

Davon kann Thyen zufolge keine Rede sein, denn der Blinde ist auf jeden Fall wie die zuvor als Pharisäer und als Juden Bezeichneten ebenfalls

ein Jude, ein Sohn Abrahams, von denen (und zu dem) das Heil kommt. Und zum anderen wird Jesus ja beim Fest der enkainia {Chanukka, Tempelweihfest} in einer äußerst symbolträchtigen Szene…, „umringt von den Ioudaioi, erneut en parrhēsia {öffentlich} in der stoa tou Salomōnos {Säulenhalle Salomos} des Tempels lehren (10,22-39).

Für erwähnenswert hält es Thyen außerdem,

daß unsere neue Szene nicht durch ein meta tauta {danach} oder dergleichen und durch die erneute Nennung des Namens ho Iēsous {Jesus} vom Vorausgehenden getrennt, sondern durch kai paragōn eiden {Und vorübergehend sah er} und die in V. 2 folgenden Pronomina auton und autou {ihn und seine} so eng, wie nur irgend möglich, mit ihm verbunden ist.

Inhaltlich sieht er (T456) „die unmittelbare Zusammengehörigkeit von Joh 8 und 9“ dadurch als erwiesen an, dass Jesus nun als Gottes „messianischer Gesandter, auf dem der Geist JHWHS ruht (Jes 11,2; 42,1; Joh 1,32), und als der, der da erklärt: egō eimi to phōs tou kosmou {Ich bin das Licht der Welt} (8,12) … hier Gottes eigenes eschatologisches ‚Werk‘ an dem Blindgeborenen (9,3f)“ vollstreckt. Dazu (T455f.), dass dieses endzeitliche Werk im Alten Testament allein die Sache Gottes ist, führt Thyen eine ganze Reihe von Stellen an: 2. Mose 4,11; Psalm 146,8; Jesaja 29,18; 35,4f.; 42,6f.16; 49,6.

Zu Vers 9,1 weist Thyen darauf hin, dass die „klassisch oft bezeugte Wendung ek genetēs {von Geburt an} … sich im Neuen Testament nur hier“ findet. Er meint, dass der Evangelist auf diese Weise in äußerster Knappheit ausdrückt, „daß Jesus zugleich mit dem blinden Mann dessen ganze durch seine angeborene Blindheit geprägte Lebensgeschichte ,sieht‘.“ Damit betont Thyen erneut seine Annahme, dass Jesus im Johannesevangelium die Allwissenheit Gottes zugesprochen wird.

Nach Ton Veerkamp <710> „zeigt sich in dieser Erzählung der Heilung eines Blindgeborenen“ das besondere „erzählerische Talent des Johannes“. Für ihn steht dieses Zeichen im Mittelpunkt des langen johanneischen Kapitels, das mit der Zeitangabe des Laubhüttenfestes in 7,2 begann und bis 10,21 reichen wird:

Die ersten Verse fügen die Erzählung in die Gesamtheit des Kapitels über das Sukkotfest und vor allem das Lichterfest am letzten Tag des Festes ein. Die Erzählung ist die Probe auf das Exempel „Licht der Welt“. Dann folgt die Heilung selbst, die Reaktion der Nachbarschaft, das Verhör durch die Behörde der Peruschim. Die Erzählung mit dem Bekenntnis zum Messias und mit einer prinzipiellen Feststellung darüber, was sehen und was blind sein ist.

Zur Formulierung in Vers 9,1, dass Jesus „im Vorübergehen“ den von Geburt an Blinden sah, bemerkt Veerkamp: „Er ist auf seinem Weg von der Konfrontation mit den Judäern zur Konfrontation mit Rom.“ Damit bezieht er sich wohl auf die Erwähnung der Nacht, in der niemand wirken kann, von der in 9,4 die Rede sein wird.

Johannes 9,2-5: Sünde als Warum der Blindheit oder Werke Gottes als ihr Wozu

9,2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen:
Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern,
dass er blind geboren ist?
9,3 Jesus antwortete:
Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern,
sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
9,4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat,
solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
9,5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

[2. August 2022] Auf Grund einer (W293, Anm. 506) durch Tobias Kriener <711> eröffneten „Leseperspektive“ versteht Klaus Wengst (W293) die Erwähnung der „von Geburt an“ bestehenden Blindheit, die „den Anknüpfungspunkt für eine Frage der Schüler“ bildet, als ein „für die Leser- und Hörerschaft … bedeutungsvolles Signal, das auf die Auseinandersetzung in ihrer eigenen Zeit verweist.“

Dass „Jesu Schüler“ nach Johannes 6,60-71 erst jetzt wieder in 9,2 „ganz selbstverständlich das Wort ergreifen, zeigt, dass Johannes ihre Anwesenheit bei Jesus als eine ständige voraussetzt.“ Sie sind es, die Jesus die Frage stellen: „Rabbi, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?“ Dass sich in dieser Frage auch noch gemäß neueren Kommentaren <712> angeblich „das jüdische Vergeltungsdogma“ widerspiegelt, „das Jesus dann zurückweise“, hält Wengst

für eine vulgär-christliche Auslegung, die weder den jüdischen Texten noch dem Text des Johannesevangeliums gerecht wird. Dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht als „Vergeltungsdogma“ diffamiert und nicht mit seiner Verkehrung, wie etwa Hiobs Freunde sie üben, als erledigt betrachtet werden darf, habe ich oben zu 5,14 ausgeführt.

Gegen die Behauptung vom „jüdischen Vergeltungsglauben“ zitiert Wengst zunächst „eine Stelle aus dem Jerusalemer Talmud“, <713> in der es heißt (W294):

„Wer einen Schwarzen, einen Roten, einen Weißen, einen Ungestalteten oder einen Gedrungenen sieht, spricht: ,Gesegnet der, welcher die Geschöpfe unterschiedlich macht!‘ Wer einen Amputierten, Blinden oder mit Aussatz Geschlagenen sieht, spricht: ,Gesegnet der Richter der Wahrheit!‘ Die Mischna meint den Fall, dass sie ganz waren und verändert wurden. Wenn es aber von Mutterleib an so war, spricht man: ,Gesegnet der, welcher die Geschöpfe unterschiedlich macht!‘“ Wie Menschen „von Mutterleib an“ sind, wird also nicht durch irgendwelche Verfehlungen und Gottes strafendes Handeln „erklärt“, sondern in seinem souveränen Schöpferwirken begründet.

Außerdem verweist er auf einen Midrasch <714> zu Hiob 4,4, in dem erwartet wird,

dass Gott in der kommenden Weltzeit körperliche Behinderungen aufheben werde. Es heißt dort von Hiob: „Wenn ein Hinkender zu ihm kam, pflegte er zu sagen: ,So wird der Heilige, gesegnet er, sich an dir verherrlichen; denn es ist gesagt (Jes 35,6): Springen wie der Hirsch wird der Lahme.‘ Und wenn ein Blinder zu ihm kam, pflegte er zu sagen: ,Der Heilige, gesegnet er, wird sich an dir verherrlichen; denn es ist gesagt (Jes 35,5): Dann werden den Blinden die Augen geöffnet‘“.

Der einzige Fall, im Blick auf den das Sündigen eines Kindes im Mutterleib erwogen wird, ist die Aussage in 1. Mose 25,22, „dass Esau und Jakob im Mutterleib einander stießen“. Nach rabbinischen Gelehrten <715> gilt nach dieser Stelle

das Gegeneinander von Esau und Jakob sowie der Kampf ‚Esaus‘ gegen ‚Jakob‘ als hier schon vorgeprägt. Entsprechend heißt es schließlich: „Wenn sie (Rebekka) an Götzendienst-Häusern vorbeigeht, zappelt Esau, um herauszukommen; das meint, was geschrieben ist (Ps 58,4): Abgewichen sind die Frevler vom Mutterschoß an usw. Wenn sie an Synagogen und Lehrhäusern vorbeigeht, zappelt Jakob, um herauszukommen; das meint, was geschrieben ist (Jer 1,5): Bevor ich dich im Bauch gebildet habe, erkannte ich dich usw.“ Im Blick auf das Folgende sei als bemerkenswert festgehalten, dass es hier um die Alternative der Verehrung Gottes oder des Dienstes gegenüber Götzen geht. Eine Theorie über vorgeburtliches „Sündigen“ und späteres „Bestraftwerden“ findet sich hier nirgends.

Weiterhin (W295) gibt es zwar „in der hebräischen Bibel den Fall, dass Nachkommen die Verfehlungen der Vorfahren zu tragen haben“, auch dieser betrifft jedoch „nur ein einziges Vergehen, nämlich den Götzendienst“, etwa „im Dekalog beim zweiten Gebot (Ex 20,4f.; Dtn 5,8f.).“ Daraus zieht Wengst den Schluss:

In der Frage der Schüler, ob der Blindgeborene selbst gesündigt hat, kann mitschwingen, ob er einer wie Esau sei, der schon im Mutterleib auf Götzendienst aus war. In der Frage, ob seine Eltern gesündigt haben, klingt das Thema von der generationenübergreifenden Sanktion im Falle von Götzendienst an. Nimmt man hinzu, dass in der biblisch-jüdischen Tradition Blindheit Metapher für Götzendienst sein kann [vgl. Kriener 99-118], wird der Leser- und Hörerschaft ein Signal auf Götzendienst hin gegeben. Die Erzählung bekommt damit von vornherein eine weitere Dimension: Der Blinde, dem durch Jesu Handeln die Augen geöffnet werden und der sich als sehend Gewordener zu Jesus bekennt und gerade dadurch „sehend“ ist, kann damit nicht als Götzendiener angesehen werden. Johannes vergewissert so seine Leser- und Hörerschaft, dass ihr Bekenntnis zu Jesus nicht Götzendienst ist, sondern Ausdruck des Bekenntnisses zum Gott Israels.

Wenn Jesus in Vers 3 seinen Schülern antwortet: „Weder er hat gesündigt noch seine Eltern. Vielmehr: die Taten Gottes sollten sich an ihm zeigen“, dann stehen auf

der erzählten Ebene … beide Satzhälften in derselben Spannung zueinander wie die oben im Exkurs zitierten rabbinischen Texte, von denen der eine angesichts von Geburt an Behinderter zu sagen gebietet: „Gesegnet der, welcher die Geschöpfe unterschiedlich macht!“ und der andere in Aufnahme von Jes 35,5f. die endzeitliche Behebung von Behinderungen verheißt.

Im Klartext bedeutet das (W296):

Wenn bei dem von Geburt an Blinden menschliches Verschulden ausgeschlossen wird, muss der Schöpfer als verantwortlich angesehen werden. Aber die vorgefundene Blindheit gilt nicht als sein letztes Wort. An diesem Blinden sollen sich „die Taten Gottes“ zeigen. Was biblisch-rabbinisch für die Endzeit erwartet wird, geschieht in diesem Fall durch Gottes Handeln in Jesus schon jetzt.

Auffällig ist in Vers 4, dass Jesus von den „gerade erwähnten ‚Taten Gottes‘“, die er als „die Taten dessen, der mich geschickt hat“, bezeichnet, jetzt sagt, „dass ‚wir‘ sie ‚tun müssen‘.“ Indem er also „die Schüler Jesu in sein Wirken mit“ einbezieht, scheint nach Wengst „zugleich die Zeit auf, in der er nicht mehr leibhaftig unter ihnen ist. Sie sind es, die seine Sendung fortsetzen (20,21).“ Dass die Schüler wirken sollen, „solange es Tag ist“, kann dabei Wengst zufolge vor mehreren Hintergründen gedeutet werden, unmittelbar vor dem „Tag als Arbeitszeit, der mit seiner natürlichen Helligkeit die Voraussetzung zum Arbeiten bietet“, außerdem metaphorisch vor „der Lebenszeit, die es in ihren Möglichkeiten auszuschöpfen gilt“. Die dann erwähnte „Nacht, da niemand wirken kann“, bezieht Wengst einerseits darauf, „dass die Nacht aufgrund des fehlenden Lichtes arbeitsfreie Zeit war“, andererseits aber auch auf „den Tod“. „Der Hinweis auf die Nacht wird damit zur Mahnung, die gegebene Zeit auch zu nutzen.“

Erst die „Fortsetzung“ in Vers 5 veranlasst Wengst zu der Überlegung,

dass bei der Rede von „Tag“ und „Nacht“ noch eine weitere Dimension mitschwingt. Als „Licht der Welt“ (8,12) eröffnet Jesus denen, die in der Nacht des Götzendienstes befangen sind, die Möglichkeit, „die Taten Gottes zu vollbringen und also rechten Gottesdienst zu üben: Wann immer ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“

In diesem Zusammenhang wundert sich Wengst (W296f.), dass der „Unterschied“ zur Formulierung in Vers 4 – nämlich statt „solange“ nunmehr „wann immer“ – von den Kommentatoren (Anm. 519) „fast durchgängig“ nicht beachtet wird. Letztere Formulierung bezieht er (W297) auf „Jesu Gegenwart in der Kraft des Geistes nach Ostern“:

In seiner Funktion als „Licht der Welt“, als derjenige, der seinen Schülern Helligkeit zur Nachfolge gibt, ist Jesus nicht auf die Zeit seiner leiblichen Anwesenheit beschränkt. Gerade jenseits dieser Zeit sollen seine Schüler wirken können. Das werden eindrucksvoll die Abschiedsreden zeigen. … Es geht um das Wirken der Seinen im Lichte seines Wirkens. V. 5 ist vor allem Verheißung für sie, dass Jesus ihrem Leben Helligkeit verschafft, in der sie sehen, was in seiner Nachfolge zu tun ist und was getan werden kann.

Hartwig Thyen (T456) würdigt zu Vers 2 zunächst das unvermittelte Auftreten der Jünger Jesu, mit denen „hier wohl die ‚Zwölf‘“ bezeichnet werden, da nach dem Ende von Kapitel 6

allein sie ja bei Jesus und seinem Wort ‚geblieben‘ und … Augen- und Ohrenzeugen all dessen geworden [waren], was er gesagt und getan hat. Für diese feste Verbindung Jesu mit ihnen spricht auch der sie verbindlich einschließende und verpflichtende Plural: hēmas dei ergazesthai ta erga tou pempsantos me {Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken} in V. 4.

Im Zusammenhang damit, dass auch die Jünger offenbar „Jesu Wissen darum teilen, daß dieser Mann bereits blind geboren wurde“, sind Thyen zufolge Spekulationen nicht angebracht; das stellt allerdings auch Thyens Spekulationen über Jesu göttliche Allwissenheit in Frage, die er selbstverständlich über Jesu Wissen geäußert hatte.

Die Anrede Jesu mit „Rabbi“ versetzt Thyen zufolge Hörer bzw. Leser „absichtsvoll in die Welt jüdischer Schriftgelehrsamkeit und rabbinischer Dispute“ (T456f.):

Die Jüngerfrage setzt ja auf jeden Fall voraus, daß zwischen Krankheit und Sünden ein geheimnisvoller Konnex besteht (s. o. zu 5,14). Das theoretisch unlösbare Dilemma entsteht daraus, daß in der Bibel auf der einen Seite die Drohung steht, Gott werde die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied (Ex 20,5; Dtn 5,9; 23,3; Num 14,33f; Thr 5,7); und daß sich gegen solche Art von ,Sippenhaftung‘ auf der anderen Seite aber im Namen der Gerechtigkeit der berechtigte Protest der Propheten erhebt: „ln jenen Tagen wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf. Vielmehr wird dann jeder nur um seiner eigenen Schuld willen sterben“ (Jer 31,29ff; Ez 18,2ff; Dtn 24,16…).

Hier fällt auf, dass Thyen zwar auf rabbinische Dispute anspielt, jedoch mit keinem Wort inhaltlich auf sie eingeht. Da ihm Krieners Werk offenbar nicht vorgelegen hat, kann er sich auch nicht wie Wengst mit dessen Anregungen auseinandersetzen, dass hier möglicherweise ganz bewusst auf die Sünder des Götzendienstes angespielt werden soll. Aber auch unabhängig davon müssen sich die von Thyen für eine „Sippenhaftung“ angeführten Stellen nicht darauf beziehen, dass Gott die Sünden von Eltern dadurch bestraft, dass er etwa ihr Kind blind geboren werden lässt; vielmehr spiegelt sich in ihnen die realistische Wahrnehmung, dass das Fehlverhalten eines Patriarchen schlimme Folgen hat für Kinder und Kindeskinder in seinem unmittelbaren Einflussbereich.

Nach Thyen lässt sich aber Jesus (T457), wie Vers 3 zeigt,

auf diese Frage der theoretischen Vernunft nach der aitia {Ursache} der Blindheit des Mannes nicht ein, sondern redet allein von deren telos {Ziel} in der göttlichen Heilsökonomie: „Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern (er ist blind geboren), damit die Werke Gottes an ihm offenbar würden“.

Ähnlich wird Jesus auch im Zusammenhang der Lazarusgeschichte in 11,4 sagen:

„Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern um der Doxa Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“. Auch Jesu nun in 9,4 folgendes Wort: „Wir müssen die Werke dessen tun, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. Es kommt (aber) die Nacht, in der keiner mehr wirken kann“, hat in der Lazarus-Erzählung seine exakte Entsprechung: „Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wenn einer am Tage wandelt und handelt (als Ausdruck für den ,Lebenswandel‘ schließt peripatē Handeln und Wandeln ein), kommt er nicht zu Fall, denn er sieht das Licht dieser Welt. Wenn einer dagegen in der Nacht wandelt, kommt er zu Fall, weil das Licht nicht in ihm ist“ (11,9f).

Diese „Aufforderungen zu wirken, solange es Tag ist“, führt Thyen nicht einfach nur wie Dodd, <716> der „auf entsprechende rabbinische Parallelen“ hinweist, auf „weisheitliche Sprichwörter“ zurück, „die fordern, angesichts des gewissen Todes die gewährte Lebenszeit zu nutzen“. Ihm zufolge ist es wichtiger, dass hier wie in Johannes 1,4 auf 1. Mose 1,3 Bezug genommen wird, woran „durch 8,12 nachdrücklich“ erinnert wurde:

Und wenn Jesus hier nun erklärt: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. Es kommt (aber) die Nacht, in der keiner mehr wirken kann“, so nimmt er mit diesem seine Jünger in seine Sendung einschließenden „Wir“ implizit schon vorweg, was er ihnen ausdrücklich erst am Ostertage sagen und wozu er sie durch die ,Einhauchung‘ des heiligen Geistes ermächtigen wird (20,21).

Zu Vers 5, in dem Jesus „dann selbst die Verbindung her[stellt] zwischen der ,sprichwörtlichen‘ Rede von Tag und Nacht mit seinem egō-eimi-Wort von 8,12 sowie mit dem an Gen 1,3 anknüpfenden Prologsatz: kai hē zōē ēn to phōs tōn anthrōpōn {und das Leben war das Licht der Menschen} (1,4)“, betont dann Thyen so wie Wengst:

Gegen die Mehrheit der Exegeten will das Lexem hotan hier ganz buchstäblich beim Wort genommen werden: Es heißt „so oft“ oder „jedesmal wenn“ und darf keinesfalls einfach mit dem heōs („so lange“) des vorangehenden Satzes identifiziert werden, als ob das Licht mit dem Sterben Jesu und seiner ersten Jünger aus der Welt verschwände und nicht vielmehr gerade darin erst recht aufleuchtete und die Möglichkeit seines „Bleibens“ bei den Seinen eröffnete…

In diesem „Zusammenhang seines wiederholten ‚Kommens‘ in die Welt“ begreift Thyen dann (T458) „auch die Zeugnisse Abrahams, Moses und Jesajas für Jesus“.

Ton Veerkamp <717> stellt die Frage der Schüler nach der Schuld an der Blindheit des Blindgeborenen und Jesu Antwort darauf in den Versen 2 und 3 von vornherein in den Rahmen einer gesellschaftlichen Perspektive, die er von seiner bereits erwähnten Auslegung des Buches Hiob her gewonnen hat (vgl. meine Anm. 127 und Anm. 695):

Seit Hiob wissen wir, dass Unglück offenbar nicht die Folge der Verfehlungen oder Verirrungen eines Individuums oder seiner Familie ist. Niemandem steht ein Urteil darüber zu, ob der Blindgeborene selber schuld an seinem Elend ist oder seine Eltern. Hiob war das Opfer eines Gottes, der vergessen hatte, dass er der Gott Israels ist, eines Gottes, der sich für einen olympischen Gott hielt, anders gesagt, dass in den Jahrzehnten vor der makkabäischen Revolution hellenistische Verhältnisse die Gesellschaft bestimmten und nicht die gesellschaftliche Vision der Tora. Unter solchen Umständen muss jeder, der toratreu war, vor die Hunde gehen, auch wenn er noch so begütert ist wie eben Hiob. Nein, weder der Blindgeborene noch seine Eltern sind schuld an jenem Elend, nicht mehr sehen zu können, was wirklich ist. Wir dürfen natürlich nicht mit bürgerlichen Augen lesen, die nur Individuen und individuelle Schuld kennen. Was ist zu tun? Unter einer Weltordnung, die die Werke Gottes unsichtbar macht, „müssen“ gerade an einem von Geburt an blinden Menschen „die Werke Gottes offenbar werden“. Gott muss endlich „in Erscheinung treten“ (phanerousthai).

In diesem Zusammenhang werden nach Veerkamp nun auch „die merkwürdigen Verse aus dem fünften Kapitel nach der Heilung des Gelähmten, gerade an einem Schabbat, 5,17“, verständlich:

„Mein VATER wirkt bis jetzt. So wirke auch ich.“ Gerade an einem Schabbat müssen die Werke Gottes offenbar werden.

Erstaunlich ist nun in Vers 4, dass „Johannes das Subjekt“ ändert. Es ist nicht mehr Jesus als der Messias allein, der Gottes Werke zu vollbringen hat, sondern er bezieht seine Schülerschaft, all diejenigen, die auf den Messias vertrauen werden, in das Wirken der Werke Gottes mit ein:

In 5,17 hören wir „ich“, in 9,4 „wir“: „Wir müssen die Werke dessen bewirken, der mich gesandt hat.“ Das ist genausowenig schlechtes Deutsch, wie das ergazesthai ta erga des Johannes schlechtes Griechisch war: Es geht um die Werke, um die erga. Es geht um eine wirkliche Frage: Wer hat an diesem Elend schuld? Es sind nicht die Gegner Jeschuas, die eine solche Frage stellen, sondern die Schüler; sie wollen Jeschua nicht prüfen, wie die Schriftgelehrten und Peruschim von 8,3ff. Sie wissen es wirklich nicht. Und jetzt erklingt das „Wir“. Jeschua ist zu diesem Werk gesandt worden, und zu diesem Zweck werden auch die Schüler geschickt werden, 20,21.

Wie es sich so fügt, bekomme ich gerade in diesen Tagen die Anfrage eines Menschen, der angesichts persönlicher und gesellschaftlicher Leiden an Gottes Liebe und Gerechtigkeit zweifelt. Kann Jesu Antwort in Vers 4 auch ihm weiterhelfen? So wie er stellen die Jünger Jesu echte Fragen und wollen tragfähige Antworten. Sie bekommen die Antwort, dass Menschen, die auf Jesus vertrauen und durch ihn auf den Gott, der ihn gesandt hat, an den befreienden Werken dieses Gottes mitwirken müssen. Anscheinend kann Gott anders seine Werke nicht tun, aber so, und offenbar nur so, ist es möglich und sogar geboten, das WIR sie tun. Ein Erlaubnis und Hoffnung gebendes, befreiendes Gebot.

Den zweiten Teil von Vers 4 bezieht Veerkamp weder banal auf das Arbeiten bei Tageslicht noch allgemein-menschlich auf das Nützen der Lebenszeit, weder wie Wengst auf rechten Gottesdienst anstelle von Götzendienst noch wie Thyen recht formal auf einen Bezug zur Erschaffung des Lichts in 1. Mose 1,3. Veerkamp sieht hier einen ganz anderen Hintergrund, nämlich den dunklen Schatten, den die herrschende Weltordnung auf alles wirft, was Menschen tun können, und in den nur der Messias das Licht hineinleuchten lassen kann, das vom Schöpfergott Israels kommt:

Solange es Tag ist, kann man die Werke tun; wenn es Nacht ist, kann niemand etwas bewirken. Nacht ist hier nicht Tageszeit, in der die Menschen ruhen und nicht ihrer Arbeit nachgehen. Die Nacht ist die Nacht Roms. In ihr kann kein Mensch sehen, prinzipiell nicht, von Geburt an nicht. Die Werke Gottes, die die Schüler wirken müssen, sind nur in jenem Lichte möglich, das der Messias ist. Das Werk Gottes ist der sehende Mensch, mit seinem Bild und nach seinem Gleichnis erschaffen.

Anders als Wengst und Thyen macht sich Veerkamp keine Gedanken über das Wort hotan in Vers 5. Das gibt er traditionell mit „so lange“ wieder. Stattdessen stellt er die traditionelle Übersetzung der Worte heōs hēmera estin mit „solange es Tag ist“, in Frage:

In 9,4 hat der kleine Nachsatz „bis Tag geschieht“ früh Probleme verursacht und viele Handschriften haben „bis“ (heōs) durch „solange“ (hōs) ersetzt. Gemeint ist der Tag, über den Abraham gejubelt hat. Erst wenn dieser Tag gekommen ist, sind die Werke Gottes vollendet, dann ist Ruhe, Schabbat. Schabbat ist das Gegenteil von Nacht. Darum ist die Lesart „bis“ besser.

Johannes 9,6-7: Jesus heilt den Blinden durch Schlamm, den er sich im Teich Siloah abwäscht

9,6 Als er das gesagt hatte,
spuckte er auf die Erde,
machte daraus einen Brei
und strich den Brei auf die Augen des Blinden
9,7 und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah
– das heißt übersetzt: gesandt –
und wasche dich!
Da ging er hin und wusch sich
und kam sehend wieder.

[3. August 2022] In der Darstellung der Heilung des Blinden durch Jesus in Vers 6 sind für Klaus Wengst (W297) folgende Gesichtspunkte wesentlich: Erstens „handelt Jesus anschließend“ dann doch „selbst“:

„Die Taten Gottes“ zu vollbringen, ist zuerst und vor allem Inhalt seiner Sendung. Deren Zeit ist ebenfalls begrenzt. So schreitet er nach der Antwort auf die Frage der Schüler sofort zur Tat. „Nachdem er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte aus der Spucke Schlamm und bestrich mit dem Schlamm seine Augen.“

Zweitens weist Wengst auf einen Unterschied zur in „Mk 8,22-26 erzählten Blindenheilung“ hin:

Dort spuckt Jesus dem Blinden auf die Augen und legt ihm die Hände auf. Demgegenüber erbringt er hier mit dem Zubereiten des Schlammes und dessen Aufstreichen auf die Augen eine größere „Arbeitsleistung“. Das könnte deshalb so erzählt werden, um den dann in V. 16 konstatierten Sabbatbruch evidenter zu machen. Denn nach mShab 7,2 <718> gehört das Kneten von Teig zu den 39 am Sabbat verbotenen Hauptarbeiten.

Zur Heilkraft von Speichel verweist Wengst auf rabbinische Stellen sowie auf Plinius und Petronius. „Tacitus berichtet von einer Blindenheilung mit Spucke durch den gerade Kaiser gewordenen Vespasian.“ Im (T298) „Buch Tobit … leitet der Engel Rafael Tobias an, seinem Vater die Galle eines von ihm gefangenen besonderen Fisches in die Augen zu träufeln, der daraufhin wieder sehen kann (Tob 6,1-9; 11,1-16).“ Im Unterschied aber etwa zum Bericht über Vespasian geht es weder im Buch Tobit noch bei Johannes um eine „Nähe zur Medizin“, vielmehr geht es [Kriener 124, Anm. 251] „in den beiden biblischen Berichten um punktuelle Interventionen Gottes, um Wunder mithin, die nicht in Rezeptform Eingang in ein Medizinhandbuch finden könnten“.

Mit der (W298) Aufforderung an den Blinden in Vers 7: „Auf, wasch dich in der Teichanlage Schiloach!“ macht Jesus deutlich, dass er „zu seiner Heilung auch selbst etwas beitragen“ muss. Der Name Schiloach für die „Teichanlage … an der ‚Südspitze des Stadthügels‘“ (Anm. 524) „meint hier ‚das Senden‘ von Wasser und hat so die Bedeutung ‚Kanal‘“, aber Johannes bezieht das hebräische Wort „durch eine andere Vokalisierung“ auf Jesus als den Gesandten Gottes:

Der Blinde führt die Aufforderung Jesu aus und wird geheilt: „Da ging er weg, wusch sich und kam sehend zurück.“ Mit dem Konstatieren der erfolgten Heilung durch Außenstehende und mit einem Lob Gottes könnte die Wundergeschichte eindrucksvoll abgeschlossen werden. Aber wie sie Johannes schon mit der Frage der Schüler und der Antwort Jesu darauf eigenartig begann, so führt er sie auch eigenartig weiter. Die dort eröffnete metaphorische Dimension hatte er mit einer stilgemäß zu Ende erzählten Wundergeschichte noch nicht hinreichend ausgefüllt. So bildet er das Motiv von der Konstatierung des Wunders durch Außenstehende zu einer eigenen Szene aus, die als Übergang für weitergehende Auseinandersetzungen dient.

Hartwig Thyen (T458) betont zunächst, dass „Jesus mit seinem eiden {er sah} (V.1) den stummen Hilferuf des seit seiner Geburt Blinden längst vernommen“ hat, „[o]hne daß der blinde Mann auch nur ein einziges Wort gesagt, geschweige denn eine Bitte um Heilung ausgesprochen hätte“. Durch diesen „Zug der alleinigen Initiative Jesu“ ist „unsere Erzählung deutlich von derjenigen der Heilung des Blinden von Jericho bei Mk 10,46-52 / Lk 18,35-43 (bzw. der beiden Blinden bei Mt 20,29-34; vgl. Mt 9,27-31)“ unterschieden. Nach Thyen lässt sich zwar „keine der in den synoptischen Evangelien erzählten Blindenheilungen als die Quelle der durch und durch literarisierten Fügung von Joh 9,6-7 identifizieren“, aber die „synoptischen Erzählungen“ könnten es „unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität dem Leser durchaus aufgeben, gerade die … Differenz zwischen diesen Prätexten und Joh 9 zu bedenken.“ Insbesondere mit Markus 8,22-26

hat unsere Erzählung ja nicht nur gemein, daß Jesus hier wie da die Augen des Blinden mit seinem Speichel behandelt, sondern darüberhinaus sind diese beiden Erzählungen auch durch ein hohes Maß symbolischer Obertöne miteinander verbunden. … Wie … bei Markus die Heilung des Blinden von Bethsaida ihr symbolisches Gegenüber in der Blindheit der Jünger hat und die mühsame Genese von deren Glauben vorabbildet, so stehen dem Blindgeborenen von Joh 9 die Pharisäer gegenüber, die sich sehend wähnen und gerade darum aber von ihrer Blindheit gefesselt bleiben.

Was die „in der Antike aller ärztlichen Kunst als unerreichbar geltenden Heilungen Blinder“ betrifft, „die nur ein Gott oder ein göttliches Wunder bewirken kann“, erwähnt auch Thyen „die mehrfach berichtete Heilung eines Blinden durch den eben zum Caesar erhobenen Vespasian“ und (T459) dass auch „den Rabbinen … menschlicher Speichel als Heilmittel“ gilt. Außerdem hat der „singuläre Zug, daß Jesus die Augen des Blinden mit einem ,Teig‘ aus Speichel und Erde ,salbt‘, … die frühen Väter wohl nicht zufällig an die Erschaffung des Menschen aus feuchter Erde in Gen 2,7 erinnert.“

Zu „Jesu Befehl“ an den Blinden, sich im Siloah-Teich zu waschen, geht auch Thyen auf die „symbolische Bedeutung“ des Kommentars zum Namen Silōam ein. Er erinnert daran, dass das „Siloah-Wasser … vornehmlich kultischen Zwecken“ diente „und zumal den täglichen Wasserspenden während des achttägigen Laubhüttenfestes (vgl. Joh 7f und besonders 7,37ff)“, und erwägt einen von Bultmann <719> „angesichts des Unglaubens der Juden“ für möglich gehaltenen Bezug (T459) auf das „Drohwort gegen Juda“ in Jesaja 8,6:

„Weil es die sanft fließenden Wasser Siloahs verachtet hat, soll es von den starken und vielen Wassers des Euphrat (nämlich von den feindlichen Mächten des Ostens) verschlungen werden“. … Doch da von den Juden, geschweige denn von ihrem Unglauben, in unserer Erzählung bisher überhaupt noch nicht die Rede war, kann das nicht die primäre Bedeutung der Aufforderung an den Blindgeborenen sein, sich im Siloah-Teich zu waschen, zumal dafür dessen hermēneuesthai als apestalmenos {Übersetzung mit Gesandter} mehr als überflüssig wäre. Darum mag sich die von Bultmann erwogene Assoziation bestenfalls nach der Lektüre des gesamten Kapitels als zusätzliche einstellen. Primär muß es hier jedoch um anderes gehen.

Diese primäre symbolische Bedeutung muss eine messianische sein, was sich für Thyen (T460) schon von dem „in diesem Evangelium geradezu zum messianischen Prädikat gewordene Partizip apestalmenos {Gesandter}“ nahelegt. Denn die beiden nahezu gleichbedeutenden griechischen Verben apostellein und pempein {senden und schicken} tauchen in den johanneischen Schriften jeweils über 30mal auf.

In diesem Zusammenhang verweist Thyen auf „die enge Verklammerung von Jes 8,5-8 und Joh 9,7 mit dem Schilo-Spruch von Gen 49,10“, zu der K. Müller und Günter Reim <720> „als überaus wahrscheinlich erwiesen haben“, dass „der schon früh messianisch gedeutete Segen Jakobs über Juda von Gen 49,8-12 und insbesondere dessen V. 10 … bereits in Joh 9,7 selbst impliziert ist und ‚der genuine Anlaß des schwierigen, meist zur Glosse abgewerteten Relativsatzes ho hermēneuetai apestalmenos {das heißt übersetzt Gesandter}‘ sein dürfte“. Im Übrigen war nach Gerhard von Rad <721> „der Juda-Segen … schon von Haus aus nie anders als messianisch gemeint“:

Die V. 10 und 11 des Juda-Segens lauten: „Nicht weicht das Szepter von Juda, / noch der Herrscherstab von seinen Füßen. / Bis daß sein ,Herrscher‘ kommt (HT: ˁad ki-jaboˀ schijloh) / dem der Gehorsam der Völker gehört. // Er bindet seinen Esel an den Weinstock / und an die Rebe das Füllen seiner Eselin. / Er wäscht im Wein sein Gewand / und in Traubenblut seinen Mantel“. Von Rad erklärt dazu: „Trotz mancher offener Fragen muß man an dem messianischen Verständnis des Spruches festhalten. Der Spruch weissagt die Dauer des Königtums in Juda und dann nach einer deutlich vermerkten Zäsur (,bis daß‘) das Kommen eines Herrschers über die Völker, mit dem sich zugleich eine paradiesische Fruchtbarkeit für das Land verbindet. Gerade dies Letztere gehört ganz unveräußerlich zu der Erwartung eines ,Gesalbten Jahwehs‘; wo er regiert, herrscht paradiesischer Friede und paradiesische Fruchtbarkeit (Jes 11,1-9; Hes 34,23-31; Am 9,11-15; Ps 72,16)…“.

Insgesamt teilt Thyen Reims Urteil (er schreibt versehentlich „Raus“ statt „Reims“) [250],

daß für den Evangelisten derjenige, dem nach Gen 49,10 „der Gehorsam der Völker gehört“, und der Knecht Gottes, der nach Jes 42,6f und Jes 49,6 als „das Licht der Völker“ den Blinden die Augen öffnen soll, „ein und dieselbe Person ist“. Denn das bestätigt die unmittelbare Folge der V. 6f auf V. 5, der eine ,Wiederaufnahme‘ von Jesu Wort: „Ich bin das Licht der Welt“ (8,12) ist und auf diese Weise Jes 42,6f und Gen 49,8-12 miteinander verknüpft.

Und nach K. Müller [256] gilt (T461) auf Grund des Schiloh-Spruchs Gen 49,10b:

„Wie der Blinde durch das Wasser des Siloam seine Sehkraft empfängt, so erhält der Glaube durch Jesus, den erwarteten messianischen Gesandten, das Licht der Offenbarung“.

Außerdem fügt Thyen als einen „weiteren symbolischen Oberton unserer Erzählung … noch hinzu, daß hier wohl nicht zufällig das Motiv des ‚lebendigen Wassers‘ wieder erscheint.“ Dass „die ‚Ströme lebendigen Wassers, die {nach Johannes 7,38} aus seinem Leibe fließen werden‘, … jene endzeitlichen Quellwasser sein [dürften], die nach Ez 36,25; 47,1; Sach 13,1; 14,8 dem Tempelfelsen entspringen und das Land mit paradiesischer Fruchtbarkeit erfüllen sollen“, gewinnt

für unsere Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen … eine doppelte Bedeutung …: Der physischen Waschung im Wasser Siloahs muß die geistliche durch den Glauben an den ,Gesandten‘ Gottes entsprechen, von der die folgenden Episoden unseres Kapitels erzählen werden…

Die „Vermutung“, dass „zwischen Jesu Heilung unseres Blindgeborenen und der Reinigung des Syrers Naaman vom Aussatz durch Elisa (2Kön 5) eine ähnliche intertextuelle Beziehung besteht“ wie zwischen anderen Zeichen Jesu und Wundertaten der Propheten Elia und Elisa, bezieht sich Thyen zufolge (T461f.)

nicht nur auf den Befehl …, sich zur Beseitigung des Leidens hier im ,Teich Siloah‘ bzw. da im ,Jordan‘ zu waschen, sondern, wie die folgenden Episoden zeigen werden, auch auf die jeweilige Erkenntnis des Heilers als eines Propheten Gottes, auf die Proskynese der Geheilten, sowie endlich auf die denkwürdige Rolle und das Geschick der Antagonisten, nämlich einerseits Gehasis und seiner Nachkommen, auf die sich Naamans Aussatz überträgt, und andererseits der Pharisäer, die sich sehend wähnen und gerade darum zu ,Blindgeborenen‘ werden…

Ton Veerkamp <722> weist zu dem Satz: „Als er das gesagt hatte, spuckte er auf den Boden und machte Schlamm aus dem Speichel und salbte …“, zu allererst auf Schriftstellen hin, in denen das Wort pēlos, hebräisch tit, im Sinne vom „Dreck der Straße“ vorkommt: „Micha 7,10, Psalm 18,43 usw.“. Dieser Dreck „muss abgewaschen werden.“

Außerdem hält er es nicht für verwunderlich, dass „der Mann sich ausgerechnet im Teich Siloam waschen muss“, denn noch

befinden wir uns bei Johannes in den Tagen des Sukkotfestes. Am letzten Tag des Festes wird Wasser aus dem Siloam geholt, um mit ihm im Heiligtum das große Reinigungsritual durchzuführen. Überhaupt scheint das Wasser des Siloams eine wichtige Rolle bei der Reinigung derer, die sich rituell verunreinigt hatten, gespielt zu haben. Die Mischna erinnert sich an solche Rituale im Jerusalem vor dem Krieg (Mischna Para 3,2, Mischna Zavim 1,5). Die Reinigung symbolisiert die Wiedereingliederung eines Menschen in Israel, der durch Unreinheit (Versündigung, Verirrung) aus Israel ausgeschlossen wurde.

Nach Veerkamp nimmt Johannes das jüdische Laubhüttenfest sehr ernst, gerade indem er die mit ihm verbundene Licht- und Wassersymbolik in vielfältiger Weise aufgreift und ganz neu auf das Wirken des Messias Jesus bezieht:

Johannes „übersetzt“ Siloam mit apestalmenos, „Gesandter“, er deutet die rituelle Funktion des Wassers Siloams um und gibt dem ganzen Fest eine neue Richtung. Siloam ist nicht der Teich, dessen Wasser rituelle Reinigungskraft hat. Der Gesandte ist Jeschua. Er reinigt, nur er. Johannes nimmt das Fest sehr ernst, obsolet gewordene Rituale muss man nicht umdeuten.

Johannes 9,8-12: Außenstehende reagieren auf die Heilung des blinden Bettlers

9,8 Die Nachbarn nun
und die, die ihn zuvor als Bettler gesehen hatten, sprachen:
Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte?
9,9 Einige sprachen: Er ist‘s;
andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich.
Er selbst aber sprach: Ich bin’s.
9,10 Da fragten sie ihn:
Wie sind deine Augen aufgetan worden?
9,11 Er antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt,
machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen
und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich!
Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend.
9,12 Da fragten sie ihn: Wo ist er?
Er sprach: Ich weiß es nicht.

[4. August 2022] In den Versen 8-12 (W299) „reagieren Außenstehende auf das Wunder“ Jesu. Dass er „als Bettler“ bekannt war (Vers 8), ist Klaus Wengst zufolge „keine für eine antike Leser- und Hörerschaft überraschende Information“, denn: „Was sollte ein Blinder auch anderes tun?“ Der Zweifel an seiner Identität (Vers 9) ergibt sich aus seinem als außerordentlich empfundenen „Wechsel von Blindheit zum Sehen“. Indem der Geheilte sagt: „Ich bin‘s“, bekennt er sich nicht nur „zur eigenen Identität“, vielmehr „ist seine Identität als Sehender untrennbar mit Jesus verbunden, scheint in seinem schlichten ‚Ich bin‘s‘ für die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums das ‚Ich bin‘s‘ Jesu auf.“ Auf die Frage nach seiner Heilung (Verse 10-11) antwortet der ehemals Blinde sehr ausführlich und weiß, im „Unterschied zu dem ehemals Gelähmten (5,12f.)“ auch, „wer ihn geheilt hat: ‚der Mensch, der Jesus heißt‘.“ Von da an wird er, ähnlich

wie die Samariterin in Kap. 4 … in seiner Erkenntnis Jesu weitergeleitet: In V. 17 nennt er ihn einen Propheten; in V. 33 schließt er, dass er „von Gott“ sein muss; und in V. 35-38 bekennt er sich zu ihm als „dem Menschensohn“.

Die Rückfrage der Fragesteller (W299f.) in Vers 12: „Wo ist der?“ wird vom Geheilten zurückhaltend beantwortet: „Ich weiß es nicht.“ Damit handelt er anders „als der Geheilte in Kap. 5, der Jesus denunziert, sobald er dazu in der Lage ist“.

Auch nach Hartwig Thyen (T462) zeigt die „Selbstverständlichkeit, mit der die ,Nachbarn‘ den Blinden hier als ,den Bettler‘ bezeichnen, … daß einem Blinden in der Welt der Antike gar nichts anderes übrigblieb, als seinen Lebensunterhalt durch Betteln zu bestreiten, so daß zwar nicht alle Bettler Blinde, alle Blinden aber wohl Bettler gewesen sein dürften.“ Der Zweifel an der Identität des Mannes

dürfte seinen Grund … darin haben, daß sie sich weigerten, an das Wunder der Öffnung der Augen eines Blindgeborenen zu glauben, weil das ihre gesamte Lebenserfahrung auf den Kopf gestellt hätte…{,} … ist also eine unfreiwillige Bestätigung dafür, daß hier „Unmögliches“ wirklich wurde. Im Unterschied zu dem, was der Blindgewesene gleich den Pharisäern sagen wird, die ihn beinahe förmlich ,verhören‘ werden, zeugt alles, was er hier seinen Nachbarn erzählt und wie er es ihnen sagt, von gut nachbarlichem Vertrauen.

Dass der Geheilte (T462f.)

seinen Wohltäter als den Mann bezeichnet, ‚derJesus genannt wird,‘ … zeigt …, daß er, der Jesus natürlich niemals hat sehen können, auch dessen Namen nur vage und vom bloßen Hörensagen kennt. Damit hat der Erzähler den Wendepunkt einer dramatischen Entwicklung der Lebensgeschichte des Blindgeborenen markiert, von der er in den folgenden Episoden erzählen wird, einer Entwicklung die nach dem Ausgestoßenwerden des Geheilten aus seiner bisherigen Lebenswelt (9,34) in seinem Bekenntnis zu Jesus als ,dem Sohn des Menschen‘ und in der Proskynese des neu und ,von oben‘ Geborenen gipfeln wird (9,35-38).

Warum aber (T463) sagt der, der von Geburt an blind war: „kai nipsamenos aneplepsa (wörtlich: und als ich mich wusch, sah ich wieder)“? Nach Thyen ist

das mit dem „Wieder-Sehen-Können“ kein bloßer lapsus linguae und heißt auch schwerlich, daß er zu Jesus als seinem Retter „aufblickte“, zumal der gar nicht mehr in der Nähe war. Vielmehr wird sich in dem Gebrauch von anablepein die Überzeugung ausdrücken, daß das Sehvermögen eine wesentliche Auszeichnung des Menschen als Gottes Geschöpf ist…

Diese Deutung stelle ich jedoch unter Hinweis auf 2. Mose 4,11 in Frage, wo es auch vom Blinden heißt, dass er eben so von Gott erschaffen ist, ohne dass er als defizitäres Geschöpf gilt. <723> Es wird wohl eher so sein, dass das Wort anablepein ganz allgemein für das Erlangen der Sehkraft eines Blinden verwendet wurde, unabhängig davon, ob er vor seiner Erblindung schon einmal hatte sehen können.

Ton Veerkamp <724> deutet die Reaktionen der Nachbarn des Geheilten wie Thyen sehr knapp im Sinn von Christian Morgenstern:

Zunächst einmal wird die Heilung als „Ding der Unmöglichkeit“ wahrgenommen. Nachbarn und Behörde bezweifeln sowohl die Identität des Geheilten als auch die Tatsache der Erkrankung nach dem Prinzip: Nicht sein kann, was nicht sein darf.

Johannes 9,13-17: Das erste Verhör des ehemals Blinden vor den Pharisäern

9,13 Da führten sie den, der zuvor blind gewesen war, zu den Pharisäern.
9,14 Es war aber Sabbat an dem Tag,
als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete.
9,15 Da fragten ihn auch die Pharisäer,
wie er sehend geworden wäre.
Er aber sprach zu ihnen:
Einen Brei legte er mir auf die Augen,
und ich wusch mich und bin nun sehend.
9,16 Da sprachen einige der Pharisäer:
Dieser Mensch ist nicht von Gott,
weil er den Sabbat nicht hält.
Andere aber sprachen:
Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?
Und es entstand Zwietracht unter ihnen.
9,17 Da sprachen sie wieder zu dem Blinden:
Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat?
Er aber sprach: Er ist ein Prophet.

[5. August 2022] Indem gemäß Vers 13 diejenigen (W300), „die den Geheilten befragt hatten“, den Mann nun „zu den Pharisäern“ bringen, und zwar, wie es am Ende dieses Satzes heißt, als „den ehemals Blinden“, machen sie ihn Wengst zufolge zum „Objekt“ mehrerer Verhöre:

Objekt ist „der ehemals Blinde“, einer, der sich verändert hat. Er wird nicht in Ruhe gelassen. Auch hier dürfte wieder die Situation der johanneischen Gruppe durchscheinen. Da Jesus als Verursacher der eingetretenen Veränderung nicht greifbar ist, halten sich die Fragesteller an den, den sie vor sich haben, der gerade das Handeln Jesu an ihm bezeugt hat. Sie führen ihn zu „den Pharisäern“. Diese sind offenbar die amtliche Instanz, vor die der Fall zu bringen ist.

Diese Angabe (Anm. 530) „weist wiederum auf die Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums nach 70 n. Chr.“, denn die „‚Pharisäer‘ als vernehmende Behörde lassen sich in der Zeit vor 70 historisch nicht verorten.“

Als Anlass für das offizielle Verhör (W300) wird in Vers 14 „wie in der Geschichte von der Heilung des Gelähmten in Kap. 5“ nachgetragen, dass der Tag, „als Jesus den Schlamm gemacht und ihm die Augen geöffnet hatte“, ein Sabbat war. Daraus geht nach Wengst hervor, dass es zur Zeit des Johannes „Streit um die Sabbathalacha gegeben haben muss.“ Dass der Geheilte sich im Verhör sehr viel kürzer fasst als gegenüber seinen Nachbarn (Vers 15), erläutert Wengst mit einem Zitat von Kriener [126]: als „erzählerische[n] Realismus. Vor den Behörden schwelgt man nicht in dem Erlebten, sondern macht nur die unumgänglichen Minimalangaben“.

Nach Vers 16 gibt es daraufhin unter den Vernehmenden wie zuvor „in 7,43 unter der Menge … eine Spaltung“. Offenbar wissen sie, ohne dass „der Geheilte … den für die Heilung Verantwortlichen benannt hat“, um wen es geht, und der Streit geht darum, „ob Jesus ‚von Gott‘ ist oder nicht“. Die einen bestreiten das, weil „selbst der knappe Bericht des Geheilten über das Auflegen des Schlammes auf seine Augen“ (W301) „einen Sabbatbruch“ nahelegt. Dass andere sich dagegen fragen: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?“ und damit „ein schöpferisches Tun“ feststellen, „das Gott selbst zukommt (Ps 146,8)“, bleibt jedoch

ohne Konsequenz für das Handeln der Behörde in der weiteren Darstellung. Diese Meinung soll wohl vor allem dazu dienen, der Leser- und Hörerschaft ein Argument an die Hand zu geben, an das sie sich halten kann – wie es beispielhaft der Geheilte im Fortgang der Erzählung tut. Was von Jesus erzählt wird, spricht dafür, dass er „von Gott“ ist.

Darin, dass in Vers 17 „diejenigen, die gerade noch geteilter Meinung waren, als einheitliches Subjekt“ erscheinen und den ehemals Blinden nach seiner Meinung über den fragen, der ihn geheilt hat, sieht Wengst „deren Versuch …, die eigene Uneinigkeit zu überspielen… In Entgegensetzung zu ihm lässt sich dann wieder eine gemeinsame Front bilden.“

Die Reaktion des Geheilten besteht nun darin, „dass er den Menschen Jesus als einen Propheten bekennt“, was (Anm. 535) nach Kriener [127] „nicht so harmlos (ist), wie es sich zunächst anhört [127]. Mit Verweis auf Theudas und ‚den Mann aus Ägypten‘, von denen Josephus erzählt {Ant. 20, 5, 1}, macht er deutlich, dass „der Titel Prophet […] durchaus messianische Konnotationen (hatte) [126 Anm. 257].

Hartwig Thyen (T463) hält im Gegensatz zu Wengst nichts von „Martyns Vorschlag, wonach das Evangelium als ein auf ‚zwei Ebenen‘ spielendes Drama gelesen werden müsse“. Zwar agieren die Pharisäer hier, „als seien sie eine offizielle Behörde“, aber man sollte „aus ihrem Handeln ‚wie eine Behörde‘“ nicht ein „Handeln ‚als eine Behörde‘“ machen. In Thyens Augen galten schon vor der Zeit des Johannes „die Pharisäer allgemein als kompetente Autoritäten in allen Fragen der halachischen Toraauslegung“, und darum brachten „diese Nachbarn den Mann zu ihnen …, damit die von ihm selbst hörten, was an jenem Sabbat geschah, und sich ein Urteil darüber bildeten.“ Zur Begründung führt Thyen an, dass „weder das Verfahren noch das Urteil auch nur den Anschein erwecken, als gehe es hier um einen förmlichen forensischen Prozeß“.

Mit der (T464) Kürze der Antwort des Geheilten im Verhör durch die Pharisäer will er auch nach Thyen seinen Wohltäter schützen, etwa damit, dass er „weder Jesu Namen nennt, noch dessen vermeintlich den Sabbat verletzendes Tun beschreibt, nämlich die Fertigung jenes ,Teiges‘“:

Um so überraschender muß dann aber die Feststellung einiger der Pharisäer erscheinen, daß „dieser Mann nicht von Gott sein könne, weil er den Sabbat nicht bewahre“. Denn sie kann ja nicht auf der Auskunft des Mannes beruhen, sondern, ohne daß der Erzähler das berichtet hätte, muß sie ihnen, von den „lieben Nachbarn“ zugetragen worden sein. Dagegen weiß der implizite Leser ja längst, daß es hier gar rıicht um die Sabbat-Halacha geht; daß also die Frage, was ein Jude am Sabbat tun darf und was ihm an diesem Tag verboten ist, gar nicht zur Debatte steht. Exklusiv für den „Sohn“, den der Vater zu ihrer Rettung in die Welt gesandt hat, gilt vielmehr auch am Sabbat: ho patēr mou heōs arti ergazetai kagō ergazomai {mein Vater wirkt noch immer und ebenso wirke auch ich} (5,17; s. o. z. St.).

Zu dem „Schisma“, das wie „schon in 7,34 und später nach Jesu Rede von sich als dem ‚guten Hirten‘ (10,19)“ jetzt „unter den Pharisäern“ entsteht, meint Thyen:

Während also die einen blind sind für die Zeichen, die Jesus tut, und nur auf die von ihnen gehütete und mit einem „Zaun“ umgebene Sabbat-Halacha blicken, um daraus zu schließen, daß deren Übertreter ein sündiger Mensch ist, der nicht „von Gott“ sein kann, erkennen die anderen in eben diesen Zeichen, daß Jesus ‚von Gott‘ sein muß.

Zu Vers 17 bemerkt Thyen (T465) zunächst, dass sie den Geheilten wiederum als „Blinden“ anreden, als „ob sie‘s nicht wahrhaben wollten, daß der Mann im doppelten Sinne zu einem Sehenden geworden ist“. Die Aussage des Geheilten über Jesus: „Er ist ein Prophet!“ erinnert nach Thyen

fraglos an Elisas Wort in der Erzählung von der Heilung Naamans: „Er soll zu mir kommen, dann wird er erfahren, daß es in Israel einen Propheten gibt!“ (2Kön 5,8). Und es soll wohl auch daran erinnern. Daß es auch in der vielfach als „prophetenlose Zeit“ beklagten Gegenwart „in Israel einen Propheten gibt“, hat der eben noch Blinde erfahren, als er sich im Siloah wusch. … [A]uch wenn Jesus gewiß mehr ist als Elia und Elisa, ja mehr selbst als Mose und der verheißene Prophet „wie Mose“, so ist mit ihm doch ein Prophet aufgetreten in Israel als Licht für die Völker.

Da Ton Veerkamp auf alle drei Verhöre durch die Pharisäer bzw. Judäer insgesamt eingeht, werde ich seine Auslegung dieser Verse erst am Ende des übernächsten Abschnittes besprechen.

Johannes 9,18-23: Das Verhör der Eltern des Blindgeborenen durch die Judäer

9,18 Nun glaubten die Juden nicht von ihm,
dass er blind gewesen und sehend geworden war,
bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war,
9,19 und sie fragten sie und sprachen:
Ist das euer Sohn,
von dem ihr sagt, er sei blind geboren?
Wieso ist er nun sehend?
9,20 Da antworteten seine Eltern und sprachen:
Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist
und dass er blind geboren wurde.
9,21 Aber wieso er nun sehend ist, wissen wir nicht,
und wer ihm die Augen aufgetan hat, wissen wir auch nicht.
Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden.
9,22 Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden.
Denn die Juden hatten sich schon geeinigt:
Wenn jemand ihn als den Christus bekennt,
der soll aus der Synagoge ausgestoßen werden.
9,23 Darum sprachen seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn selbst.

Das Verhör des angeblich geheilten Blindgeborenen führt Wengst zufolge (W302) nach Vers 18 dazu, dass die jetzt wieder als „Juden“ bezeichneten Vernehmenden ihn am liebsten „als Schwindler entlarven“ würden, „der Blindheit nur vorgegeben hätte… Für die Zeitebene des Johannes hieße das: Diejenigen, die sich auf Jesus beziehen, unterliegen einer Täuschung.“ Daher befragen sie nun (Vers 19) „die Eltern des Geheilten“, damit sie

einmal die Identität des Vorgeführten als ihres Sohnes bestätigen, von dem es offenkundig ist, dass er jetzt sieht, und von dem behauptet wird, dass er blind geboren wurde. Zum anderen sollen sie den Wechsel – wenn es ihn denn gegeben hat – erklären.

Indem sie (Vers 20) „die Identität ihres Sohnes und seine einstige Blindheit“ bestätigen, werden sie „zu unwiderlegbaren Zeugen seiner inzwischen eingetretenen Heilung.“ Aber nach den Versen 21 und 23 wollen sie mit der

Person Jesu … auch nicht indirekt in Beziehung gesetzt werden. So beantworten sie die zweite Frage ausweichend: „Wieso er aber jetzt sieht, wissen wir nicht. Oder wer ihm die Augen geöffnet hat, wissen wir jedenfalls nicht. Fragt ihn selbst! Er hat das entsprechende Alter. Er soll für sich selbst reden.“ Zweimal geben sie Nichtwissen vor, das zweite Mal besonders betont. Zudem weisen sie von sich weg auf ihren Sohn, der alt genug und damit für sich selbst verantwortlich sei.

Die „kommentierende Bemerkung“ des Johannes „zum Verhalten der Eltern“ in Vers 22 ist nach Wengst „höchst aufschlussreich“, da sie in seinen Augen „zeigt, dass er mehr ein Geschehen seiner eigenen Zeit im Blick hat als ein Ereignis der Zeit Jesu.“ Denn die Aussage: „Das aber sagten seine Eltern, weil sie die Juden fürchteten“, ist sehr seltsam, wenn man sie „auf das Jerusalem der Zeit Jesu“ bezieht, und erst recht

die für die Furcht der Eltern gegebene Begründung: „Denn schon hatten die Juden untereinander verabredet, dass – wer immer ihn als Gesalbten bekenne – von der synagogalen Gemeinschaft ferngehalten würde.“ Vor allem das Wörtchen „schon“ weist darauf hin, dass eine dem Evangelisten und seiner ersten Leser- und Hörerschaft gegenwärtige Erfahrung im Blick ist.

Ausführlich war Wengst auf solche bitteren Erfahrungen in der Einleitung zu seinem Johanneskommentar (W15ff.) eingegangen. Auch dass hier (W303) „das Bekenntnis“ zu Jesus „als Gesalbtem“, dem christos, „die Distanzierung begründet“, ist nicht vom unmittelbaren Kontext her, sondern wohl nur daher zu erklären, weil sich dieser Titel

in dem hier angesprochenen Zusammenhang der Distanzierung von der Synagogengemeinschaft aufgrund der Auseinandersetzungen zur Zeit des Evangelisten her aufdrängte. … Der angesprochene Sachverhalt des Fernhaltens von der Synagogengemeinschaft macht also eine innerjüdische Abgrenzung sichtbar. „Die Juden“ erscheinen hier als behördliche Macht, die rigoros gegen Abweichler im eigenen Bereich vorgeht. Diese Abgrenzung verlief für die an den Rand Gedrängten offenbar schmerzhaft und verbreitete über deren Kreis hinaus Angst. Denn in dieser Erzählung geht es bei den Eltern nicht darum, ob sie ein Bekenntnis zur Messianität Jesu ablegen oder nicht. Sie haben schon Angst, überhaupt mit Jesus in einen Zusammenhang gebracht zu werden, und wollen deshalb sicherheitshalber mit dieser Sache, in die ihr Sohn hineingeraten ist, gar nichts zu tun haben.

Hartwig Thyen (T465) sieht „in dem Umstand, daß dieselben Leute, die bisher als Pharisaioi {Pharisäer} bezeichnet waren, in V. 18 unvermittelt hoi Ioudaioi {die Juden} genannt werden, kein ernsthaftes Problem, sondern nur ein weiteres Beispiel der oft zu beobachtenden Vorliebe unseres Erzählers für das Spiel mit Synonyma oder ähnlichen Wörtern“, zumal „für unseren Evangelisten zwar nicht alle Ioudaioi Pharisäer, wohl aber alle Pharisäer Ioudaioi sind“. Dass die Juden in Vers 13 in ihrer Eigenschaft als „Pharisäer … als Akteure eingeführt“ wurden, hatte nach Thyen einen „doppelten Grund“:

Einmal weil sie als solche galten, die sich auf den Umgang mit der Halacha verstanden, und zum anderen wohl, weil die Leute, die doch gewiß selbst Ioudaioi waren, ihren eben noch blinden Nachbarn dann wiederum den Ioudaioi vorgeführt hätten, wobei der Leser dann diese Nachbarn als gewöhnliche Judäer von den Ioudaioi als den Repräsentanten einer religiösen Ideologie unterscheiden müßte.

Da man also (T466) „vom Kontext her“ gut erklären kann, „warum die Antagonisten Jesu hier jeweils als hoi Ioudaioi und da als hoi Pharisaioi bezeichnet werden“, hält er literarkritische Operationen der Zuordnung dieser Bezeichnungen zu verschiedenen Schichten einer angeblichen Entstehungsgeschichte des Evangeliums für über­flüssig und abwegig.

Inhaltlich betont Thyen zum Verhör der Eltern des Blindgeborenen, dass ihnen „nahezu eine Betrugsabsicht unterstellt“ wird und dass sie sich in ihrer ausweichenden Antwort über den Urheber seiner Heilung einer verständlichen „Notlüge“ bedienen, und zwar aus „Furcht vor sozialen Repressionen“, denn die Eltern wissen offenbar

daß „die Juden“ bereits verbindlich beschlossen hatten, daß jeden, der es wagen sollte, Jesus als den Messias zu bekennen, die Sanktion des Ausschlusses aus der Synagoge (aposynagōgos genētai: V. 22) treffen sollte. Und „Synagoge“ ist in dieser Wendung kein Gebäude, das einer nicht mehr betreten dürfte, und auch nicht eine bloße Religionsgemeinschaft, aus der er ausgestoßen würde, sondern die Lebensgemeinschaft seines Volkes, in dem er alle seine Wurzeln hat.

Anders als Wengst will Thyen die „Wendung aposynagōgos genētai {zu jemandem ohne Synagoge werden} V. 22“, die „im Neuen Testament einzig bei Johannes“ erscheint, keinesfalls auf besondere Erfahrungen einer johanneischen Gemeinde am Ende des 1. Jahrhunderts beziehen, ohne allerdings zu unterstellen, offizielle Synagogenausschlüsse seien bereits zur Zeit Jesu praktiziert worden. Er hält die (T467)

Praxis eines förmlichen Ausschlußverfahrens gegen jüdische Christen aus der Synagoge im ersten Jahrhundert für denkbar unwahrscheinlich. Das sonst nicht belegte Lexem aposynagōgos scheint uns vielmehr eine Ad-hoc-Bildung unseres Evangelisten zu sein. Da wir – auch und zumal im Blick auf die Synoptiker als intertextuellem Spielmaterial unseres Evangelisten – schon mehrfach unsere Zweifel an der Existenz einer vom Rest des Urchristentums isolierten, spezifisch johanneischen Gemeinde geäußert haben, halten wir die von Martyn, Meeks, Wengst u. a. vorgetragene Hypothese, wonach die gesamte ,johanneische Gemeinde‘ zur Zeit der Abfassung des Evangeliums bereits aus der Synagoge ausgeschlossen gewesen sein soll, für undenkbar.

Stattdessen hält Thyen unter Berufung auf Margaret Davies <725> eher einen „Text wie die paradoxe Seligpreisung der Verfolgten, Ausgegrenzten und um des Menschensohnes willen Beleidigten von Lk 6,22 als das intertextuelle Spielmaterial des Johannes“ für den Ursprung der drei Stellen im Johannesevangelium, die vom Ausschluss aus der Synagoge reden:

Denn die 16,2 genannten Bedrängungserfahrungen, hat doch jeder christliche Leser mit den Martyrien des Stephanus, der Zebedaiden, des Herrenbruders Jakobus und der Apostel Petrus und Paulus ganz sicher vor Augen (s. u. zu 12,42; 16,2).

Johannes 9,24-34: Das zweite Verhör des ehemals Blinden und seine Ausstoßung

9,24 Da riefen sie noch einmal den Menschen, der blind gewesen war,
und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre!
Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.
9,25 Er antwortete: Ist er ein Sünder?
Das weiß ich nicht; eins aber weiß ich:
dass ich blind war und bin nun sehend.
9,26 Da fragten sie ihn: Was hat er mit dir getan?
Wie hat er deine Augen aufgetan?
9,27 Er antwortete ihnen:
Ich habe es euch schon gesagt,
und ihr habt’s nicht gehört!
Was wollt ihr’s abermals hören?
Wollt ihr auch seine Jünger werden?
9,28 Da schmähten sie ihn und sprachen:
Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger.
9,29 Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat;
woher aber dieser ist, wissen wir nicht.
9,30 Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen:
Das ist verwunderlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist;
und er hat meine Augen aufgetan.
9,31 Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört;
sondern den, der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er.
9,32 Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört,
dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe.
9,33 Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun.
9,34 Sie antworteten und sprachen zu ihm:
Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns?
Und sie stießen ihn hinaus.

Nach (W303) der ergebnislosen „Vernehmung der Eltern“ wird Klaus Wengst zufolge in Vers 24 nochmals der Geheilte herbeizitiert und aufgefordert:

„Gib Gott die Ehre!“ Das klingt deutlich an Jos 7,19 an, wo Josua zu dem seiner Schuld überführten Achan sagt: „Mein Sohn, gib dem Ewigen die Ehre, dem Gott Israels!“ und ihn weiter auffordert, sein verfehltes Handeln einzugestehen und darzulegen.

Indem der Geheilte damit „angehalten wird, Schuld einzugestehen“, sehen „die ihn Vernehmenden … ihn bereits in zu enger Verbindung mit dieser Person“, von der sie sagen: „Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist.“ Das heißt (W304):

Nicht die Heilung, bei der darüber gestritten werden kann, ob ein Sabbatbruch vorliegt oder nicht, steht im Mittelpunkt, sondern die Bedeutung „dieses Menschen“. Von ihm hat der Geheilte Gutes erfahren; so steht er in Gefahr, sich zu ihm zu bekennen. Deshalb hält man ihm entgegen, dass „dieser Mensch ein Sünder sei. Das geben die hier Redenden als sicheres Wissen aus. Daher kann in ihrer Sicht der Geheilte Gott nur so die Ehre geben, dass er sich von diesem Menschen distanziert.

Auch darin gibt sich nach Wengst „in der Erzählung mehr und mehr die Zeit des Evangelisten zu erkennen“, in der (Anm. 540) nach Kriener [129]

die gegenseitigen Vorwürfe […] einander spiegelbildlich (entsprechen): Die jüdische ,Behörde‘ verdächtigt die Jesus-Anhänger, Gott nicht zu verehren; das Johannesevangelium wirft ,den Juden‘ dasselbe vor“. Den einen wird vorgeworfen, Gott nicht die Ehre zu geben, weil sie Jesus bekennen; den anderen wird abgesprochen, Gott die Ehre zu geben, weil sie Jesus nicht ehren.

Als (W304) der Geheilte in Vers 25 „keine Distanzierung von Jesus“ vornimmt, sondern einfach feststellt, „was er nicht weiß und was er weiß“, nämlich: „Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Eins weiß ich, dass ich, der ich doch blind war, jetzt sehe“, verlieren seine „Vernehmenden … gleichsam die Initiative“. Sie wissen (Vers 26) „nicht anders zu reagieren, als dass sie noch einmal von vorn anfangen und wie zu Beginn der ersten Vernehmung nach dem Tathergang fragen“. Daraufhin tritt der Geheilte (Vers 27)

immer selbstbewusster auf und bestimmt seinerseits das Gespräch, während sie nur noch reagieren. So verweigert er eine nochmalige Auskunft: „Ich habe es euch schon gesagt, aber ihr habt nicht darauf gehört.“ Fast von selbst wird er hier zum bewussten Zeugen Jesu, indem er den Vernehmenden vorwirft, das von ihm Gehörte nicht gebührend beachtet, sich nicht zu Herzen genommen zu haben. Sie hätten es sich zum Zeichen werden lassen müssen, das auf den hinweist, der es getan hat. Dementsprechend fragt er sie ironisch und provozierend weiter: „Was wollt ihr‘s nochmal hören? Ihr wollt doch nicht auch seine Schüler werden?“

Damit spricht Wengst zufolge „durch den Geheilten der Evangelist“, denn „auf der Ebene der Erzählung ist der Geheilte in der eigenen Erkenntnis noch gar nicht so weit vorgedrungen.“

Die provozierende Äußerung des Geheilten veranlasst in Vers 28 die Vernehmenden zu einer Äußerung (W305, Anm. 541), die „als ein ‚Beschimpfen‘, ‚Schmähen‘ eingeführt wird“. Darin zeigt sich nach Kriener [129], „daß das Bekenntnis zu Jesus im sozialen Kontext der zeitgenössischen jüdischen Gemeinde nicht einfach als andere Meinung galt, sondern Verachtung und Herabsetzung mit sich brachte“. Inhaltlich stellen sie folgenden Gegensatz „zwischen sich und dem Geheilten“ fest (W305): „Du bist ein Schüler von dem da; wir aber sind Moses Schüler.“ Damit geben sie sich als Vertreter des rabbinischen Judentums zu erkennen, das nach dem Jüdischen Krieg entsteht und „sich in der Nachfolge des Mose“ begreift. Dazu, dass „Mose und seine Schülerschaft nichts zu tun haben mit ‚Gesetzlichkeit‘ und ‚Leistungsanspruch‘ aufgrund von ‚guten Werken‘“, zitiert Wengst die rabbinische Tradition <726> folgendermaßen:

„Zwei gute Leiter traten für die Israeliten auf: Mose und David, der König Israels. Sie vermochten mit ihren guten Taten die Welt in der Schwebe zu halten. Und doch baten sie den Ort (= Gott), dass er ihnen nur umsonst gebe. Legt sich da nicht ein Schluss vom Leichten auf das Schwere nahe? Wenn schon diese, die mit ihren guten Taten die Welt in der Schwebe zu halten vermochten, den Heiligen, gesegnet er, baten, dass er ihnen nur umsonst gebe, um wieviel mehr wird der, der nicht einmal einer von tausend der Tausende und Zehntausende von den Schülern ihrer Schüler ist, den Heiligen, gesegnet er, bitten, dass er ihm umsonst gebe?“

Vers 29 macht weiter deutlich, inwiefern die „Vernehmenden, hinter denen die rabbinischen Lehrer zur Zeit des Evangelisten stehen, … einen Gegensatz zwischen Mose und Jesus“ voraussetzen und warum sich „aus ihrer Sicht Schülerschaft des Mose und Schülerschaft Jesu einander“ ausschließen. Dabei gilt Wengst zufolge für den Evangelisten Johannes von vornherein:

Er kann schlechterdings nicht auf Mose und die Tora – und das heißt: die Schrift! – verzichten, wie die Gegenseite sehr wohl auf Jesus verzichten kann. Das hat sich an den bisherigen Stellen gezeigt, an denen er sich auf Mose, die Tora oder die Schrift bezog, und das wird sich noch öfter zeigen.

Als Grund (W306) für „ihre Entgegensetzung von Mose und Jesus“ führen die Vernehmenden an: „Dass mit Mose Gott geredet hat, wissen wir. Von dem da jedoch wissen wir nicht, woher er kommt.“ Gegenüber Mose, mit dem Gott „von Angesicht zu Angesicht redete, wie ein Mann mit seinem Nächsten redet“ (Ex 33,11; vgl. Num 12,8), ist Jesus in ihren Augen „nicht legitimiert“. Andernorts („7,27 im Zusammenhang mit 6,42; 7,41.52“) meinte man genau zu wissen, „woher er ist“ und bestritt damit ebenfalls „seine Legitimation“. Und noch eine weitere Textstelle bezieht Wengst in die Betrachtung von 9,29 mit ein (Anm. 545):

In 8,14 hatte Jesus „den Pharisäern“ gesagt, dass sie nicht wüssten, „woher ich komme und wohin ich gehe“. Es liegt ein ironischer Zug in der Darstellung des Johannes, wenn er das, was ihnen dort als Mangel vorgeworfen wird, hier das Fundament ihrer Argumentation sein lässt.

Interessant ist nun, dass der Geheilte gerade durch die Auseinandersetzung mit den ihn Vernehmenden „immer mehr auf die Seite Jesu“ gerät. Nach Vers 30 besteht er

hartnäckig auf dem, was ihm widerfahren ist. Mögen die anderen darauf verweisen, dass gegenüber der ausgewiesenen Autorität des Mose Jesu Anspruch, „von Gott“ zu sein, nicht ausgewiesen und er also nicht legitimiert ist, so hält er dem entgegen: „Darin besteht ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er kommt. Und mir hat er doch die Augen geöffnet.“ An ihm wurde eine „Tat Gottes“ vollbracht. Jesus hat sie getan. Wie sollte er da nicht „von Gott“ sein?

Im folgenden Vers 31 „spricht nun der Geheilte seinerseits ein Wissen aus, mit dem er sich aber nicht zu ihnen in Gegensatz stellt, sondern sich mit ihnen zusammenfasst“, als ob er seinerseits sie zu überzeugen versuchte:

„Wir wissen, dass Gott auf Sünder nicht hört. Vielmehr, wenn jemand gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, auf den hört er.“ Das ist biblisch begründet, wie etwa auf der negativen Seite Jes 1,15; Ps 66,18 und auf der positiven Ps 145,19; Spr 15,8.29 zeigen. Und das ist auch dem rabbinischen Judentum geläufig.

Von dieser Argumentation her (W307) streicht der Geheilte in Vers 32 „die Besonderheit der ihm widerfahrenen Tat heraus“, um damit den Wundertäter hervorzuheben: „Von Weltzeit an ist nicht gehört worden, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen geöffnet hat.“ Daraus zieht der Geheilte in Vers 33

die Folgerung, die die positive Gegenthese zu V. 16a und 24b bildet: „Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er gar nichts tun.“ Indem er vom Tun Jesu auf dessen Herkunft schließt, hat somit die Auseinandersetzung für ihn zu einem Bekenntnis zu Jesus geführt. Er weiß jetzt, was die Vernehmenden nicht wissen, dass nämlich Jesus „von Gott“ ist.

Dieses Bekenntnis hat in Vers 34 „für ihn sofort negative Konsequenzen“. Die ihn Vernehmenden verbitten es sich,

von ihm belehrt zu werden: „Du bist ganz und gar in Sünden geboren und willst uns belehren?“ Die Betonung durch „ganz und gar“ und die Entgegenstellung von „du“ und „uns“ schließen es aus, dass die Aussage „in Sünden geboren“ als allgemein anthropologische verstanden werden soll, dass der Mensch von Anfang an unter der Sünde stehe. So heißt es etwa in Ps 51,7: „Siehe, in Sünde wurde ich geboren und in Verfehlung empfing mich meine Mutter.“ Johannes lässt die Vernehmenden implizit den Rückschluss der Freunde Hiobs vom Ergehen auf das Tun machen, sodass sie den Blindgeborenen als völlig inkompetent hinstellen können, um sie, die doch „Schüler des Mose“ und also von dessen Autorität gedeckt sind, zu belehren.

Damit ist das Gespräch beendet, und es folgt nur noch ein entsprechendes Handeln…: ‚Und sie jagten ihn hinaus‘“, erstens „vordergründig … aus dem Versammlungsraum in der erzählten Situation“, zum anderen aber im Sinn der in Vers 22 von den Eltern befürchteten Distanzierung „von der synagogalen Gemeinschaft“.

Hartwig Thyen (T467) versteht die Ermahnung: „Gib Gott die Ehre!“ am Beginn des erneuten Verhörs des ehemals Blinden (Vers 24) als Aufforderung, „jetzt endlich die Wahrheit zu sagen.“ Auch er bringt sie in eine Verbindung mit Josua 7,18. Mit dem betonten hēmeis {wir} (T468), das sie ihrem oidamen {wir wissen}

voranstellen, umgeben sich die Verhörenden Jesus gegenüber, den sie geringschätzig als „dieser Mensch da“ bezeichnen, ebenso wie dem zuvor Blinden gegenüber, den sie alsbald zu einem „ganz in Sünden Geborenen“ erklären werden, mit der Aura religiöser Kompetenz und überlegener Autorität…

Da aber der „eben noch Blinde“ offenbar „zugleich mit der Fähigkeit zu sehen auch sich selbst entdeckt“ und „gelernt“ hat, „,ich‘ zu sagen und sich selbst zu behaupten“, lässt er sich (Vers 25) „von dem autoritären Gehabe derer, die da meinen, ihn ‚verhören‘ zu dürfen, nicht einschüchtern.“ Für ihn zählt nur seine eigene Erfahrung: „Eines aber weiß ich mit Gewißheit: Ich war blind, jetzt aber kann ich sehen!“ Und auf die nochmalige Frage nach der Art und Weise seiner Heilung (Vers 26-27)

antwortet der Mann mit wachsendem Selbstbewußtsein und höchst ironisch: „Das habe ich euch doch bereits erklärt, aber ihr wolltet es ja offenbar nicht hören. Wozu wollt ihr es denn jetzt nochmals hören? Wollt ihr denn etwa auch seine Jünger werden?“ Die Wendung kai hymeis {auch ihr} läßt erkennen, daß dieser Mann sich bereits als Jesu Jünger begreift oder doch zumindest auf dem besten Wege ist, es zu werden…

Daraufhin muss (Vers 28-29) der ehemals Blinde eine Beschimpfung über sie ergehen lassen, in der sich die „angemaßte Überlegenheit“ der ihn Verhörenden entlädt:

„Du bist ein Jünger jenes (Mannes: ekeinou hier wohl in abschätzigem Sinn gebraucht), wir dagegen sind Jünger Moses. Wir (durch vorangestelltes hēmeis wiederum betont!) wissen, daß Gott (selbst) zu Mose geredet hat (lelalēken), von dem da (touton) wissen wir dagegen nicht, von woher er ist“. Das Perfekt lelalēken drückt die bleibende und die Gegenwart der Redenden bestimmende Bedeutung dieser Gottesrede zu Mose aus: Sie haben sie in der Tora Schwarz auf Weiß vor Augen und fühlen sich – im Gegensatz zu dem Mann, den sie wohl auch dem verfluchten ochlos {Volksmenge} zuschlagen, der das Gesetz nicht kennt (7,49), als die (allein) kompetenten Ausleger der Tora.

Im Hintergrund steht (T469), dass „ihr Urteil über Jesus ja längst“ feststeht, denn als ein „Übertreter der von Gott durch Mose gegebenen Sabbat-Tora ist er ein Sünder (V. 25) und kann als solcher darum gar nicht von Gott sein.“ Dem hat Johannes bereits entgegengesetzt (5,45ff.), „daß es gerade Mose ist, der für Jesus zeugt und über ihn geschrieben hat, und daß man Mose und Jesus, die wechselseitig füreinander zeugen, darum nicht gegeneinander ausspielen kann.“ Also wird es gerade Mose sein, der Jesu Gegner vor seinem Vater verklagen wird. Dazu zitiert Thyen zustimmend G. R. O‘Day: <727>

„Die Berufung der Pharisäer auf die Mosesnachfolge als Bestandteil ihrer Opposition gegen Jesus ist daher ein Akt der Untreue gegenüber Moses und der Tora, nicht der Treue. Die Feindschaft der Pharisäer gegenüber Jesus enthebt sie ihres mosaischen Erbes. Der Leser des vierten Evangeliums weiß, dass man, um ein wahrer Jünger des Mose zu sein, auch ein Jünger Jesu sein muss“.

Dazu betont Thyen weiter,

daß Gott zu Jesus nicht nur „gesprochen hat“, wie einst zu Mose, sondern daß er ständig zu ihm spricht, und daß Jesus nur tut, was der Vater ihm sagt und was er den Vater tun sieht. Wie sein Vater ist der Sohn „Herr über den Sab­bat“ und muß darum wie der Vater auch am Sabbat wirken, weil die Erhaltung und Vollendung der Schöpfung keine Unterbrechung duldet (5,17; s. o. z. St. und vgl. Mk 2,28).

Mit immer größerer Kühnheit reagiert der Verhörte in Vers 30-33:

„Darin liegt ja gerade das Erstaunliche, daß ihr nicht wißt, woher er ist, der mir doch die Augen geöffnet hat. Wir (oidamen) wissen doch, daß Gott die Sünder nicht erhört, sondern nur den, der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er. Seit Ewigkeit hat man nie davon gehört, daß einer einem, der blind geboren wurde, die Augen aufgetan hätte. Und wenn dieser nicht von Gott wäre, dann könnte er überhaupt nichts tun!“

Dabei sieht Thyen das „Kühnste an dieser Äußerung“ den „Gebrauch des Plurals ‚wir wissen‘ (oidamen) im Munde des isolierten und alsbald gänzlich ,hinausgeworfenen‘ zuvor Blinden. Denn damit schließt er sich nicht nur mit den Jüngern Jesu zusammen, sondern damit ,vereinnahmt‘ er zugleich seine Ankläger, indem er sie an das gemeinsame Grundwissen aller Juden erinnert, daß Gott nicht die Sünder, sondern allein den Gottesfürchtigen erhört, der seinen Willen tut“ (T469f.):

Die Ironie liegt darin, daß hier einer, der vermeintlich die Schrift nicht kennt, diejenigen, die sich als deren „Pächter“ wähnen, an solche Elementarkenntnisse und daran erinnern muß, daß allein Gott und sein geliebter „Knecht“, den er zum Licht der Völker gemacht hat, den Blinden die Augen zu öffnen vermag (Jes 42,6ff).

Auf die Kühnheit des ehemals Blinden folgt in Vers 34 nun genau die Reaktion (T470), die „seine Eltern gefürchtet hatten: ‚Du, der du ganz und gar in Sünde geboren bist, willst uns belehren? Und sie warfen ihn hinaus‘.“

Die Lektion, die zu lernen, Jesus seinen Jüngern zu Anfang aufgegeben hatte, nämlich daß weder dieser Mann noch seine Eltern gesündigt haben, sondern daß er blind geboren wurde, damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden sollten, haben diese Leute nicht begriffen. Unfähig, in die Freude des als Sehender neugeborenen Blinden einzustimmen, sind und bleiben sie – und das wird Jesus ihnen am Ende ins Gesicht sagen – die eigentlich Blinden und Verblendeten in dieser Erzählung.

Den Hinauswurf versteht Thyen dabei „nicht als bloßen ‚Lokalverweis‘“, sondern als „die Exekution jenes ,Beschlusses‘ …, die die Eltern unseres glücklich sehend Gewordenen so gefürchtet hatten, daß die Ioudaioi nämlich jeden, der es wagen sollte, Jesus als den christos zu bekennen, zu einem aposynagōgos machen würden.“ Indem Thyen dasselbe „im Blick auf Lk 6,22 als den möglichen Prätext unserer Erzählung“ voraussetzt, „wo Jesus diejenigen selig preist, die von den Menschen gehaßt, ausgegrenzt (aphōrisōsin) und geschmäht werden, ja deren ,Name‘ als böse hinausgeworfen werden wird um des Sohnes des Menschen willen“, scheint er die Erfahrung, aus der synagogalen Gemeinschaft ausgegrenzt zu werden, nicht nur auf eine speziell johanneische Gemeinde, sondern auf alle Christusbekenner zu beziehen.

Seltsam erscheint mir in diesem Zusammenhang Thyens folgende Argumentation:

Zugleich macht der tatsächliche, hier durch ekballein exō {hinauswerfen nach draußen} ausgedrückte, Vollzug dieses ,Beschlusses‘ deutlich, daß „Jesus als den Christus zu bekennen“ nicht heißen kann, ,ihn für den Messias zu halten‘, so wie unter Wortführung des berühmten Rabbi Akiba einige Jahrzehnte später Tausende Simon Bar Kochba als dem Messias und ersehnten Befreier seines Volkes gehuldigt haben. Das kann es nämlich schon darum nicht heißen, weil das Wort „Messias“ an keiner Stelle des Verhörs gefallen ist. Es muß bei diesem „Beschluß“ also um das spezifische Bekenntnis unseres Evangeliums gehen, nämlich darum, daß Jesus, wie der Verhörte eben bekannt hatte, „von Gott ist“, daß er der messianische Gottessohn ist: hoti Iēsous estin ho christos ho hyios tou theou (20,31).

Mich irritiert dabei vor allem, dass Thyen im letzten Satz ja genau das begründet, was er zuvor in Frage stellt, dass Jesus der „messianische Gottessohn“ ist, mithin also doch wohl der Messias. Im Hintergrund steht sicher Thyens Urteil, dass Jesus nicht nur von einem zelotisch agierenden Messias wie Bar Kochba abzugrenzen ist, sondern ihm jegliche politische Zielsetzung abgesprochen werden muss. Es wird gegen Thyen zu klären sein, ob in den Augen des Johannes Jesus nicht gerade als der gekreuzigte Messias eine viel größere Gefahr für das römische Imperium darstellt als ein militanter Zelot wie Bar Kochba.

Nun komme ich auf die Auslegung Ton Veerkamps <728> zu sprechen, die sich auf alle drei Verhöre bezieht, denen der ehemals Blinde und seine Eltern von Pharisäern bzw. Judäern unterzogen werden. Ähnlich wie Wengst sieht auch Veerkamp im Hintergrund des Abschnitts Johannes 9,13-34 Gegebenheiten der johanneischen Zeit:

Wir stellen zunächst fest, dass die Peruschim autorisiert sind, ein Gerichtsverfahren durchzuführen. Das spricht für eine Phase, in der die Synagoge von den Römern als kompetentes Selbstverwaltungsorgan des judäischen Volkes anerkannt wird. Dieses Organ hat daher eine gewisse Macht über die Menschen. Die Eltern des Blindgeborenen „fürchteten sich vor den Judäern“.

Dazu, dass hier zunächst von den „Pharisäern“ (Peruschim), dann aber auch wieder von den Ioudaioi, „Judäern“, die Rede ist, schreibt Veerkamp:

Das Nebeneinander von Judäern und Peruschim zeigt, dass die Peruschim für das ganze Volk der Judäer handeln und sprechen. Da die großen Rabbinen zweifelsfrei von der Tradition der Peruschim herkommen und sie tatsächlich zumindest regional von den Römern akzeptiert waren, ist der Konflikt ein Konflikt zwischen Synagoge und messianischer Gemeinde, ein Konflikt, aus dem sich die Eltern tunlichst heraushalten möchten. Sie lassen ihren erwachsenen Sohn für sich sprechen und übernehmen für ihn keine Verantwortung.

Die Furcht, von den synagogalen Behörden zu aposynagogoi gemacht, also ausgeschlossen zu werden, ist real. Die Selbstverwaltungsorgane haben auch eine Aufgabe der Fürsorge für die Menschen. Schließen sie die Menschen aus, verlieren diese den Anspruch auf politischen und sozialen Schutz. Wir werden darauf bei der Besprechung von 16,2 eingehen.

Aus einem ganz einfachen Grund ist es nach Veerkamp nicht leicht, den in der Erzählung des Johannes agierenden Konfliktparteien wirklich gerecht zu werden:

Die Erzählung ist so komponiert, dass die ganze Sympathie der Lesenden dem Blindgeborenen, ihre ganze Antipathie den Peruschim gilt. Wir müssen aber auch die andere Seite sehen.

Zu diesem Zweck geht Veerkamp auf das Selbstverständnis des rabbinischen Judentums ein, das sich hinter den Pharisäern oder Peruschim des Johannesevangeliums verbirgt:

Nachdem der Geheilte zum wiederholten Male die gleichen Fragen hatte beantworten müssen, hatte er die Frechheit, die Peruschim zu fragen, ob sie nicht auch Schüler Jeschuas werden wollen. Diese antworten barsch, sie seien Schüler Mosches: Mosche ist unser Lehrer, Mosche rabbenu, nur er, keiner sonst. In diesem Wort zeigt sich das Selbstbewusstsein der großen Rabbinen und das gleiche Selbstbewusstsein zeigt die Antwort der Peruschim an den Geheilten: „Du bist Schüler vom dem da, wir sind Schüler Mosches.“ Für die Peruschim ist das ein unversöhnlicher Gegensatz. Zu Mosche habe Gott gesprochen, auf dem Sinai, und ihm die Tora anvertraut, woher kommt dieser Jeschua überhaupt?

In ihren Augen reißt Jeschua den Zaun um die Tora weg, indem er am Schabbat heilt. Die „Männer der großen Versammlung“ gaben ihren Nachfolgern den Rat: „Seid vollkommen im Gerichtsurteil, lasst viele Schüler aufstehen und macht einen Zaun um die Tora“ (Mischna Avot 1,1). Wer so handelt wie Jeschua, geht auf den falschen Weg, er ist ein Verirrter – „Sünder“ – in unseren traditionellen Übersetzungen. Wer den Zaun wegreißt, gibt das Ganze preis, und das wäre das Ende des ganzen Volkes Israel.

Das alles ist den meisten Christen, die das Johannesevangelium lesen, nicht bewusst, und ebensowenig kümmert es den durch Jesus Geheilten:

Für den Blindgeborenen ist die Welt eine andere geworden. Er sagt: „Eins weiß ich: Ich war blind, und auf einmal sehe ich.“ Alles andere interessiert ihn nicht. Ob Jeschua in die Irre geht oder er am Schabbat geheilt wurde: das ist ihm egal. Genau diese Haltung ist für die Peruschim eine Provokation, deswegen müssen sie so reagieren.

Vielleicht noch deutlicher als Wengst betont Veerkamp, welche Gefahr für das Judentum von einer messianischen Verehrung Jesu ausgeht, die mit einer Relativierung der rabbinischen Auslegung der Tora einhergeht:

Wenn der Zaun um die Tora niedergerissen wird, ist es um Israel geschehen, das die Rabbinen erhalten wollen.

Nach der Zerstörung der großen Synagoge in Alexandrien im sogenannten Diasporakrieg 115-117, nach der Vernichtung des assimilationsfreudigen und selbstbewussten Judentums Alexandriens gab es keine andere jüdische Option als die des rabbinischen Judentums. „Zaun um die Tora machen“ heißt, innerhalb der Völkerwelt die Sicht Israels auf eine Gesellschaft von Autonomie und Egalität zu bewahren. Der Zaun war freilich auch eine Defensivmaßnahme; Abwehr aber erzeugt Entfremdung.

Zurück zum Konflikt zwischen den Pharisäern und dem ehemals Blinden:

Die Peruschim sprechen den Widerspruch ohne Umschweife aus: Wer Schüler Mosches ist, kann nicht Schüler Jeschuas sein, wer Schüler Jeschuas ist, kann kein Schüler Mosches sein. Für die Peruschim ist ein Mensch, dem der Schabbat und der ganze rabbinische „Sündenbegriff“ vollkommen egal ist, eine große politische Gefahr: „Sie warfen ihn heraus.“ Begründung: „Du bist ganz und gar eine Irrgeburt und du belehrst uns?“ Die Schüler hatten gefragt: „Wer hat geirrt, er oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Das ruft ihren Satz von 7,49 in Erinnerung: „Aber diese Leute, die die Tora nicht kennen, verflucht sollen sie sein.“ Belehrungen solcher Menschen wie des Blindgeborenen wurden nicht akzeptiert, denn die Peruschim hatten die Lehrhoheit. Diese entscheiden praktisch darüber, wer „dazu“ gehört und wer nicht. Bevor Johannes auf diese Frage eingeht, muss geklärt werden, wer in diesem Heilungsakt handelt und was hier eigentlich geschieht.

Damit verweist Veerkamp auf die nächsten beiden Abschnitte der johanneischen Erzählung, in der sich Jesus zuerst dem ausgestoßenen Geheilten zuwendet und dann mit denen auseinandersetzt, die ihn ausgestoßen haben.

Johannes 9,35-38: Das Vertrauen des Ausgestoßenen auf den Menschensohn

9,35 Jesus hörte, dass sie ihn ausgestoßen hatten.
Und als er ihn fand, fragte er:
Glaubst du an den Menschensohn?
9,36 Er antwortete und sprach:
Herr, wer ist‘s, auf dass ich an ihn glaube?
9,37 Jesus sprach zu ihm:
Du hast ihn ja gesehen, und der mit dir redet, der ist‘s.
9,38 Er aber sprach:
Herr, ich glaube. Und er betete ihn an.

[6. August 2022] Als (W307) Jesus in Vers 35 nun „selbst wieder die Szene“ betritt, nachdem er Wengst zufolge „in den vorangehenden Vernehmungen“ trotz seiner persönlichen Abwesenheit „doch immer im Mittelpunkt“ stand, greift er (W307f.) als derjenige,

der die nicht hinauswirft, die zu ihm kommen (6,37), … nun selbst in das Geschehen ein, nachdem der von ihm Geheilte hinausgejagt worden ist. Er „findet“ ihn, wie er in 1,43 den Schüler Philippus und in 5,14 den ehemals Gelähmten gefunden hat. Anders als in Kap 5 und und wie in Kap. 1 kommt es nun zur Schülerschaft.

Jesu Frage an den Gefundenen: „Glaubst du an den Menschensohn?“ veranlasst Klaus Wengst zur Rückfrage:

Was gewinnt Johannes damit, dass er Jesus jetzt diesen Titel gebrauchen lässt? Im bisherigen Evangelium war er vor allem verbunden mit den Motiven des „Hinaufsteigens“ (3,13; 6,62) und der „Erhöhung“ (3,14, 8,28), aber auch dem des endzeitlichen Gerichts (5,27). Das Gerichtsthema wird Jesus alsbald aufnehmen. Auf der Ebene der das Evangelium lesenden und hörenden Gemeinde wird damit die Frage des Glaubens an Jesus im Hinblick darauf gestellt, ob er sich angesichts des Kreuzes bewährt, ob er gerade an dieser Stelle den rettenden Gott am Werk zu sehen vermag, der den hier Gerichteten zum Richter macht.

Die Rückfrage des Gefragten (Vers 36): „Und wer ist es, Herr, sodass ich an ihn glauben kann?“, erklärt Wengst folgendermaßen:

Ohne den Bezug auf eine bestimmte Person wäre der Glaube an den Menschensohn ein abstrakter Glaube, ein Glaubenssatz der Dogmatik über die letzten Dinge, wie ihn in 4,25 die Samariterin über den Messias formuliert hat: „Ich weiß, dass der Messias kommt. […] Wenn der kommt, wird er uns alles vermelden.“ Das ist ein unbestimmtes Bild, ein Bild ohne klare Konturen. Davon kann sich allenfalls Hoffnung nähren. Glaube, Vertrauen muss sich auf schon Bekanntes beziehen können.

Die Worte in Vers 37: „Du hast ihn doch gesehen; der mit dir redet, der ist es“, mit denen sich Jesus „jetzt als Menschensohn gegenüber dem Geheilten“ zu erkennen gibt, erinnert nach Wengst an ähnliche Worte „in 4,26 gegenüber der Samariterin“. Damit wird er „mit dem Anspruch Jesu konfrontiert, dessen helfendes Handeln er schon erfahren hat.“

Die Antwort des Gefragten (Vers 38) besteht nicht nur in dem kurzen Bekenntnis: „Ich glaube, Herr“, sondern auch in einer „auffällige[n] Handlung …: ‚Und er fiel vor ihm nieder‘“:

Das hier gebrauchte Wort proskyneín findet sich im Johannesevangelium außer in 12,20 von den zum Fest hinaufziehenden Griechen, die dort im Tempel „anbeten“ wollen, sonst nur noch in dem Abschnitt 4,20-24. Dort ist vom Anbeten auf dem Garisim und in Jerusalem die Rede und vom künftigen wahren Anbeten in Geisteskraft und Wahrheit. Wenn Johannes dieses Wort hier aufnimmt, will er offenbar solches „wahre Anbeten“ darstellen. Das heißt, dass Gott die Ehre gegeben wird, wie er in Jesus auf den Plan tritt. Wenn der Davongejagte vor Jesus niederfällt, bedeutet das, „daß er in Jesus den Ort der Gegenwart Gottes anerkennt.“

Auch nach Hartwig Thyen (T470) war Jesus seit „seinem Wort an den Blinden: ‚Geh hin und wasch dich im Teich Siloah!‘ … physisch abwesend, gleichwohl jedoch in dem Für-und-Wider der um ihn streitenden Parteien höchst präsent.“ Er betont zu Vers 35 (T471), dass die „wörtliche Wiederaufnahme von exebalon auton exō {sie warfen ihn hinaus nach draußen} aus V. 34 … das Gewicht dieser Maßnahme im Sinne von 9,22“ unterstreicht.“ Erneut meint Thyen, dass „nicht gesagt zu werden“ braucht, wie Jesus davon gehört hat, „denn er teilt ja das Allwissen seines Vaters.“

Zum Schicksal dieses Mannes führt Thyen aus:

War der Mann zuvor auf Grund seiner angeborenen Blindheit aus der Gesellschaft ausgeschlossen und als einer abgestempelt, der total in Sünden geboren wurde, so haben sie ihn nun erneut zum Ausgeschlossenen gemacht, gerade weil er zum Sehenden geworden ist; zum Sehenden in doppeltem Sinne, nämlich nicht allein im Blick auf seine frühere physische Blindheit, sondern auch und vor allem, weil er das ,Zeichen‘ gesehen und erkannt hat, daß der, dem er seine ,Erleuchtung‘ verdankt, „von Gott ist“.

Von diesem „erneut aus der Gesellschaft Verstoßenen“ heißt es nun, dass Jesus ihn findet und ihn aus eigener Initiative fragt: „Glaubst du an den Sohn des Menschen?“ Gerade weil außer an dieser Stelle „die Wendung ‚der Sohn des Menschen‘ im gesamten Neuen Testament nie als das Objekt von pisteuein eis {glauben an} erscheint“, ist Thyen zufolge „diese schwierigere Lesart der viel geläufigeren und darum zu erwartenden Frage: „Glaubst du an den Sohn Gottes?“ (vgl. 1,34.49; 3,18; 11,27; 20,31) vorzuziehen“, die von der „Mehrzahl der Handschriften“ geboten wird.

Anders als Wengst und anderen Exegeten erscheint aber Thyen die

häufig für die Ursprünglichkeit von „der Sohn des Menschen“ vorgetragene sachliche Begründung, dieser ,Titel‘ werde hier gebraucht, weil Jesus nach den folgenden V. 39-41 doch „zum Gericht in die Welt gekommen“ und das Thema des Gerichts „ein häufiger Hintergrund für die Gestalt des Menschensohns“ sei (Brown <729> …), … aus mehreren Gründen wenig wahrscheinlich. Denn einmal ist, wie oben zu 5,27 gezeigt, Jesus das Richteramt nicht übertragen, weil er der als Weltenrichter vermeintlich bekannte „Sohn des Menschen“ von Dan 7,13 wäre, sondern weil er „ein Mensch“ ist. Zum anderen kann der Ausdruck „der Sohn des Menschen“ schon darum nicht der bekannte ,Hoheitstitel‘ des eschatologischen Weltenrichters sein, weil der Mann dann nicht fragen könnte: tis estin, kyrie? {Wer ist es, Herr?} Denn die Frage setzt voraus, daß der Erfragte ein Gegenwärtiger und einer unter Seinesgleichen sein muß, ein Mensch unter Menschen, und jedenfalls nicht jenes Himmelswesen von Dan 7…

Dazu kann ich nur wiederholen, dass beide Einwände schon zu den vorigen Stellen entkräftet worden sind. Für Johannes ist der Menschensohn eben kein Himmelswesen mehr, sondern Jesus als dieser konkrete jüdische Mensch aus Fleisch und Blut. Mir ist unbegreiflich, dass Thyen, der doch darauf Wert legt, dass das Fleisch gewordene Wort vor aller Zeit bei Gott war, nicht einfach das Himmelswesen „Menschensohn“ mit diesem göttlichen „Wort“ identifizieren kann, zumal in seinen Augen (T471f.)

das Prädikat „der Sohn des Menschen“, nachdem bereits der Prolog im Spiel mit Gen 1,3 die Themen logos, phōs und zōē {Wort, Licht und Leben} eingeführt und sie wechselseitig miteinander identifiziert hatte, seit dem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus (3,13-21) ebenso wie in unserer Szene und in … Joh 1,2 fest mit den Lexemen „Licht“ und „Leben“ sowie durch das „Sagen“ Jesu mit dem anfänglichen „Wort“ und mit der „Scheidung“ der Finsternis von dem Licht in Gen 1 fest verknüpft [ist].

Einen weiteren Hintergrund für die Frage: „Glaubst du an den Sohn des Menschen?“ erblickt Thyen (T472) „in der Wendung: heneka tou hyiou tou anthrōpou {um des Menschensohnes willen} von Lk 6,22“; dass Johannes hier mit dieser Textstelle spielt, hatte er ja schon zuvor angenommen.

Am Rande geht Thyen auch auf die Frage ein, wie der von Jesus so unvermittelt nach seinem Glauben Gefragte ihn eigentlich wiedererkennen konnte:

Wenn Bultmann <730> dazu anmerkt: „Wie das möglich ist, da er ihn doch vor der Heilung nicht hat sehen können, darf man nicht fragen“, so könnte man dem hinzufügen, daß der Leser das auch nicht zu fragen braucht, weil er es sogleich erfahren wird: „Seine Schafe erkennen den guten Hirten, dem sie nachfolgen, an seiner Stimme, auf die sie hören“ (10,4).

Ich füge hinzu, dass gerade blinde Menschen jemanden sehr gut an seiner Stimme erkennen können, wie ich es selber erlebt habe, als eine blinde Studentin, die mich im Gottesdienst der Pauluskirche hatte predigen hören, im Gießener Stadtbus eher erkannte als ich sie, während ich in ein Gespräch mit jemand anderem vertieft war.

Die Frage des Geheilten (Vers 36): „Und wer ist dies, Herr, damit ich an ihn glauben kann?“, muss Thyen von seinen genannten vorgefassten Urteilen her natürlich als eine Bestätigung dafür sehen,

daß „der ,Glaube‘ an den Menschensohn hier ja nicht die Erwartung des auf den Wolken des Himmels kommenden, sondern nur die Anerkennung eines Gegenwärtigen sein“ kann [Bultmann 257]. Zum andern aber offenbart sie, daß der Fragesteller, ebenso wie der ochlos {Volksmenge} in 12,34ff, dieses Prädikat weder kennt noch begreift, daß er aber auf Jesu Wort hin bereit ist, an jeden zu glauben, den der ihm als „den Sohn des Menschen“ nennen wird… Wohl weiß der implizite Leser des Evangeliums seit dem intertextuellen Spiel des Erzählers mit Prov 30,1-4 in Joh 3,13, daß die Rede von „dem Sohn des Mannes“ im Munde Jesu ein Kryptogramm für „der Sohn Gottes ist“ (s.o. z. St.), daß aber auch die Frage der erzählten Figur des Blindgeborenen „natürlich den messianisch-eschatologischen Sinn des Titels“ voraussetze, wie Bultmann [ebd.] erklärt, erscheint uns indessen keineswegs „selbstverständlich“, sondern höchst fragwürdig … Nicht durch die Übertragung eines geläufigen „messianisch-eschatologischen Titels“ auf Jesus wird er dessen Identität begreifen, sondern am irdischen Jesus und seinem Verhalten wird er lernen, was es um das geheimnisvolle Prädikat „Der Sohn des Menschen“ ist.

Leider hat sich Thyen so sehr in die Vorstellung verrannt, dass der „Sohn des Menschen“ mit dem nur umständlich aus Sprüche 30,1-4 herauszuarbeitenden „Sohn des Mannes“ identisch sein soll, dass er derartig krampfhaft jeden Bezug auf den Menschensohn von Daniel 7 abwehren muss, obwohl diese Gestalt doch jedem schriftkundigen Juden bekannt gewesen sein muss. Das geht ja schon aus den vielfachen Bezügen der synoptischen Evangelien auf den Menschensohn von Daniel 7 hervor, die Johannes ja gerade in Thyens Augen wohl kaum ignoriert haben kann.

Recht zu geben ist Thyen darin, dass es nicht der Menschensohn-Titel als solcher ist, der Jesu Identität klärt. Aber von Jesu Zeichen her kann der Geheilte in dem Mann, der ihm gegenübersteht, den von Daniel verheißenen Menschensohn erkennen, der die Welt auf menschliche Weise grundlegend verändern wird.

Dass Jesus in Vers 37 „dem Blindgeborenen“ anders antwortet „als der samaritanischen Frau, der Jesus in der entsprechenden Situation gesagt hatte: egō eimi, ho lalōn soi {ICH BIN es, der mit dir redet} (4,26)“, nämlich „mit den Worten: ‚Du hast ihn ja vor Augen (heōrakas auton) und der mit dir redet, der ist jener (Sohn des Menschen)‘“, führt Thyen auf den „Gebrauch des Menschensohn-Prädikats“ zurück, um dessentwillen „Jesus bei der Rede in der dritten Person“ bleibt. „Und mit der Doppelung von Sehen und Sagen erweist er sich als der fleischgewordene Logos.“ Die Erwähnung des Sehens führt Wengst (W308) dagegen einleuchtender auf den „Kontext der Blindenheilung“ zurück.

Auf diese Äußerung Jesu hin (T472) bleibt Thyen zufolge „dem Ausgestoßenen, der im Haus des Vaters Jesu eine neue und ewige Bleibe gefunden hat, nur noch ein einziges Wort zu sagen: pisteuō, kyrie; kai prosekynēsen autō {Ich glaube, Herr; und er fiel vor ihm nieder} (V. 38).“

Manche Exegeten halten diesen Vers (T473), da er in einigen Handschriften fehlt und da „das Präsens pisteuō {ich glaube} sowie eine Jesus erwiesene Proskynese {Verneigung, Anbetung} nur hier vorkommen“, für einen späteren Zusatz auf Grund „des liturgischen Gebrauchs der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen in der frühchristlichen Gemeinde“. Nach Thyen ist aber das

Präsens pisteuō … durch den Kontext zureichend motiviert, und daß der Mann durch seine Proskynese am Ende ‚Gott die Ehre gibt‘, wie es die Pharisäer zuvor von ihm verlangt hatten, hat ja auch seinen guten Sinn und eine feine ironische Pointe … Zudem hätte die Streichung der fraglichen Passage noch den Nachteil, daß Jesu folgende Gerichtsrede primär an den Blindgeborenen gerichtet wäre, so daß die Pharisäer, ihre eigentlichen Adressaten, nur als zufällige Zaungäste erschienen.

Ton Veerkamp <731> legt in der Auslegung der Verse 9,35-38 den Akzent auf einen Vergleich zunächst der beiden Heilungsgeschichten in den Kapiteln 5 und 9, dann aber auch der beiden Begegnungen Jesu mit der Samaritanerin in Kapitel 4 und dem geheilten Blindgeborenen hier:

Jeschua findet den, den man ausgeschlossen hat, wie er in 5,14 den geheilten Gelähmten findet. Aber es gibt große Unterschiede. Der Gelähmte wird zwar befragt, aber erst, als er weiß, dass es Jeschua war, der ihn geheilt hatte, geht er zur Behörde, die hier Judäer heißen, 5,15. Unmittelbar darauf hören wir zum ersten Mal, dass die Judäer Jeschua verfolgen, 5,16. Jeschua hatte dem Gelähmten gesagt, dieser soll nicht mehr in die Irre gehen, damit ihm nichts Schlimmeres passiere.

Dem Blindgeborenen wird nichts dergleichen gesagt. Statt dessen wird ihm eine Frage gestellt: „Vertraust du dem bar enosch, dem MENSCHEN?“ Dieser hatte Jeschua für einen Propheten gehalten, also für einen Menschen, der in Israel Wichtiges zu sagen und zu tun hatte (9,17). Von einem „Menschensohn“ weiß er nichts; „Wer ist es?“ Jeschua vermeidet hier auffällig das egō eimi. „Du hast ihn gesehen“, heißt es. Und dann: „Der mit dir Redende, der (ekeinos) ist es.“ Erinnern wir uns an die Samaritanische, die gesagt hatte, wenn der Messias (ekeinos) gekommen ist, werde er alles verkünden. Jeschua hatte geantwortet: „Ich bin es, der mit dir Redende.“ Die Samaritanische wahrt die Distanz, sie verneigt sich vor ihm nicht. Hier wahrt Jeschua die Distanz: „Der ist es.“ Es bleibt dem Geheilten überlassen, die Distanz aufzuheben. Er tut es, indem er sagt: „Ich vertraue, Herr.“ Er verneigt sich vor ihm.

Im Zusammenhang der Auslegung von Johannes 4,19 und Johannes 4,20 hatte Veerkamp an die „Großfrau aus Schunem“ erinnert, die nach 2. König 4,37 „dem Propheten Elisa zu Füßen“ fiel, als „der Prophet das Kind der Frau ins Leben zurückbringt“, und betont, dass die Samaritanerin wegen des Konfliktes mit den Judäern vor Jesus „nicht auf die Knie gehen“ kann. Hier leitet er dazu an, die vom Evangelisten beabsichtigte differenzierte Darstellung seiner Charaktere genau wahrzunehmen:

Johannes will, dass seine Hörer und Hörerinnen genau zuhören und die Unterschiede zwischen der Samaritanischen, dem Gelähmten und dem Blindgeborenen bemerken. Alle sind in irgendeiner Weise Ausgeschlossene. Die Samaritanische findet einen illusorischen Halt in ihrer ethnischen Identität; sie muss sich dem Judäer Jeschua nicht verneigen. Der Gelähmte sucht seine Zuflucht beim rabbinischen Judentum. Der Blindgeborene hat durch seinen Ausschluss seine judäische Identität verloren, aber ausgeschlossen sind sie alle. Diese Ausgeschlossenen findet der Messias.

Johannes 9,39-41: Jesu Gericht über sehend werdende Blinde und blinde Sehende

9,39 Und Jesus sprach:
Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen,
auf dass die da nicht sehen, sehend werden,
und die da sehen, blind werden.
9,40 Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren,
und sprachen zu ihm: Sind wir denn auch blind?
9,41 Jesus sprach zu ihnen:
Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde;
weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.

[7. August 2022] Bevor Klaus Wengst die letzten Verse von Kapitel 9 bespricht, weist er nochmals darauf hin (W308), dass „die spätere Kapiteleinteilung den falschen Eindruck erweckt, zwischen 9,41 und 10,1 liege ein Einschnitt“. Vielmehr geht die „Re­de Jesu … in 10,1 unvermittelt weiter.“ Dabei erklärt Wengst (W309) den Umstand, dass der „Wechsel in einen anderen Bildbereich, nämlich den vom Hirten und den Schafen, in 10,1 negativ einsetzt“, damit, dass die „vorgestellte Situation und die Gesprächspartner … dieselben“ bleiben, nämlich „Pharisäer in Konfrontation mit Jesus“, wie aus 9,40 hervorgehen wird (beide Hervorhebungen von mir).

Nachdem die „Szene zwischen Jesus und dem Geheilten … mit dessen Bekenntnis abgeschlossen“ ist, „ergreift Jesus wieder das Wort“ (Vers 39):

Auf die vorangehende Erzählung zurückblickend benennt Jesus grundsätzlich den Zweck seines Kommens: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden.“ Spätestens hier liegt das Recht einer metaphorischen Interpretation der Geschichte von der Blindenheilung offen auf der Hand. Denn nach dieser Erzählung ist zwar ein im wörtlichen Sinn Nichtsehender sehend geworden, jedoch kein im wörtlichen Sinn Sehender blind. Wohl aber haben sich Menschen mit theologischem Urteilsvermögen als blind gegenüber Jesus erwiesen. Das Gericht vollzieht sich hier als Scheidung im Hören oder Nichthören auf die Worte Jesu.

Wengst sieht in diesem Vers „auch schon eine Verknüpfung mit dem ersten Teil von Kap. 10“, denn der Blindgeborene „erweist sich als sehend, indem er in der Stimme Jesu den Ruf Gottes vernimmt“ und gehört damit „zu den Schafen, die die Stimme des guten Hirten hören.“

Zufällig in der Nähe Jesu anwesende Pharisäer (Vers 40) hören die „das Gericht als Scheidung beschreibende Aussage Jesu, dass Blinde sehend und Sebende blind werden“, und fragen ihn (W309f.):

„Sind etwa auch wir blind?“ Mehr Gesprächsanteil als diese Frage, die deutlich macht, dass es um Blindheit im metaphorischen Sinn geht, räumt ihnen Johannes nicht ein. In der szenischen Zwischenbemerkung in 10,6 stellt er lediglich ihr Nichtverstehen fest und die Abschlussbemerkung in 10,19-21 über eine Spaltung unter ihnen wiederholt variierend die unterschiedlichen Stimmen von 9,16.

Die Antwort Jesu (W310) stellt Wengst zufolge seine Gegner, „die Juden“ bzw. „die Pharisäer“ eindeutig auf die „Seite der Finsternis und des Unglaubens“, da sie „meinen zu sehen und gerade deshalb nicht auf Jesus hören wollen“:

Jesus antwortet nicht mit Ja oder Nein: „Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: ,Wir sehen.‘ Da bleibt eure Sünde.“ Als Einfältige, Ungebildete wären sie noch im Stadium der Unschuld und könnten „sehend“ werden.

Viele Exegeten, so etwa Udo Schnelle <732> meinen dieses Wort Jesu folgendermaßen 1:1 nachsprechen zu müssen:

„Allein im Ja oder Nein zur Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth zeigt sich, ob ein Mensch zum Bereich des Lichtes gehört oder in der Finsternis bleibt.“ Während der Blindgeborene „in einem doppelten Sinn sehend geworden“ ist, sind „die Pharisäer nur vermeintlich Sehende“ und „nicht zum Glauben gekommen, so daß sie in der Sünde schlechthin bleiben: der Ablehnung des Offenbarers“. Daher „verfallen die Juden der Krisis, weil sie im Unglauben verharren“.

Einer solchen Auslegung widerspricht Wengst mit folgender Argumentation:

Sieht man, dass es im Johannesevangelium keinen isoliert auf Jesus bezogenen Glauben gibt, sondern dass es beim Glauben an Jesus immer um den Glauben an Gott geht (vgl. besonders 12,44), verbietet es sich angesichts des weitergehenden jüdischen Zeugnisses, vom „Unglauben der Juden“ zu sprechen.

Zur Unterstützung seiner Position beruft sich Wengst auf folgende Ausführungen von Josef Blank <733> „zu diesem Kapitel“:

„Es ist ein ,Konflikt zwischen feindlichen Brüdern‘, die ja bekanntlich sonders heftig zu sein pflegen; ein Konflikt zwischen rivalisierenden Gruppen, der in der wirklichen Geschichte stattfindet, wo solche Prozesse gewöhnlich nicht friedlich verlaufen […]. Wobei wieder einmal deutlich wird, wie wichtig es ist, auch die neutestamentlichen Aussagen in ihrer unmittelbaren historischen Situation, in ihrer Verortung in einem gegebenen Kontext zu sehen und zu verstehen, und ihnen nicht vorschnell die Bedeutung eines überzeitlichen Gotteswortes zuzusprechen. Ein dogmatistisches Verständnis historisch bedingter Aussagen tut diesen Texten unrecht und ist außerdem, wie wir heute nach neunzehnhundertjähriger Erfahrung sagen müssen, auch äußerst gefährlich“.

Offenbar um zur Vorsicht gegenüber dem Wort des johanneischen Jesus in 9,41 zu mahnen, erinnert Wengst außerdem daran, dass

das rabbinische Judentum <734> eine besondere Verantwortung der theologischen Lehrer [kennt]. In bBM 33b heißt es in Auslegung von Jes 58,1: „Sage meinem Volk ihre Sünde, das sind die Schüler der Weisen; denn Irrtümer werden ihnen wie vorsätzliche Übertretungen berechnet. Und dem Haus Jakob ihre Verfehlung, das sind die Landleute; denn vorsätzliche Übertretungen werden ihnen wie Irrtümer berechnet. Das ist es, was wir gelernt haben. Rabbi Jehuda sagt: ,Sei vorsichtig bei der Lehre! Denn ein Irrtum in der Lehre wird als vorsätzliche Übertretung angerechnet.‘“ Der Ausspruch Rabbi Jehudas ist Zitat aus mAv 4,13.

Nach Hartwig Thyen (T473) stellen die Verse 9,39-41 „die letzte der sieben Teilszenen unseres kleinen Dramoletts von der ,Heilung des Blindgeborenen‘“ dar, da „diese Passage durch kai eng mit dem Vorausgehenden verknüpft“ ist, aber zugleich „dadurch deutlich von ihm abgehoben“ ist, „daß als Subjekt der folgenden Rede ausdrücklich und nicht nur pronominal ho Iēsous {Jesus} benannt wird.“ Sie (T474) verknüpft „unsere Erzählung mit Jesu Wort: ‚Ich bin das Licht der Welt‘ von 8,12ff“ und bildet „zugleich die Brücke zu Jesu Rede vom ,guten Hirten‘ im folgenden Kapitel 10“, ähnlich wie „das an die Heilung des Lahmen angeschlossene kurze Streitgespräch in 5,16-18“ eine „zu der nachfolgenden Rede überleitende Funktion hatte“.

Zum Inhalt von Jesu Erklärung in Vers 39 weist Thyen auf den betonten „Einsatz des genuin johanneischen Gebrauchs des Pronomens egō“ hin: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Blinden sehend, die Sehenden aber zu Blinden werden“, und dass „einige Pharisäer“, die nach Vers 40 ohne nähere Erklärung auf einmal bei Jesus sind, „von vornherein die Adressaten dieser Rede“ sind:

Ihre erst nachträgliche Erwähnung hebt vielmehr die generelle und die aktuelle Situation übergreifende Gültigkeit von Jesu eröffnendem Wort hervor, daß er zum Gericht in diese Welt gekommen sei, damit die Blinden sehend, die sich sehend Wähnenden aber zu Blinden werden.

Dieser Satz widerspricht Thyen zufolge nicht der Erklärung Jesu

in der ersten Nikodemusszene: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern dazu, daß die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an den glaubt, wird nicht gerichtet, wer aber nicht glaubt, der ist bereits gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes glaubt“ (3,17f) …, sondern er erläutert und ,illustriert‘ ihn an den erzählten Figuren. „Illustriert“ darf dabei wie in 3,18ff ganz buchstäblich als „beleuchtet“ genommen werden. Denn erst wo das „Licht der Welt“ aufleuchtet, werden die dunklen Schatten sichtbar.

Als Hintergrund dieser Vorstellung verweist Thyen weiter auf die Erschaffung des Lichts durch das von Gott am Anfang gesprochene Wort:

Die Schöpfungsgeschichte, in der nichts ohne das Wort Gottes geschah, das in Jesus Fleisch geworden ist (1,1 ff), hebt an mit dem Wort: „Es werde Licht“ und damit, daß Gott die Finsternis von dem Licht scheidet (diechōrisen Gen 1,4). Und wie die Schöpfung keine vergangene Episode ist, sondern sich im ständigen Wirken des Vaters in der Gemeinschaft mit dem Sohn – selbst am Sabbat – fortsetzt, so setzt sich dieses anfängliche diachōrizein {Scheiden} darin fort, daß der Sohn eis krima {zum Gericht} in diese Welt gekommen ist.

Zwar stimmt Thyen Gail O‘Day <735> zu, die „in V. 39 treffend den ‚hermeneutischen Schlüssel‘, der das gesamte Kapitel erschließt“, findet,

aber mit dem gleichen Recht und Gewicht fügt sie dem hinzu: „doch er erhält seine volle Bedeutung für den Leser nur, weil der Leser den Kontrast zwischen den Pharisäern und dem Blindgeborenen während der gesamten Erzählung erlebt hat“.

In diesem Zusammenhang ist für Thyen auch das Problem von Bedeutung, dass

die Frage, wieweit wir Nachgeborenen in unserer nahezu total konzeptionalisierten und besprochenen Welt die in der erzählten Welt der Geschichte Jesu von ihm vollbrachten ,Zeichen‘ für möglich oder unmöglich halten, keinesfalls zum Maßstab unserer Auslegung gemacht werden [darf]. Denn daß der Evangelist und seine frühen Leser von dem realen Geschehensein der Wundertaten Jesu einschließlich seiner Auferstehung am dritten Tage überzeugt waren, und trotz aller sicher nicht undurchschauten Fiktionalität der Erzählung an die Wahrheit des Erzähltens geglaubt haben, sollte man nicht bestreiten.

Es verstand sich mithin für Verfasser und Adressaten der Evangelien von selbst, dass Jesus dazu in der Lage war, außergewöhnliche Machttaten zu vollbringen, die die natürlichen Möglichkeiten des Menschen übersteigen. Ich füge hinzu, dass ein solches Verständnis Jesu auch dann, wenn wir als naturwissenschaftlich geprägte Menschen der Neuzeit Ereignisse ausschließen, die gegen die von Gott geschaffenen Naturgesetze verstoßen, Anhaltspunkte in der Ausstrahlung und im tatsächlichen Wirken des historischen Jesus gehabt haben muss, um seine Taten und seine gesamte Existenz in der in den Evangelien vorgenommenen Weise zu begreifen. Das sage ich durchaus in dem Bewusstsein, dass wir den historischen Jesus niemals zu fassen bekommen werden. Aber das, was wir durch die Evangelien von Jesus erfahren, lässt darauf schließen, dass Menschen im Vertrauen auf ihn persönliche Aufrichtung und Heilung erfuhren – und vielleicht sogar, wie Veerkamp meint, die Zuversicht, dass durch seinen Tod am Kreuz und die Übergabe des Geistes Gottes sogar die ganze Welt umgekrempelt werden und die neue Weltzeit anbrechen kann.

Ich stimme Thyen also durchaus zu, dass es eine reale Basis geben muss (T474f.), auf der dann

überhaupt von einer symbolischen, das heißt: von einer über das konkrete Geschehnis hinausweisenden Bedeutung, eben von einem sēmeion {Zeichen}, die Rede sein [kann]. lm Gegensatz zum Symbol wäre alles andere die doketistische Auflösung des Erzählten in pure Allegorie.

Damit wendet sich Thyen wohl gegen ein Verständnis von „Allegorie“, demzufolge alles im Text Erzählte ohne jeglichen Anhalt an der Fleisch gewordenen historischen Gestalt Jesu einfach ein Spiel mit Worten wäre. Wenn die Doketisten meinten, das Himmelswesen Jesus sei nur scheinbar ein Mensch geworden, würde ein solcher Allegoriker alles Reden über Jesus in etwas auflösen, was sich eigentlich gar nicht auf den wirklichen Jesus, sondern auf von ihm ablösbare Wahrheiten bezieht.

Im Einzelnen bezieht sich Thyen (T475) teils zustimmend, teils kritisch auf die diesbezügliche Auslegung von Rudolf Bultmann: <736>

Wohl ist „von vornherein klar, daß die Begriffe ,sehend‘ und ,blind‘ an den Begriffen von ,Licht‘ und ,Finsternis‘ orientiert sind, die 1,5ff, 3,19ff das gottgeschenkte Heil und das Sichverschließen gegen Gott bezeichneten. Wie die Begriffe ,Licht‘ und ,Finsternis‘ nicht ,bildlich‘, sondern gerade im eigentlichsten Sinne gebraucht sind, … so gilt das Gleiche von den Begriffen ,sehend‘ und ,blind‘. Jedoch kann mit den Begriffen gespielt werden, und der Gebrauch kann jederzeit ins Bildliche umschlagen. Und so wird man auch in V. 39 in der Folge auf 9,1-38 bildliche Redeweise finden, die eigentümlich auf die eigentliche anspielt“.

Allerdings meint Thyen, dass „sich die Metaphorik des Symbolischen mit der Entgegensetzung von ‚Bildlichem‘ und ‚Eigentlichem‘ oder gar ‚Eigentlichstem‘ nicht erfassen“ lässt, „zumal dabei das sichtbar Reale zum ‚Bloß-Noch-Bildlichen‘ gerät, so wie Bultmann denjenigen, der in die Welt gekommen ist, die Werke Gottes zu vollenden, auf das punctum mathematicum des ,Bloßen-Daß-Seines-Gekommenseins‘ reduziert.“

Ich gebe zu, dass ich nicht ganz durchsteige durch Thyens anschließende Bezugnahme auf „das Metaphorische und das Reale“, die „nicht getrennten Welten angehören“, und „das ‚Symbolische‘ und das ‚Wörtliche‘“, die „einander wechselseitig“ konstituieren, sowie „die besprochene“, die „von der erzählten Welt“ unterschieden werden will, „ohne daß dabei die eine von der anderen getrennt werden könnte, oder daß die besprochene der erzählten Welt gegenüber irgendeinen Realitätsvorrang hätte“ und dass erst „in ihrem wechselseitigen Bezogensein aufeinander [sie] … unsere reale Lebenswelt“ konstituieren. Aber Thyen verweist darauf ohnehin nur nebenbei, bevor er weiterhin ausführlich auf Bultmann eingeht:

Von dieser Einschränkung abgesehen enthält Bultmanns Zusammenfassung unserer Passage jedoch so viel Bedenkenswertes, daß wir ihn hier zu Wort kommen lassen: „Die ,Blinden‘ und die ,Sehenden‘, für die Jesu Kommen das krima {Gericht} bedeutet, sind also keine vorhandenen und aufweisbaren Gruppen, sondern jeder ist gefragt, ob er zu diesen oder jenen gehören will. Ja, in Wahrheit waren bis jetzt alle blind; denn V. 41 zeigt, daß die ,Sehenden‘ nur solche waren, die zu sehen wähnten, und die ,Blinden‘ solche, die um ihre Blindheit wußten, wie denn das Blindsein gleichbedeutend ist mit dem Sein in der Finsternis, – vor der Offenbarung die einzige Möglichkeit (vgl. 12,46). Aber alle waren blind in einem vorläufigen Sinne; und durch das Kommen des Lichtes erhält das ,Sehen‘ wie das ,Blindsein‘ einen neuen und seinen definitiven Sinn. Und eben darin besteht das Gericht: die ,Blinden‘ werden ,sehend‘ als solche, die ,glauben‘ an das ,Licht‘, und deren Sehen jetzt nicht mehr ein ,Sich-Selbst-Zurechtfinden‘ im Wahne des Sehenkönnens ist, sondern ein Erhelltsein durch die Offenbarung; und das ,Blindsein‘ ist jetzt nicht mehr nur ein Irren im Dunkel, das um sich als Irren immer wissen kann und damit die Möglichkeit des Sehendwerdens hat, sondern es hat eben diese Möglichkeit verloren. Wer nicht glaubt, ist gerichtet (3,18), und eben in der Festhaltung des Wahnes, sehend zu sein, vollzieht sich an ihm das Gericht. Den Blinden die sich (so) auf ihr Blindsein festlegen, gilt: ,es bleibt eure Sünde‘. Es ist die Paradoxie der Offenbarung, daß sie, um Gnade sein zu können, Ärgernis geben muß und so zum Gericht werden kann. Um Gnade sein zu können, muß sie die Sünde aufdecken; wer sie sich nicht aufdecken lassen will, legt sich auf sie fest, und so wird durch die Offenbarung die Sünde erst definitiv zur Sünde“.

Damit bringt Bultmann – und es sieht so aus, als teile Thyen seine Auffassung uneingeschränkt – eine christliche Johannes-Auslegung auf den Punkt, die jeden Juden, der sich nicht für Jesus öffnet, als Sünder verdammt. Wenn „vor der Offenbarung“, womit er das Erscheinen Jesu in der Welt meint, „alle blind“ waren, indem sie sich in der Finsternis des Nicht-Wahrnehmen-Könnens der Gnade der Sündenvergebung befanden, müssen die Erfahrungen und Verheißungen des Volkes Israels als rein stammesgeschichtliche Vorläufigkeiten gelten, die jetzt abgetan sind. Bultmann und Thyen selbst erweisen sich damit selbst als blind gegenüber einem Jesus, der nach dem Johannesevangelium den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert und in diesem NAMEN Gericht hält über alle, die dem Volk Gottes nicht nur seine Freiheit und sein Recht, sondern auch sein Gottvertrauen in Frage stellen.

Ton Veerkamp <737> teilt weder eine solche antijüdisch-christliche Auslegung der Verse 9,39-41 noch erklärt er diese wie Wengst lediglich als überzogene Reaktion von Seiten der johanneischen Gemeinde auf Repressalien der jüdischen Mehrheit, von der man heute Abstand nehmen müsste. In seinen Augen beziehen sich die Metaphern vom Sehen und Blindsein nicht auf die Frage, ob Menschen nur auf Grund ihres Vertrauens zu Jesus Sündenvergebung erlangen können oder nicht, sondern es geht hier um politischen Durchblick:

Dann geht Jeschua ins Grundsätzliche. Zum rabbinischen Judentum sagt er: Seht ihr nicht, was ihr anrichtet mit eurer Politik? Ihr treibt die Leute hinaus. Ihr verkrüppelt Israel. Und jetzt nimmt er die richterliche Vollmacht dessen, den Daniel bar enosch, den MENSCHEN, genannt hat, in Anspruch. Er, der ständig sagte, er sei nicht gekommen, um zu urteilen, fällt das Urteil: „Die nicht Sehenden sehen und die Sehenden werden zu Blinden.“ Das ist ein politisches, kein moralisches Urteil.

Damit meint Veerkamp: Diejenigen, die auf Jesus vertrauen, wollen keine neue Religion. Es sind Juden, die von Jesus die endzeitliche Sammlung und Befreiung ganz Israels erwarten, weil er zeichenhafte Taten der Heilung und Ernährung Israels vollbringt, die darauf hindeuten, dass die kommende Weltzeit unmittelbar bevorsteht.

Die Peruschim begreifen, was hier gesagt wird: „Sind auch wir etwa blind?“ Jeschua erwidert: Wenn ihr zugeben würdet, ihr würdet auch nicht wissen, wie es weiter geht, wäret ihr offen für eine neue Perspektive. Gerade weil ihr eure Politik für die einzig richtige haltet, weil ihr euch für die einzigen haltet, die die Durchsicht haben, bleibt es bei einer Politik, die in die Irre führt: „Eure Verirrung bleibt!“ Und das wird Jeschua anschließend detailliert ausführen.

Natürlich gilt für die Verurteilung des rabbinischen Judentums durch Jesus auch dann, wenn sie einen solchen politischen Hintergrund hat, dass jüdische Rabbiner sehr gute Gründe hatten, ihr zu widersprechen und ihrerseits dem entstehenden Christentum die Abirrung von der Tora Gottes vorzuwerfen – und das erst recht, als die heidenchristlich dominierte Kirche das Johannesevangelium als Kampfschrift für die Enterbung der Juden von allen Heilsgütern ihrer Tradition missbrauchte.

Johannes 10,1-6: Das Gleichnis vom Hof der Schafe, die nur auf ihren Hirten hören

10,1 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall,
sondern steigt anderswo hinein,
der ist ein Dieb und ein Räuber.
10,2 Der aber zur Tür hineingeht,
der ist der Hirte der Schafe.
10,3 Dem macht der Türhüter auf,
und die Schafe hören seine Stimme;
und er ruft seine Schafe mit Namen
und führt sie hinaus.
10,4 Wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat,
geht er vor ihnen her,
und die Schafe folgen ihm nach;
denn sie kennen seine Stimme.
10,5 Einem Fremden aber folgen sie nicht nach,
sondern fliehen vor ihm;
denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.
10,6 Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen;
sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.

[8. August 2022] Zum Beginn von Johannes 10 betont Klaus Wengst zunächst (W310), dass Jesu Rede zwar fortgeführt wird, jedoch

wechselt der Bildbereich. Den vorher herausgestellten exklusiven Bezug auf Jesus erläutert nun das Hirtenbild. Dabei wird – nach dem Moment des Sehens in Kap. 9 – in dem Abschnitt V. 1-5 das Moment des Hörens betont. Das neue Bild findet sich wieder mit dem doppelten Amen gewichtig eingeleitet.

Die (W311) Antithesen am Anfang (Verse 1-2) und Ende (Verse 4-5) „der als Gleichnisrede bezeichneten kleinen Einheit V. 1-5“ weisen nach Wengst „darauf hin, dass sich die Polemik von 9,39.41 fortsetzt.“ Da dort „zuletzt ‚welche von den Pharisäern‘ hart angegangen worden“ sind, dürften sie jetzt wieder

in 10,1 im Blick sein, wenn Jesus negativ einsetzt: „Wer nicht durch die Tür in die Schafhürde hineingeht, sondern von anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und Räuber.“ Er zeichnet das Bild von Schafen, die in einem Pferch im Freien oder in einem an ein Haus angrenzenden umfriedeten Hof übernachten.

Aber auf wen bezieht Jesus seine „Definition, dass ein Dieb oder Räuber ist, wer ‚nicht durch die Tür‘ zu den Schafen geht, ‚sondern von anderswo einsteigt‘…?“

Die in der vorgestellten Situation Angeredeten verstehen das nicht, wie V. 6 feststellt. Die das Evangelium Lesenden und Hörenden werden durch den vorangehenden Kontext angeleitet, die gerade Angeredeten damit zu verbinden. Was aber lässt sie diese Verbindung herstellen? Im Definitionssatz ist entscheidend das vorangestellte negative Kriterium: „nicht durch die Tür“. Es gibt hiernach nur einen legitimen Zugang. Damit aber ist die Frage vorbereitet, die erst später beantwortet wird: Was ist mit der Tür gemeint?

Damit setzt Wengst zwei Punkte als selbstverständlich gegeben voraus, nämlich erstens, dass es sich hier um ein Bild aus dem Hirtenleben handelt, und zweitens, dass die Diebe und Räuber des Gleichnisses auf die Gegner in Jesu Streitgespräch zu beziehen sind. Offen lässt er noch die Definition der Tür.

Über die Selbstverständlichkeit in den Versen 2-3 hinaus, dass derjenige, der „durch die Tür hineingeht, … der Hirte der Schafe“ ist und dass „die Schafe … auf seine Stimme“ hören, entdeckt Wengst „an einer Stelle eine Übertreibung, dass nämlich der Hirte alle Schafe einzeln mit Namen ruft. Hier dringt ein Zug von der gemeinten Sache her ein; darauf ist zurückzukommen.“

Zur Fortsetzung der Rede in Vers 4: „Wenn er die Seinen alle hinausgebracht hat, geht er vor ihnen her und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen“, weist Wengst darauf hin (Anm. 556), dass im „griechischen Text … dasselbe Wort wie in 9,34f.“ steht, nämlich ekballein {hinauswerfen}, das er „dort mit ‚hinausjagen‘ übersetzt ha[t]. Hier geht es um das Hinaustreiben der Schafe aus dem Pferch.“

Dafür, dass sich das Gleichnis vom Hirtenleben im Heiligen Land her erklären lässt, beruft sich Wengst auf C. T. Wilson, <738> der die „besonders betonten Momente, dass die Schafe die Stimme ihres Hirten kennen und auf sie hören und ihm deshalb folgen“, eindrücklich beschreibt (W311f.):

„Vor einigen Jahren verbrachte ich die Nacht in einigen Hirtenzelten in Gilead. Die Zelte, etwa zehn bis zwölf an der Zahl, waren in einem großen Umkreis aufgeschlagen und schlossen einen beträchtlichen Raum ein. Am Abend wurden etwa sechs oder sieben Herden in das Lager hineingebracht, um ihnen Schutz zu geben. Als am Morgen die Zeit für die Hirten kam, ihre Schützlinge zum Weiden hinauszubringen, versuchten sie nicht etwa, ihre jeweiligen Herden aus der Menge der Schafe und Ziegen abzusondern, die alle durcheinander über den ganzen Raum zerstreut waren. Vielmehr ging jeder ein kurzes Stück hinter den von den Zelten gebildeten Ring und gab dort stehend seinen je besonderen Ruf von sich. Sofort geriet die ganze Menge der Schafe und Ziegen in Bewegung, und während die Hirten weiter riefen, trennten sich die verschiedenen Herden von selbst. Alle strömten aus dem Lager hinaus in der Richtung ihrer jeweiligen Führer. Und nach fünf Minuten war kein Schaf und keine Ziege mehr im Innenraum. Wiederum ein wenig später konnte man sehen, wie die unterschiedlichen Herden in alle Himmelsrichtungen auseinandergingen, wobei jede ihrem eigenen Hirten folgte.“

Dazu hebt Wengst weiter hervor (W312), dass die „Lesenden und Hörenden“ ihre „Verbundenheit und Vertrautheit“ mit Jesus darin wiedererkennen sollen, „dass die Schafe die Stimme ihres Hirten kennen“, und dass darin auch der Grund für „die erzählerische Übertreibung“ liegt,

dass der Hirte „seine Schafe Name um Name ruft“. Wer mit Namen gerufen ist, kann sich darauf verlassen, wichtig zu sein und dazuzugehören – und soll dann auch bleiben. Hier mag auch mitklingen, was nach Jes 43,1 Gott zu Israel sagt: „Fürchte dich nicht! Ich habe dich doch befreit. Ich habe dich mit deinem Namen gerufen. Du gehörst mir.

Ich denke, es ist eher umgekehrt: Dass Jesus den NAMEN verkörpert, der Israel bei seinem Namen ruft, dürfte der Grund dafür sein, dass Johannes dasselbe vom Hirten der Schafe sagt, denn es ist ja genau dieses Israel, das der Messias Jesus neu versammeln und zum Leben der kommenden Weltzeit führen will.

Zum Gegensatz, der in Vers 5 ausgedrückt wird: „Einem Fremden aber werden sie gewiss nicht folgen, sondern vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen“, meint Wengst:

Auf der Bildebene handelt es sich nicht um die Wiederaufnahme von Dieb und Räuber. Es kommen andere (Hirten) in den Blick, die eine andere Stimme haben, der die Schafe nicht folgen, sondern vor der sie weichen, wenn sie zu nahe kommt. Die Formulierung als Gewissheitsaussage im Futur weist darauf hin, dass das damit Gemeinte feste Hoffnung des Evangelisten ist; es möge so sein. Auf dieser Ebene, der des Gemeinten, sind „die Fremden“ in der Antithese von V. 4f. sicher keine anderen als diejenigen, auf die in der von V. 1f. mit „Dieb und Räuber“ gezielt war. Sie kommen jetzt unter einem anderen Aspekt des Bildes in den Blick.

Hier stelle ich die Gewissheit, mit der Wengst seine Deutung vorträgt, dass die Diebe und Räuber auf der Ebene „des Gemeinten“ mit den fremden Hirten identisch sind. In meinen Augen ist das alles andere als „sicher“.

Bis zu diesem Punkt „reicht die Gleichnisrede, die die Angeredeten nicht verstehen“, was in Vers 6 vom Erzähler ausdrücklich vermerkt wird. Wengst nimmt aber an, dass „die das Evangelium lesende und hörende Gemeinde … schon Aspekte des Gemeinten erkennen“ konnte und sollte, weil sie dafür „auch durch die biblische Tradition vorbereitet“ ist. Dasselbe sollte allerdings, so denke ich, in den Augen des Johannes eigentlich auch für die von Jesus angesprochenen Gegner gelten; dass sie nicht verstehen, zeigt erneut ihre Blindheit, die ihnen Jesus soeben vorgeworfen hat.

Als biblische Bezüge der Gleichnisrede Jesu führt Wengst an, dass nach Psalm 95,7 und 100,3 „Gott selbst der Hirte seines Volkes Israel“ ist, indem er Leben gibt und sein Volk sicher leitet:

Letzteres allein wird in Ps 77,21 angeführt: „Wie Schafe hast Du Dein Volk geführt durch die Hand Moses und Aarons“ (vgl. Ps 80,2; Jes 40,11). Nach Num 27,15-23 setzt Gott Josua als Hirten über Israel ein. Nach 2. Sam 5,2 sagt Gott zu David: „Du wirst mein Volk Israel weiden. Du wirst Fürst über Israel sein“ (vgl. Ps 78,70-72). Ez 34 übt scharfe Kritik an den selbstsüchtigen „Hirten Israels“ und kündigt an, dass Gott selbst sich seiner Herde annehmen will, indem er ihr einen Davididen als „einzigen Hirten“ gibt (vgl. Jer 23,1-8).

Außerdem führt Wengst auch noch rabbinische Texte an, unter anderem über „die Einsetzung Moses als Hirten Israels“. In diesem Zusammenhang (W313, Anm. 559) wirft Udo Schnelle <739> ihm vor, dass er

zwar biblische und rabbinische Texte biete, „nicht aber die überaus reiche Hirtenmetaphorik und Hirtenliteratur der griechisch-römischen Überlieferung“. Er kann sich das „nur so erklären, dass Wengst offenbar alles griechisch-römische bzw. hellenistische für ,heidnisch‘ und damit nicht für erwähnenswert hält“.

Wengst entgegnet:

Ich erkläre mir das so, dass das Johannesevangelium durchgängig auf die jüdische Bibel verweist und zeigt, dass es in ihrer Tradition verfasst ist. Ich sehe nicht, was die von mir ästhetisch durchaus geschätzte bukolische Literatur zur Erschließung des johanneischen Textes beiträgt.

Darin ist Wengst sicher Recht zu geben (W313), dass die jüdische Tradition für die johanneische Gemeinde ausreicht, um auf ihrem Hintergrund

und aufgrund der bisherigen Lektüre des Evangeliums … in Jesus den von Gott eingesetzten Messias als ihren Hirten schon in der Gleichnisrede von V. 1-5 [zu] erkennen, als den er sich im übernächsten Abschnitt ausdrücklich bezeichnen wird. Dessen Stimme kennt sie; und darauf soll sie hören. Dagegen soll sie sich von denen distanzieren, die sich in Distanz und Gegensatz zu Jesus stellen. Sie erscheinen in der vorgestellten Erzählsituation als Angeredete, die nicht verstehen.

Offen bleiben in meinen Augen aber zwei Fragen, erstens, ob die Rolle der Diebe und Räuber nicht doch anders eingeschätzt werden muss, und zweitens, ob Wengst die genaue Art und Weise des Konflikts Jesu mit seinen rabbinischen Gegnern in den Blick nimmt. Da er diesen Konflikt auf einer religiösen Ebene begreift, also in dem Sinne, dass Jesus nach Johannes der einzige wahre Hirte Israels ist, während die rabbinische jüdische Führung sich durch ihre Ablehnung Jesu als fremde Hirten, ja, sogar Diebe und Räuber, erwiesen haben, muss er gegen eine Auslegung, die diesen Gegensatz antijüdisch bis in die heutigen Tage hinein nachvollzieht, energischen Protest einlegen:

Dass die in ihnen anvisierten Lehrer zur Zeit des Johannes, die die jüdische Mehrheit führten und zu denen er und die Seinen in Distanz standen, treue Hüter der Herde zu sein suchten, steht auf einem anderen Blatt, das aber wahrgenommen werden muss. Darüber wird an späterer Stelle des Kapitels noch zu reden sein. Von daher ist es unangemessen, die im Text Jesus antithetisch Gegenüberstehenden auch in der Auslegung negativ abzuqualifizieren und diese negative Qualifizierung durchscheinen zu lassen auf jüdische Lehrer überhaupt bis in die Gegenwart.

Wie schon so oft gesagt, ist Wengst in dieser Hinsicht gegen alle seine Kritiker und jede antijüdische Auslegung Recht zu geben. Und doch bleibt die Frage, ob er in seiner Auslegung tatsächlich dem Evangelisten Johannes gerecht wird.

Nach Hartwig Thyen (T476) bestätigt der „emphatische Einsatz von Joh 10 mit dem genuin johanneischen doppelten Amen: amēn amēn legō hymin {Amen, amen, ich sage euch}, … noch einmal“, dass die Verse 9,39-41 auch als „Auftakt“ zur „Hirtenrede“ gelesen sein will, denn „nirgendwo sonst in unserem Evangelium dient die Wendung: amēn amēn legō hymin, der Eröffnung einer neuen Rede Jesu, sondern stets folgt sie zuvor Gesagtem und greift darauf zurück.“ Da die hier Angeredeten einfach nur mit hymin {euch} benannt werden, können sie (T476f.)

auf der Ebene der Erzählung keine anderen sein als die zuvor als Leute ek tōn Pharisaiōn {aus den Pharisäern} Bezeichneten. Wiederum nur mit einem Pronomen benennt V. 6 sie dann rückblickend als ekeinoi {jene}. Da die Pharisäer in unserem Evangelium des öfteren als Wortführer der Ioudaioi auftreten, können die Adressaten der Hirtenrede endlich auch nominal ausdrücklich als hoi Ioudaioi bezeichnet werden (V. 19). Die feste Verbindung zwischen der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen und der Hirtenrede wird am Ende noch einmal durch die Reaktion der Ioudaioi auf die letztere bestätigt. Wie schon in 7,43 und 9,16 verursacht Jesu Rede nämlich wiederum ein ,Schisma‘ unter seinen Zuhörern. Deren Mehrheit erklärt ihn zum Besessenen, dem man nicht zuhören sollte. Eine kleinere Gruppe jedoch hat das sēmeion von Joh 9 vor Augen und widerspricht der Verurteilung Jesu deshalb mit der Frage, ob es denn etwa ein Besessener vermöge, „den Blinden die Augen aufzutun“ (V. 21).

Gegen alle Versuche (T477), vermeintliche Probleme der Hirtenrede „auf literarkritischen Wegen zu beseitigen“, hält Thyen „an dem Prinzip fest, das überlieferte Evangelium als literarisches Werk und die Hirtenrede an ihrer Stelle als dessen unablösbaren Teil zu interpretieren.“

Wie Wengst nimmt auch Thyen ganz selbstverständlich an, dass Jesus in seiner Gleichnisrede mit „Bildern und Erfahrungen aus dem Hirtenleben“ spielt. Er fasst sie umschreibend folgendermaßen zusammen:

„Amen, Amen ich sage euch: Wer den Pferch der Schafe nicht durch die Tür betritt, sondern von anderswoher in ihn eindringt (anabainōn allachothen), der ist ein Dieb und ein Räuber. Dagegen ist allein, wer durch die Tür hineingeht, der (legitime) Hirte der Schafe. Dem öffnet der Türhüter (das Tor) und die Schafe hören (auf) seine Stimme und er ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle die Seinen hinausgetrieben hat, geht er vor ihnen her und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden dagegen werden sie niemals (ou mē) folgen, sondern vor ihm fliehen, weil sie ja der Fremden Stimme nicht kennen“ (1-5).

Die dann folgende Unterbrechung dieser Rede durch den „allwissende[n] Erzähler … mit den kommentierenden Worten: ‚Diese Rätselrede (paroimia) hielt Jesus ihnen, doch den Sinn dessen, was er ihnen damit sagen wollte (tina ēn ha elalei autois), begriffen jene nicht‘ (V 6)“, nimmt Thyen zum Anlass, über das Wort paroimia nachzudenken, das im Neuen Testament fast „nur bei Johannes“ vorkommt, „und zwar vier Mal, nämlich hier, sowie in 16,25 (zweimal) und 16,29.“ Im Kapitel 16 wird „dem jetzigen Reden Jesu en paroimiais sein künftiges Verkünden vom Vater en parrhēsia als Oppositum gegenübergestellt“. Ich übersetze beide Wörter dieses Mal nicht in Klammern, weil es eben keine allgemeingültige Übersetzung dafür gibt. Andeutungsweise geht es um das Gegenüber von verschlüsselter und offener Rede; dazu aber mehr zu den dortigen Stellen. Thyen vermutet im Anschluss an 16,25.29,

daß das Lexem paroimia dem Evangelisten nicht zur Bezeichnung des Genres besonderer Passagen der Reden Jesu dient, sondern daß er im Unterschied zu der en parrhēsia geschehenden Verkündigung des österlichen ,Geistes der Wahrheit‘ alles Reden des irdischen Jesus als paroimia begreift…

Da Johannes wohl absichtlich nicht das Wort parabolē verwendet, das „in den synoptischen Evangelien“ 48mal vorkommt und da „keine der herkömmlichen Kategorien wie ,Gleichnis‘, ,Parabel‘ oder ,Allegorie‘ das spezifische Genre dieser Rede zu erfassen vermag“, gibt Thyen „paroimia durch den untechnischen Ausdruck ‚Rätselrede‘ wieder“. Ohne ausdrücklich auf die (inzwischen übrigens auch in Frage gestellte) Einschätzung der synoptischen Parabeln einzugehen, derzufolge nur ein einziger Zug des Bildmaterials zum Ausgangspunkt der Deutung auf der Sachebene herangezogen werden darf, betont Thyen unter Berufung auf Klaus Berger, <740> dass der Verfasser „mit dem gesamten Material des metaphernspendenden Bereichs“ spielt, „der in diesem Falle ,Schafzucht‘ ist“. Und er zitiert ausführlich Karl Bornhäuser, <741> der bereits darauf hingewiesen hatte (T477f.), „daß wir in der Mischna unter den vier Arten von Hirten auch dem ‚Lohnhüter“ begegnen“:

„Da wird (ferner) darüber verhandelt, ob es ein Zwangsunfall ist, wenn ein Wolf kommt, d. h. ob der Hüter schadenersatzpflichtig ist, wenn der Wolf ein Schaf raubt … Da erscheint der Dieb, der stiehlt und schlachtet, und der Räuber, der im Gegensatz zum Dieb bewaffnet ist … Im Gegensatz zum feigen Lohnhüter, der sogar wegläuft, wenn ein Wolf kommt, obwohl er ihn abzuwehren verpflichtet ist, wagt der gute Hirte für seine Schafe das Leben. Im Gegensatz zum schwachen Lohnhüter, dem der stärkere Räuber das Schaft entreißt, ist Jesus der Hirte, aus dessen Hand niemand und nichts die Schafe reißen kann. – Es ist deutlich, daß hinter den Worten des Evangelisten der in der Mischna vorliegende Anschauungskomplex als Voraussetzung liegt“ (Schebuot 8 und Baba Mezia 7, zitiert bei Bornhäuser ebd.).

Daraus, dass (T478) „diese Rätselrede den Angeredeten rätselhaft bleibt“, ist Thyen zufolge natürlich nicht zu schließen,

daß sie das Gesagte nicht verstanden hätten. Denn das Leben und Tun von Hirten prägte ja ihre Welt und war, wie etwa Ps 23 zeigt, längst zum „metaphernspendenden Bereich“ auch ihres religiösen Sprechens in Gebet und prophetischer Rede geworden. Was sie nicht begriffen hatten und nicht begreifen wollten, kann darum nur Jesu Sagen sein… Die Pharisäer begreifen nicht, daß sie selbst gemeint sind und daß Jesus ihnen mit seiner paroimia einen Spiegel vor Augen hält, in dessen negativen Figuren sie sich selbst und ihr liebloses Verhalten dem Blindgeborenen gegenüber wiedererkennen sollten. Da ihr Unverständnis durch Jesu auf V. 6 folgende Rede aber nicht etwa aufgehoben, sondern sich im Gegenteil noch bis in den Versuch hinein steigern wird, Jesus zu steinigen (V. 31ff), muß man wohl nicht nur die isolierten V. 1-5, sondern Jesu gesamte Rede als paroimia begreifen.

Ohne es ausdrücklich zu sagen, scheint Thyen damit wie Wengst anzunehmen, dass alle „negativen Figuren“ der Rätselrede Jesu sich auf die angeredeten Pharisäer beziehen sollen, sowohl die Diebe und Räuber als auch die fremden Hirten. Da „der Erzähler die Bemerkung, Jesus habe seinen Zuhörern eine paroimia vorgetragen, deren verborgenen Sinn sie jedoch nicht begriffen hätten, an diejenigen, denen er die Geschichte Jesu erzählt“, sind es auch die Letzteren „und nicht etwa die erzählten Figuren“, die „an deren Unverständnis lernen, … auf die womöglich überhörten symbolischen Obertöne achten und so das eben Gehörte noch einmal bedenken“ sollen.

Zur „Figur des thyrōros {Türhüters}, der nicht jedem, sondern nur dem ihm bekannten Hirten das Tor öffnet“, meint Thyen, dass sie „kein selbständiges Interesse“ verdient. Interessant finde ich es aber, dass Thyen zur Begründung (T479) auf die Türhüterin verweist, die

das Tor zur aulē tou archiereōs {Hof des Hohenpriesters} … bewacht, so daß Petrus seinem Herrn dahinein nicht nachfolgen kann. Er steht draußen vor dem Tor (pros tē thyra exō), und erst auf die Fürsprache des „anderen Jüngers“ hin eröffnet ihm die Türhüterin den Zugang zum Hof und schafft ihm damit ironischerweise die Gelegenheit dazu, seinen Herrn zu verleugnen (18,15ff), wie der es ihm angekündigt hatte (13,38).

Mein Interesse weckt diese Bemerkung deswegen, weil Thyen hier durchaus darauf verweist, dass das Wort aulē bei Johannes nicht einfach nur als „Pferch“ der Schafe auftaucht, sondern auch im Sinn von „Hof“ oder „Vorhof“. Er nimmt das aber nicht zum Anlass einer Erwägung, ob in der Rätselrede das Wort aulē vielleicht auf den „Vorhof“ des Tempels bezogen werden könnte oder sogar müsste.

Ton Veerkamp <742> setzt in seiner Auslegung von Johannes 10,1-5 an genau diesem Punkt an, nämlich bei der Bedeutung des Wortes aulē:

Alle Kommentatoren gehen davon aus, dass im Gleichnis von einem Schafstall die Rede ist. Die Zürcher Bibel hat hier eine Schwierigkeit gespürt: „Gemeint ist ein ummauerter Platz auf freiem Felde, in den Schafe und Ziegen für die Nacht getrieben werden.“ Denn das Wort aulē bedeutet niemals Schafstall und das hebräische Wort für aulē, chazer, bedeutet genausowenig „Schafstall“.

Chazer kommt im TeNaK 145mal vor. Das Wort bezeichnet 115mal den Hof des Zentralheiligtums, allein schon 28mal den Hof des Zeltheiligtums im Buch Exodus und 47mal im Plan für das neue Heiligtum, Ezechiel 40-48. In den Schriften des sogenannten „Neuen Testaments“ bedeutet aulē ebenfalls einen Hof des Heiligtums, etwa Johannes 18,15. Schafe und Ziegen wurden für die Nacht ins Dorf getrieben; hier steht chazer für „Gehöft“ (Josua 31mal) {was allerdings ins Griechische der LXX nicht mit aulē, sondern mit epaulis oder kōmē übersetzt wird}.

Obwohl sowohl Wengst als auch Thyen aulē nicht mit „Schafstall“ übersetzen, gehen sie dennoch von einem umschlossenen Bereich im Freien aus, der nur im Rahmen des Hirtenbildes zu verstehen ist. Dem widerspricht Veerkamp unter Verweis auf den Gebrauch des Wortes aulē für den Hof des Tempels in den jüdischen Schriften.

Auch das Wort anabainein, „hinaufsteigen“, das hier für das Betreten der aulē durch Diebe und Räuber verwendet wird, hat bei Johannes sonst eine ganz besondere Bedeutung. Wir haben es

im Evangelium als technischen Begriff für den Aufgang nach Jeruschalajim kennengelernt (7,1ff.). Die Kombination von aulē und anabainein deutet ohne jeden Zweifel auf das Heiligtum hin. Das Heiligtum ist die zentrale Institution der judäischen Gesellschaft.

Auch in der Übersetzung des Wortes lēstēs, das Wengst und Thyen mit „Räuber“ wiedergeben, geht Veerkamp andere Wege. Es gehört nämlich zu den Wörtern, die in der Sprache der römischen Besatzungsmacht verunglimpfend für diejenigen verwendet wurden, die sich ihnen als Befreiungskämpfer gewaltsam entgegenstellten. Von daher liegt für Veerkamp eine ganz andere Deutung der Diebe und Räuber in Vers 1 nahe als für Wengst und Thyen:

Wer allachothen, von woanders hinaufsteigt als durch die Tür, ist ein Dieb bzw. ein Terrorist. Im Evangelium werden nur Judas Iskariot und Barabbas als Dieb bzw. als Terrorist bezeichnet. Beide stehen für Teile der judäischen Gesellschaft, Judas für die Korruption, Barabbas für die zelotischen Terroristen.

Es gibt einen sehr naheliegenden Grund, weshalb der Evangelist es für notwendig hält, dass sich Jesus deutlich von diesen in seinen Augen verwerflichen Bewegungen abgrenzt: <743>

Diejenigen, die im Judäischen Krieg aus Galiläa nach Jerusalem „aufstiegen“, um die Stadt und den Tempel zu besetzen, waren in den Augen des Johannes keine zelotischen Freiheitskämpfer, sondern „Diebe und Terroristen“.

Über die Frage, warum Jesus den Pharisäern im ersten Vers seiner Gleichnisrede etwas von Dieben und Terroristen erzählen sollte, äußert sich Veerkamp nicht. Ich denke, es macht Sinn, dass Jesus nicht etwa die Pharisäer mit den Dieben und Räubern identifiziert, sondern dass er sich selbst von einer Identifikation mit ihnen abgrenzt, worauf die Wiederaufnahme dieses Themas in Vers 8 sehr deutlich hinweist. Jesus stellt also seinen rabbinischen Gegnern gegenüber klar: Wenn ihr meint, ich sei einer, der sich – wie die später im Judäischen Krieg in den Tempel eingedrungenen zelotischen Kämpfer – unrechtmäßig im Hof des Tempels aufhält, zum Plündern und Morden, dann seid ihr im Irrtum. Denn (Verse 2-3) ich bin der wahre Hirte, dessen Stimme die Schafe kennen und dem sie folgen:

Die Schafe kennen den Hirten an seiner Stimme und der Hirte „ruft“ die Schafe „beim Namen“. Diesen Ausdruck treffen wir in der Schrift häufig an, vor allem im ersten Teil des Deuterojesaja (Jesaja 40-48). Jesaja 43,1 lautet:

Und jetzt, so spricht der NAME:
dein Schöpfer, Jakob, dein Bildner, Israel,
fürchte nicht, ich habe dich ausgelöst,
dich gerufen mit deinem Namen,
mein bist du!

Weil der Hirte Israels Israel mit seinem Namen ruft, hört es auf ihn. Das Wort idios hat kein hebräisches Äquivalent. Manchmal dient es nur der Umschreibung eines Possessivpronomens wie in Deuteronomium 15,2. Nur wenn der Hirte kein Anderer und Fremder (allotrios, zar) ist, sind die Schafe „das Eigene“.

Die Härte des Wortes ekballein darf man in Vers 3 nicht verharmlosen, indem man es mit „hinausführen“ übersetzt oder das Hinaustreiben als auf der Bildebene des Hirtenlebens normalen Vorgang deutet:

Dieses Eigene „wirft er ganz heraus“. Diese Übersetzung wird verlangt, weil sie die Reaktion des Hirten auf das Hinauswerfen des Blindgeborenen wiedergibt; in beiden Fällen wird das Verb ekballein, „hinauswerfen“, benutzt, zumal Johannes das Wort für „hinausführen“ (exagein) in V.3 verwendet. Dieser harte Übergang von exagein zu ekballein ist beabsichtigt. Jeschua sagt zu den Peruschim: „Ihr werft meinen Schüler hinaus? Ich werfe auch meine Schüler hinaus, von euch weg, aus eurem Hof, aus eurem Heiligtum.“

Auch mit dem Fremden, allotrios, in Vers 5, dem die Schafe nicht folgen werden, sind nach Veerkamp wiederum die in Vers 1 genannten Diebe und Terroristen gemeint, wie schon die Wortwahl zeigt:

Die Schafe hören auf die Stimme, sie folgen dem Hirten Israels. Den allotrios – einer, der allachothen, „von woanders“ einsteigt – kennen wir sehr gut aus Deuterojesaja, 43,11-12:

Ich, Ich bin es, der NAME, kein Befreier außer mir allein,
ich melde es, ich befreie, ich lass es hören:
Keiner, der anders ist (zar, allotrios) bei euch, ihr seid meine Zeugen,
Verlautbarung des NAMENS: Ich bin Gott.

Diesem Anderen werden sie keineswegs folgen, sondern flüchten, weil sie die andere Stimme nicht kennen. Der Hirte, der Gott Israels, hat eine Stimme – und diese Stimme ist der Messias.

Mit seiner Deutung von Vers 6 wendet sich Veerkamp ironisch auch gegen die in seinen Augen völlig am Sinn der Gleichnisrede Jesu vorbeigehenden Johannes-Exegeten:

Mit dem Gleichnis können die Zuhörenden nichts anfangen. Weder die schriftgemäße Wortwahl des Gleichnisses noch die politische Aktualisierung durch Worte wie Dieb und Terrorist haben sie hellhörig gemacht, deswegen sind unsere Kommentatoren in guter Gesellschaft. Auch sie sehen das Gleichnis als reinen viehwirtschaftlichen Vorgang. Diesen Leuten soll nun geholfen werden.

Die Frage ist aber, ob die weitere Erläuterung der Rätselrede durch Jesus den klaren Zugang zu ihrer Bedeutung garantieren kann. Was die Pharisäer betrifft, äußert Thyen jedenfalls diesbezügliche Zweifel (T478):

Da ihr Unverständnis durch Jesu auf V. 6 folgende Rede aber nicht etwa aufgehoben, sondern sich im Gegenteil noch bis in den Versuch hinein steigern wird, Jesus zu steinigen (V. 31ff), muß man wohl nicht nur die isolierten V. 1-5, sondern Jesu gesamte Rede als paroimia begreifen.

Und was die Deutung des Gleichnisses vom guten Hirten in der christlichen Kirche betrifft, gibt sich auch Ton Veerkamp keinen Illusionen hin, wie er noch vor Beginn seiner Auslegung zu 10,1-6 bemerkt hatte: <744>

Es gibt kaum einen messianischen Text, der so viel Anlass zum christlichen Kitsch gab – und zwar in allen christlichen Kirchen und Sekten – wie Johannes 10, bekannt unter dem Titel Der gute Hirte. Tatsächlich wird Johannes nirgends politisch so deutlich wie hier, wenn wir von 11,47-53 absehen. Das Stück ist sehr übersichtlich aufgebaut. Ein Gleichnis, 10,1-6; Deutung des Gleichnisses, 10,7-18; die Reaktion der Judäer, 10,19-21.

Johannes 10,7-10: Jesus als die Tür zu Befreiung und Leben im Gegensatz zu mörderischen Dieben

10,7 Da sprach Jesus wieder:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Ich bin die Tür zu den Schafen.
10,8 Alle, die vor mir gekommen sind,
die sind Diebe und Räuber;
aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht.
10,9 Ich bin die Tür;
wenn jemand durch mich hineingeht,
wird er selig werden
und wird ein und aus gehen und Weide finden.
10,10 Ein Dieb kommt nur,
um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen.
Ich bin gekommen,
damit sie das Leben haben und volle Genüge.

[10. August 2022] Zu den Versen 10,7-10 kommt Klaus Wengst (W313) auf seine Annahme zurück, dass im „negativ formulierten Definitionssatz“ in Vers 1 vom „vorangehenden Kontext in Kap. 9 her … beim ‚Dieb und Räuber‘, der ‚nicht durch die Tür‘ kommt, die Angeredeten im Blick sein“ mussten. Nun beantwortet Jesus die noch offene

Frage, was mit der Tür gemeint ist. Diese Frage wird im Abschnitt V. 7-10 beantwortet. Zweimal bezeichnet sich Jesus als die Tür. Dabei betont er unterschiedliche Aspekte. Einmal geht es um den Zugang zu den Schafen, zum anderen um die Tür für die Schafe.

In Vers 7 (W314) wird die Aussage von Vers 1 weitergeführt,

wo es den Dieb und Räuber ausmacht, dass er „nicht durch die Tür“ kommt, „sondern von anderswo einsteigt“. Auf dem Hintergrund der traditionellen biblischen Metaphorik von Israel als der Herde Gottes bringt diese Identifizierung mit der Tür zum Ausdruck, dass in und durch Jesus Gott selbst zu seinem Volk Israel kommt.

Zu Vers 8 behauptet Wengst nun:

Die Ablehnung dieses Anspruchs – und nur sie – macht die Kontrahenten Jesu in der Darstellung des Evangeliums zu „Dieben und Räubern“. Als die werden sie nun so beschrieben: „Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber.“ Da in V. 1 das Bild vom Dieb und Räuber unmittelbar an die scharfe Kritik an den Gesprächspartnern Jesu in 9,41 anknüpfte und also auf sie zu beziehen war, dürften sie auch jetzt bei der Wiederaufnahme dieses Bildes im Blick sein. Es sind „welche von den Pharisäern“, die zu denen gehören, die den geheilten Blindgeborenen nach dessen Bekenntnis zu Jesus hinausjagten (9,34).

Damit sollen nach Wengst aber nicht alle Juden gemeint sein, sondern Johannes hat „auf seiner zeitlichen Ebene die führenden Lehrer der jüdischen Mehrheit im Blick, die diejenigen als Häretiker ausgrenzen, die sich zu Jesus bekennen.“ Aber wie kann es sein, dass „die Aussage nicht in einem allgemeinen und grundsätzlichen Sinn zu verstehen“ ist, „sondern im Zusammenhang des Gegenübers, in das Jesus und ‚welche von den Pharisäern‘ im Kontext des Evangeliums hier gestellt werden“, wenn Jesus doch auf die Diebe und Räuber mit der absoluten Formulierung „alle, die vor mir kamen“, Bezug nimmt? Darauf gibt Wengst folgende Antwort:

Die Art der Formulierung – „alle, die vor mir gekommen sind“ – lässt sich mit Schnackenburg <745> als Nachwirkung des Bildes aus der Gleichnisrede erklären: „Diebe und Räuber kommen in der Nacht, vor dem Hirten, der am Morgen durch das Tor in den Hof eintritt.“ Innerhalb dieses Gegenübers macht er allerdings Jesus zum exklusiven Kriterium. Wer nicht durch diese Tür geht, wer also nicht anerkennt, dass in und durch Jesus Gott zu seinem Volk kommt, sondern einen anderen Zugang hat, erweist sich eben damit als Dieb und Räuber. Diese Sicht hat Folgen, wie gleich deutlich wird.

Zum folgenden Satz Jesu in Vers 8b: „Aber die Schafe haben nicht auf sie gehört“, nimmt Wengst zu Recht an, dass in „der metaphorischen Tradition, die Johannes hier einspielt, … die Schafe das Volk Israel“ sind. Daraus ergibt sich aber ein großes Problem, denn dieses Volk Israel hört „in seiner Mehrheit zur Zeit des Johannes“ eben doch „auf diejenigen, die er als Diebe und Räuber abqualifiziert“! Das bringt Wengst nicht auf die Idee, seine Identifikation der Diebe und Räuber mit der jüdischen Führung in Frage zu stellen; stattdessen meint er, dass Johannes hier „implizit eine Einschränkung“ vornimmt,

insofern als „Schafe“ nur diejenigen gelten, die auf den Hirten und nicht auf „Diebe und Räuber“ hören. Johannes versteht so nur die eigene Gruppe als das wahre Volk Gottes oder als dessen allein angemessene Repräsentanz. Aus dieser Gegenüberstellung einer jüdischen Minderheit zur jüdischen Mehrheit wird in der nichtjüdischen Rezeption eine Entgegensetzung der der Kirche zum Judentum, in der sie sich als das „wahre Israel“ versteht. Will sich die Kirche heute nicht mehr in dieser Weise antijüdisch behaupten und an die Stelle Israels setzen, wird sie es auch Johannes nicht nachsprechen, dass die jüdischen Lehrer seiner Zeit „Diebe und Räuber“ waren, sondern deren eigenen Zugang achten.

Insofern, als sich die heidenchristlich dominierte Kirche tatsächlich schon bald auch unter Berufung auf eine solche Interpretation des Johannesevangeliums als das „wahre Israel“ gegen das Judentum abgrenzte, ist diesen Sätzen vollinhaltlich zuzustimmen. Ich bezweifle aber dennoch, dass bereits der Evangelist selbst die Diebe und Räuber mit der rabbinischen Führung identifiziert hat.

In Vers 9 (W315) nennt Jesus sich nochmals „die Tür“:

Im Unterschied zu V. 7 wird die Tür jetzt nicht näher durch einen Genitiv gekennzeichnet. Von der Fortsetzung her ist es deutlich, dass Jesus nun als Tür für die Schafe im Blick ist: „Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden und hineingehen und hinausgehen und Weide finden.“ Es wird eine Bedingung genannt, an die Verheißungen geknüpft sind. Die Bedingung ist dieselbe, wie sie zuvor im Blick auf die „Diebe und Räuber“ als nicht erfüllt beschrieben wurde, die „nicht durch die Tür“ hineingehen. Jetzt gilt es für die Schafe, durch Jesus als die Tür hineinzugehen.

Zur Beziehung von „Bild und Sache“ meint Wengst im Blick auf diesen Vers, dass sie „eigenartig miteinander verbunden“ sind:

Gemeint ist, sich darauf einzulassen und zu verlassen, dass in Jesus Gott begegnet und sich in ihm als helfend und rettend zusagt. So stellt auch die erste Verheißung heraus, gerettet zu werden. Hier ist kaum noch das Bild von Schafen im Blick, die durch das Hineingehen in den Pferch „gerettet“ würden. Das wäre eine sehr ungewöhnliche Ausdrucksweise. Im Johannesevangelium wird „retten“ von der zeitlichen und vor allem endzeitlichen Hilfe und Bewahrung durch Gott bzw. durch Jesus als seinen Beauftragten gebraucht.

Was Wengst hier als „eigenartig“ empfindet, mag allerdings daran liegen, dass die Voraussetzung, hier würde der johanneische Jesus einfach auf Bilder aus dem Hirtenleben zurückgreifen, eben nicht zutrifft. Wenn mit den Schafen von vornherein „Israel“ gemeint ist, macht es durchaus Sinn, das Wort „retten“ zu verwenden. Mich wundert, dass Wengst im Zusammenhang mit der „endzeitlichen Hilfe und Bewahrung“ Israels nicht wenigstens erwägt, ob sōthēsetai auch mit „befreit werden“ übersetzt werden könnte.

Zu den „drei weiteren Aussagen“ am Ende von Vers 9: „hineingehen und hinausgehen und Weide finden“, meint Wengst, dass sie „im Zusammenhang miteinander“ zu verstehen sind:

Obwohl mit der letzten Aussage die Hirtenmetaphorik wieder aufgenommen ist, steht das Bild von zur Weide gehenden Schafen nicht im Zentrum, sondern deutet nur eben den Hintergrund an. Wäre das Bild betont, müsste die Reihenfolge bei den ersten beiden Aussagen umgekehrt sein; denn das Weiden liegt zwischen dem Hinausgehen und dem Hineingehen.

Als biblische Parallelen zu diesen Aussagen führt Wengst (Anm. 564 und 565) zwar „Dtn 28,6; Ps 121,8; Num 27,21“ bzw. „1. Chr 4,40 und … Klgl 1,6“ an, aber ohne sie inhaltlich für die Johannesauslegung fruchtbar zu machen. Von daher bezieht er das vorliegende Bild sehr allgemein auf gesegnetes Tun und erfülltes Leben (W315):

Schon Calvin <746> hat treffend beobachtet: „Mit Eingehen und Ausgehen bezeichnet die Schrift oft alles Tun im Leben.“ Dass dieses Tun sich als gesegnet erweist und so das Leben gutes Auskommen und volles Genügen hat, bringt die Wendung vom „Weide finden“ zum Ausdruck. Der Sache nach ist damit aufgenommen, was Kap. 4 unter dem Bild des Wassers und Kap. 6 unter dem des Brotes verheißen: erfülltes Leben.

Zu dem Gegenbild zu solchem erfüllten Leben, das im ersten Teil von Vers 10 gezeichnet wird: „Der Dieb kommt nur, auf dass er stehle, schlachte und zugrunde richte“, meint Wengst zunächst, dass es „jetzt wieder in starkem Maße auf der Bild­ebene“ bleibt: „Das ist es, was der Schafdieb tut: stehlen und schlachten. Damit bewirkt er für die Schafe das genaue Gegenteil von Lebensgabe.“ Aber auf welches „sachlich Gemeinte“ kann diese Aussage zielen? Für Wengst ist ja

„der Dieb“ in V. 10 auch Wiederaufnahme der „Diebe und Räuber“ von V. 8 und des „Diebes und Räubers“ von V. 1, mit denen im Text des Evangeliums die Angeredeten und in der Situation des Evangelisten die die jüdische Mehrheit leitenden Lehrer im Blick waren. Damit ist die Unterstellung angelegt, dass deren Wirken nicht Leben fördernd, sondern zerstörerisch und Verderben bringend sei. Demgegenüber ist zu beachten, dass es nach der Katastrophe des Krieges gegen die Römer und der Zerstörung Jerusalems und des Tempels diese Lehrer waren, die – zunächst vom Lehrhaus in Javne aus – jüdisches Überleben und jüdisches Leben ermöglichten.

So sehr Wengst darin Recht zu geben ist, dass die messianische Kritik des Johannes am rabbinischen Judentum sicher zu weit ging, bezweifle ich doch, dass diese Kritik sich dazu verstieg, die Rabbinen mit den Dieben und Räubern der Gleichnisrede Jesu zu identifizieren.

Zum Vers 10b (W316), in dem Jesus „diesen Abschnitt seiner Rede“ mit „einer positiven Bestimmung seines Auftretens“ abschließt: „Ich bin gekommen, auf dass sie Leben haben und volle Genüge haben“, begründet Wengst, warum er perisson echōsin wie Martin Luther mit „volle Genüge haben“ übersetzt:

In der Regel wird das betreffende griechische Wort mit „Fülle“ oder „Überfluss“ wiedergegeben. Das zugrunde liegende griechische Verb (perisseúo) hat am ehesten die Bedeutung „überfließen“. Das hier gebrauchte Adjektiv (perissón) bezeichnet dann das, was überfließt, was über etwas hinausgeht. Das kann positiv und negativ sein: überfließend reich oder überflüssig. Im Begriff des Überfließens ist implizit die Vorstellung von einem Maß gegeben. Was überfließt, geht über ein Maß hinaus, über das gewöhnliche Maß oder auch über das rechte Maß. Hier ist natürlich ersteres im Blick. Es möge nicht nur notdürftig zugehen. Dieser Zusammenhang ist es wohl, der Luther auf die Übersetzung „volle Genüge“ kommen ließ. Ich denke, er wollte nicht einfach nur von einem „Leben im Überfluss“ sprechen, weil er sich sicher war, dass nicht der Luxus propagiert werden sollte. Beim „Überfließen“ ist aber auch klar, dass es nicht um eine Idealisierung des Mangels geht, dass nicht der Askese das Wort geredet wird. Luther hatte offenbar ein Gespür dafür, dass es ein „Genug“ gibt; und das sollte anklingen. Allerdings: genug soll es schon sein – und auch mehr als genug, also: „volle Genüge“.

Weiter geht Wengst zu den Versen 10,1.9 darauf ein, dass sie gemeinsam mit Johannes 14,6 „das neutestamentliche Zitat am Beginn der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934“ bilden:

In Barths Entwurf war es allein Joh 10,1.9. Von daher konnte „Jesus Christus“ als „das eine Wort Gottes“ dem entgegengesetzt werden, dass daneben „noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten“ Quelle kirchlicher Verkündigung sein könnten. Gegen heutige Versuche, das Verhältnis der Kirche zum Judentum neu zu bestimmen und dabei anzuerkennen, dass das jüdische Volk seinem eigenen Weg im Bund mit Gott in Treue zu entsprechen sucht, wird gelegentlich die erste Barmer These mit ihrer exklusiven Bindung an „Jesus Christus“ angeführt. Wer das tut, sollte dann nicht gleichzeitig bedauern, dass in Barmen die Juden nicht in den Blick gekommen sind. … Wenn das aber als bedauerlich gelten muss, ist zu fragen, ob es nicht damit zusammenhängt, dass die erste These exklusiv christologisch {nur auf Christus bezogen} ansetzt.

In meinen Augen gibt es sehr zu denken, dass die Texte, auf denen die Theologische Erklärung basiert, die dem Unwesen der Nationalsozialisten und der „Deutschen Christen“ entgegentreten wollte, zugleich doch auch selbst bis in unsere Tage hinein antijüdisch ausgelegt werden. Wengst versucht sich an einem Gedankenspiel:

Hätte die erste These nicht dasselbe leisten können, wenn sie theologisch {auf Gott bezogen} angesetzt worden wäre, etwa in Verbindung mit dem „Höre, Israel“ (Dtn 6,4f.) oder dem – biblisch gefassten – ersten Gebot (Ex 20,2f.; Dtn 5,6f.)? Dann wären die Juden gleichsam von selbst in den Blick gekommen.

Das Problem war aber offenbar, dass auch die Teile der Kirche, die damals den Nazis Widerstand entgegenstellen wollten, nicht frei waren von Vorbehalten gegenüber dem Judentum; bis heute ist antijüdisches Denken ja, wie Wengst genau weiß, in großen Teilen der christlichen Kirchen weltweit bei weitem nicht ausgeräumt. Von daher ist es kein Zufall, dass ein Bezug auf das jüdische Glaubensbekenntnis zur Grundlegung der Theologischen Erklärung von Barmen damals nicht einmal einem Karl Barth in den Sinn gekommen ist. Seine diesbezüglichen Überlegungen beschließt Wengst mit einer auf die Gegenwart bezogenen kritischen Mahnung:

Diese Erwägungen sollen und dürfen keineswegs als Anklage gegen die Verfasser der Barmer Theologischen Erklärung verstanden werden, sehr wohl aber als Kritik an denjenigen, die sich heute unter ungeschichtlicher Berufung auf die erste Barmer These einer grundlegenden Veränderung des Verhältnisses der Kirche zum Judentum verweigern.

Hartwig Thyen (T479) beklagt zunächst, dass die meisten Ausleger der Hirtenrede von Johannes 10,1-21 „primär an der Aufklärung ihrer vermeintlichen Genese interessiert sind“ und den vermeintlichen „Intentionen“ des Evangelisten „auf die Spur zu kommen“ versuchen, die ihn bei der Aufnahme bestimmter „Traditionsstücke“ geleitet haben mögen (T479f.):

In diesem Sinne werden die V. 1-5 in der Regel als eine ältere „Parabel“ verstanden, die der Evangelist, wie seine redaktionelle Einfügung von V. 6-7a zeige, jedoch als Allegorie begriffen und darum in den folgenden V. 7-18 entsprechend decodiert habe.

Das Thyen (T480) von „solchen primär ‚autororientierten‘ Versuchen, die Bedeutung des Textes hinter ihm aus der vermeintlichen Intention seines Autors und/oder den Bedürfnissen seiner vermuteten ursprünglichen ,Adressaten‘ erschließen zu wollen“, nichts hält, folgt er selbst weitgehend einer auf Johannes 10,1-18 bezogenen Fallstudie von Robert Kysar, <747> die die Einheit der Hirtenrede voraussetzt und „primär an der Frage interessiert“ ist,

wie der Erzähler seine Zuhörer durch den wechselnden Gebrauch der Metaphern des zuvor eingeführten ,Feldes‘ Schritt um Schritt formt. Er sieht also die Bedeutung des Textes nicht irgendwo hinter ihm, sondern vor ihm in der „Welt“, die er seinem Leser als ,Bleibe‘ erschließt. Und auf diese Weise gelingt es ihm, seine „Voraussetzung“ der literarischen Einheit des Textes am Ende tatsächlich einzuholen und so die Kohärenz der gesamten Hirtenrede zu erweisen.

Ergänzend zu Kysar legt Thyen Wert auf einen von diesem vernachlässigten Aspekt der Hirtenrede, „nämlich ihr intertextuelles Spiel mit ihren biblischen Prätexten“ einschließlich der synoptischen Evangelien.

Zur Formulierung (T481) in Vers 7: hē thyra tōn probatōn {die Tür der Schafe}, meint Thyen, dass sie wegen „des Fortgangs der Rede, wonach Jesus zunächst die Tür zu den Schafen ist (V. 7f), danach aber die Tür für den Ein- und Ausgang der Schafe (V. 9f), … wohl absichtsvoll doppeldeutig“ ist. Diese Doppeldeutigkeit hat allerdings ihm zufolge dazu geführt, dass manche Handschriften „anstelle von hē thyra {die Tür} das eindeutige ho poimēn tōn probatōn {der Hirte der Schafe}“ setzten. Gegen alle Exegeten, die diese Lesart für viel sinnvoller halten, muss nach Thyen aber gerade deswegen an der schwierigeren Lesart „die Tür“ als ursprünglich festgehalten werden.

Auch (T482) mit Joachim Jeremias <748> setzt sich Thyen auseinander, der „die V. 1-5 unseres Kapitels als ein ‚Gleichnis‘ im technischen Sinn versteht“ und „in den darauf folgenden V. 7-18 unter Verweis auf Mt 13,37-39 die ‚Auslegung‘ dieses Gleichnisses“ sieht:

„Alles folgende ist nichts anderes, als die von morgenländischer Freude an bunter Ausmalung diktierte, allegorisierend-paraphrasierende Deutung zweier Begriffe des Gleichnisses, nämlich der ,Tür‘ (V. 7-10) u des ,Hirten der Schafe‘ (V. 11-18) auf Christus. … Auf diese einfache Weise dürfte sich die Wiederholung sowohl von egō eimi hē thyra {ich bin die Tür} (in V. 7 u. 9) wie von egō eimi ho poimēn ho kalos {ich bin der gute Hirte} (in V. 11 u. 14) erklären. Ist das richtig, dann ist das egō eimi ktl. {ich bin usw.} … nicht eine orientalischer Sakralrede entstammende Offenbarungsformel, sondern lediglich eine Formel der Gleichnisdeutung“. Trotz seiner emphatischen Voranstellung erklärt er darum das egō eimi zum Prädikatsnomen und sieht in ,Tür‘ und ,Hirte‘ die Subjekte der entsprechenden Sätze: Die Tür (aus dem Gleichnis) bin ich; und sein guter Hirte bin ich.

Dagegen wendet Thyen ein, dass es sich hier eben nicht „wirklich um ein ‚Gleichnis‘ und seine ihm folgende ‚Auslegung‘“ handelt und dass „in unserem Evangelium“ das egō eimi {ICH BIN} stets von Jesus gesagt wird, der mit den jeweiligen Ergänzungen die biblische „Offenbarungsformel Gottes“ konkretisiert.

Zu Vers 8 (T483): „Alle, die (vor mir) gekommen sind, die sind Diebe und Räuber, aber die Schafe hören nicht auf sie“, weist Thyen darauf hin, dass „das hier im Klammern gesetzte pro emou“ in manchen Handschriften fehlt, vielleicht weil „diese Schreiber wie manche ihrer modernen Interpreten die paroimia {Gleichnisrede} Jesu fälschlich als Allegorie, d. h. als eine verschlüsselte Rede über konkrete Subjekte, gelesen haben.“ Wie Wengst macht Thyen unter Berufung auf Leon Morris <749> (T483f.)

darauf aufmerksam, daß man das pro emou {vor mir} nicht historisieren und nicht versuchen sollte, die Identität der pantes {alle} zu ,entschlüsseln‘, sondern es als Teil der ,Bildwelt‘ (imagery) der Hirtenrede und ihrer metaphorischen ,Logik‘ begreifen sollte: Das erste Tagewerk des Hirten besteht darin, daß er am frühen Morgen zur Hürde seiner Schafe kommt und sie durch die vom ,Türhüter‘ bewachte Tür betritt (V. 2f). Darum müssen alle, die vor ihm gekommen sind, unter dem Schutz der Finsternis der Nacht von anderswoher und nicht durch die Tür in die Hürde gelangt sein, um ihr räuberisches Werk darin zu tun. Das ist auch darum um so wahrscheinlicher, als Jesus nicht sagt, ,sie waren‘, sondern ,sie sind Diebe und Räuber‘.

Ebenfalls wie Wengst bezieht Thyen außerdem (T484) das Bild der Diebe und Räuber auf Jesu gegenwärtige Gesprächspartner und „deren arrogantes Verhalten dem Blindgeborenen gegenüber“, wozu er Francis J. Moloney <750> zitiert:

„Der Erzähler identifiziert die Pharisäer in V 6 ausdrücklich mit den Dieben und Räubern … Dies ist in 9,1-34 dramatisch dargestellt worden. Die Behauptungen der ‚Juden‘, sie seien die Führer des Volkes Gottes, sind falsch. Sie sind Diebe und Räuber, die eine messianische Hoffnung ihrer eigenen Machart verkünden. Wie die Reaktion des blind geborenen Mannes auf ihre Auslegung der mosaischen Tradition gezeigt hat (vgl. 9,24-33), haben die Schafe nicht auf sie gehört. Das trieb ihn aus ihrer Gemeinschaft (V. 34) in den Glauben an den Menschensohn und die Gemeinschaft mit Jesus 35-38)“.

Interessant finde ich Moloneys Formulierung, dass die Pharisäer „eine messianische Hoffnung ihrer eigenen Machart verkünden“. Genau dies trifft nach Johannes aber nicht auf die Pharisäer als angemaßte „Führer des Volkes Gottes“ zu, sondern auf zelotische Aufrührer, die, wie etwa die Teilnehmer an der Speisung der Fünftausend, Jesus mit Gewalt zum König machen wollen. Dazu schreibt A. J. Simonis, <751> auf den Thyen selbst in der Auslegung zu den folgenden Versen eingehen wird:

Wollten die Zeloten die Herstellung der Alleinherrschaft Gottes unmittelbar mit Gewalt erkämpfen, getrieben von einer bedingungslosen Bereitschaft zum Martyrium und zum heiligen Kampf, so widersetzten sich dem die Pharisäer und wollten die nationale Freiheit erst später in den Tagen des Messias bewerkstelligt sehen. Sie waren der Ansicht, dass die Römer nur durch den Messias bekämpft werden konnten, hetzten das Volk niemals zum Aufstand auf, suchten im Gegenteil jeden Aufstandsversuch zu unterdrücken.

Noch einmal wiederholt Jesus in Vers 9 seine Identifikation mit der Tür, jetzt aber „nicht mehr im Blick auf den Hirten und seine Widersacher, sondern auf das sichere Heraus- und Hineingehen der Schafe aus ihrer Hürde und in sie zurück“. Thyen fasst den Inhalt dieses und des folgenden Verses so zusammen:

„Ich bin die Tür. Wenn einer durch mich hineingeht, wird er ,gerettet‘ werden (sōthēsetai), und er wird hineingehen und herausgehen und Weide finden. Der Dieb erscheint nur dazu, daß er stehle, schlachte und verderbe. Ich (dagegen) bin gekommen, daß sie Leben und Überfluß haben sollen“.

Indem Thyen hier mit keinem Wort irgendwelche biblischen Parallelen zur Deutung des Hineingehens, Hinausgehens und Weide-Findens heranzieht, meint er, die Verse 9 und 10 dürften ausschließlich von der Bildebene des Hirtenlebens her interpretiert werden. Dadurch wiederum sieht er sich zur Kritik an der Auslegung der Hirtenrede von Simonis genötigt:

Die Rede vom Hineingehen der Schafe in die sichere Hürde, in der sie in der Finsternis der Nacht geborgen sind, und von ihrem Hinausgehen durch den, der ihre ,Tür‘ und zugleich ihr „guter Hirte“ ist, der sie auf grüner Weide zu Leben und Überfluß führt, zeigt, daß es sicher verfehlt ist, den vorausgegangenen Satz: hotan ta idia panta exbalē {wenn er die Eigenen alle hinausgetrieben hat} (V. 4), wegen seines Anklangs an das kai exebalon auton exō {und sie warfen ihn hinaus nach draußen} von 9,34 so zu interpretieren, als ob hier gesagt wäre, daß Jesus als der Hirte alle die Seinen, nämlich die christliche Gemeinde, mit sanfter Gewalt aus der beengenden „Hürde“ des „Tempel- und Synagogen-Judentums“ befreite, so daß dieser ,Exodus‘ der Christen seine nächste Analogie in der gnädigen Errettung Israels aus dem ,Sklavenhause Ägyptens‘ hätte. Mit derart antijüdischen Akzenten aber interpretiert Simonis Joh 10 [145ff.]. Er behandelt nicht nur die einleitende Paroimia von Joh 10, sondern das gesamte Kapitel als die allegorische Schilderung eines realen Geschehens, das sich unter den Augen des Evangelisten (des Zebedaiden Johannes!) während des Laubhüttenfestes von 7,2ff im Tempelbezirk zugetragen haben soll…

Gegenüber diesem Urteil Thyens verdient die Auslegung von Simonis allerdings eine differenziertere Betrachtung. Zu Recht verurteilt Thyen deren antijüdische Akzente, die auch aus Simonis‘ Fazit am Ende seines Buches [333] hervorgehen:

Der Heilsinhalt der Hirtenrede kann schliesslich kurz wie folgt umschrieben werden: Der Herr ruft die Seinen aus der bedrängenden Enge des alten Lebens. Das Verhältnis, das zwischen ihm und den Seinen besteht, ist der Beweis, dass er allein der wahre Messias ist, wie er vorhergesagt ist. Andere, die sich neben ihm als solche aufwerfen, sind „Diebe und Räuber“. Dem „sensus dictionis“ {wörtlicher, vordergründiger Sinn im Gegensatz zum „sensus scriptionis“} nach, d. h. dass in diesen „Dieben und Räubern“ primär die Zeloten getadelt werden, wird in der Hirtenrede vor allem die Idee eines rein nationalen Messianismus gebrandmarkt. Diese Idee, als aus dem Herzen des Judentums selbst hervorkommend, führt zu einem radikalen Bruch mit der alten jüdischen Theokratie, die im Tempel und im Tempelkult ihre Verkörperung fand.

Definitiv versteht der jüdische Messianist Johannes Jesus nicht als einen antijüdischen Messias, der seine Gemeinde aus „der alten jüdischen Theokratie“ im Sinne einer „bedrängenden Enge des alten Lebens“ herausführt. Wenn er dennoch seine Schafe aus dem Tempelvorhof hinauswerfen lässt, wie umgekehrt die Pharisäer den geheilten Blindgeborenen aus der Synagoge geworfen haben, reagiert er auf jüdische Repräsentanten, die in seinen Augen zu Kollaborateuren der römischen Weltordnung geworden sind und sich gegen den Messias Israels verschworen haben. In der weltweiten Versklavung unter die Pax Romana ist nämlich die wahre Parallele zum ägyptischen Sklavenhaus zu erblicken, die der Messias Jesus durch seinen Tod am römischen Kreuz überwinden wird.

Mit Recht identifiziert Simonis allerdings die „Diebe und Räuber“ der Hirtenrede mit zelotischen Akteuren, gegen die sich Johannes aber nicht wegen ihres angeblich „rein nationalen Messianismus“ wehrt, sondern weil sie die Befreiung Israels mit falschen, verwerflichen Mitteln anstreben. Zu weit geht Simonis wiederum in seiner Annahme, dass sich in der Hirtenrede reale historische Umstände während eines Laubhüttenfestes zu Lebzeiten Jesu widergespiegelt hätten. In meinen Augen genügt es zu wissen, dass Johannes aus der Erinnerung an den Judäischen Krieg genug Anschauungsmaterial besaß, um das plündernde und mörderische Treiben der Zeloten beurteilen zu können. Thyen allerdings sieht keinen Anlass, die in Vers 10 verwendeten Worte kleptai und lēstai in irgendeiner Weise auf den anti-römischen Befreiungskampf zu beziehen. In seinen Augen ist die Aussage, dass

„der Dieb“ (ho kleptēs) „nur kommt, um zu stehlen, zu schlachten und zu verderben“, … die Summierung schmerzlicher Erfahrungen aus dem Hirtenleben. Der Artikel steht hier, weil es sich um die regelkonforme Wiederaufnahme der in V 8 sachgemäß artikellos eingeführten kleptai und lēstai handelt: So ist er, der Viehdieb, und so ist sein Metier.

Ohne auf Simonis Bezug zu nehmen, da er sein Buch nicht kannte, interpretiert Ton Veerkamp <752> die Verse 10,7ff. mit ganz ähnlichen Argumenten, aber anderer Perspektive:

Jeschua fängt die Deutung an mit dem gleichen Nachdruck wie das Gleichnis selbst: „Amen, Amen.“ Was kommt, ist eine allegorische Deutung: „ICH BIN ES: die Tür.“ Die seit zwei Jahrhunderten verbreitete historische Kritik – die ihr Werk zu Recht verrichtet hat! – hat die Allegorese in Verruf gebracht. Das aber zu Unrecht; wir sollten die Allegorese, die die Schrift selber vorführt, ernst nehmen.

Die Worte pro emou in Vers 8, die gewöhnlich mit „vor mir“ übersetzt werden, sollten nach Veerkamp besser mit „statt“ oder „an Stelle von“ wiedergegeben werden, womit auch die Gegenwartsform „sind“ zu erklären ist:

Die, die allachothen, „von woanders“, einsteigen, kommen statt des Messias Jeschua. Die Übersetzung vor ist nicht unrichtig, unterschlägt aber die aktuelle Gefahr. An des Messias Statt (pro) kommen immer noch andere. Es geht um die, die sich als Messias Israels ausgaben und ausgeben, deswegen das Präsenz eisin, sind. Sie sind Diebe – wie Iskariot (12,6) – oder Terroristen – wie Barabbas, der auf Grund terroristischer Aktivitäten zum Tode verurteilt wurde (18,40). Der lēstēs ist ein Mitglied der gegen Rom und seine Kollaborateure kämpfenden Guerilla. Und Judas nimmt den Dieb Johannes von Gischala vorweg, wie Barabbas den zelotischen Untergrundkämpfer Simon bar Giora.

Hier wird deutlich, in welchem Maße Veerkamp ganz ähnlich argumentiert wie Simonis, ohne allerdings die Erinnerung an die Zeloten des Judäischen Krieges auf ein angeblich historisches Ereignis in der Zeit Jesu zurückzuprojizieren.

Ein Teil der Zeloten stieg am Ende des Jahres 67 nach Jerusalem auf, besetzte es unter der Führung des Johannes von Gischala und etablierte eine Diktatur. Die Macht musste Johannes von Gischala bald mit einem anderen zelotischen Führer, Simon bar Giora, teilen. Als Flavius Josephus noch Befehlshaber der aufständischen Truppen Galiläa war, bemühte er sich nach eigenen Angaben darum, Disziplin in die Truppe zu bringen und ihr die ungerechten Handlungen, adikēmata, auszutreiben, darunter Diebstahl, Terrorismus und Plünderung (klopai te kai lēsteiai kai harpagē) {Bell. 2, 20, 7}. Nun kann schwerlich angenommen werden, Johannes habe den Bericht des Flavius Josephus gelesen, aber diese drei Wörter tauchen auch bei Johannes im Kapitel über den „guten Hirten“ auf. Wenn man den politischen Kontext des Johannes nicht kennt, kann man Wörter wie Hof, aufsteigen, Dieb, Terrorist, Raub usw. nicht zuordnen.

Veerkamp spricht nicht ausdrücklich vom Ungehorsam der Schafe gegenüber diesen Dieben und Räubern, aber es versteht sich von selbst, dass dieses Nicht-Hören viel besser auf die zelotischen Terroristen als – wie bei Wengst und Thyen – auf die Führung des rabbinischen Judentums zu beziehen ist.

Vers 9 enthält dann im Gegensatz zum verbrecherischen Tun der Diebe und Räuber die Beschreibung der Zielsetzung des Messias Jesus:

Johannes 10 ist ein antizelotischer Text. Die Befreiung, die die Zeloten sich und anderen vorgespiegelt hatten, ist eine Karikatur dessen, was sich Johannes unter Befreiung vorstellt: „Wenn einer durch mich hineingeht, wird er befreit werden, er wird hineingehen, er wird hinausgehen, er wird Weide finden.“ Hier finden wir ein Zitat als Mischzitat aus Numeri 27,17 und Klagelieder 1,6. Diese Kombination ist gewollt. Die Numeristelle handelt von Josua, griechisch Iēsous, mit der Bedeutung: „Der NAME befreit!“ Er wird als Nachfolger Mosches bestellt. Seine Aufgabe ist, Israel voranzugehen und es wieder zurückzuführen:

Und Mosche redete zum NAMEN, er sagte:
Möge der NAME, Gott, der alles Fleisch inspiriert,
einen Mann über die Gemeinschaft verordnen,
der vorausgeht vor ihnen,
der zurückkommt mit ihnen,
der sie hinausführt,
der sie zurückbringt,
damit die Gemeinschaft nicht wird
wie eine Schafsherde ohne Hirten.

Das erste Lied aus der Rolle „Wehe“ [Klagelieder Jeremias] trauert über den Untergang Jerusalems. In V.6 heißt es:

Von der Tochter Zions zog weg aller Glanz,
ihre Führer wurden wie Hirsche, ohne Weide zu finden,
ohne Kraft gingen sie vor dem Verfolger ein.

So sollte die neue Führung Israels sein. Statt dessen: „Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten, zu Grunde zu richten.“ Es kann kaum bezweifelt werden, dass Johannes hier auf die zelotischen Führer Jerusalems hinweist. Vom Ausgang des zelotischen Krieges her beurteilt Johannes die ganze zelotische Bewegung und ihre Motivation: Stehlen, abschlachten, vernichten. Der neue Joschua dagegen wird Israel befreien, er wird Weide finden. Diese Wertung des zelotischen Krieges gegen Rom muss man nicht übernehmen, aber es ist die Wertung des Johannes.

Soweit grenzt sich Jesus im Gegenüber zu seinen pharisäischen Gegnern von falschen zelotischen Hirten ab. Nun folgt eine Abrechnung mit diesen Gegnern selbst.

Johannes 10,11-15: Jesus als der gute Hirte im Gegensatz zu unzuverlässigen Lohnhirten

10,11 Ich bin der gute Hirte.
Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
10,12 Der Mietling, der nicht Hirte ist,
dem die Schafe nicht gehören,
sieht den Wolf kommen
und verlässt die Schafe und flieht
– und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,
10,13 denn er ist ein Mietling
und kümmert sich nicht um die Schafe.
10,14 Ich bin der gute Hirte
und kenne die Meinen
und die Meinen kennen mich,
10,15 wie mich mein Vater kennt;
und ich kenne den Vater.
Und ich lasse mein Leben für die Schafe.

[11. August 2022] Klaus Wengst (W317) sieht den Abschnitt 10,11-18 durch das Motiv bestimmt,

dass Jesus sein Leben einsetzt (V. 11.15.17f.). Das kennzeichnet den „guten Hirten“, als den er sich hier zweimal bezeichnet (V. 11.14). Johannes beschreibt ihn zunächst im Gegensatz zum Lohnknecht (V. 11-13), sodann damit, dass er die Seinen kennt und die Seinen ihn kennen. Er setzt diese gegenseitige Kenntnis in Entsprechung zur gegenseitigen Kenntnis von Vater und Sohn, sodass Jesus gleichsam die Mitte zwischen „dem Vater“ und „den Seinen“ bildet.

Die Aussage Jesu in Vers 11: „Ich bin der gute Hirte“, bezieht sich nach Wengst zwar darauf, dass in „der Bibel … Gott selbst als Hirte seines Volkes Israel vorgestellt“ wird, aber er begreift sie in der Art, wie das rabbinische Judentum <753> „in Auslegung von Ex 14,31“ den Glauben „an Mose als treuen Hirten“ verstand:

„Wenn sie Mose glaubten, gilt der Schluss vom Leichten aufs Schwere, dass sie dem Ewigen glaubten. Das ist gekommen, um dich zu lehren, dass jeder, der dem treuen Hirten glaubt, so ist, als ob er dem Wort dessen glaubt, der sprach, und es ward die Welt.“ Der Glaube an Mose als treuen Hirten ist keine eigenständige Größe, sondern nichts anderes als Glaube an den durch ihn wirkenden Gott. Das gilt ganz entsprechend auch für den „guten Hirten“ Jesus.

Von Texten der Propheten Hesekiel und Jeremia her hält es Wengst auch für folgerichtig, dass „Jesus gerade als ‚Gesalbter‘ als ‚der gute Hirte‘ in den Blick kommen konnte“:

In Ez 34 verheißt Gott nach dem „Wehe!“ über das verfehlte Handeln der „Hirten Israels“: „Ich stelle einen Hirten über sie, dass er sie weide: meinen Knecht David; er wird sie weiden, er wird für sie zum Hirten“ (Ez 24,23; vgl. Jer 23,1-6). Von daher ist es nicht unvermittelt, wenn Jesus in der nächsten Szene aufgefordert wird, es frei heraus zu sagen, ob er der Gesalbte sei (10,24).

In den Versen 12-13 wird im „Gegenbild des Lohnknechts“ dargestellt, was „Jesus als den ‚guten Hirten‘ vor allem auszeichnet“, nämlich seinen

Lebenseinsatz für die Schafe…: „Der Lohnknecht, der ja kein Hirte ist und dem die Schafe nicht zu eigen sind, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht und der Wolf reißt und zerstreut sie. Denn wer Lohnknecht ist, dem liegt nichts an den Schafen.“ Wie der Lohnknecht hier geschildert wird, ist das zwar schlecht für die Schafe. Dennoch sollte er nicht schlechtgemacht werden. Er verhält sich so, wie es von ihm nicht anders erwartet werden kann. Warum sollte ihm das Leben von ein paar fremden Schafen wichtiger sein als sein eigenes?

In diesem Zusammenhang weist Wengst darauf hin, dass die „rabbinischen Rechtsvorschriften … ‚höhere Gewalt‘, für die ein Lohnhüter nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, von Dingen“ unterscheiden, „für die er verantwortlich und also im Schadensfall auch ersatzpflichtig ist.“

Für (W318) „keineswegs abwegig“ hält es Wengst, diese Lohnhüter „im Zusammenhang mit 9,39-41“ auf die jüdische Führung zu beziehen:

Nach Kriener <754> kann in dem Lohnknecht „über eine Figur, die repräsentativ für das rabbinische Judentum steht, hinaus Jochanan Ben Zakkai, die Gründungsgestalt des rabbinischen Judentums, erkannt werden. Seine Flucht vor der ,römischen Wölfin‘ und sein Arrangement mit Vespasian werden im Kontrast zu Jesu Märtyrertod als Verlassen der Seinen gewertet, und daraus zieht das Joh(annesevangelium) den Schluß, daß den Rabbinen überhaupt ihre ,Schäfchen‘ nicht am Herzen liegen.“

In diesem Zusammenhang zieht Wengst auch einen allegorischen „Bezug des Wolfes auf die ‚römische Wölfin‘“ in Betracht, der sich zusätzlich durch die Art, „wie Johannes die Verhaftung Jesu schildert (18,1-11)“ geradezu aufdrängt:

Dort werden zwar auch „Wachleute von den Oberpriestern und von den Pharisäern angeführt, in der Hauptsache aber ist es eine römische Kohorte, die Jesus festnimmt. Ihr tritt er entgegen und stellt sich selbst von sich aus. Im Blick auf seine Schüler sagt er: „Wenn ihr nun mich sucht, lasst diese laufen“ – damit er niemanden verloren gehen lasse.

Auch hier wendet sich Wengst wieder dagegen, die Beurteilung des rabbinischen Judentum durch Johannes in der Auslegung einfach zustimmend zu übernehmen:

Spielt der Text mit dem vor dem Wolf fliehenden und die Schafe verlassenden Lohnknecht auf Jochanan ben Sakkaj als repräsentativen Leiter der jüdischen Gemeinde an, so ist einmal zu betonen, dass seine Flucht zu Vespasian nicht feiger Verrat um der eigenen Lebensrettung willen war. Die Gründung des Lehrhauses in Javne ermöglichte jüdisches Überleben und Weiterleben nach der Katastrophe des Krieges mit der Zerstörung des Tempels. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die jüdische Geschichte viele Lehrer kennt, die in Treue zu Gott und in Treue Tora ihr Leben einsetzten. Darauf wird zu V. 18 einzugehen sein.

Weiter weist Wengst darauf hin, dass zwar „der Hirte, dem die Schafe gehören, ein anderes Verhältnis zu ihnen hat als der Lohnknecht“, aber trotzdem ist es (W318f.)

in der Realität keineswegs der Normalfall, dass er sein Leben für die Schafe einsetzt. Ein Schäfer weidet seine Herde, pflegt und schützt sie. Aber er gibt nicht sein Leben für sie. Der Normalfall ist, dass er von ihr lebt. Er melkt und schert sie, verarbeitet Wolle und Milch und ab und an schlachtet er durchaus auch ein Schaf oder Lamm. So ist das. Gegenüber dieser Normalität ist „der gute Hirte“, der sein Leben für die Schafe gibt, – zugespitzt gesagt – ein dummes Schaf. Johannes der Täufer hat schon in 1,29 im Blick auf Jesus gesagt: „Seht doch! Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt.“ Als der gute Hirte, der sein Leben für die Schafe einsetzt, wird Jesus von seinem erfolgten und gedeuteten Tod her gekennzeichnet.

In den Versen 14-15 wird die Aussage von Vers 11 wiederholt (W319): „Ich bin der gute Hirte“, und „mit dem Motiv des Kennens“ aus „der Gleichnisrede“ verbunden:

Der Hirte ruft seine Schafe mit Namen und sie kennen seine Stimme. Diese Gegenseitigkeit findet nun in einer Doppelbeziehung prägnanten Ausdruck, wobei die zweite die erste begründet: „Und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne.“

Diese Gegenseitigkeit des Erkennens wird in „der biblischen Tradition“ von Gott und Israel ausgesagt. So heißt es etwa in Amos 3,2:

Aus allen Völkern der Erde habe ich allein euch erkannt.“ Gott zu erkennen, hat nach Hos 6,1-3 zur Voraussetzung, dass er sich seinerseits Israel – wieder – zugewandt hat. Gottes Erwählen führt aufseiten Israels zu Erkenntnis und Zeugenschaft (Jes 43,10). Dasselbe Verb „erkennen“ ist auf beiden Seiten in Hos 13,4f. gebraucht: „Ich, der Ewige, bin dein Gott vom Land Ägypten an. Einen Gott außer mir wirst du nicht erkennen. Es gibt keinen Retter sonst als mich. Ich habe dich erkannt in der Wüste, im Land der Dürre.“ In Ez 34,30f. ist das Erkennen des Volkes, begründet im Israel restituierenden Handeln Gottes, verbunden mit der Hirtenmetaphorik: „Sie werden erkennen, dass ich, der Ewige, ihr Gott, mit ihnen bin und sie mein Volk sind, das Haus Israel, Spruch des Ewigen, Gottes. Ihr seid meine Herde, die Herde meiner Weide, Menschen ihr, ich euer Gott, Spruch des Ewigen, Gottes.“

In Johannes 10,14-15 (W319f.) wird dieses

partnerschaftliche Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk Israel … aufgeschlüsselt in einer Doppelbeziehung, in der Jesus einmal an erster, dann an zweiter Stelle steht, einmal in Beziehung zu den Seinen, dann in Beziehung zum Vater. Die beiden Kreise überschneiden sich in seiner Person. Er bildet sozusagen die Schnittmenge und damit die verbindende Mitte. Das Kennen bezieht sich auf Jesus als den guten Hirten. Für ihn ist der Einsatz seines Lebens kennzeichnend, was noch einmal wiederholt wird. … Er erkennt den Vater als den, der ihn bei seinem „Einsatz“, der zum Einsatz und zur Hingabe seines Lebens wird, nicht allein lässt (16,32). Und so erkennt der Vater diesen Einsatz Jesu an, macht ihn sich zu eigen als Ausdruck seiner Liebe zur Welt (3,16).

Hartwig Thyen (T485) verzichtet in der Auslegung der Verse 11-13 auf jegliche Auseinandersetzung mit der Frage, auf wen sich der Lohnhirte oder Wolf allegorisch eventuell beziehen könnte. Er holt zunächst sehr weit aus, um synoptische Prätexte wie Markus 14,27f. zu untersuchen, die wiederum auf Sacharja 13,7 zurückgehen:

„Ihr werdet alle (an mir) Anstoß nehmen, denn es steht geschrieben: ,Ich werde den Hirten schlagen (patazō ton poimena), und die Schafe werden zerstreut werden (Sach 13,7). Aber nach meiner Auferstehung werde ich vor euch hergehen nach Galiläa“ … Indirekt kommt dieser Sacharja-Text bei Markus dann noch einmal zur Sprache, wenn der Grabesengel den erschreckten Frauen, die Jesu Grab am Ostermorgen leer fanden, aufträgt, Jesu Jünger und namentlich Petrus an dieses Wort vom Vorangehen des geschlagenen Hirten vor seinen zerstreuten Schafen her nach Galiläa zu erinnern (kathōs eipen hymin {wie er euch gesagt hat}: Mk 16,7).

Auf die Schlusskapitel des Buches Sacharja hatte sich Johannes bereits in der „Szene der Tempelreinigung (2,16 als Spiel mit Sach 14,21)“ bezogen und in „Jesu Verheißung: ‚Aus seinem Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen‘, am letzten Tag des Laubhüttenfestes … (7,37-39), die wir als Antizipation von 19,33-37 und als Spiel mit Sach 12,10; 13,1.7 und 14,8 begriffen hatten.“ Als ein weiteres „Spiel mit den synoptischen Prätexten“ unter Rückgriff auf Sacharja 9,9 „wird auch die Szene von ,Jesu Einzug in Jerusalem‘ erzählt (12,12ff)“ werden.

Im Zusammenhang mit Johannes 10,11-13 verweist Thyen (T485f.) auf das „rudimentär“ {in Ansätzen} bei Sacharja zu findende

Gegenüber des „guten Hirten“, der bis zum Einsatz seines Lebens für seine Schafe sorgt, und der „bösen Hirten“, die im Gegensatz dazu allein auf ihr eigenes Wohlleben und auf ihren Profit bedacht sind. „… Darum verirren sie sich wie Schafe. Weil kein Hirte da ist, irren sie umher. Wider die Hirten entbrennt mein Zorn, und über die Leitböcke bringe ich Heimsuchung …“ (Sach 10,2f) „… Dann sprach JHWH abermals zu mir: Nimm dir die Ausrüstung eines unerfahrenen Hirten (skeuē poimenika poimenos apeirou). Denn siehe, ich lasse einen unerfahrenen Hirten im Lande auftreten, der sich um das, was zugrunde geht, nicht kümmert, nicht aufsucht, was verirrt ist, was verwundet ist, nicht heilt und nicht versorgt, was noch gesund ist. Das Fleisch der fetten Tiere verzehrt er und reißt ihnen selbst die Klauen ab. Wehe über die schlechten Hirten, die ihre Schafe verlassen. Das Schwert falle ihm in den Arm und treffe sein rechtes Auge. Sein Arm soll verdorren und sein Auge verlöschen!“ (Sach 11,15-17; vgl. 11,4ff).

In diesen Texten spielt Sacharja nach Thyen (T486) aber nun wieder „seinerseits ganz offensichtlich mit Jer 23,1-8 und zumal mit Ez 34 als seinen Prätexten“. Deswegen hatte er auch „seine Gegenüberstellung von guten und bösen Hirten oben insofern ‚rudimentär‘“ genannt, „als sie zur Lektüre dieser Prätexte herausfordert.“ Diese Texte zitiert Thyen sehr ausführlich, weil in seinen Augen nur von ihnen her die Aussage über Jesus als den guten Hirten zu begreifen ist, zunächst den Jeremia-Text:

„Wehe den Hirten, die meiner Herde Schafe sich verirren und zerstreuen lassen, spricht JHWH. Deshalb sagt (er) über die Hirten, die mein Volk zu weiden haben: Ihr habt meine Schafe zerstreut und auseinandergetrieben und euch nicht um sie gekümmert. Deshalb werde ich euch jetzt eure bösen Taten heimzahlen, spricht JHWH. Ich selbst aber werde den Rest meiner Schafe aus allen Ländern sammeln, wohin ich sie versprengt habe, und werde sie auf ihre Weideplätze zurückführen. Da werden sie fruchtbar sein und sich mehren. Und ich werde sie Hirten anvertrauen, die sie wirklich weiden, so daß sie nichts mehr zu fürchten und vor nichts mehr zu erschrecken brauchen und nicht mehr verloren gehen, spricht JHWH. Siehe es kommen Tage, spricht JHWH, in denen ich David einen gerechten Sproß werde erstehen lassen. Der wird als König herrschen, weise walten und für Recht und Gerechtigkeit im Lande sorgen. In seinen Tagen wird Juda Heil erfahren, und Israel wird in Sicherheit wohnen. Und das ist sein Name, den man ihm geben wird: ,JHWH unsere Gerechtigkeit‘“ (Jer 23,1-6; vgl. Zeph 3,3-5).

Wenn Thyen diesen Text offenbar so wichtig findet, dass er ihn in Gänze wiedergibt, kann ihm nicht die Erwähnung von Juda und Israel entgangen sein, auf deren Heimführung aus der Zerstreuung und deren Heil im Sinne des sicheren Wohnens diese Verheißung hinausläuft. Ich vermerke das im Blick auf die Frage, wen der johanneische Jesus in Vers 16 wohl mit den anderen Schafen meinen wird.

Noch näher als der Jeremia-Text steht Thyen zufolge „unserer Hirtenrede aber … Gottes Rede über die Hirten Israels in Ez 34.“ Auch dazu zitiert er „die entscheidenden Passagen des Kapitels“ (T486f.):

„Das Wort JHWHs erging an mich also: Menschensohn, weissage über die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: Ihr Hirten! So spricht JHWH, der Herr. Wehe den Hirten Israels. Haben sie sich nicht nur selbst geweidet, wo Hirten doch die Schafe weiden sollen? Von deren Milch habt ihr euch genährt, mit ihrer Wolle euch gekleidet und die fetten Tiere geschlachtet. Aber die Schafe habt ihr nicht geweidet. Das Schwache habt ihr nicht gestärkt, das Kranke nicht geheilt, das Verletzte nicht verbunden, das Versprengte nicht zurückgeführt, das Verirrte nicht gesucht, das Kräftige aber niedergetreten und mißhandelt. Da zerstreuten sich meine Schafe, weil sie keinen Hirten hatten, und wurden allem Wild des Feldes zum Fraß, und sie zerstreuten sich. … Darum … spricht JHWH, der Herr: Siehe, ich komme über die Hirten und werde meine Schafe aus ihrer Hand fordern, ich werde ihrem Hirtenamt ein Ende machen, und die Hirten sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich werde meine Schafe ihrem Rachen entreißen und sie sollen ihnen nicht mehr zum Fraße dienen. … Ich selbst will meine Schafe aufsuchen und nach ihnen sehen. Wie ein Hirt für seine Herde sorgt am Tage, da er mitten unter seinen Schafen steht, die sich zerstreut haben, so will ich mich meiner Schafe annehmen … Auf guter Trift will ich sie weiden auf den Bergen Israels, und ich selbst will sie lagern lassen … Das Verlorene will ich suchen, das Versprengte zurückführen, das Gebrochene verbinden, das Kranke stärken, das Fette aber und Kräftige will ich schützen und weiden, wie es recht ist. … Und ich werde über sie einen einzigen Hirten bestellen, der sie weiden soll, meinen Knecht David, der soll sie weiden und ihr Hirte sein. … Sie sollen nicht mehr eine Beute sein den Völkern, noch sollen die Tiere des Landes sie fressen, sondern sie sollen sicher wohnen, ohne daß jemand sie schreckt … Und ihr, meine Schafe, Schafe meiner Weide seid ihr, ich aber bin euer Gott, spricht JHWH, der Herr“ (Ez 34,1-12.14.16.23.28.31).

Thyen sieht (T487) „durch das Zeugnis Sacharjas hindurch diesen Ezechiel-Text im Hintergrund unserer Hirtenrede“ und zieht daraus den Schluss, dass „Jesus sich mit seinem Wort: ‚Ich bin der gute Hirte‘ implizit bereits ganz eindeutig mit dem verheißenen ‚einzigen Hirten, meinem Knecht David‘ identifiziert“ hat. Von daher wird „die drängende Frage der Ioudaioi {Juden} in der folgenden Szene verständlich“, ob er der Christus, also dieser messianische König ist (10,24). Aus diesem „nahezu ununterscheidbaren Mit- und Nebeneinander JHWHS und seines ,Knechtes David‘ als des ,guten Hirten‘ Israels“ will Thyen dann auch „Jesu Wort“ verstehen: „egō kai ho patēr hen esmen {Ich und der Vater, eins sind wir} (10,30)“. So richtig diese Bezüge auf die Propheten sind, bleibt in meinen Augen hier allerdings noch ziemlich offen, in welcher Weise Thyen das messianische Königtum Jesu und sein Eins-Sein mit Gott interpretieren wird.

Indem Jesus in Vers 14 nochmals proklamiert: „Ich bin der gute Hirte“, verschwindet nach Thyen für den Rest der Rede Jesu „jeglicher Konflikt“:

Jesus setzt sich nun nicht mehr mit jenen „anderen“ auseinander, die für sich das Hirtenamt beanspruchen, sondern er spricht jetzt von seiner Beziehung zu seiner ,Herde‘ (14-16), die ihrerseits in seiner Beziehung zu seinem ,Vater‘ ihren festen Grund hat… Diese wechselseitigen Relationen zwischen Jesus als dem guten Hirten zu den Seinen als seinen Schafen und dieser zu ihm, sowie zwischen Jesus als dem Sohn und seinem himmlischen Vater und des Vaters zu diesem Sohn werden durch das jetzt neu eingeführte Lexem ginōskein {kennen} als ein wechselseitiges ,Miteinander-Vertrautsein‘ zur Sprache gebracht.

Großen Wert legt Thyen in diesem Zusammenhang darauf, dass „das Sterben Jesu ‚für seine Schafe‘“ keinesfalls „als ein ,Opfer‘ verstanden werden“ darf, das nur in einer besonderen Weise „Prädestinierten zu gute käme“, denn es muss

auch für die Interpretation der Hirtenrede als eines Teiltextes, der durch das gesamte Werk determiniert ist, in dem er sich findet, dabei bleiben, daß Gott seinen Sohn nicht in die Welt entsandt hat, „daß er die Welt verdamme, sondern daß die Welt (und nicht etwa nur Wenige, die dazu prädestiniert wären) durch ihn gerettet werde“ (3,17).

Gleichfalls lehnt Thyen (T488) „alle Versuche“ ab, „das Evangelium in die unmittelbare Nähe der Gnosis zu rücken oder gar seine Abhängigkeit von gnostischen Texten zu postulieren“, denn „wenn ohne den logos, der im Anfang war, kein Geschöpf je geworden ist (1,1ff), dann muß prinzipiell alles Geschaffene ,sein Eigenes‘, und dann müssen zumal alle Menschen ,die Seinen‘ sein.“ Und jeder, der

Jesu poetische Rede von ,seinen Schafen‘ … so begreifen will, als seien durch ein vorzeitiges göttliches Dekret nur einige Wenige zum Heil, die gesamte Masse der Übrigen aber zum ewigen Verderben bestimmt, dessen Heilsegoismus und sein Wahn, ein ,Sehender‘ zu sein, stellt noch jene ,blinden Pharisäer‘ in den Schatten, von denen Joh 9 eben erzählte.

Thyen hingegen will „Jesu poetische Hirtenrede … als verheißende Einladung an alle“ hören, „die dazu aufruft, jene neue Welt zu bewohnen, von der sie spricht und die sie so als ,Wirklichkeit‘ überhaupt erst stiftet.“

Gegen alle Versuche (T489), den Hintergrund von Johannes 10 „in gnostischen Texten“, etwa „dem Johannesbuch der Mandäer“ zu suchen, schließt sich Thyen „dem begründeten Urteil von J. Jeremias“ <755> an,

wonach „das palästinische Bildmaterial, die zahlreichen Semitismen und die Fülle der Anklänge an das Alte Testament (besonders an Ez 34) übereinstimmend in den alttestamentlich-palästinischen Bereich (weisen). Die wesentlichen Züge des deutenden Abschnitts 10,11-18 – Jesus der Hirte, das Zurücktreten des Herrschermotivs im Hirtenbilde, die Jüngerschar als Herde, der der Hirt vorangeht, der Tod des Hirten, die Sammlung der Völkerherde -: stimmen außerdem mit den synoptischen Selbstaussagen überein. Neu gegenüber dem Alten Testament ist der Gedanke, daß der Tod des Hirten freiwilliges, stellvertretendes Sterben für die Herde ist; hier haben die Leidensweissagungen Jesu und das geschichtliche Ereignis des Kreuzestodes Jesu die Ausgestaltung des Mark. 14,27f. vorgegebenen Ansatzes bewirkt. Dagegen fehlen Hirtenaussagen aus der Welt des Synkretismus und der Gnosis, die Joh. 10 beeinflußt haben könnten; denn die einzig in Frage kommenden späten Hirtenstücke der mandäischen Literatur sind offensichtlich aus ganz losen Reminiszenzen an Joh. 10 erwachsen“.

Zurück zum „wechselseitige[n] Sich-Kennen (ginōskein) Jesu als des ,guten Hirten‘ und der ,Seinen‘“, das „seinen Grund in der ebenfalls durch ginōskein ausgedrückten wechselseitigen Nähe des Vaters zu Jesus als seinem Sohn“ hat. Zu diesem Erkennen zitiert Thyen (T490) zustimmend Bultmann, <756> dass

hier mit dem Verbum ginōskein „nicht ein rationales, theoretisches Erkennen“ bezeichnet wird, „bei dem das Erkannte dem Erkennenden gegenübersteht in der Distanz des objektiv Wahrgenommenen; sondern … ein Innewerden, bei dem der Erkennende durch das Erkannte – nämlich durch Gott – in seiner ganzen Existenz bestimmt ist“.

Der ergänzende Satz Bultmanns jedoch: „Es ist ein Erkennen, in dem sich Gott dem Menschen erschließt und ihn damit in sein göttliches Wesen verwandelt“, bringt Thyen zufolge

Johannes wohl in allzu große Nähe zur Gnosis. Denn dieses ginōskein ist als ein „Erkennen“ immer zugleich auch ein ,Anerkennen“ des Anderen und der Respekt vor seinem unassimilierbaren Anderssein. In anderem Zusammenhang hatten wir oben Lévinas <757> mit den Worten zitiert: „Die Nähe des Nächsten ist meine Verantwortlichkeit für ihn. Nahen heißt: der Hüter seines Bruders sein. Hüter seines Bruders ist, wer als Leibbürge für ihn eintritt. Hierin besteht die Unmittelbarkeit. Die Verantwortlichkeit rührt nicht von der Brüderlichkeit her, sondern die Brüderlichkeit ist der Name für die Verantwortlichkeit für den anderen, die diesseits meiner Freiheit liegt“. Eben diese „Brüderlichkeit“ (vgl. 20,17) als die „Verantwortlichkeit für den anderen, die diesseits seiner Freiheit“ liegt, nämlich in der entolē {Gebot} seines Vaters (V. 18), nimmt Jesus als der ,gute Hirte‘ und Hüter seiner Brüder wahr. Doch auch die neue ,Geburt aus dem Geist und von oben‘ (3,3ff) „verwandelt“ den Menschen nicht in „göttliches Wesen“, sondern läßt ihn vor Gott nun erst wahrhaft Mensch sein.

Da Jesus in Vers 15 „nun nicht mehr wie eben noch in V. 11 in dritter Person erklärt, der gute Hirte setze sein Leben ein für seine Schafe, sondern … jetzt in erster Person von sich selbst sagt: ‚Ich gebe mein Leben hin für meine Schafe‘“, gewinnt Thyen zufolge „die doppeldeutige Wendung tithēmi tēn psychēn (,sein Leben einsetzen‘) jetzt den eindeutigen Sinn der tatsächlichen Hingabe des Lebens“. Daran schließt Thyen eine in meinen Augen fragwürdige Schlussfolgerung an:

Und da diese Lebenshingabe Jesu durch seine Kreuzigung als das heilsnotwendige (dei {es ist notwendig}) „Erhöhtwerden des Sohnes des Menschen“ (3,14) ihren Grund in Gottes Liebe zum kosmos hat (3,16…), muß jetzt über den Text von Ez 34 hinaus auch von jenen „anderen Schafen“ des guten Hirten die Rede sein, die nicht „aus dieser Hürde“, nämlich aus dem Gottesvolk Israel, sind.

Aus welcher „Hürde“ oder welchem Hof diese anderen Schafe tatsächlich sind, wird Thema der Auslegung von Vers 16 im nächsten Abschnitt sein.

Wie am Schluss des letzten Abschnitts angekündigt, beschäftigt sich Johannes nach Ton Veerkamp <758> in den Versen 10,11ff. mit anderen Gegnern als den zuvor erwähnten Zeloten:

Nun nimmt die Deutung des Gleichnisses eine neue Wende. Jetzt geht es nicht um die Zeloten, sondern um die, die im Auftrag der Eigentümer der Schafe die Schafe weiden. Ein guter Hirt ist der, der seine Seele einsetzt für die Schafe. Er mag sein Leben für die Schafe geben, aber das ist die extreme Form dessen, was mit „Seele einsetzen“ gemeint ist.

Um zu erläutern, wer im Gegensatz dazu kein guter Hirte ist, holt Veerkamp ähnlich weit aus wie Thyen in seiner Rückblende auf die prophetischen Schriften und bezieht sich zum Teil sogar auf dieselben Texte, nämlich zunächst das Buch Sacharja, das für alle Evangelien eine große Rolle gespielt hat:

In allen Evangelien finden wir eine Reihe von Motiven aus den beiden Lastworten am Ende des Buches Sacharja: die Eselin von Sacharja 9,9, die dreißig Silberlinge von 11,4ff., das Zerschlagen der Hirten von 13,7ff. Offenbar müssen viele messianische Gemeinden diese beiden Lastworte intensiv studiert haben, um die Vorgänge um den Tod Jeschuas und die Zerstörung Jerusalems verstehen und verarbeiten zu können. Johannes macht das Verstehen der Schrift zur Voraussetzung für das Verstehen jener dramatischen Ereignisse, von denen die Schüler betroffen sind (Johannes 2,22; 20,9). Offenbar behandeln diese Texte schwere Führungskrisen in Israel/Juda und es bietet sich an, dabei auch an die makkabäische Zeit zu denken. Die messianische Gemeinde ist nach 70 führungs- und orientierungslos.

Wie Thyen kommt auch Veerkamp (Anm. 327) auf Sacharja 11,17 zu sprechen:

Der Text vom „nichtswürdigen Hirten“ (roˁe ha-ˀelil, Sacharja 11,17) ist sehr schwer zu deuten, wir sind immer noch weit entfernt davon, zu verstehen, auf welche reale Begebenheiten er sich bezieht.

Und wie Thyen deutet auch Veerkamp die Kapitel Sacharja 9-14 als einen „Midrasch von Ezechiel 34“:

In diesem berühmten Kapitel behandelt Ezechiel „die Verabschiedung der Hirten“, d.h. der Könige Judas, die die Schafe (das Volk) schutzlos den wilden Tieren des Feldes (den Völkern, vor allem den Babyloniern) ausgeliefert haben. Vor diesem Hintergrund muss der Wolf gesehen werden. Der Wolf steht im Gleichnis des Johannes strukturell an dem Platz, den die wilden Tiere in Ezechiel 34 einnehmen, 34,2b-5:

Wehe, ihr Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben!
Sollten die Hirten nicht die Schafe weiden?
Die Milch verzehrt ihr, mit der Wolle kleidet ihr euch,
die Fetten schlachtet ihr, die Schafe habt ihr nicht geweidet.
Das Kranke habt ihr nicht gestärkt, das Siechende habt ihr nicht geheilt,
das Gebrochene habt ihr nicht verbunden,
das Vertriebene nicht zurückgebracht,
nach dem Verschwundenen habt ihr nicht geforscht.
Mit Stärke habt ihr sie niedergetreten, mit Gewalt.
Da zerstreuten sich die Schafe, weil sie ohne Hirten sind,
sie wurden zum Fraß allen Tieren des Feldes, zerstreuten sich.

Diese vernichtende Abrechnung mit einem abgewirtschafteten Regime steht hinter Johannes 10, freilich in einer gebrochenen Form. Die Brechung des Bildes nimmt Johannes aus Sacharja 11,15-17:

Der NAME sprach weiter zu mir:
„Nimm dir das Gerät eines falschen Hirten.
ICH aber! ICH erstelle einen Hirten im Lande:
Das Weggetriebene ordnet er nicht ein,
das Junge sucht er nicht auf,
das Gebrochene heilt er nicht,
das, was stehen bleibt, versorgt er nicht,
das fette Fleisch frisst er, zerschlägt ihm die Klauen:
Wehe dem nichtswürdigen Hirten, der die Schafe verlässt.
Schwert über seinen Arm, über sein rechtes Auge!
Sein Arm verdorre, sein Auge werde ausgelöscht, ausgelöscht.“

Den Ausdruck „guten Hirten“ (poimēn kalos, roˁe thov) gibt es in der Schrift nicht. Die meisten Hirten waren alles andere als gut. „Ich erstelle den Einen Hirten, meinen Knecht David, der soll sie weiden“, heißt es bei Ezechiel 34,23. Der Prophet rechnete noch mit der Wiedereinrichtung einer geläuterten Monarchie aus dem Haus Davids. Sacharja 11 rechnet damit nicht mehr, vielmehr rechnet er heftig mit der neuen Monarchie ab, die unter dem Haus des Judas Makkabäus entstanden ist.

Zum letzten Erwägung merkt Veerkamp an (Anm. 328): „Das setzt eine sehr späte Datierung von Sacharja 11 im späten 2. Jahrhundert v.u.Z. voraus.“ Wenn Johannes die messianische Verheißung von Ezechiel/Hesekiel nur in dieser gebrochenen Form des Sacharja-Buchs aufgreift, wird verständlich, warum Jesus sich nicht einfach wie die Makkabäer zum König ausrufen lassen kann. Zugleich wird aber an beiden Texten deutlich, was „falsche Hirten“ sind, „nichtswürdige Hirten. Es sind Hirten, die die Schafe verlassen, wenn der Wolf kommt, heißt es bei Johannes. Für ihn erhalten diese prophetischen Worte eine ungeheure Aktualität.“

Was konkret meint nach Veerkamp das Wort „Lohnhirte“, misthōtos, das Luther mit „Mietling“ übersetzt hat?

In vielen Kommentaren kann man lesen, dass die Lohnhirten sich nicht um die Herde kümmern, weil sie nicht ihr Eigentum ist. Das ist eine durch und durch bürgerliche Vorstellung. Hier geht es aber um den einzigen Eigentümer, den die Schrift gelten lässt, den NAMEN, den Gott Israels: „Mein ist das Land, alle seid ihr Pächter und Fremdlinge verglichen mit mir“, Leviticus 25,23. Lohnhirten sind daher alle, die im Auftrage des Eigentümers die Schafe weiden.

Bei diesen Lohnhirten kann es sich also nur „um die politische Führung Judäas in den Jahren vor dem Judäischen Krieg und während des Krieges“ handeln. Veerkamp stellt eine ähnliche Frage wie Wengst, beantwortet sie aber etwas anders:

Wer hat die Schafe im Stich gelassen? Manche denken an Jochanan ben Sakkai, der nach der Gründungslegende des rabbinischen Judentums die belagerte Stadt verließ und sich in die Obhut der Römer begab. Wenn wir schon die Flucht Sakkais in Erwägung ziehen, dann sollten wir auch an die Flucht der messianischen Gemeinde Jerusalems, geführt von den „Brüdern des Herrn“, denken. Auch sie ließen die Kinder Israels im Stich. Wir wissen aus 7,2ff., dass Johannes von den Brüdern Jeschuas – und das heißt von der Gemeinde in Jerusalem – nichts gehalten hat. Schließlich wird noch von den Schülern selbst gesagt: „Ihr werdet mich (Jeschua) allein lassen“, 16,32 (hier wie dort aphiesthai). Hier klärt Johannes seine messianische Gemeinde auf über das totale Versagen der damaligen priesterlichen Führung des Volkes und der Führung der messianischen Gemeinden.

Auch zur allegorischen Deutung des Wolfs schließt Veerkamp die Erwägungen von Wengst nicht aus, zieht aber selbst unter Berufung auf die Schrift eine andere Deutung vor:

Wer ist der Wolf? Rom? Dafür spricht einiges, der Wolf ist das Muttertier der Gründer Roms, Romulus und Remus. Wahrscheinlicher ist, dass Johannes an Texte wie Ezechiel 22,23-31 denkt:

Die Oberen bei ihr [= der Stadt] rauben, rauben wie Wölfe,
vergießen Blut, vernichten Seelen,
machen Gewinn, Gewinn.

Ganz ähnlich (Anm. 329) klingt Zephanja 3,3: „Die Oberen sind wie brüllende Löwen, die Richter wie arabische Wölfe.“

Beide Deutungen müssen einander aber gar nicht widersprechen, denn zur Zeit des Johannes war Rom als oberste Besatzungsmacht sicher der mächtigste aller raubenden „Wölfe“ im Sinne der jüdischen Schriften.

Bei Johannes heißt es: „Der Lohnhirt beobachtet, wie der Wolf kommt, lässt die Schafe in Stich, flüchtet – der Wolf raubt und jagt auseinander.“ Die Obrigkeit war sicherlich ein „Tagelöhner“ Roms, aber während des judäischen Krieges schloss sich zunächst ein Teil der priesterlichen Aristokratie dem kämpfenden Volk an. Nach einer Niederlage der Römer im Jahre 66 bei Beth Horon und der zunehmenden Radikalisierung des Widerstandes verließen viele der angesehenen Judäer die Stadt {Bell. 2, 20, 1}.

In Vers 14 wird die Formulierung „ICH BIN ES: der gute Hirt“ aus Vers 11 zum zweiten Male aufgegriffen:

Das erste Mal wird „gut“ inhaltlich gefüllt mit der Haltung, durch die der Hirt seine Seele für seine Schafe einsetzt, das zweite Mal durch das „Kennen“. Dieses Kennen beruht auf Gegenseitigkeit. Die Grundform dieser Gegenseitigkeit ist das gegenseitige „Anerkennen“ zwischen VATER und Hirten. Denn ginōskein bedeutet: sich anerkennen und sich vertrauen. Das Grundverhältnis zwischen dem Gott Israels und dem Messias bestimmt alle anderen Verhältnisse. Kennen, anerkennen, vertrauen bedeutet in der Konsequenz: seine Seele einsetzen.

Die vertrauensvolle Übereinstimmung des Messias mit dem Gott Israels interpretiert Veerkamp schließlich noch ganz knapp im Sinne einer toragemäßen Staatslehre gemäß Psalm 72, wo es in den Versen 1-4 heißt:

Gott, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn, dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht. Lass die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit. Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen.

So sollte es sein, aber die Wirklichkeit sieht nach Veerkamp meist anders aus:

„Guter Hirte“ heißt: „gutes Regiment“. Wenn Staat („gerechter König“, Psalm 72!), dann „guter Hirte“. In der Regel aber ist Staat ein Apparat, der zur Verselbständigung neigt, schlimmstenfalls zum korrupten Selbstbedienungsladen von Ezechiel 34 wird.

Johannes 10,16: Andere Schafe, nicht aus diesem Hof: Samaria oder die Völker?

10,16 Und ich habe noch andere Schafe,
die sind nicht aus diesem Stall;
auch sie muss ich herführen,
und sie werden meine Stimme hören,
und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

[12. August 2022] Für Klaus Wengst (W320) ist von den Versen 10,14-15 her klar, dass mit seinen dort genannten Schafen, die er kennt und die ihn kennen, Israel gemeint sein muss:

Es ist wahrzunehmen, dass die biblisch grundgelegte Verbindung zwischen Gott und Israel als seinem Volk bis in die Gegenwart hinein als weiter bestehend bezeugt wird. Als verbindende Mitte hat sich Jesus faktisch für die erwiesen, die nun in den Blick kommen: „Auch andere Schafe habe ich, die nicht aus dieser Hürde sind. Auch die muss ich leiten und sie werden auf meine Stimme hören. Es wird eine Herde sein, ein Hirte.“

Der Tendenz seiner bisherigen Auslegung entsprechend ist es nicht verwunderlich, wen Wengst mit diesen anderen Schafen meint identifizieren zu können:

Mit den „Schafen“, „die nicht aus dieser Hürde sind“ und die auf die Stimme Jesu hören werden, kommen die Menschen aus den Völkern in den Blick. Sie sind gleichsam die Zugelaufenen. In Jes 56,8 heißt es: „Spruch des Ewigen, Gottes, der die Versprengten Israels einsammelt: ,Noch über sie hinaus will ich einsammeln zu ihren Versammelten hinzu.‘“ In Ez 34,23 und 37,24 wird der messianische Davidide als „einziger Hirte“ des Volkes Israel erhofft. Hier ist Jesus der „eine Hirte“ der „einen Herde” aus Juden und Nichtjuden.

Beide prophetische Stellen begründen aber nicht, was Wengst hier behauptet. In Hesekiel 37,15ff. wird ausdrücklich die Vereinigung von Juda und Ephraim verheißen, von daher wäre Johannes 10,16 eher darauf zu beziehen, dass Jesus mit den Schafen aus dem judäischen Hof auch die verlorenen Schafe Samarias versammeln will, die nach Kapitel 4 dafür ja auch überaus aufgeschlossen sind. Die Jesajastelle kann sich zwar auf die Völker beziehen, aber es geht nach 56,6 definitiv um Fremde aus den Völkern, die sich als Proselyten dem Judentum anschließen wollen. Solche Gottesfürchtige kommen in Gestalt einiger Griechen tatsächlich auch bei Johannes (12,20) auf Jesus zu, aber von einer generellen Völkermission wie bei Paulus, Lukas oder Matthäus ist im Johannesevangelium nirgends die Rede.

Zu Recht beklagt Wengst jedenfalls, dass das, was Paulus und in seinen Augen auch Johannes anstrebte, nicht auf Dauer in die Tat umgesetzt wurde. Damit deutet er sehr klar die Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums als eine Geschichte des Scheiterns. Wenn Jesus als der gute Hirte eine Gemeinde aus Juden und Völkern zusammenführen wollte, dann hat er dieses Ziel eindeutig nicht erreicht:

Demgegenüber müssen wir bedenken, dass es „die Kirche aus Juden und Heiden“ nicht gibt. Eine Nur-Völkerkirche, wie sie faktisch seit vielen Jahrhunderten existiert, hat Johannes gewiss nicht im Blick gehabt, sondern „auch andere Schafe“, die Jesus als Hirte „auch leiten muss“.

Die Konsequenzen, die sich daraus für unsere christliche Kirche der Neuzeit ergeben, skizziert Wengst im Rahmen eines solidarischen interreligiösen Miteinanders:

Wenn wir wahrnehmen, dass Gott nach wie vor als Hirte Israels bezeugt wird (Ez 34,30f.), kann die Einheit, von der Jesus hier spricht, nicht allein in der Einheit der Völkerkirche erstrebt werden noch gar in dem Versuch einer zu restituierenden „Kirche aus Juden und Heiden“ bestehen. Es gilt vielmehr nach dem zu suchen und es herauszustellen, was Christen mit Juden verbindet. Das weist sie ein in eine solidarische Partnerschaft mit ihnen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass bereits der Reformator Calvin <759> davon überzeugt war, dass „wir in der Einheit des Glaubens als dem Kern des Bundes mit den Juden vereint“ sind.

Hartwig Thyen (T490) gibt Vers 16 folgendermaßen wieder:

„Und ich habe noch andere Schafe, die nicht aus dieser Hürde sind, und auch die muß (dei) ich führen, und sie werden (auf) meine Stimme hören, und (alle) werden eine Herde sein unter einem Hirten.“

Ihm zufolge (T490f.)

„wird hier endlich deutlich, daß jene aulē {Hürde} und jene probata {Schafe}, von denen bisher die Rede war, keineswegs „die Welt der Finsternis“ samt den in ihr „eingekerkerten Menschenseelen war“, wie Fischer <760> meint, sondern das Erbteil Israels und die Glieder des erwählten Gottesvolkes, von dem nach 4,23 die sōtēria tou kosmou {Rettung der Welt} kommt (vgl. das Bekenntnis der Samaritaner zu Jesus als dem sōtēr tou kosmou {Retter der Welt} in 4,42).

Obwohl Thyen hier ausdrücklich die Samaritaner erwähnt, kommt er doch nicht auf die Idee, diese mit den anderen Schafen von 10,16 zu identifizieren, sondern argumentiert unter Berufung auf Otfried Hofius <761> ähnlich wie Wengst (T491):

Wie Jesus sich selbst in 8,12 im Spiel mit Jes 8,23-9,1 und den Liedern vom Gottesknecht, den Gott „zum Bunde des Volkes und zum Licht für die Heiden gemacht hat“ (Jes 42,6), als das phōs tou kosmou {Licht der Welt} proklamiert hatte, so spricht er jetzt von seiner göttlich-eschatologischen Bestimmung (dei), der „Sammlung der Heiden zur Herde Israels“.

Die von Thyen zur Untermauerung dieser Argumentation herangezogene prophetische Bemerkung des Hohenpriesters Kaiphas in 11,52 über „die zerstreuten Kinder Gottes“, die Jesus durch seinen Tod „zu einer Herde“ zusammenführen wird, bezieht sich aber ebenfalls nicht sicher auf Heiden; viel näher liegt die Annahme, es gehe um die Juden der Diaspora, also das unter die Völker zerstreute Israel.

Nach Hofius allerdings proklamiert

weit über Texte wie Ez 34,11-31; 37,15-21 oder Mi 2,12 hinaus, die nur die endzeitliche Sammlung aller Verstreuten Israels verheißen, im Widerspruch gegen Dtn 23,2ff bereits das Jesajabuch „das Offensein der Heilsgemeinde Israel für die ,Verschnittenen‘ und ,Fremden‘ …: „Ich will sie zu meinem heiligen Berg bringen / und will sie erfreuen in meinem Bethaus … / denn mein Haus wird heißen: ,Bethaus für alle Völker‘ (Jes 56,7). Bei Markus zitiert Jesus eben diese Verheißung mit der Folge, daß die „Hohenpriester und Schriftgelehrten ihn zu beseitigen trachteten“ (Mk 11,17f). Und unmittelbar auf Jes 56,7 folgt diese Verheißung: … V. 8): „Spruch des Herrn JHWH, der die Versprengten Israels sammelt: Noch mehr werde ich zu ihnen hinzu sammeln, zu seinen Versammelten hinzu“. Diese Übersetzung hat Hofius [290f.] eingehend begründet; er kommt zu dem Schluß: „Es kann m. E. nicht zweifelhaft sein, daß die johanneischen Stellen 10,16 und 11,51f an Jes 56,8 anknüpfen“.

Meine Zweifel gegenüber dieser Argumentation habe ich oben bereits gegenüber Wengst angemeldet; wenn überhaupt hier Jesaja 56,8 im Blick ist, dann unter Berücksichtigung von 56,6, nämlich dass außer Samaria und den Juden der Diaspora auch einzelne Gottesfürchtige oder Proselyten aus den Völkern die Herde Jesu vervollständigen.

Weitere Erwägungen zu den „anderen Schafen“ stützt Thyen auf spätere Stellen im Evangelium, vor allem 12,20ff., die dort zu behandeln sein werden. Hier sei noch erwähnt, dass nach Thyen (T492) „auch von den ,anderen Schafen‘ das Paradox“ gilt, dass es die Stimme des Hirten ist, „die sie erst zu Erwählten macht, und daß sie zugleich doch dieser Stimme nur zu folgen vermögen, weil sie seine Erwählten sind.“

Ton Veerkamp <762> äußert zu Vers 16 sehr deutlich die von mir bereits ausgedrückte Skepsis gegenüber der Annahme von Wengst und Thyen, hier gehe es um die Einbeziehung der Völker in die Herde des guten Hirten:

In V.16 scheint der Text den Faden zu verlieren, den er erst in V.17 wieder aufnimmt. Offenbar scheint er einem drohenden Missverständnis vorbeugen zu wollen. Die Menschen, die diese Worte hören, könnten der Auffassung sein, sie, die messianischen Judäer, seien die Schafe, sie allein. Es gibt aber auch andere, für die das gleiche Engagement gilt. Nach zweitausend Jahren kann das Christentum hier nichts anderes als „Heidenmission“ denken. Johannes sagt bloß, es gehe nicht nur um die Schafe dieses Hofes, nicht nur um die Judäer Jerusalems, es gebe andere Kinder Israels, etwa die Frau aus Samaria, auch die, die im ganzen Römischen Reich weit zerstreut leben. Zu ihnen gehören sicher auch die nicht-jüdischen Sympathisanten des (hellenistischen) Judentums, die „Griechen“ aus Johannes 12,20ff. Sie alle will der Messias vereinen: sie alle sollen werden „eine Herde, ein Hirte“.

Mit besonderem Nachdruck lehnt Veerkamp jedoch die Vorstellung ab, Johannes könnte bereits so etwas wie die christliche Kirche im Blick gehabt haben, die gegenüber Israel ein neues Gottesvolk darstellt:

Unter denen, die „nicht von diesem Hof sind“, mögen Angehörige anderer Völker (Gojim) sein. Sie aber werden zu Israel gehören – und nicht umgekehrt Israel zu einem völlig neuen Gottesvolk, etwa der christlichen Kirche! Der EINE, der NAME, ist der Hirte Israels, Psalm 23,1; 80,2; Ezechiel 34,13f. usw.

Seine Auffassung, Vers 16 beziehe sich hauptsächlich auf Samaria und die Diaspora- Juden, stützt Veerkamp am Rande (Anm. 331) auch auf seine

Auslegung von Johannes 2,6 … Dort standen bei der Hochzeitsfeier in Kana sechs steinerne Wasserkrüge. „Das halbe Israel“, haben wir gesagt. Meint Johannes hier, 10,16, die andere Hälfte?

Johannes 10,17-18: Jesu Gebot vom VATER, sein Leben einzusetzen und zu „nehmen“

10,17 Darum liebt mich der Vater,
weil ich mein Leben lasse,
auf dass ich‘s wieder empfange.
10,18 Niemand nimmt es von mir,
sondern ich selber lasse es.
Ich habe Macht, es zu lassen,
und habe Macht, es wieder zu empfangen.
Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.

In den letzten beiden Versen 17-18 der Hirtenrede Jesu legt Jesus Wengst zufolge (W320)

noch einmal den Ton auf den Einsatz des Lebens, den er als guter Hirte nicht nur riskiert, sondern auch tatsächlich gebracht hat. Die Formulierung ist in zweierlei Hinsicht auffällig. Zum einen werden zweimal „das Leben einsetzen“ und „das Leben erhalten“ unmittelbar in Zusammenhang miteinander gebracht. „Deswegen liebt mich der Vater, weil ich mein Leben einsetze, auf dass ich es wieder erhalte.“ „Befugnis habe ich, es einzusetzen; und Befugnis habe ich, es wieder zu erhalten.“ So kann nur von Ostern her formuliert werden. Das spielt auf das Geheimnis und die Gewissheit an, dass der Tod Jesu nicht unglückliches Scheitern war, sondern dass Gott ihn zum Leben gewendet hat. Zum anderen wird der Lebenseinsatz Jesu zugleich als freiwillig und geboten dargestellt. „Niemand nimmt es mir weg, sondern ich setze es von mir aus ein.“ „Dieses Gebot habe ich von meinem Vater erhalten.“

In diesem Lebenseinsatz Jesu können seine „Befugnis“, „Macht“ oder „Vollmacht“ auf der einen Seite und das „Gebot“, dem er sich andererseits unterworfen sieht, nicht voneinander getrennt werden (W320f.):

Wer das von Gott Gebotene bejaht, wird souverän gegenüber widerstreitenden Ansprüchen anderer Mächte, selbst wenn diese Mächte tödliche Gewalt ausüben. Die Passionsgeschichte wird das an Jesus im Gegenüber zu Pilatus als dem Repräsentanten der römischen Macht zeigen.

Zu Jesu Wort (W321): „Dieses Gebot habe ich von meinem Vater erhalten“, führt Wengst Rabbi Akiva als „ein herausragendes Beispiel für den Einsatz des Lebens für Gottes Gebot“ in der jüdischen Tradition <763> an:

Nach mBer 9,5 ist Gott wie für das Gute so auch für das Üble zu segnen. Das wird mit einer Auslegung des Gebotes, Gott zu lieben (Dtn 6,5), begründet. Zur Forderung, Gott „mit deinem ganzen Leben“ zu lieben, heißt es: „auch wenn er dir dein Leben nimmt“. Die Aufnahme dieser Stelle in bBer 61b erzählt, dass Rabbi Akiva trotz des Verbots der römischen Regierung öffentlich Tora lehrte, deshalb verhaftet und zum Tode verurteilt wurde. Er versteht seinen Märtyrertod als Auslegung und Aufrichtung des Schriftverses, Gott zu lieben „mit deinem ganzen Leben – auch wenn er dir das Leben nimmt“.

Eine rabbinische Parallele <764> zu dem Satz: „Deswegen liebt mich der Vater, weil ich mein Leben einsetze“, bezieht sich Wengst zufolge auf „dieselbe Zeit nach dem zweiten jüdisch-römischen Krieg“:

„Rabbi Natan sagt: ,Denen, die mich lieben und meine Gebote halten (Ex 20,6): Das sind die Israeliten, die im Land Israel wohnen und ihr Leben für die Gebote einsetzen. Warum gehst du hinaus, um (mit dem Schwert) hingerichtet zu werden? Weil ich meinen Sohn beschnitten habe. Warum gehst du hinaus, um verbrannt zu werden? Weil ich in der Tora gelesen habe. Warum gehst du hinaus, um gekreuzigt zu werden? Weil ich Mazzen gegessen habe. Warum bekommst du (Schläge) rnit der Peitsche? Weil ich den Lulav genommen habe. Und sie (die Schrift) sagt (Sach 13,6): Weil ich geschlagen werde im Haus derer, die mich beliebt machen. Diese Schläge haben es mir verursacht, geliebt zu werden von meinem Vater im Himmel.“

Dazu, dass Jesus nach Wengst (W320) „von Ostern her“ davon spricht, sein Leben „wieder zu erhalten“, wie er das Wort lambanein, wörtlich „nehmen“, übersetzt, kann es in der jüdischen Tradition verständlicherweise keine Parallelstelle geben.

Hartwig Thyen hatte zu Vers 16 abschließend gemeint (T492), dass paradoxerweise erst die Stimme des Hirten seine Schafe „zu Erwählten macht, und daß sie zugleich doch dieser Stimme nur zu folgen vermögen, weil sie seine Erwählten sind. Und diese Relation kann in keine Ontologie {Wesenslehre, Seinslehre} von Ursache und Wirkung aufgelöst werden.“ Daran knüpft er in seiner Auslegung der Verse 17-18 mit einem Bultmann-Zitat <765> an:

Ähnlich steht es mit der Relation zwischen der ,Liebe des Vaters‘ und der freiwilligen Lebenshingabe des Sohnes. Wenn Jesus die letztere mit den Worten: „Der Vater liebt mich, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen“, zum Grund der väterlichen Sohnesliebe erklärt, dann „darf die mythologische Sprache (natürlich) nicht dazu verführen, den Gedanken ins Trivial-Menschliche herabzuziehen, als habe Jesus durch sein Opfer die Liebe des Vaters und damit seine Würde erst gewinnen müssen. Der Vater liebte ihn ja pro katabolēs kosmou {vor Grundlegung der Welt} (17,24); und es ließe sich wohl auch umgekehrt sagen, daß er sein Leben hingibt, weil der Vater ihn liebt. Was gesagt werden soll, ist eben dieses, daß in seinem Opfer die Liebe des Vaters zu ihm wirklich ist, und daß deshalb dieses Opfer Offenbarung der Liebe des Vaters ist“.

Auch Bultmanns Bemerkung, dass der mit hina eingeleitete Nebensatz, den Thyen (T479) mit „um es {sein Leben, seine Seele} dann wieder zurückzunehmen“ übersetzt, „nicht ‚die Absicht oder den Zweck‘ der Lebenshingabe Jesu, sondern ihre Konsequenz zu Sprache bringt“, zitiert Thyen zustimmend.

Wenn Jesus dann fortfährt und erklärt: „Niemand nimmt mir mein Leben (airei), sondern allein ich selbst (emphatisches egō) gebe es freiwillig hin. Wie ich die Vollmacht habe, es hinzugeben, so habe ich auch die Vollmacht, es (mir) wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater erhalten“, so kommt hier zwar einstweilen nur implizit, wenn auch höchst pointiert zum Ausdruck, was Jesus erst in der folgenden Szene, als die Juden ihn auf dem Tempelweihfest förmlich ,verhören‘, explizit sagen wird, nämlich: „Ich und der Vater sind Eines“ (10,30; s.u. z. St.), gleichwohl aber wird schon hier der genuin johanneische Gedanke formuliert, daß Jesus nicht nur der Herr seines Todes, sondern Herr auch seiner Auferstehung ist: Als der vom Vater Beauftragte hat er die Vollmacht, sein in den Tod gegebenes Leben erneut zu ergreifen.

Ob die Einheit Jesu mit dem Vater wirklich in dieser Konsequenz zu begreifen ist, darüber ist die Diskussion mit Thyen noch lange nicht beendet. Er meint, dass die Augenhöhe mit Gott, auf die Jesus auf Grund der „seit Grundlegung der Welt waltende[n] Einheit von Vater und Sohn“ gehoben wurde, es nicht einmal zulässt, dass der Vater den Sohn vom Tode erweckt“, denn das würde bedeuten, dass „der eine den anderen wie ein Objekt behandelt.“

Ton Veerkamp <766> geht in der Auslegung der Verse 17-18 ganz andere Wege als die übliche Exegese. Zunächst einmal scheut er sich nicht davor, die Solidarität des VATERS als des Gottes Israels mit Jesus als seinem Sohn in Vers 17 wirklich von seinem Einsatz für das Volk Israel her begründet zu sehen:

Die Verse 17 und 18 nehmen den Gedanken von V.15 wieder auf. Der VATER erkennt den Hirten Jeschua, den Messias, dem das politische Hirtenamt übertragen wurde (Daniel 7,14). Der Hirte erkennt den VATER, und dieses Erkennen besteht darin, „die Seele für die Schafe einzusetzen“. Das ist die Aussage von V.15. Warum ist der VATER, der Gott Israels, solidarisch mit Jeschua? Nicht wegen der Tatsache, dass er der SOHN Gottes sei, sondern weil er seine Seele einsetzt für Israel (für die Schafe). Nicht weil er der SOHN ist, setzt er seine Seele ein, sondern umgekehrt: weil er seine Seele einsetzt, ist er der SOHN.

Den in Veerkamps Augen „kryptische[n] Nebensatz“ hina palin labō autēn, den Wengst einfach im Sinne eines österlichen Wiedererhalten des Lebens versteht und den Thyen immerhin nicht als ausdrücklichen Zweck der Lebenshingabe Jesu begreift, übersetzt Veerkamp mit:

„wiederum damit ich sie annehme“ oder: „vielmehr damit ich sie annehme“. Was bedeutet annehmen? Der Ausdruck „Seele nehmen“ bedeutet töten; etwa Psalm 31,14: „Sie schmieden Ränke, mir die Seele zu nehmen.“ Das kann hier nicht gemeint sein.

Veerkamp greift aber auch nicht zum traditionellen Verständnis dieses „Nehmens“ im Sinne eines „Zurückbekommens“, ja, er straft diese Auslegungsmöglichkeit mit völliger Missachtung, vermutlich weil er darin eine Verharmlosung des Todes Jesu sehen würde: Jesus bekommt ja in der Auferstehung sein Leben wieder zurück, also ist seine Ermordung durch die römische Weltordnung halb so schlimm!

Die alternative Interpretation, die Veerkamp unternimmt, basiert auf folgenden drei Voraussetzungen: erstens, dass in seinen Augen das „Wort palin … nicht nur eine Wiederholung, sondern auch eine Verstärkung“ bedeutet, und zweitens, dass

hinter „nehmen“ das aramäische Verb qebal [steht]. Es ist das Verb, das wir in Mischna Avot 1,1ff. hörten:

Mosche nahm (qibbel) die Tora von Sinai an.

Das korrespondiert mit der letzten Zeile von V.18: „Dieses Gebot habe ich vom VATER angenommen“ (elabon, qibbel).

Drittens setzt Veerkamp voraus, <767> dass der Ausdruck tithemi tēn psychēn {wörtlich: die Seele setzen}, der in 1. Samuel 19,5 das hebräische ßim nafscho wiedergibt, nicht zwangsläufig auf den Verlust des Lebens hinausläuft:

Der Ausdruck ist selten und dann nur in Verbindung mit be-kafo, „seine Seele in seine Faust stellen“, also alle zur Verfügung stehende Kraft einsetzen. Das mag als äußerste Konsequenz den Verlust des eigenen Lebens bedeuten, muss es aber nicht. Man soll psychē nicht mit „Leben“ übersetzen. Einige Handschriften, darunter sehr alte, ersetzen tithemi durch didonai, „seine Seele (über)geben“. Die Korrektur geschieht von Johannes 18-19 her.

Aus diesen Voraussetzungen folgt, dass das labein, „Nehmen“ oder „Annehmen“, der psychē, der „Seele“ oder des „Lebens“, sich gerade nicht auf ein in der Auferstehung palin, „wieder“ zurückerhaltenes Leben bezieht. Vielmehr wird der „Einsatz des Lebens“, der in der Formulierung tithēmi tēn psychēn ausgedrückt wird, im palin, also „um so mehr“, erfolgenden „Annehmen des Lebens“ nochmals verstärkt. <768>

So schwierig es auch für mich ist, diese Argumentation nachzuvollziehen, vermeidet sie jedenfalls den Anschein, als sei Jesu Lebenshingabe im Grunde nur eine große Schau, die er abzieht, bevor er sich selbst sein Leben wieder zurücknehmen kann, um in größtmöglicher Herrlichkeit mit seinem Vater im Himmel zu leben. Wäre das nicht Doketismus in Reinkultur, also der Glaube an eine nur scheinbar Mensch gewordene himmlische Gestalt mit göttlich-übermenschlichen Fähigkeiten?

Veerkamp dagegen bleibt in seiner Auslegung ganz bei dem Gebot des VATERS, das Jesus voll und ganz akzeptiert, nämlich im Dienst der Überwindung der römischen Weltordnung die Ermordung ausgerechnet am Schandkreuz der Römer auf sich zu nehmen:

„Die Seele einsetzen“ bedeutet „die Seele annehmen“. Die einzige und eigentliche Aufgabe seiner Seele, seine Lebensaufgabe, ist es, die Seele, das Leben, für die Schafe einzusetzen. Der Tod des Messias als die extremste Form seines Seeleneinsatzes (die Seele wegheben, airein) geschieht nicht, weil die, die ihn töten, dazu die Vollmacht (exousia) hätten, sondern weil er selbst – und ungehindert durch andere – diesen Weg ging, er setzt die Seele von sich selbst ein. Dazu hat er die Vollmacht, damit ist er beauftragt, und zwar so, dass er diesen Auftrag von sich selbst annimmt. Sein Lebensweg ist die Folge des Auftrags, den der Gott Israels ihm gab; der Auftrag, seine Lebensaufgabe, seine Seele, anzunehmen, ist seine Entscheidung. Der Zweck dieser Argumentation ist es, den Menschen klarzumachen, dass die Ermordung des Messias kein Zeichen seiner politischen Schwäche war, sondern dass er diesen Weg von sich selbst aus geht. Dazu hat er die Vollmacht.

Im Hintergrund steht die ausgesprochene oder unausgesprochene Frage: Was nutzt ein Messias, wenn er am Ende doch das Opfer herrschender Verhältnisse werden musste? Dieser Weg, sagt Johannes, sei ein bewusst gegangener, politischer Weg. Ob er die einzige Möglichkeit war, müssen wir uns fragen.

Johannes 10,19-21: Die Spaltung unter den Judäern wegen Jesu Rede und Blindenheilung

10,19 Da entstand abermals Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte.
10,20 Viele unter ihnen sprachen:
Er ist von einem Dämon besessen und ist von Sinnen;
was hört ihr ihm zu?
10,21 Andere sprachen:
Das sind nicht Worte eines Besessenen;
kann denn ein Dämon die Augen der Blinden auftun?

[13. August 2022] Nach Klaus Wengst (W321) schließen die Verse 19-21 nicht nur „den in 9,39 begonnenen Abschnitt ab“, sondern auch den gesamten Zusammenhang ab 9,1. Ich füge hinzu: Da erst im folgenden Vers der Hinweis auf das Tempelweihfest erfolgt, muss man sich außerdem alles seit 7,2 Erzählte im Kontext des Laubhüttenfestes vorstellen.

In Vers 19 ist, wie „schon in 7,43 und 9,16 … wieder von einer Spaltung die Rede“, in der sich das „Gericht bzw. die Scheidung, wovon Jesus in 9,39 sprach“, darstellt:

Erfolgte sie in 7,43 unter der Menge und in 9,16 unter den Pharisäern, so jetzt „unter den Juden“. Mit diesen Juden werden innerhalb der Szene 9,39-10,21 die in 9,40 eingeführten „Leute von den Pharisäern“ aufgenommen. Die jetzige Spaltung entspricht also der von 9,16, auf die auch mit „wiederum“ Bezug genommen wird. Auch inhaltlich zeigt sich in scharfer Ablehnung Jesu und verhaltener Zustimmung zu ihm Nähe zu jener Spaltung. In quantitativer Hinsicht liegt nun ein stärkeres Gewicht auf der negativen Stellungnahme. Gab es 7,40-42 zwei positive Stellungnahmen und eine negative, vorgetragen von „welchen“, „anderen“ und „wieder anderen“, und standen sich 9,16 „einige“ und „andere“ gegenüber, so jetzt „viele“ und „andere“.

Indem Wengst eine Schlussfolgerung von Kriener <769> aufnimmt, beurteilt er den in Vers 20 von „Vielen“ aufgenommenen Vorwurf gegen Jesus, der „schon in 7,20; 8,48.52“ geäußert worden ist: „Er ist besessen und von Sinnen“, als „sehr bewusst platziert“, nämlich als

„eine naheliegende Reaktion, wenn jemand behauptet, er könne sein Leben geben und wieder nehmen. Das würde voraussetzen, daß er über die Schöpferkraft Gottes verfügt. Wenn ein Mensch so etwas behauptet, kann er nur verrückt sein […].“ Damit erweist sich Jesus als nicht zurechnungsfähig.

Andere (W322) stellen Jesu Worte in den Zusammenhang mit der Heilung, die er vollzogen hat:

„Das sind nicht Worte eines Besessenen.“ Sie begründen ihre Einschätzung mit einem Rückgriff auf die Blindenheilung: „Kann denn ein Dämon Blinden die Augen öffnen?“ Die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums weiß aus Ps 146,8: „Der Ewige öffnet Blinden die Augen.“ Gott also war hier am Werk, nicht ein Dämon. In dem, was Jesus sagt und tut, ist Gott präsent, kommt er zum Zuge. So geraten in dieser abschließenden Szene noch einmal der ganze Zusammenhang von 9,1 an und vor allem sein zentrales Probblem des Verhältnisses von Gott und Jesus in den Blick. Damit bereitet sie zugleich den nächsten Abschnitt vor, der dieses Problem aufs äußerste zuspitzt und zu klären versucht. Dessen Bedeutung stellt Johannes auch dadurch heraus, dass er ihn zeitlich und räumlich von dem in 9,1-10,21 erzählten Geschehen absetzt und so zu einer eigenen Einheit gestaltet.

Auch nach Hartwig Thyen (T493) weist das „palin {wieder} des erneuten ,Schismas‘ unter den Juden … zurück auf 7,43 u. 9,16.“ Außerdem erinnert der

Vorwurf, Jesus sei von einem Dämon besessen und nicht Herr seiner Sinne, den die Juden schon in 8,48 und 52 gegen ihn erhoben hatten, … an die synoptische Unterstellung, Jesus sei von Sinnen (exestē: Mk 3,21; das synonyme Lexem mainomai findet sich bei Joh nur hier), und er sei von Beelzebul besessen und treibe die Dämonen durch den archōn tōn daimoniōn {Obersten der Dämonen} aus (Mk 3,22ff; Mt 9,32-34; 12,22-30; Lk 11,14ff). Gerade weil Jesus bei Joh – anders als in den synoptischen Evangelien – nie als Exorzist in Erscheinung tritt, dürfte es sich bei diesen Vorwürfen um ein Spiel mit den genannten synoptischen Texten handeln.

Schließlich macht Thyen unter Berufung auf Maurits Sabbe <770>

darauf aufmerksam, daß auch Jesu Apologie in Mk 3,23b: pōs dynatai satanas satanan exballein? {wie kann der Satan den Satan austreiben?} (vgl. Mt 12,26) der Reaktion derer, die hier erklären: mē daimonion dynatai typhlōn ophthalmous anoixai? {kann denn ein Dämon die Augen der Blinden auftun?} (Joh 10,21b), sehr nahe stehe (John 10, 92).

Ton Veerkamp <771> beurteilt die auf Grund der Worte Jesu entstehende Spaltung unter den Judäern im Rahmen seiner politischen Auslegung der Hirtenrede:

Die eindeutig politische Deutung des Gleichnisses macht einige von den Zuhörenden nachdenklich, andere bleiben bei ihrem Urteil. Das Auftreten der messianischen Gemeinde verursacht offenbar Diskussionen unter den rabbinisch orientierten Judäern. Manche halten den Messias, die messianische Gemeinde für „besessen“, für einen durchgeknallten Haufen von Sektierern. Andere aber sehen, dass Jeschua Menschen „sehen macht“, dass sie eine Perspektive bekommen. Diese messianischen Gruppen „erleuchten“ andere Menschen; das, so sagen sie, sei doch wohl etwas anderes als die Besessenheit von Fanatikern.

So beendet Johannes den Abschnitt über Sukkot, das Fest der Lichter. Jetzt kommt das Fest der Erneuerung, Chanukka.

Chanukka: Die Auferweckung des Lazarus als Zeichen der Erneuerung Israels (Johannes 10,22-11,54)

[14. August 2022] Wenn ich mit Johannes 10,22 ein neues großes Kapitel im Sinne des Johannes, nicht unserer traditionellen Kapitelzählung, aufschlage, dann folge ich damit dem Vorschlag Veerkamps, den zweiten großen Teil des Evangeliums Johannes 5-12 konsequent an Hand der Angaben zu den jüdischen Festen zu unterteilen. Nach dem sehr langen Kapitel 7,2 bis 10,21, in dessen Mittelpunkt das Zeichen der Blindenheilung stand und in dem vor dem Hintergrund des Laubhüttenfestes über Blindheit und Erleuchtung im übertragenen Sinn gestritten wurde, stellt Johannes nach Ton Veerkamp <772> mit der Erwähnung des Tempelweihfestes, Chanukka, griechisch enkainia, in 10,22 sein nächstes bis 11,54 reichendes Kapitel vor den Hintergrund der Ereignisse, auf die vor über zweieinhalb Jahrhunderten das Fest der enkainia, „Erneuerung“, zurückgegangen war:

Antiochos IV., Großkönig der Region Syrien-Mesopotamien – etwa im Umfang des neubabylonischen Reiches – hatte am 15. des Monats Kislew des Jahres 167 v.u.Z. die Stadt Jerusalem eingenommen. Da er aus seinem Reich auch ideologisch ein einheitliches Gebilde machen wollte, erließ er ein Dekret, wonach alle Völker die jeweiligen traditionellen Rechtsordnungen aufgeben und die königliche Rechtsordnung annehmen mussten (1 Makkabäer 1,41). Der König widmete das Heiligtum in Jerusalem zu einem staatlichen Heiligtum um, errichtete dort das Bild des Zeus Olympiakos und verfügte, dass auf der traditionellen Schlachtstätte Opfer für den Staatsgott zu erbringen wären. Daniel nannte das den Greuel der Verstarrung (Daniel 11,31). Drei Jahre später befreite Judas Makkabäus die Stadt Jerusalem, nachdem er die Heere Antiochos‘ IV. geschlagen und verjagt hatte, reinigte das Heiligtum vom hellenistischen Staatskult. Diese Tat heißt Chanukka, Enkainia, Erneuerung.

Judas und seine Brüder sagten:
„Da, unsere Feinde sind zerrieben worden, steigen wir auf,
reinigen wir das Heiligtum und erneuern (enkainisai) es.“
Er sammelte das ganze Heerlager und stieg zum Berg Zion hinauf. …

Sie reinigten das Heiligtum
und warfen die besudelten Steine an einen unreinen Ort. …

Es gab eine große Freude im Volk, sehr,
und die Schande durch die Gojim wurde rückgängig gemacht.
Judas und seine Brüder und die ganze Versammlung Israels beschlossen,
dass die Tage der Erneuerung der Schlachtstätte jährlich begangen werden sollen,
acht Tage lang, gerechnet vom fünfundzwanzigsten Tag des Monats Kislew an,
mit Freude und Heiterkeit“ (1 Makkabäer 4,36.43.59).

Die Erwähnung von Chanukka ruft diesen gesamten theologisch-politischen Zusammenhang in Erinnerung, und zwar in einer Situation, in der ein viel größerer Greuel als damals unter Antiochus IV. geschehen ist, ohne dass inzwischen wieder eine Erneuerung des Heiligtums hätte stattfinden können:

In diesem ganzen Abschnitt 10,22-11,54 geht es um die Erneuerung Israels. In den Tagen des Johannes war das Heiligtum verwüstet. Der römische Kaiser Titus hat das Heiligtum im Jahr 70 und die Schlachtstätte nicht nur entweiht, wie sein Vorgänger es getan hatte, sondern dem Erdboden gleichgemacht. Seine Berater haben wohl deutlich gemacht, dass das Heiligtum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Judäer war. Soll von diesem Volk nie wieder ein Aufstand gegen Rom ausgehen, müsste das Heiligtum und die Stadt vollständig vernichtet werden. Die Frage ist: Wie soll der Ort und somit das Leben des Volkes erneuert werden? Wo ist der Messias?

Um die Frage, ob Jesus dieser Messias ist, der den Tempel und das Leben des Volkes erneuern könnte, geht es in der nochmaligen Auseinandersetzung mit den Judäern in 10,22-39. Dieser Streit knüpft thematisch zwar unmittelbar am Vorangehenden an, dient aber mit der Zuspitzung der Frage nach den Werken seines VATERS, die Jesus zu wirken hat, vor allem als Auftakt zum Bericht von Jesu großem Werk der Auferweckung des Lazarus, das Veerkamp als das „Zentrum des Evangeliums“ <773> begreift, und zwar im Sinne der Erneuerung oder Belebung eines Israel, das unter der Herrschaft der rom-hörigen Priesterschaft sich praktisch im Zustand der Verwesung befindet.

Den Übergang zu diesem Bericht bilden die Verse 10,40-42, in denen nach Veerkamp <774> erzählt wird, wie Jesus „an den Ort zurück[kehrt], wo alles anfing“. Von dort aus, wo „[v]iele … dem Messias vertraut“ haben, in Bethanien jenseits des Jordans, macht er sich zum judäischen Bethanien auf, um „sein letztes und größtes Zeichen“ zu tun.

Klaus Wengst (W323) nimmt zwar auch zwischen 10,21 und 10,22 einen Einschnitt wahr und verweist wie Veerkamp zur „Entstehung von Chanukka“ unter anderem auf 1. Makk 4,36-59, aber er sieht das Ende von Kapitel 10 doch eher als Abschluss für den „Mittelteil des Evangeliums (Kap. 7-10)“. Dieser Abschnitt, indem „sich eine deutliche Zweiteilung zeigt“, ist „hauptsächlich christologisch“ geprägt. Zweimal beschreibt Jesus seine Beziehung zu „dem Vater“, worauf ein „Steinigungsversuch“ und der „Versuch einer Festnahme“ durch seine Gegner erfolgt:

Dass an das Entkommen Jesu sein Rückzug an den Ort anschließt, an dem sein Auftreten begann (V. 40-42), markiert einen besonderen Einschnitt in der Darstellung des Evangeliums. Das ordnet diesen Abschnitt – durch die neue Situationsschilderung am Anfang vom Vorangehenden abgehoben – dem gesamten Zusammenhang Kap. 7-10 als einen betonten Schlusspunkt zu.

Das darauf folgende 11. Kapitel ordnet Wengst (W332) nicht mehr dem Chanukka-Fest zu; in seinen Augen bleibt die Erzählung in „zeitlicher Hinsicht … zunächst unbestimmt. Erst gegen Ende erfährt die Leser- und Hörerschaft, dass wieder ein Pessachfest bevorsteht (V. 55).“ Auf jeden Fall hat das Kapitel 11 ihm zufolge (W332f.)

einen wichtigen Platz in der Gesamtkomposition des Evangeliums. Indem Johannes am Ende von Kap. 10 Jesus an den Ort seines ersten Auftretens zurückkehren und ihn so von dem einen Betanien zu dem anderen Betanien kommen lässt, umgreift er dessen ganzes bisheriges Wirken und lässt es in der Auferweckung des Lazarus kulminieren. Dabei stellt er Jesus, nachdem dieser sich selbst als „die Auferstehung und das Leben“ bezeichnet hat, als aus dem Tod ins Leben Rufenden dar. Hier kommt die bisherige Erzählung zu ihrem Höhepunkt. Darauf deutet auch das zweifache „Nahe“ hin, in örtlicher und zeitlicher Hinsicht ausgesprochen: nahe bei Jerusalem (V. 18) und nahe an Pessach (V. 55). Dieses zweifache „Nahe“ zeigt aber zugleich, dass Jesus noch nicht ganz am Ziel ist. Pessach hat noch nicht begonnen und Jesus ist noch nicht in Jerusalem.

Damit erscheint Jesus für Wengst (W333), bevor „das Pessach“ kommt, „das ‚die Stunde‘ Jesu ist“, in Kapitel 11 „als Lebensspender, der auf dem Weg in seinen Tod am Kreuz ist. Er kann als solcher Lebensspender nur deshalb dargestellt werden, weil er selbst als lebendig und auferstanden bezeugt wird.“ Die „Erzählung von der Auferweckung des Lazarus“ kann also nicht auf irgendeine Art von „historischem Geschehen“ zurückgeführt werden, sondern ihren „wirklichen Anhalt hat sie einzig in dem Zeugnis, ‚dass Gott Jesus von den Toten aufgeweckt hat‘.“

Hartwig Thyen (T493) hält die „Szene des förmlichen Verhörs Jesu durch die Ioudaioi während des Festes der Tempelweihe (enkainia)“ in Johannes 10,22-39 im Anschluss an Wyller und Østenstad <775> für „die ,Peripetie‘ innerhalb der dramatischen Erzählung der Geschichte Jesu“, also (T421) den „Gipfel- und Wendepunkt … seines irdischen Weges und exakt die Mitte des Evangeliums“. Ihm zufolge steht sie auch (T493) „exakt in der Mitte ihres mit 8,12 anhebenden und bis 12,50 reichenden zentralen Aktes“ und bildet „ein absichtsvolles Spiel mit der bei Joh ja an ihrem gewohnten Ort fehlenden synoptischen Szene des Verhörs und der Verurteilung Jesu durch das Synhedrion {Hoher Rat der Juden}“.

Obwohl die folgenden Verse 10,40-42 (T494), die „Jesus und mit ihm den Leser wieder an den Ort zurückbringen [wird,] wo mit 1,19ff alles angefangen hat“, nämlich in „das peräische Bethanien“, in seinen Augen „das ‚Erste Buch‘ unseres Evangeliums“ abschließen, das er „nach dem treuen Zeugen Jesu, dem zu diesem Zeugnis von Gott gesandten Mann, Johannes, das Buch der martyria {des Zeugnisses}“ nennt und dem, „[e]röffnet durch die Erzählung von Tod und Auferweckung des Lazarus (Joh 11) und beschlossen durch die Geschichte des Sterbens und Auferstehens Jesu (Joh 18-21) … dann als Zweites das „Buch der doxa {der Herrlichkeit}“ folgt, unterscheidet er dennoch mit „mit Østenstad (34) diese ‚Zäsur‘ {Einschnitt} von den „Einschnitten“, durch welche die einzelnen Akte voneinander getrennt sind“. Das heißt: der zentrale vierte Akt des Johannesevangeliums, der nach Thyen in 8,12 begonnen hat, reicht noch weiter bis 12,50 und bildet mit seiner ersten Hälfte des Abschluss des Buches des Zeugnisses und mit seiner zweiten Hälfte den Beginn des Buches der Herrlichkeit.

Als Begründung für die Zusammengehörigkeit dieses zentralen Aktes führt er unter anderem von ihm wahrgenommene Parallelen in den Kapiteln 8-9 bzw. 10-12 an:

Wie Jesu Proklamation: „Ich bin das Licht der Welt“ in Kapitel 8 das ,Zeichen‘ der Heilung des Blindgeborenen folgte, so folgt seiner Hirtenrede und seinem Auftritt beim Tempelweihfest nun das ,Zeichen‘ der Auferweckung des Lazarus und bestätigt damit seine Worte, daß seine Schafe seine Stimme kennen und ihm nachfolgen (10,4.16.27), daß er seine eigenen Schafe namentlich zu sich ruft (10,3; vgl. 11,43: phōnē megalē ekraugasen: Lazare, deuro exō {er rief mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!}) und daß niemand – auch der Tod nicht – sie seiner Hand entreißen kann.

Im selben Atemzug weist er allerdings darauf hin, dass „weit über die Hirtenrede hinweg … Joh 11 auch an 5,19ff“ anknüpft, „denn mit Tod und Auferweckung des ‚Freundes‘ Lazarus (11,11) ist auch die Zeit gekommen, da der Vater dem Sohn noch weit größere Werke als die bisher Gesehenen zeigen wird, … (5,20).“ Mir hatte ohnehin nicht eingeleuchtet, warum Thyens vierter Akt erst in 8,12 beginnen sollte, obwohl dort die mit Kapitel 7 am Laubhüttenfest beginnende Handlung so gut wie nahtlos weitergeführt wird.

Auf der anderen Seite sieht Thyen (T495) trotz der in 10,22 erfolgenden „Datierung in den folgenden Winter (cheimōn ēn {es war Winter})“ und der Erwähnung des Festes „der Tempelweihe (enkainia)“ hier nur einen szenischen Einschnitt und nicht den Beginn eines neuen Kapitels oder Aktes. Zum Tempelweihfest erwähnt er nicht nur seine Hintergründe in den Makkabäerbüchern, sondern auch, dass wohl selbstverständlich „bei der Feier des neuen Festes nun auch der zuvor beim Laubhüttenfest erinnerten Tempelweihen Salomos (1Kön 8; vgl. 2Chron 7) und Serubbabels (Esr 3,4; 6,16) gedacht wurde“.

Die (T510) „Erzählung von den ‚bethanischen Geschwistern‘, nämlich von Lazarus und seinen Schwestern Maria und Martha“, die von Johannes 11,1 bis 12,11 reicht, hatte Thyen <776> „in einem Beitrag zur Festschrift für Frans Neirynck“ als „einen „Palimpsest über synoptischen Texten“ bezeichnet, der mit den Prätexten „Lk 10,38-42; 16,19-31; Mk 14,3-9; Lk 7,36-50 … intertextuell spielt“:

Alle Versuche, jenseits der überprüfbaren Beziehung zu diesen realen Texten noch eine ältere „Wundererzählung“ als die vermeintliche „Quelle“ des Evangelisten ausmachen und von dessen „Bearbeitung“ unterscheiden zu wollen, erscheinen uns ebenso überflüssig wie unmöglich: ,Überflüssig‘, weil jede zusätzliche Hypothese und zumal das Postulat einer nicht aufweisbaren, sondern nur virtuellen Quelle die Argumentation unnötig belastet und um ihre Plausibilität bringt; und ,unmöglich‘, weil das Gewebe dieser Erzählung derart kunstvoll und dicht, sowie in all seinen Details so unverkennbar durch die individuelle ,Handschrift‘ des Erzählers geprägt ist, daß keine der zahllosen und miteinander konkurrierenden Rekonstruktionen ihrer vermeintlichen „Quelle“ zu überzeugen vermag.

Außer dem Spiel mit den oben genannten Prätexten sieht Thyen (T511) Johannes 11,1-12,11 auch „als eine Variation der Erzählung von der Auferweckung des Sohnes der Witwe zu Nain (Lk 7,11-17)“:

Indem Johannes damit den namenlosen Sohn der Witwe von Nain Lazarus genannt hat, hätte er ihm absichtsvoll den Namen jenes armen Mannes gegeben, der krank vor der Tür des Reichen gelegen hatte. Anstelle von dessen bei Lukas von dem reichen Mann in seiner Höllenqual zur Warnung seiner Brüder von Abraham nur erbetener Rückkehr aus dem Tode erzählt Johannes seine tatsächliche Erweckung durch Jesus. Und hier gilt nicht nur Abrahams Weissagung: „Wenn sie Mose und die Propheten nicht hören, dann werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht“ (Lk 16,31), sondern hier vollenden die Hohenpriester ihren Unglauben durch den Beschluß, den durch seine Errettung aus Grab und Tod zum wirkungsvollen Zeugen Jesu gewordenen Lazarus erneut zu töten (12,9-11).

Insgesamt betrachtet Thyen „Joh 11,1-12,11 als einheitliche Erzählung“ und beruft sich dabei auf Dorothy Lee, <777> „die den gesamten Komplex in folgender Weise in sieben kleine Szenen gliedert“:

(1) Krankheit und Tod des Lazarus (11,1-16) – (2) Jesus im Gespräch mit Martha (11,17-27) – (3) Jesus im Gespräch mit Maria und den jüdischen Trauergästen (11,28-37) – (4) Die Erweckung des Lazarus (11,38-44) – (5) Viele Juden glauben an Jesus und das Synhedrium beschließt, ihn zu töten (11,45-57) – (6) Jesu Salbung durch Maria (12,1-8) – (7) Beschluß der Hohenpriester, auch Lazarus zu töten (12,9-11).

Obwohl diese Textabschnitte tatsächlich durch die allein hier vorkommende Erwähnung der drei bethanischen Geschwister zusammengehalten werden, wobei Lazarus allerdings auch noch (12,17) im darauf folgenden Abschnitt über den Einzug Jesu in Jerusalem erwähnt wird, bleibe ich mit Ton Veerkamp <778> dabei, das johanneische Kapitel der mit dem Tempelweihfest verbundenen Erneuerung Israels mit dem Vers 11,54 zu beschließen, demzufolge sich Jesus „in die Nähe der Wüste“ begibt,

des Ortes, wo einmal Israel durch die Disziplin der Freiheit zu einem Volk zusammengeführt wurde. … Damit findet der Abschnitt über das Fest Chanukka einen sinnvollen Abschluss. Ab jetzt wird bei Johannes nur noch Pascha sein.

Johannes 10,22-24: Jesu messianischer Gang in der Halle Salomos als Herausforderung für die Judäer

10,22 Es war damals das Fest der Tempelweihe in Jerusalem,
und es war Winter.
10,23 Und Jesus ging umher im Tempel in der Halle Salomos.
10,24 Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm:
Wie lange hältst du uns im Ungewissen?
Bist du der Christus, so sage es frei heraus.

[15. August 2022] Nach Klaus Wengst (W323) „bestimmt Johannes“ in Johannes 10,22 „die Situation der neuen Szene hinsichtlich Zeit und Ort: Chanukka in Jerusalem“. Ihm zufolge setzt Johannes also auch an „dem gut zwei Monate“ nach Sukkot „beginnenden Fest Chanukka … die Anwesenheit Jesu in Jerusalem immer noch voraus“, ohne dass „er sich zwischenzeitlich anderswo aufgehalten habe“.

Zur Frage, warum Jesus nach Vers 23 „im Heiligtum in der Säulenhalle Salomos“ umherging, äußert Wengst (Anm. 587) nur sein Befremden über „den oft wiederholten meteorologischen Unsinn, Jesus habe dort ‚Schutz vor den kalten Ostwinden‘ gesucht“, <779> und (W323) dass er „sich also wieder in dem Bereich auf[hält], den er nach 8,59 verlassen hatte“, und zwar in der angeblich von Salomo erbauten Halle Salomos.

Mit der Angabe in Vers 24 (W324): „Da umringten ihn die Juden und sagten ihm: ,Wie lange hältst du uns hin? Wenn du der Gesalbte bist, sage es uns offen!‘“ wird ein weiterer vergeblicher Gesprächsgang eröffnet, den Wengst als „quälend“ bezeichnet, da „das Gespräch immer wieder neu beginnt und dann doch jedes Mal völlig zusammenbricht“, ja, „handgreiflich“ endet:

Am Johannesevangelium wird hier deutlich, was das Gespräch zwischen Christen und Juden nicht tun darf: sich auf den Gegensatz fixieren. Natürlich dürfen Unterschiede und Gegensätze im Gespräch nicht verdrängt und verschleiert, sondern müssen benannt werden. Aber das Gespräch wäre so zu führen, dass sie ausgehalten werden können. Auch nach dem Johannesevangelium gibt es genug Gemeinsames, um das zu ermöglichen.

Inhaltlich erinnert die „an Jesus gerichtete Aufforderung … an die Aufforderung der Brüder in 7,3f. und nimmt überhaupt die Diskussionen um die Messianität Jesu aus Kap. 7 wieder auf“, worin sich nach Wengst „die Auseinandersetzungen zwischen der auf Jesus bezogenen Gemeinschaft und der Mehrheit ihrer jüdischen Landsleute“ widerspiegeln.

Hartwig Thyen (T496) sieht Jesu Auftritt nach Vers 22-23 „beim Fest der Tempelweihe in der ‚Halle Salomos‘“ durch die Erinnerung „zugleich an die enkainia {Erneuerung} des Tempels durch Judas Maccabaeus und an seine ursprüngliche Weihe durch Salomo“ als „ein erstes Indiz für den hochsymbolischen Modus unserer Szene“:

Denn zum letzten Mal, ehe der ,Eifer um das Haus seines Vaters‘ den, dessen ‚Leib‘ der ,neue Tempel‘ ist (2,21f), buchstäblich „verzehrt“ haben wird, und zugleich zum letzten Mal, ehe sich die düstere Ahnung der „Hohenpriester und Pharisäer“, daß nämlich die Römer kommen und ihnen die Tempelstadt und das Volk wegnehmen könnten (kai arousin hēmōn kai ton topon kai to ethnos {sie nehmen uns diesen Ort und das Volk weg}: 11,47ff), tatsächlich erfüllen wird, betritt Jesus hier den Tempel.

Dass die Juden Jesus in Vers 24 „von allen Seiten“ bedrängen, versteht Thyen nicht so, dass sie ihn neutral „in ihre Mitte“ nehmen, sondern in dem Sinne, dass

dem derart Gestellten kein Ausweg mehr verbleibt; vgl. Lk 21,20; Hebr 11,30. Bedrohlich klingt dann auch die beschwörende Frage: „Wie lange willst du uns denn noch hinhalten? Wenn du der Messias (christos) bist, dann sage es uns doch endlich gerade heraus (parrhēsia)“. Und nicht zufällig führen dann Jesu in aller ,Offenheit‘ und ,Öffentlichkeit‘, eben in parrhēsia gegebenen Antworten zu dem erneuten Versuch der ihn umringenden ,Juden‘, ihn zu steinigen (V. 31).

Hier zeigt sich nach Thyen erneut, dass das, was die anderen Evangelien innerhalb ihrer Passionserzählung von einem „Prozeß der Juden“ gegen Jesus berichten, sich durch das ganze Johannesevangelium hindurchzieht (T497) und „sogar zur bestimmenden Mitte seines gesamten Evangeliums“ wird:

Die Erzählung von der Tempelreinigung eröffnet diesen Prozeß und auf die Aufsehen erregende Kunde von der Auferweckung des Lazarus hin gipfelt er in dem Todesurteil, das das Synhedrium unter dem Vorsitz des Hohenpriesters Kaiphas gegen Jesus fällt (11,46-53). Weil dieses Urteil in Abwesenheit des Angeklagten ergeht und ohne daß er dazu zuvor angehört worden wäre, ist es ein schroffer Verstoß gegen alles, was die Tora für ein gerechtes Urteil fordert (vgl. 7,51). Die durch Jesu Tempelreinigung und sein doppeldeutiges Wort: „Brecht diesen Tempel nur ab, ich werde ihn binnen dreier Tage neu errichten“ (2,19) begründete Feindschaft eskaliert bis zu diesem fragwürdigen Todesurteil ständig.

Zur Frage, auf welches synoptische Evangelium Johannes in 10,24-38 wohl am ehesten anspielt, meint Thyen mit Sabbe, <780> dass dieser Abschnitt „unbestreitbar durch den lukanischen Bericht inspiriert ist“. Während nämlich in Markus 14,61 und Matthäus 26,63 der Hohepriester nur eine entscheidende Frage an Jesus richtet, nämlich ob er der Christus ist, der Sohn des Hochgelobten bzw. Gottes, macht Lukas

aus der einen Frage des Hohenpriesters zwei mit einer jeweils eigenen Antwort Jesu, nämlich (1) ei sy ei ho christos, eipon hēmin {Bist du der Christus, so sage es uns!} (Lk 22,67) und (2) sy oun ei ho hyios tou theou {Bist du denn Gottes Sohn?} (V. 70).

Ton Veerkamp <781> geht zunächst näher darauf ein, was Johannes mit der Bemerkung über den Winter meinen mag:

„Es war Winter. Jeschua ging seinen Gang im Heiligtum – im Säulengang Salomos.“ Die Angabe „es war Winter“ scheint überflüssig. Aber bei Markus fordert der Messias seine Schüler auf, zu beten, dass die große Katastrophe der Endzeit „nicht im Winter“ geschehen möge (13,8). Vielleicht will Johannes, dass die Zuhörer die Verknüpfung mit Markus 13,8 bilden.

Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit, diese Bemerkung zu erklären, auf die Hans Förster <782> hingewiesen hat:

Gemeinhin wird die Erwähnung des „Tempelweihfestes im Winter“ in Joh. 10,22 als Hinweis auf nichtjüdische Leser*innen verstanden. Sie werden darüber informiert, dass „das“ jüdische Tempelweihfest im Winter stattfand. Allerdings waren bis hinein in das 4. Jh. insgesamt drei jüdische Tempelweihfeste bekannt und wurden auch gefeiert: Die enkainia im Herbst gedachten der Einweihung des salomonischen Tempels, die enkainia im Frühjahr feierten den unter Esra und Nehemia wiederaufgebauten Tempel und die enkainia im Winter hatten die Wiedereinweihung des unter Antiochus IV. Epiphanes entweihten Tempels zum Inhalt. Alle drei Feste wurden mit dem Terminus enkainia bezeichnet. Es scheint also sinnvoller, Joh. 10,22 auf Leser*innen zu beziehen, die um diese drei Feste wussten und denen mitgeteilt wird, welches der drei mit enkainia bezeichneten Feste gemeint ist: das im Winter.

Weiter besteht Veerkamp darauf, das für das Umhergehen Jesu im Säulengang Salomos verwendete Verb peripatein angemessen zu begreifen:

Auf der Decke des Säulengangs standen die Gemächer der Priester. Hier geht der Messias seinen Gang. Das ist etwas anderes als ein Spaziergang. Peripatein bedeutet immer ein Lebenswandel nach dem Willen Gottes. Der Lebenswandel Jeschuas ist der Lebenswandel des Messias. Das spüren die Judäer, sie kreisen ihn förmlich ein.

Das heißt, es ist der messianische Lebenswandel Jesu, der erneut die judäischen Gegner Jesu dazu herausfordert, ihn zu befragen und seinen Anspruch zu bestreiten.

In diesem Zusammenhang unterscheidet Veerkamp ähnlich wie Wengst zwischen den zeitlichen Ebenen der Erzählung und des Erzählers; das heißt, man kann nur verstehen, was Johannes hier meint, wenn man die offenen Fragen in der Zeit nach dem Judäischen Krieg und die Konflikte der johanneischen Gemeinde mit ihren rabbinisch geprägten jüdischen Zeitgenossen im Hintergrund mit berücksichtigt:

In der Logik der Erzählung: „Bis wann erhebst du uns die Seele, hältst du unsere Seelen in der Schwebe?“ In der Logik des Erzählers heißt es: „Kommt noch so etwas wie Messias?“ Die beiden Ebenen müssen sorgfältig getrennt werden. Die Ebene der Erzählung ist das Geschehen um das Jahr 30, die Ebene des Erzählers ist das Geschehen nach dem Jahr 70. Dieses Wechselspiel zwischen den zwei Ebenen setzt sich fort.

Jeschua bzw. die messianische Gemeinde haben immer behauptet, Jeschua sei der Messias, aber die Judäer vertrauen ihm nicht. Sie vermögen nicht einzusehen, dass das Vertrauen in diesen Messias etwas an der trostlosen Lage ändert.

Was kann der johanneische Jesus diesem Misstrauen entgegensetzen?

Johannes 10,25-30: Jesu Einssein mit Gott auf Grund seiner Werke als Hirte Israels

10,25 Jesus antwortete ihnen:
Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht.
Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir.
10,26 Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen.
10,27 Meine Schafe hören meine Stimme,
und ich kenne sie und sie folgen mir;
10,28 und ich gebe ihnen das ewige Leben,
und sie werden nimmermehr umkommen,
und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.
10,29 Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles,
und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen.
10,30 Ich und der Vater sind eins.

[16. August 2022] Nach Klaus Wengst (W324) hatte sich die Samaritanerin in 4,25f. zu Jesus als Messias bekannt, und die „letzte Erwähnung dieses Titels erfolgte in 9,22, wonach ‚die Juden‘ sich verabredet hatten, von der synagogalen Gemeinschaft fernzuhalten, wer immer ihn als solchen bekennt.“ Von daher ist die Antwort Jesu in Vers 25 für

die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums … keine Überraschung: „Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht.“ Auf der Ebene der Darstellung muss der von Jesus erhobene Anspruch gemeint sein, wie er in unterschiedlichen Formulierungen in Kap. 5-8 immer wieder erhoben wurde. Dabei begegnete – im Munde anderer – in Kap. 7 auch mehrfach der Messiastitel (V. 26f.31.41f.). Danach lässt Johannes von neuem fragen.

Wie in 5,36 beruft sich Jesus zur Legitimation seines messianischen Anspruchs auf seine Taten: „Die Taten, die ich im Namen meines Vaters vollbringe – die legen Zeugnis für mich ab“, wobei nach Wengst alle „seine ‚Taten‘, seine ‚Zeichen‘, … hinauslaufen auf die eine Tat, dass er sein Leben einsetzt, auf dass er es wieder erhalte (10,17f.) – also auf die Einheit von Tod und Auferstehung.“

Was in Vers 26 nach Vorherbestimmung klingt: „Aber ihr glaubt nicht“, „weil ihr nicht von meinen Schafen seid“, womit „auf die erste Hälfte von Kap. 10 zurückgegriffen wird“, (W324f.),

ist Ausdruck einer als verstellt erfahrenen Situation: Dass das, wovon man selbst zutiefst überzeugt ist, von anderen, mit denen man an denselben Gott glaubt und mit denen man „die Schrift“ als sein ansprechendes Wort teilt, radikal abgelehnt wird, gilt als schlechterdings unbegreiflich und wird auf Gottes eigenes Handeln zurückgeführt. Dass Jüdinnen und Juden, die in Jesus nicht den Messias erkennen, nicht zu den „Schafen“ Jesu gehören, weil „der Vater“ sie ihm nicht gegeben hat (vgl. 6,37; 10,29), wäre allerdings anders zu werten, als Johannes es tut. Sie sind und bleiben „Schafe“ Gottes, weil in Geltung bleibt, was nach Ez 34,31 Gott seinem Volk zusagt: „Und ihr seid meine Herde, die Herde meiner Weide.

Auch Vers 27 (W325) greift „Motive aus dem ersten Teil von Kap. 10“ auf, indem Jesus positiv „über die ‚Schafe‘ Jesu und das Verhältnis zwischen ihm und ihnen“ redet: „Meine Schafe hören auf meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir.“ Hinzu kommt in Vers 28 eine Verheißung, die unter anderem in 5,24f. geäußert wurde: „Ich gebe ihnen ewiges Leben“, und die Wengst folgendermaßen interpretiert:

Dass Jesus trotz und in aller Bedrängnis „Leben“ gibt, dass im Vertrauen auf ihn wirklich gelebt werden kann, scheint eine Grunderfahrung der Gemeinde zu sein. Dass dieses Leben auch angesichts des Todes gilt und bleibt, wird Jesus besonders eindrücklich in 11,25f. sagen. Zwei entschiedene Negationen unterstreichen die Verheißung: „Und sie gehen nie und nimmer verloren und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.“ Diese Motive lassen sich auch aus der Situation erfahrenen und weiter drohenden Abfalls verstehen und dienen dem Umgang mit dieser Situation und der Festigung derer, die noch da sind und bleiben sollen.

Die Aussage von Vers 29, die Wengst so wiedergibt: „Was mein Vater mir gegeben hat, ist größer als alles und niemand kann es aus der Hand des Vaters rauben“, stellt in seinen Augen den „letzten Grund“ der eben genannten Verheißung Jesu dar, indem „Gott selbst als Garant des Bewahrt- und Gehaltenwerdens erscheint“. Nur am Rande erwähnt Wengst (Anm. 590), dass nach Barrett <783> auch die Lesart möglich ist: „Mein Vater, der (sie) mir gegeben hat, ist größer…“, und „deshalb kann niemand sie aus seiner Hand reißen“, worüber eine „definitive Entscheidung“ nach Wengst „kaum möglich“ ist. Entscheidend sind (W325) zwei Folgerungen, die sich aus Vers 29 ergeben, erstens:

Die „Schafe“ Jesu haben ihre Größe nicht in sich selbst; sie sind ein „Gegebenes“, das sich ganz und gar „dem Vater“ verdankt. Weil aber der Gebende eben „der Vater“ ist, sind sie in der Tat über alles andere hinaus ausgezeichnet, weil es sie unverlierbar macht. Wer aus der Hand des Vaters gegeben ist, darüber hält er weiter seine Hand, sodass es nicht entrissen werden kann und nicht verloren geht. Daran wird gegen alle andere Erfahrung – und über sie hinaus blickend – mit gutem Trotz festgehalten.

Zweitens zieht Wengst (W325f.) aus den „zwei sachlich einander entsprechende[n] Aussagen: Niemand kann die Schafe aus der Hand Jesu rauben; niemand kann sie aus der Hand des Vaters rauben“, den „geradezu terminologisch zum Ausdruck“ gebrachten Schluss,

dass Jesus und der Vater „Hand in Hand“ arbeiten. Damit ist die anschließend ausgesprochene „Einheit“ von Jesus und dem Vater von vornherein als eine funktionale gekennzeichnet, eben als ein gemeinsames, ein einmütiges Wirken. Genauer, da mit der Aussage vom Vater als dem, der Jesus „die Schafe“ in die Hand gegeben hat, dessen Vorordnung herausgestellt ist: als ein Wirken des Vaters durch Jesus.

Von daher ist Wengst zufolge (W326) die übliche Wiedergabe von Vers 30: „Ich und der Vater sind eins“, missverständlich; er plädiert „vom damit gemeinten Sinn her“ für die genauere Übersetzung: „Ich und der Vater wirken einmütig zusammen.“ Dazu zitiert Wengst Calvin: <784> „Dahin zielt alles, daß in seinem [Jesu] Wirken kein Unterschied zwischen ihm und dem Vater sei“, aber dennoch bestehe keine Wesensgleichheit mit Gott:

„Die alten Ausleger haben diese Stelle fälschlich dazu verwandt, zu beweisen, Christus sei mit dem Vater eines Wesens. Doch Christus spricht hier nicht von seiner Wesenseinheit mit Gott, sondern von der Übereinstimmung zwischen ihm und dem Vater.“

Als Argument (W326) für „ein funktionales Verständnis“ sieht Wengst

auch die neutrische Formulierung. Ihre wörtliche Übersetzung lautet zwar: „Ich und der Vater sind eins.“ Ohne die dogmatische Tradition der Alten Kirche hätte man jedoch so nicht übersetzt. Das zeigt die genau parallele Formulierung in 1. Kor 3,8. Dort schreibt Paulus, bezogen auf sich und Apollos – wörtlich übersetzt: „Der da pflanzt und der da begießt, sind eins.“ Aber so übersetzt den Schluss dieses Satzes nur die um größtmögliche Wörtlichkeit bemühte „Elberfelder Übersetzung“ und produziert damit Unsinn. Alle anderen von mir eingesehenen Übersetzungen bringen textgemäß das einmütige Zusammenwirken zum Ausdruck. Da es sich in Joh 10,30 nicht anders verhält, sollte auch hier entsprechend übersetzt werden. Dem Evangelisten geht es auch an dieser Stelle darum, dass in Wort und Werk Jesu Gott selbst begegnet, hier präsent ist.

Dem funktionalen Verständnis von 10,30 entspricht nach Wengst sachlich „das Verhältnis zwischen Gott und Mose“, wie es ein Midrasch <785> über 2. Mose 14,21 beschreibt:

Nach Ex 14,21 „neigte Mose seine Hand über das Meer“, dass es sich spalte. Unmittelbar anschließend heißt es, dass Gott das Meer zurückweichen lässt. Das nimmt der Midrasch zum Anlass zu erzählen, dass sich das Meer dem Mose zunächst widersetzt habe. Dazu wird ein Gleichnis geboten von einem König, der einen Garten verkauft. Der Käufer aber wird vom Wächter des Gartens erst eingelassen, als der König selbst kommt. „So stand Mose am Meer. Mose sprach zu ihm im Namen des Heiligen, gesegnet er, dass es sich spalte; aber es akzeptierte das nicht. Er zeigte ihm den Stab, aber es akzeptierte das nicht, bis der Heilige, gesegnet er, sich über ihm in seiner Herrlichkeit offenbarte. Aber als der Heilige, gesegnet er, sich in seiner Herrlichkeit und Macht offenbarte, begann das Meer zu fliehen. Denn es ist gesagt (Ps 114,3): Das Meer sah und floh. Mose sprach zu ihm: ,Den ganzen Tag habe ich zu dir im Namen des Heiligen, gesegnet er, gesprochen, aber du hast es nicht akzeptiert, wovor fliehst du jetzt? Was ist dir, Meer, dass du fliehst? (Ps 145,5) Es sprach zu ihm: ,Nicht vor dir, Sohn Amrams, fliehe ich; vielmehr (Ps 114,7f.): Vor dem Herrn erbebe, Erde, vor Jakobs Gott, der den Fels in einen Wasserteich wandelt, einen Kiesel zu Wasserquellen.“

Für den (W327) „traditionell“ vorgegebenen „Begriff des Wesens für das Verständnis von Joh 10,30“ führt Wengst Thomas von Aquin <786> an, „der den Satz ‚Ich und der Vater sind eins‘ sofort so erläutert: ‚nämlich in der Einheit des Wesens. Denn die Natur des Vaters und des Sohnes ist dieselbe‘.“ Unter den von Wengst angeführten modernen Autoren, die immer noch „die Aussage von der Präsenz Gottes in Jesus auf den Begriff des Wesens“ bringen, obwohl dieser „außerhalb griechischer Ontologie“ doch kaum „hilfreich sein kann“, gehe ich nur auf Beutler <787> ein, bei dem deutlich wird, wie „sehr hier die dogmatische Tradition und nicht eine nachvollziehbare Argumentation die Feder führt“:

„Auch wenn die Aussage von V. 30 von der Einheit von Vater und Sohn im Handeln ausgeht, muss sie doch als Aussage über die Einheit von Vater und Sohn im Sein verstanden werden. Vater und Sohn sind nicht ,einer‘, sondern ,eins`, aber damit dann doch im Wesen eins“. … Hier wird lediglich die eigene Überzeugung als die des Johannes behauptet.

Hartwig Thyen gibt (T497) Jesu Antwort auf die Frage nach seiner Messianität in den Versen 25-27 folgendermaßen wieder:

„Ich habe es euch (ja bereits) gesagt, und doch glaubt ihr nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, die zeugen für mich. Ihr aber glaubt darum nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört. Meine Schafe erhören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir nach“.

Dass er den Juden gegenüber „bisher noch nirgendwo explizit erklärt habe, daß er der Messias sei“, ist ihm zufolge ein (T498) „Scheinproblem“, da Jesus in seiner „Wiederaufnahme von Themen seiner Hirtenrede“ ja genau den Ort angibt,

an dem Jesus denen, die sich doch rühmen, die Schrift zu kennen, im Spiel mit Ez 34 unzweideutig gesagt hat, daß er der verheißene Messias und Gottes davidischer Knecht ist: „Und ich werde über sie einen einzigen Hirten bestellen, der sie weiden soll, meinen Knecht David, der soll sie weiden und ihr Hirte sein“ (Ez 34,23).

Nachträglich fällt Thyen hier noch ein Hinweis von Morris <788> zur Auslegung der Hirtenrede ein,

daß die ungewöhnliche Wendung: ho misthōtos kai ouk ōn poimēn {der Lohnhirte, der nicht Hirte ist} [10,12] wegen des Gebrauchs von ouk anstelle des mit dem Partizip üblichen an biblische Namen wie „Lo-ammi“ {Nicht-mein-Volk in Hosea 1,9 und 2,25} erinnere, so daß man wohl verstehen müsse, daß ein ,Mietling‘ ein „Nicht-Hirte“ ist.

Von daher sollte den Gegnern Jesu von den Werken Jesu „doch wenigstens die Heilung des Blindgeborenen noch im Gedächtnis sein, den sie wie ungetreue ‚Nicht-Hirten‘ und bloße ‚Mietlinge‘ gerade aus seiner sicheren Hürde ausgestoßen hatten“:

lm Gegensatz also zu dem Verhalten dieser „Nicht-Hirten“ hatte Jesus mit seinem Tun an dem Blindgeborenen Gottes eigenes Hirtenwerk wahrgenommen: „Das Verlorene will ich suchen, das Versprengte zurückführen, das Gebrochene verbinden und das Kranke stärken“ (Ez 34,16). Wieder begegnet hier das Paradox, daß sie nicht glauben und nicht hören können, weil sie nicht seine Schafe sind, und daß sie sich durch ihr Nicht-Glauben- und Nicht-Hören-Wollen doch zugleich erst zu „Nicht-Schafen“ machen, so daß auch hier gilt: „Wenn ihr doch wenigstens blind wäret, dann hättet ihr keine Sünde. Weil ihr nun aber zu sehen behauptet, bleibt eure Sünde“ (9,41).

Die folgenden Verse 28-30 sind nach Thyen so wiederzugeben:

„Und ich gebe ihnen das ewige Leben, und in Ewigkeit sollen sie niemals (ou mē) zugrunde gehen, denn niemand wird sie meiner Hand je entreißen (harpazein in V. 12 vom ,Wolf‘ dem ,Mietling‘ gegenüber gesagt). Was mein Vater mir gegeben hat, ist größer als alles; und niemand vermag (es) der Hand meines Vaters zu entreißen. Ich und der Vater sind Eines“.

Dazu beschäftigt sich Thyen zunächst ausführlich mit der breiten Erörterung der textkritischen Probleme der ersten Hälfte von Vers 29 durch Barrett, auf die Wengst nur ganz kurz eingegangen war. Barrett [380f.] findet in den Handschriften insgesamt fünf verschiedene Lesarten, von denen ihm diejenige, die mit „mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alle anderen“, zu übersetzen wäre, am unkompliziertesten und sinnvollsten erscheint, während er es bei der Lesart: „was er mir gegeben hat, ist größer als alles“, schwierig findet, „dem Satz einen Sinn zu geben“. Er meint nämlich: „Der Kontext läßt an die Schafe denken, aber von diesen kann nicht gesagt werden, sie seien größer als alle“ [381]. Thyen sieht das etwas anders (T499):

Uns scheint der Fall jedoch unkomplizierter. Denn zum einen sind es natürlich nicht einfach die Schafe, die als solche und von Haus aus größer wären als alles andere, sondern weil der Vater sie ihm anvertraut hat (vgl. 6,39; 17,2), sind sie das kostbarste Gut des Sohnes als ihres ,guten Hirten‘. Und zum anderen ist ho patēr {der Vater} das Subjekt des Relativsatzes, das diesem hier „echt johanneisch“ vorangestellt ist, und kein Nominativus pendens {ein außerhalb des Satzverbandes hängendes und im Nominativ stehendes Satzglied} (Barrett). Der Sinn ist darum: „Was der Vater ihm gegeben hat und in folge dessen in der schützenden Hand Jesu ruht, ist eben dadurch größer als alles andere“… <789>

Diesem Gedanken gegenüber müsste nach Thyen „die bloße Deklaration, daß Gott größer als alle oder als alles sei“, als „allzu banal erscheinen“, anders übrigens als die Aussage in 14,28, die Jesus als der Christus auf sich selber bezieht, „hoti ho patēr meizōn mou estin {dass der Vater größer ist als ich}“. Genau das wiederum mag Thyen zufolge darin „seinen Ausdruck gefunden haben“, dass die futurische Aussage „niemand wird“ von 10,28 über das aus-der-Hand-Reißen der Schafe zur Aussage „niemand kann“ in 10,29 gesteigert wird:

Jedenfalls aber kommt in diesen beiden parallelen Sätzen unüberhörbar zur Sprache, daß Jesus dazu gesandt und bestellt ist, als der vom Vater „erweckte eine“ und gute Hirte dessen ureigenes Hirtenamt wahrzunehmen (Ez 34,11ff. 23ff). Insofern ist hier schon impliziert, was der folgende Satz als die Peripetie des gesamten Evangeliums (Wyller) nun aussprechen wird: egō kai ho patēr hen esmen {Ich und der Vater sind eins}. Dabei ist durch das Neutrum hen die Einheit der Verschiedenen ausgesagt und nicht etwa behauptet, daß der himmlische Gott und der irdische Mann Jesus als sein fleischgewordener logos einer und derselbe wären. … Diese Einheit der Verschiedenen – bei Paulus in der Metaphorik des Leibes und seiner Glieder ausgedrückt – gilt auch für die Relation der Jünger untereinander, für die Jesus den Vater bittet: „… Und die Herrlichkeit, die du mir gabst, die habe ich ihnen gegeben, damit sie Eines (hen) seien, so wie wir Eines sind“ (17,22).

Damit ist Thyen bei der Auslegung von Johannes 10,30 angelangt, dem Vers, den er als den zentralen Vers des Johannesevangeliums überhaupt ansieht. Bisher scheinen seine Aussagen durchaus denen von Wengst über eine funktionale Einheit des einmütigen Wirkens Jesu mit dem Vater zu entsprechen, sieht er doch sogar die Einheit der Jünger Jesu in Analogie zur Einheit Jesu mit dem Vater. Ja, indem er an Hoskyns <790> anknüpft, setzt sich Thyen sogar ausführlich mit dem „Grundfehler … der von den christlichen Apologeten seit dem zweiten Jahrhundert in guter Absicht aber mit unseligen Folgen vollzogenen Vermählung der biblischen Texte mit platonisch-stoischer Ontologie“ auseinander:

Daß diese Einheit des Sohnes mit dem Vater weder eine bloß moralische noch eine metaphysische und auch nicht eine solche ist, die als mystische beschrieben werden könnte, sondern daß allen derartigen Erklärungsversuchen gegenüber gilt: „Der Hintergrund der johanneischen Sprache und des johanneischen Denkens liegt in der früheren Überlieferung über das Wirken Jesu und, wie der Autor mit Bedacht feststellt, im Alten Testament“, hat Hoskyns klar herausgestellt.

Wie ist aber Hoskyns‘ treffende „negative Abgrenzung sowohl von einem moralischen, als auch von einem metaphysischen, mystischen oder mythologischen Verständnis des Eins-Seins Jesu und des Vaters“ zu präzisieren und positiv zu ergänzen? Worin besteht denn nun „die Einheit und isotēs {Gleichheit} Jesu und des Vaters“?

Die alten christlichen Apologeten (T500) hatten versucht, sich

durch den Nachweis der Vernünftigkeit des christlichen Glaubens gegen die heidnischen Vorwürfe, daß die christlichen Theologen doch nichts anderes als nur leere und neue Mythen verbreiteten, zur Wehr zu setzen. … Dabei bestand der Grundirrtum der Apologeten in ihrer Meinung, den Angriffen auf eben dem Feld widerstehen zu können, aus dem sie erwachsen waren, und sie mit eben dem Instrumentarium erfolgreich bekämpfen zu können, das ihre Widersacher ausgebildet hatten.

An dieser Stelle macht Thyen erneut auf die von J. Fischer (vgl. meine Anm. 507) „begründete Unterscheidung zwischen dem ‚transsubjektiven Bestimmtsein‘ aller Wirklichkeit durch ‚Texte‘ und der durch Regeln geleiteten ‚intersubjektiven Verständigung‘ aufmerksam“, mit der ich bereits zur Auslegung von Johannes 5,45-47 nicht sonderlich viel anfangen konnte:

Dabei haben wir gesehen, daß es gilt, „das christologische Dogma der Einheit von Menschheit und Gottheit Jesu“ – jenseits der verhängnisvollen Verstrickungen der christlichen Theologie in ontologische Aussagen über das ,Wesen‘ Gottes und des Gottmenschen Jesus Christus sowie über dessen vermeintliche ,Naturen‘, die Unmögliches beanspruchen, wenn sie intersubjektiv sagen wollen, was ,der Fall ist‘ – so zu interpretieren, „daß der, welcher als historischer Jesus im Zusammenhang unserer intersubjektiv erschlossenen Welt in Erscheinung getreten ist, zugleich der ist, dessen textgewordene Geschichte die Wirklichkeit im Ganzen auf transsubjektiver Ebene qualifiziert, was bedeutet, daß die Wirklichkeit im Ganzen von dieser seiner Geschichte her zu lesen ist. Christus ist Mensch, sofern er als historischer Jesus in den Zusammenhang unserer ,story‘ gehört, und er ist Gott, insofern wir, was die transsubjektive Bestimmtheit unserer Welt betrifft, in den Zusammenhang seiner ,story‘ gehören.“ [Fischer 171f].

Das Fazit, das Thyen daraus zieht, ist in meinen Augen alles andere als eine präzise Aussage über Jesu Einheit mit dem Vater ohne philosophisches Wortgeklingel:

Wenn Johannes Jesus als den fleischgewordenen logos, der im Anfang bei Gott war und ohne den kein Geschöpf geworden ist, in sein Evangelium einführt, so heißt das, daß der in den Texten der Bibel ,Schrift‘ gewordene Logos die ,transsubjektive Bestimmung‘ aller Wirklichkeit ist und als solche jeglicher ‚intersubjektiven Verständigung‘ der Menschen untereinander, über die Welt sowie über deren Natur und Geschichte als die Bedingung von deren Möglichkeit vorausgeht.

Bedauerlich ist, dass Thyen in seiner inhaltlichen Bestimmung der Einheit Jesu mit dem Vater – jedenfalls in diesem Zusammenhang – überhaupt nicht auf den Hintergrund „im Alten Testament“ eingeht, auf den Hoskyns mit Recht aufmerksam gemacht hat.

Diesen Zusammenhang mit den jüdischen Heiligen Schriften sucht Ton Veerkamp <791> aufzuweisen, indem er danach fragt, wie Jesus bzw. „die messianische Gemeinde“ zur Zeit des Johannes auf das Misstrauen ihrer jüdischen Gegner reagiert. Genügt es, wenn Jesus (Vers 25) erwidert: „Die Werke, die ich tue im Namen meines VATERS, die geben Zeugnis für mich“?

Auf der Ebene der Erzählung wirkt die Verweigerung, Jeschua zu vertrauen, unredlich. Aber ist auf der Ebene des Erzählers ein Hinweis auf Werke, die vor langer Zeit verrichtet wurden, die niemand nachprüfen kann und die nachweislich nichts an der Lage des Volkes geändert haben, vertrauenswürdig? Wir wollen unsere Rolle eines unparteiischen Auslegers nicht aufgeben. Man kann die Skepsis der judäischen Gegner des Johannes verstehen.

Auf dieser Basis begreift Veerkamp die Aussage in Vers 26 über ihren Unglauben, weil sie nicht zu seinen Schafen gehören, als gesunden Realismus:

So realistisch ist Johannes schon: Wer nicht dazu gehört, kann weder verstehen noch glauben, und erst recht nicht vertrauen.

Was Jesus in den Versen 27 bis 29 an Argumenten bringt, ist

nicht neu, wir kennen sie aus den großen Reden und Gesprächen der vorigen Kapitel. Sie werden jetzt in Zusammenhang des Gleichnisses über die Schafherde gebracht. „Leben der kommenden Weltzeit“ heißt in diesem Zusammenhang: „Niemand wird sie aus der Hand meines VATERS rauben.“ Sie sind in der messianischen Gemeinde sicher vor der Raubsucht Roms. Sie sind sicher „in der Hand des VATERS“.

Die „Begründung“ dafür steht Veerkamp zufolge in Vers 10,30:

„ICH und mein VATER, EINS sind wir“… Sein ist hier ein semitisches Sein, ein Geschehen, nicht eine Identitätsaussage. Der Satz bedeutet: Das Handeln des Schöpfers von Himmel und Erde, des Befreiers und des Bundesgenossen Israels, und das Handeln des Messias haben eine Richtung, ein Ziel: die Einheit Israels. Die Einheit von Herde und Hirten leitet sich nur aus diesem einheitlichen Handeln Gottes und seines Messias her. Von der Schrift her kann Johannes nicht anders ausgelegt werden.

Wie Wengst begreift Veerkamp also die Einheit des Messias Jesus mit dem VATER als eine funktionale Übereinstimmung des Handelns. Und aus dieser Einheit mit dem Gott Israels folgt das unmittelbare Interesse des Messias an der Sammlung und Befreiung ganz Israels. Wenn christliche Exegeten Zweifel äußern, ob das, was der VATER Jesus in dieser Hinsicht anvertraut hat, tatsächlich, wie Vers 29 sagt, größer ist als alles, dann haben sie keine Ahnung von der Einzigartigkeit und Unermesslichkeit der Liebe und Treue, die Gott mit seinem Volk Israel verbindet. In ihrer Eigenschaft als das Volk Israel sind Jesu Schafe also zwar nicht von sich aus, aber doch von der Erwählung durch den NAMEN her gegen Thyens Auffassung (T499) eben doch in gewisser Weise „von Haus aus größer … als alles andere“.

Johannes 10,31-33: Ein Steinigungsversuch, weil Jesus sich selbst „gottgleich“ oder „zu Gott“ macht

10,31 Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen.
10,32 Jesus antwortete ihnen:
Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater;
um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen?
10,33 Die Juden antworteten ihm:
Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht,
sondern um der Gotteslästerung willen
und weil du ein Mensch bist und machst dich selbst zu Gott.

[17. August 2022] Die Reaktion (W327) auf Jesu „Aussage vom einmütigen Zusammenwirken mit dem Vater“ besteht nach Wengst gemäß Vers 31 bei den „anwesenden Juden“ darin, dass sie „wiederum Steine auf[hoben], um ihn zu steinigen.“ Denn sie konnten Jesu „Anspruch … als Verletzung der Einzigkeit Gottes“ verstehen. Anders jedoch als in der entsprechenden Situation von 8,59 „kommt es hier noch einmal zum Gespräch – um dann schließlich doch an vergleichbarer Stelle zu enden.“

Während Jesus in seiner Reaktion auf den Steinigungsversuch erneut „auf seine Taten“ verweist, „die ‚vom Vater‘ ausgehen“, und seine Gegner fragt: „Um welcher von ihnen willen wollt ihr mich steinigen?“ (W327f.)

macht die Antwort „der Juden“, die der Sache nach den Vorwurf von 5,18 wiederholt, deutlich, wo der Anstoß liegt: „Für eine gute Tat wollen wir dich nicht steinigen, sondern für Lästerung, und zwar weil du, obwohl du ein Mensch bist, dich gottgleich machst.“

Dabei übersetzt Wengst (Anm. 595) das Wort theos, weil es „hier wie in 1,1 ohne Artikel“ steht, nicht einfach mit „zu Gott“, sondern „gottgleich“ (vgl. seine Auslegung von Johannes 1,1c).

Näher erläutert Wengst dazu (W328), dass es hier

um einen Anstoß geht, der auf der Ebene der Gemeinde des Evangelisten und ihrer Kontrahenten eine Rolle spielt. Auf der Zeitebene Jesu ist ein solcher Vorwurf nicht gut denkbar, wohl aber gegenüber der Verkündigung der nachösterlichen Gemeinde. Zur Debatte steht der von ihr für ihn erhobene hohe Anspruch – gleichgültig, was er Gutes getan haben mag -, und der wird als Gotteslästerung empfunden und gilt deshalb als unerträglich. Worin die Blasphemie besteht, erläutert die zweite Vershälfte: in der Vergötzung eines Menschen. … Es geht also um die Wahrung des ersten Gebots. Das will selbstverständlich auch der Evangelist mit dem Glauben an Jesus nicht verletzen, wie die gleich folgende Argumentation deutlich macht.

Nach Hartwig Thyen (T500) ist es in Vers 31

gewiß kein Zufall, daß die Juden, die Jesus in der Halle Salomos förmlich ,umzingelt‘ haben und ihn in die Enge treiben wollen, auf sein provozierendes Wort hin: „Ich und der Vater, wir beide (esmen), sind Eines“, erneut (vgl. 8,59) Steine ergreifen, um ihn zu steinigen. Denn das Wort, dessen „Wir“, das in dem esmen impliziert ist, hat allein in 14,23 eine gewisse Analogie. Abgesehen davon aber übertrifft es alles, „was in den anderen Schriften des NT über das Verhältnis zwischen Jesus und Gott gesagt wird“. <792>

Dazu möchte ich nachdrücklich daran erinnern, dass es Thyen bisher nicht gelungen ist, überzeugend zu verdeutlichen, worin die alle anderen neutestamentlichen Aussagen über Jesus und Gott übertreffende Bedeutung dieser Formulierung bestehen soll. In einer Wesenseinheit soll sie ja Thyen zufolge nicht bestehen. Aber worin besteht dann Jesu Einheit mit Gott auf der von ihm mit Fischer (siehe oben im vorigen Abschnitt) so bezeichneten transsubjektiven Ebene, wenn ihm eine rein funktionale Übereinstimmung des Wollens und Wirkens nicht weit genug reicht?

Jesu Reaktion auf den Steinigungsversuch (Vers 32) gibt Thyen folgendermaßen wieder:

„Viele gute Werke ,aus dem Vater‘ (Werke also, die ihren Ursprung in Gott haben) habe ich euch ,gezeigt‘ (d. i. vor euren Augen getan), wegen welches dieser Werke wollt ihr mich denn nun steinigen?“

Dabei erinnert Thyen zufolge die ungewöhnliche „Bezeichnung der ,Werke‘ Jesu als kala (schön oder herrlich)“ an die „Auszeichnung des Hirten als ho kalos {den guten, wörtlich: schönen} (10,11.14)“.

Darin (T501), dass die Wörter blasphēmia und blasphēmein {Gotteslästerung, lästern} bei Johannes nur „in unserer Szene“ vorkommen (Vers 33 und 36), sieht Thyen ein Indiz dafür, dass hier „ein intertextuelles Spiel mit Mk 14,55ff / Mt 26,59ff“ vorliegt, wo Jesus in der Verhandlung „vor dem Synhedrium“ mit genau diesen Worten Gotteslästerung vorgeworfen wird. Dagegen fehlt das „griechische Lexem blasphēmia“ im jüdischen „Gesetz über die Gotteslästerung … Lev 24,15f“, wo das hebräische naqav schem-jhwh {Antasten des Namens JHWHs} ins Griechische mit onomazein to onoma kyriou {den Namen des HERRN nennen} übersetzt wird.

Anders als Wengst verwahrt sich Thyen dagegen, das artikellose Wort theon als ein Adjektiv im Sinne von „gottgleich“ oder „göttlich“ zu verstehen, „denn ‚Göttlichkeit‘ ist schwerlich eine Eigenschaft des Menschen Jesus“. Auch er verweist dazu auf die Parallelstelle Johannes 1,1, wo in meinen Augen allerdings ein anderer Fall vorliegt. Wenn Johannes davon spricht, dass Jesus theos ist, dann meint er weder eine Wesensidentität mit Gott noch eine göttliche Eigenschaft des Menschen Jesus, sondern die vollkommene Ausgerichtetheit des Menschen Jesus auf den Gott Israels. Wenn Jesu Gegner in 10,33 ihm vorwerfen, er mache sich selbst theon, dann dürften sie durchaus meinen, dass er sich verwerflicherweise tatsächlich „zu Gott“ machen will. Das scheint Thyen insofern anders zu sehen, als sich Jesus in seinen Augen nicht zu Unrecht, sondern zu Recht mit Gott gleichsetzt:

Das Mißverständnis der Juden, die Jesus ,umringen‘, liegt hier wie in 5,18 darin, daß sie meinen, Jesus mache sich selbst zu etwas, was er doch von Ewigkeit her immer schon ist, nämlich isos tō theō {Gott gleich} (5,18) und, als der vom Vater, der freilich ,größer‘ ist als er, unterschiedene Sohn, gleichwohl theos (10,33; 1,1…).

Daher meint er auch nicht wie Jerome Neyrey <793> „im Blick auf 5,18 und 10,33“ sagen zu können:

„Hier wie dort führt eine wörtliche Auslegung der Worte Jesu zu der ironischen Situation, dass die Juden in ihrem Einwand formal gerechtfertigt sind, dass aber das, was sie sagen (wenn man es richtig versteht), genau die Wahrheit ist, die Johannes behaupten will“.

Nach Ton Veerkamp <794> hat der Evangelist mit seiner Formulierung „ICH und mein VATER, EINS sind wir“, zwar keineswegs die Absicht, Jesus in unzulässiger Weise mit Gott gleichzusetzen, sondern, wie oben gesagt, „das Handeln des Messias“ ganz und gar im Sinne eines „einheitlichen Handeln[s] Gottes und seines Messias“ zu begreifen:

Gleichzeitig wusste der Erzähler sehr genau, was er mit dieser Formulierung provoziert. Er wusste, dass die Judäer dies als „Antastung des NAMENS“ auffassen müssen. Er wusste es seit 5,18, seit der Reaktion auf die Heilung des Gelähmten am Schabbat. Steine sind die erwartete Antwort auf die Provokation.

In seiner Antwort betont Jesus erneut mit anderen Worten die Übereinstimmung seines Handelns mit dem Gott Israels, kann dadurch aber nicht den Verdacht ausräumen, er habe sich der Gotteslästerung schuldig gemacht:

Der gute Hirte verrichtet „gute Werke von meinem VATER her“. Dieser Ausdruck ist eine andere Form für die Einheit des Handelns von VATER und dem Messias. Weshalb die Aufregung? Die Einheit des Handelns ist tatsächlich so vollkommen, dass die Hörenden auf die Einheit des (griechischen) Seins, auf Wesenseinheit (homoousios wird es später heißen!) schließen mussten. Deswegen hegen sie den dringenden Verdacht, dass es hier um Blasphemie geht. Die Gegner unterstellen, dass Jeschua sich selbst zu Gott macht. Das wäre Blasphemie, eine besondere Form von Idolatrie, ebenfalls ein Kapitalverbrechen (Mischna Sanhedrin 7,6). In den Augen der Judäer ist die Verehrung Jeschuas in der messianischen Gemeinde Götzendienst, Blasphemie.

Auch Veerkamp (Anm. 339) weist darauf hin, dass in 3. Mose 24,10-12 das „Wort blasphēmia“ nicht vorkommt; das hebräische Wort naqav versteht er, Martin Buber folgend, im Sinne einer „Antastung des NAMENS“.

Eine solche Antastung des NAMENS durch den Messias Jesus findet nach Johannes aber eben deshalb nicht statt, weil Jesus genau diesen befreienden NAMEN Gottes in seinem ganzen Reden und Handeln vollkommen verkörpert. Da seine Gegner das nicht anerkennen können, müssen sie wiederum ihn – bzw. muss das rabbinische Judentum die messianische Gemeinde Jesu – der Antastung des NAMENS beschuldigen.

Johannes 10,34-36: Wenn die Schrift zu Israel sagt: „Götter seid ihr!“, dann ist erst recht der von Gott geheiligte Jesus Gottes Sohn

10,34 Jesus antwortete ihnen:
Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz (Psalm 82,6):
„Ich habe gesagt: Ihr seid Götter“?
10,35 Wenn jene „Götter“ genannt werden,
zu denen das Wort Gottes geschah
– und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden –,
10,36 wie sagt ihr dann zu dem,
den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat:
Du lästerst Gott –,
weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn?

[18. August 2022] Auf den Vorwurf der Gotteslästerung antwortet Jesus in Vers 34 Wengst zufolge (W328) unter Bezug „auf die Schrift als gemeinsame Basis, eingeleitet mit der Wendung: ‚Steht nicht in eurer Tora geschrieben?‘“, wobei die „Formulierung ‚eure Tora‘“ wie in 8,17 nicht bedeutet,

dass Jesus sich von ihr distanziere, bezeichnet er die herangezogene Stelle doch gleich anschließend als „Schrift“, die nicht aufgelöst werden kann. Da diese Stelle den Psalmen entnommen ist, bezeichnet „Tora“ hier die ganze Schrift. Zitiert wird die griechische Übersetzung von Ps 81,6: „Ich habe gesagt: Götter seid ihr.“ Sie entspricht genau dem hebräischen Text von Ps 82,6.

Verschiedene rabbinische Texte zieht Wengst heran, in denen „unter Verweis auf Ps 82,6 der Name ‚Gott‘ nicht nur auf die Person des Mose, sondern auf ganz Israel bezogen wird“, und zwar werden (W329) die „Israeliten … deshalb ‚Götter‘ und ‚Kinder des Höchsten‘ genannt, weil Gott seine Worte an sie gerichtet hat.“

Indem Jesus in Vers 35 daran mit der ersten „Hälfte eines Schlusses vom Leichten aufs Schwere“ anknüpft: „Wenn er jene Götter nannte, an die das Wort Gottes erging“, so wird, wie Kriener <795> „zu Recht“ herausstellt,

„die Bedeutung des johanneischen Jesus somit grundlegend auf derselben Ebene mit der Bedeutung Israels gesucht… Die Kategorien für das Verstehen werden in positiver Anknüpfung an Aussagen der Schrift und jüdisches Selbstverständnis gewonnen und nicht in der Entgegensetzung.“

Der Schluss, den Jesus daraus zieht, lautet nach Wengst wie folgt:

„Dürft ihr dann dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: ,Du lästerst‘, weil ich gesagt habe: Sohn Gottes bin ich?“ Wenn also schon alle Adressaten des Gotteswortes „Götter“ und „Söhne des Höchsten“ genannt werden, um wieviel weniger verdient dann Jesus aufgrund seines Anspruchs, Sohn Gottes zu sein, die Anklage der Lästerung, da er doch von Gott geheiligt und in die Welt gesandt worden ist!

Dabei kann die Formulierung „Söhne des Höchsten“ aus der zweiten Hälfte von Psalm 82,6 veranlasst haben, dass „jetzt für Jesus wieder der Titel ‚Sohn Gottes‘ gebraucht wird“ (W330):

Zugleich liegt ein Rückbezug auf den in V. 24 genannten Messiastitel vor, mit dem er im Rahmen der königlichen Messianologie – auch im Johannesevangelium (20,31) – zusammengehört. Schließlich wird hier deutlich, dass er funktional verstanden ist: von Gott angeredet und beauftragt sein.

Mit dem „Motiv der Heiligung“, das hier mit der Sendung Jesu verbunden wird, könnte der Evangelist nach Wengst

besonders an Jer 1,5 anknüpfen, wonach Gott Jeremia von Mutterleib an geheiligt und zum Propheten bestimmt hat. … Von daher versucht Johannes, den für Jesus erhobenen Anspruch verständlich zu machen: In dem, was Jesus sagt und tut, redet und handelt, begegnet Gott selbst. In dieser Weise des Zusammenwirkens mit Gott, des Wirkens Gottes durch ihn, gilt es, dass er „gottgleich“ und „Sohn Gottes“ ist. Es geht nicht um die Vergötzung eines Menschen, sondern um die Präsenz Gottes in Jesus. Die Möglichkeit, von Jesus zu reden, wie Johannes es hier tut, zeigt er also von der Schrift her. Aber ob der in seinem Schluss vom Leichten aufs Schwere für Jesus erhobene Anspruch, dass Gott selbst in ihm präsent sei, zu Recht besteht, lässt sich nicht beweisen, sondern kann nur im Vertrauen darauf, dass es so sei – also im Glauben – positiv beantwortet werden.

Auch Hartwig Thyen (T501) legt Wert darauf, dass Jesus in Vers 34 „sich mit seinem Reden von ‚eurem Gesetz‘ nicht etwa von den Juden und ihrer Bibel distanziert“, denn (T502) „Jesu Berufung auf die Schrift würde ja buchstäblich bodenlos, wenn er deren unaufhebbare Verbindlichkeit für beide Partner des Dialogs in irgendeiner Weise in Frage stellen wollte.“

Durch das Schriftzitat (T501) „Ich habe gesagt, ihr seid Götter“, wird Thyen zufolge (T502) wie

stets bei Johannes, so … auch hier … dessen gesamter Kontext, in diesem Fall also der ganze 82. Psalm (in der LXX, wonach Joh hier zitiert, Ps 81) ins Spiel gebracht: „Gott steht auf in der Versammlung der Götter (synagōgē theōn) / inmitten der Götter hält er Gericht. / Wie lange wollt ihr noch ungerecht richten / und der Frevler Partei ergreifen?/ Schafft Recht den Waisen und Armen! / Sprecht frei (dikaiōsate) die Niedrigen und Elenden! / Befreit die Bedürftigen und Bettler / und entreißt sie der Hand des Sünders. / Die haben weder Wissen noch Einsicht / sie wandeln dahin (diaporeuontai) in Finsternis / und machen die Fundamente der Erde wanken. / Ich habe gesagt: Ihr seid Götter (egō eipa theoi este) / und allesamt Söhne des Höchsten (kai hyioi hypsistō pantes). / Aber wie Menschen sollt ihr sterben / und wie einer der Fürsten zu Fall kommen. / Erhebe dich, Gott, und richte die Erde, / denn du bist der Alleinerbe aller Völker“ (V 1-8).

Wenn dieser „Psalm mit seiner Rede von einer (offenbar himmlischen) Götterversammlung auch polytheistischem Milieu entstammen“ mag, „so hat das Israel des zweiten Tempels den Psalm doch längst im Lichte seines Glaubens gedeutet, daß JHWH der einzige Gott und Herr der Welt ist“. Unter den verschiedenen „Deutungen der ‚Götter‘ des Psalms“ (T503) kann nach Neyrey nur diejenige Tradition „einen nennenswerten Beitrag zur Interpretation von Joh 10,28ff“ leisten, „die das Volk Israel durch die Gabe der Tora am Sinai in den Stand von ‚Göttern‘ versetzt sieht.“ Dazu sei nur ein „früher Midrasch“ zu 5. Mose 32,20 zitiert, den Neyrey <796> folgendermaßen wiedergibt:

„Du standest am Berg Sinai und sagtest: ,Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und gehorchen‘ (Ex 24,7), (woraufhin) ,Ich sagte: Ihr seid Götter‘ (Ps 82,6); als ihr aber zu dem (goldenen) Kalb sagtet: ,Das ist dein Gott, Israel‘ (Ex 32,4), da sagte ich zu dir: ,Trotzdem werdet ihr wie Menschen sterben‘ (Ps 82,7)“. All diese und weitere Belege zeigen deutlich, daß die Annahme der Tora und der Gehorsam ihr gegenüber „zu echter Heiligkeit führte, die in Unsterblichkeit resultierte, daher konnte Israel Gott genannt werden, weil es unsterblich war“.

Thyen ist davon überzeugt, dass „wir in Joh 10,31ff der frühsten bisher bekannten Spur dieser Tradition des Midrasch begegnen“, denn „die Schrift [nennt] nach Jesu Wort diejenigen ‚Götter und allzumal Söhne des Höchsten‘ …, an die das Wort Gottes erging“, womit niemand anders als „die Israeliten“ gemeint sind (T503f.),

die am Sinai die Tora empfingen und sich feierlich verpflichteten, sie zu halten. Wie einst Adam, den er „nach seinem Bilde“ geschaffen hatte, so wollte Gott seinem erwählten Volk durch seinen neuen Schöpfungsakt am Sinai ewiges Leben verleihen. Aber wie Adam dieses Leben für immer verlor, als er Gottes Gebot übertrat, so gilt auch von Israel, seit es mit der Anbetung des goldenen Stierbildes die Sünde zur Herrschaft brachte: „Doch sterben sollt ihr wie Menschen und zugrunde gehen, wie einer der Fürsten“.

Indem der Psalm „die Subjekte ,Götter‘ und ,allesamt Söhne des Höchsten‘ … als Synonyme“ nebeneinanderstellt (T504),

beansprucht Jesus, wenn er sagt: „Ich bin der Sohn Gottes“, nichts anderes als das, was ganz Israel sein sollte und sein könnte, wenn es nicht der Sünde Tür und Tor geöffnet hätte. Wir können darum Jesu Frage nun wohl so paraphrasieren: Wenn Gott selbst einst am Sinai eure Väter ,Götter‘ genannt und ihnen gottgleiche Unsterblichkeit verheißen hat, weil sie sein in Gestalt der Tora zu ihnen gekommenes Wort willig angenommen und zu halten versprochen hatten, wie könnt ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, behaupten: Du lästerst! Nur weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? Wie der Midrasch sieht Johannes die Prädikation: „Ihr seid Götter“ oder „Gottgleiche“ aufs engste mit Unsterblichkeit und Heiligkeit verknüpft und gebraucht den Psalm nicht nur aus äußerlichen Gründen als biblisches díctum probans {Hauptbeleg} für Jesu Anspruch, der Sohn Gottes zu sein.

Daher erblickt Thyen in den Versen 35-36 Thyen einen entscheidenden Beleg dafür, dass Jesus auf Grund seiner Heiligung durch den Vater sowohl sündlos ist als auch wie Gott selbst Herr über sein Leben ist, so dass er es hingeben und es wieder zurücknehmen kann:

Nicht Jesus selbst, sondern der Vater hat ihn geheiligt (hēgiasen) und in die Welt gesandt (V. 36), hina sōthē ho kosmos di‘ autou {damit die Welt durch ihn gerettet werde} (3,17). „Geheiligt“ heißt, daß er als der „Heilige Gottes“ (6,69) das Werk vollenden wird, das der Vater ihm aufgetragen hat; daß er die Wahrheit ist und Wahres sagt; daß er sündlos ist und ihn darum niemand einer Sünde überführen kann (8,46). Nicht erst nachträglich, wie jener Generation Israels am Sinai, ist ihm das Wort Gottes widerfahren (egeneto), sondern er ist dieses fleischgewordene Wort in Person, das „bei Gott“ war, noch ehe die Welt geschaffen wurde. Als der monogenēs tou patros {Einziggeborene des Vaters} (1,14) – und das heißt: als der, den allein der Glaubende als sein transsubjektives Bestimmtsein wahrzunehmen vermag – hat er, im Unterschied zu allen Menschen, das Leben „in sich selbst“ wie sein Vater (5,26). Und er will und wird seinen Schafen das ewige Leben geben. Als ihr ,guter Hirte‘ wird er sie bewahren, so daß sie keiner jemals seiner Hand entreißen wird (10,28).

Bedauerlich ist, dass ein wichtiger Gedanke, den Thyen dem Midrasch entnommen haben könnte, im Zuge seiner Übertragung auf Jesus verlorengeht, nämlich dass Jesus der monogenēs tou patros, der „Einziggezeugte des VATERS“, nicht anders ist als in seiner Verkörperung des Erstgeborenen Sohnes Gottes, nämlich Israels. Allzu schnell meint Thyen Jesus von Israel ablösen und Jesu rettendes Handeln auf den kosmos im Sinne der gesamten Menschenwelt beziehen zu können, ohne zu bedenken, dass Johannes keine generelle Völkermission kennt und einzelne Griechen, die zur Sammlung ganz Israels hinzustoßen wollen, nur ganz am Rande erwähnt. Dennoch ist Thyen dafür zu danken, dass er auf die klare Verwurzelung des Johannes in den jüdischen Schriften aufmerksam macht.

Ton Veerkamp <797> taucht nicht so tief wie Wengst und Thyen in die rabbinischen Parallelen der Verse 34-36 ein. Er denkt mehr über die Aussichtslosigkeit von Auseinandersetzungen nach, die an Hand von Bibelzitaten geführt werden:

Jeschua/Johannes schlägt den Gegnern das Argument mit einem Schriftzitat aus den Händen. Solche Streitgespräche sind oft Zitatenschlachten, nicht nur zwischen Juden und Christen oder zwischen verschiedenen Sorten von Christen, auch bei Marxisten! Solche Gespräche haben noch nie zur Verständigung geführt. Dennoch lohnt es sich, den Psalm 82, aus dem das Zitat „Götter seid ihr“ stammt, anzuhören. Ja, „Götter sind sie, sie sind sie wie der Höchste (bene ˁeljon) / aber wie Menschheit (ke-ˀadam) müssen sie sterben.“ An sich kann man einen Menschen also „Gott“ oder „Sohn Gottes (des Höchsten)“ nennen, zumindest solange die Schrift („eure Tora“) noch Geltung hat.

Eben diese Geltung der Tora scheint aber mehr und mehr in den messianischen Gemeinden zum Problem zu werden. Wird die Gottessohnschaft Jesu noch, wie es Veerkamp für Johannes eigentlich annimmt, von den jüdischen Schriften her begriffen, toragemäß im Sinne der Verkörperung des Willens und Wirkens des befreienden NAMENS, oder übersteigt die anbetende Verehrung Jesu bereits alles, was Juden tolerieren können? Dazu setzt Veerkamp seine eben von mir unterbrochenen Ausführungen fort:

Nur ist das nicht der Punkt. Der Punkt ist die Praxis des Kultes um Jeschua in den messianischen Gemeinden, ein Kult, der weit über das hinausgeht, was bei den Judäern Mosche an Verehrung zuteil wird. Auch wir, die wir nicht wie üblich „die Juden“ wegen ihres Unglaubens verurteilen, sondern um Verständnis für beide Seiten bemüht sind, tun uns schwer, den unüberbrückbaren Graben zwischen beiden zu sehen.

In diesem Zusammenhang schiebt Ton Veerkamp <798> in seine Auslegung einen ausführlichen Exkurs unter dem Titel „Gesetzlichkeit“ über das johanneische Verständnis der jüdischen Tora ein. Dazu setzt er bei der Kritik des Gesetzes an, die der Befreiungstheologe Franz Hinkelammert <799> aus Costa Rica in seinem Buch über das Johannesevangelium unter dem Titel: Der Schrei des Subjektes geübt hat. Veerkamp zufolge ist dieses Buch „ein Versuch der Aneignung eines Grundtextes des Christentums in einem Teil der Welt, der zwar zutiefst durch dieses Christentum geprägt ist, aber nicht zum ‚Westen‘ gehört.“ Zunächst beschreibt Veerkamp allgemein das Vorgehen lateianamerikanischer Befreiungstheologie:

Das Christentum diente in der Regel dazu, den Menschen Gehorsam gegenüber den jeweils herrschenden politischen, sozialen, ökonomischen Systemen einzuprägen. Die Menschen sollten sich als Objekte der Gesetzmäßigkeit solcher herrschenden Systeme begreifen und sich als solche akzeptieren. Die Theologie der Befreiung in Lateinamerika war und ist der Versuch, die ideologische Unterwerfung der Menschen unter die Gesetze der Systeme mit dem gleichen Instrument zu unterlaufen, mit dem die Unterwerfung ideologisch organisiert wurde, mit der Bibel. So heterogen die Theologie der Befreiung auch sein mag, so durchgängig ist sie subversive Lektüre der Bibel; sie ist eine Contralektüre. Vor diesem Hintergrund ist das Buch Hinkelammerts zu sehen.

Gegen die Behandlung der Menschen als Objekte erheben die Menschen ihre Stimme; das ist der Schrei des Subjektes. Das Johannesevangelium ist nach Hinkelammert der Aufschrei der Menschen gegen ein Gesetz, das sie zu Objekten macht. Sein Versuch ist daher nicht nur legitim, er ist notwendig.

Konkret zu Johannes 10,22-39 schreibt Veerkamp nun, dass dieser Abschnitt für die Argumentation Hinkelammerts von zentraler Bedeutung ist:

In ihm geht es um die Göttlichkeit der Menschen. Jesus habe, so Hinkelammert, den Anspruch auf Göttlichkeit nicht nur als eigenes Prärogativ empfunden, vielmehr haben alle Menschen dieses Prärogativ: „Ihr seid Götter!“ Die Menschen stehen über dem Gesetz, so wie der Menschensohn über dem Gesetz des Schabbat steht: „Dies ist der Sinn der Gesetzeskritik und des Verständnisses der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird“ [133].

Für Hinkelammert macht Johannes das deutlich, indem seine Erzählung nicht die Darstellung des individuellen Heils durch die Heilsgeschichte Jesu ist, sondern Darstellung eines „Welttheaters“. In der Tat: kein anderer messianischer Erzähler und Schriftsteller hat Rom so sehr zu seinem Thema gemacht wie Johannes. Der Untertitel des Buches Hinkelammerts lautet: „Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung“. Hinkelammert zeigt, dass die Priester, die den Tod Jeschuas wollen und herbeiführen, nicht aus irrationaler Bosheit handeln, sondern höchst rational. Die Gesetze des Römischen Reiches erfordern seitens der Akteure eine Rationalität, der sie nicht entkommen können. Was ist der Tod eines Menschen gegen das Fortbestehen eines Gemeinwesens [vgl. S. 78ff.]? Und so liest er das Evangelium gegen die Rationalität eines globalen Systems, das gerade auf seinem Kontinent seine tödliche Wirkung entfaltet.

Obwohl Veerkamp den politischen Hintergrund des Johannesevangeliums nicht anders beschreiben würde als Hinkelammert, geht er doch in der Auslegung dessen, was unter der Tora zu verstehen ist, ganz „andere Wege“:

Uns geht es darum, deutlich zu machen, dass die Tora mehr als „Gesetz“ ist. Die ganze Tora, alle fünf „Bücher Mose“, ist eine große Befreiungserzählung, und die Gesetze fungieren innerhalb – und nur innerhalb – dieser Befreiungserzählung. Dass die Peruschim (Pharisäer) gegen den Messias des Johannesevangeliums auf die Tora bestehen, ist kein verbiesterter Traditionalismus; sie wollen vielmehr, dass die Vision von Autonomie und Egalität erhalten bleibt, auch um den Preis weitgehender Kompromisse. Wir müssen akzeptieren, dass das Gesetz Disziplin der Freiheit ist.

Hier schlägt das Herz des biblischen Theologen Ton Veerkamp, von hier aus ist seine ganz Johannes-Auslegung zu begreifen. Und so, wie er eben verdeutlicht hat, aus welcher verständlichen Zielsetzung heraus die Haltung des rabbinischen Judentums gegenüber dem entstehenden Christentum zu begreifen ist, sieht er auf der anderen Seite ebenso verständliche Motive in der Zielsetzung dieser zunächst noch innerjüdischen messianischen Jesus-Bewegung, die an der grundsätzlichen Geltung der Tora ebenso hartnäckig festhält wie ihre Gegner:

Der Vorwurf der Messianisten war, dass das, was einmal als Disziplin der Freiheit unter den Bedingungen der Autonomie funktionieren konnte, unter den globalen Verhältnissen des Römischen Reiches nicht mehr funktionieren kann, sondern zum Gesetz im Sinne Hinkelammerts wird. Sie würde dann Rückzug in traditionalistische Nischen bedeuten. Jeder Kompromiss mit Rom bedeute das Ende der Tora als Disziplin der Freiheit. Sie hätte dann keine gesellschaftliche Relevanz mehr.

Für die Messianisten war nicht das andere Leben in einer bösen Welt, sondern ein Leben in einer anderen Welt die Lösung. Leben in der anderen, irdischen Welt: Das ist die ursprüngliche Bedeutung dessen, was in christlichen Kreisen „ewiges Leben“ heißt. Das ist die ewige Debatte zwischen Sein (das Beste daraus machen) und Sollen (die bessere Welt). Die letzte Gestalt dieser Debatte war die erbitterte Zwietracht in der Arbeiterbewegung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten.

Wir sind daher bei unserer Deutung der Position der Gegner zögerlicher als Hinkelammert, aber sein Anliegen (Schrei des Subjekts nach Humanität) ist auch unser Anliegen (das Ziel ist das Leben der kommenden Weltzeit). Die bessere, gar die kommende Welt der Messianisten kam nicht. Die Sicherung der Nischen hat das Leben der Juden nicht wirklich sicher gemacht.

Dieser ernüchternden Analyse fügt Veerkamp den Versuch einer Erklärung des schon bald entstehenden und bis heute nicht völlig überwundenen christlichen Antijudaismus hinzu:

Der Antijudaismus der Nachkommen der Messianisten, der Christen, hat seine tiefste Wurzel im Gefühl, dass die Ekklesia {herausgerufene Gemeinde, Kirche} sich der Welt noch gründlicher anpasste, als die Synagoge es je getan hat. Die Juden provozierten durch ihre schiere Existenz das schlechte Gewissen des Messianismus in den Christen. Gerade weil das alles fast immer Gefühl war, konnte es so verheerend wirken.

Um diesen Antijudaismus überwinden zu können, hält Veerkamp es für notwendig, sich vernünftig auch mit dem auseinanderzusetzen, was Christen abfällig als „Gesetzlichkeit“ bezeichnen. Bei diesem Versuch leistet Hinkelammerts Buch Veerkamp zufolge trotz der an ihm zu übenden Kritik einen wertvollen Dienst:

Rationale Auseinandersetzung, also das Zugeständnis, dass die Position der Gegner – ihre Gesetzlichkeit – rational begründbar war und ist, holt die Gegnerschaft aus dem Bereich des Unbewussten und bringt sie ans kühle Licht der Vernunft. Für die Effektivität der Toleranz ist die Vernunft absolute Voraussetzung. Das Buch Franz Hinkelammerts ist der Versuch, Gesetzlichkeit und die Polemik des Johannesevangeliums politisch zu begreifen. Unsere Deutung ist als Ergänzung und Präzisierung zu sehen.

Johannes 10,37-39: Vergeblicher Aufruf Jesu an die Gegner, seinen Werken zu vertrauen

10,37 Tue ich nicht die Werke meines Vaters,
so glaubt mir nicht;
10,38 tue ich sie aber,
so glaubt doch den Werken,
wenn ihr mir nicht glauben wollt,
auf dass ihr erkennt und wisst,
dass der Vater in mir ist und ich im Vater.
10,39 Da suchten sie abermals, ihn zu ergreifen.
Aber er entging ihren Händen.

Noch einmal verweist Jesus Klaus Wengst zufolge (W330) in Vers 37-38 wie schon in Vers 25 auf sein „Tun“ als „Kriterium seiner Glaubwürdigkeit“ (W330f.):

„Wenn ich nicht die Taten meines Vaters vollbringe, glaubt mir nicht! Wenn ich sie aber vollbringe – auch wenn ihr mir nicht glaubt -, glaubt den Taten!“ … Johannes hofft, an dem, was Jesus tut, werde evident, dass es sich um „Taten des Vaters“ handelt: „damit ihr erkennt und wisst, dass bei mir der Vater ist und ich beim Vater bin.“ Damit wird in anderer Form die Aussage von V. 30 wieder aufgenommen. So wenig wie dort eine Wesensidentität von Gott und Jesus behauptet wurde, geht es hier um die Beschreibung mystischen Einsseins. Dagegen sprechen die vorangehenden Ausführungen über die Taten. Gott hat seinen Ort so bei Jesus, dass er in dessen Reden, Handeln und Erleiden zum Zuge kommt. Und indem das geschieht, hat Jesus seinen Ort bei Gott.

Dazu verweist Wengst (W331) auf einen „möglichen biblischen Hintergrund“ in den „Stellen, die vom Einwohnen Gottes inmitten seines Volkes Israel sprechen (Ex 25,8; Lev 26,11; Ez 37,27)“ und in der rabbinischen Tradition so ausgelegt werden:

Gott hat seinen Ort in Israel so, dass er in einem seiner Heiligkeit entsprechenden Handeln Israels zum Zuge kommt. … Indem Israel in Entsprechung zum heiligen Gott handelt und also Recht und Gerechtigkeit hält, lebt es in der Gegenwart Gottes, hat es seinen Ort bei Gott. So kommt es in der jüdischen Tradition zu den Aussagen über die enge Partnerschaft zwischen Gott und Israel, die bis zu gegenseitiger Abhängigkeit gehen.

An dieser Stelle ist „die Rede Jesu der Sache nach wieder da angekommen …, wo sie in V. 30 schon einmal war“, so dass seine Gegner gemäß Vers 39 nun auch wieder wie in Vers 31 reagieren:

„Da wollten sie ihn wiederum festnehmen, aber er entkam aus ihrer Hand.“ Da „seine Stunde noch nicht gekommen ist“, kommt es auch noch nicht zur Festnahme (vgl. 7,30.44; 8,20.59).

Nach Hartwig Thyen (T504) weist Jesu Wort über die Werke des Vaters in Vers 37 „noch einmal zurück auf das sēmeion {Zeichen} der Heilung des Blindgeborenen, an der sich dieser Versuch, Jesus ,den Prozeß zu machen‘, ja entzündet hatte.“ Dessen Heilung sollte ja die „Werke Gottes an ihm offenbar werden“ lassen:

Damit setzt er das ewige Rätsel der Frage der Theodizee nach dem „Warum“ der Übel und den vermeintlich von jedermann erkennbaren Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen in Epoche {= Zurückhaltung, er hält sich mit einem Urteil zurück}, um statt dessen von dem göttlichen telos {Ziel} allen Geschehens zu sprechen und fortzufahren: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der nıich gesandt hat, solange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann“ (9,4, s. o. z. St.).

Indem Thyen (T505) Jesu „Wort, daß er im Vater und der Vater in ihm sei (V. 38)“, als für seine jüdischen Gegner ebenso provokant einschätzt wie Vers 31: „Ich und der Vater sind Eines“, scheint er die von ihm wörtlich mit „in mir“ und „im Vater“ übersetzten Formulierungen en emoi und en tō patri anders als Wengst nicht im Sinne eines auf das übereinstimmende Handeln bezogene Sein des Vater beim Sohn und umgekehrt zu verstehen, sondern doch eher im Sinne eines fast mystischen Ineinander-Seins von Vater und Sohn. Zur entsprechenden Reaktion der Kontrahenten schreibt er:

„Da versuchten sie erneut, ihn festzunehmen (auton piasai) – wohl um ihre Absicht, ihn zu steinigen, jetzt in die Tat umzusetzen – doch er entrann ihren Händen“. Der implizite Leser ,weiß‘ natürlich, daß damit nicht eine Flucht Jesu vor seinen übermächtigen Feinden beschrieben ist, sondern deren Unvermögen, ihn festzuhalten. Denn erst wenn „seine Stunde gekommen ist“, wird er sich mit seinem unüberhörbaren und sie zu Boden schmetternden Wort egō eimi freiwillig in „ihre Hände“ begeben (18,2ff…). Ganz ähnlich drückt Lukas die Ohnmacht der Gegner Jesu aus, wenn er nach deren dramatischen Versuch, Jesus zu töten, erklärt: autos de dielthōn dia mesou autōn eporeueto {aber er ging mitten durch sie hinweg} (4,30).

Nach Ton Veerkamp <800> sind Jesu Worte in 37-38 noch einmal ein Versuch, die Diskussion weg von seiner Person zu lenken und um Verständnis für seine Ziele zu werben:

Jeschua wendet aber das Gespräch in die andere Richtung, indem er sagt, dass die Judäer den Werken vertrauen sollen, wenn sie schon ihm selber nicht vertrauen. Das Ziel, die Aufrichtung und die Einheit Israels, stammt aus dem Auftrag, der Sendung, des VATERS. Das sollten auch sie wollen. Die Heilung des Gelähmten und des Blindgeborenen, die Ernährung der Fünftausend: diese Werke dienen der Belebung Israels. Warum können sie nicht zumindest diesen Werken vertrauen?

Hier unternimmt Veerkamp einen Versuch, zu erklären, warum „der Graben“ an diesem Punkt der Diskussion „unüberbrückbar“ wird und warum alles, „was die Kontrahenten sagen und tun“, ihn noch „vertieft“. Er vergleicht die hier geschilderte Diskussion mit einer Verhandlung des Hohen Rats gegen Petrus und die anderen Apostel, die nach Lukas in der Apostelgeschichte 5,27-42 ganz anders ausging:

Rabbi Gamaliel … riet seinen Leuten, gelassen zu bleiben. Entweder sei die Strategie (boulē) oder die Praxis (ergon) der Messianisten rein menschlich; dann lösen sie sich von selber auf {5,38}; oder sie ist aus Gott, dann könne man dagegen nichts unternehmen… {5,39}. Eine solche Gelassenheit bietet sich an, wenn der Gegner Lukas heißt.

Aus dem Zusammenhang wird nicht klar, worin Veerkamp den Unterschied zwischen Lukas und Johannes sieht. Vermutlich macht er ihn daran fest, dass Lukas in seinem Evangelium alle angeblichen Sabbatübertretungen Jesu unter Berufung auf die jüdische Schrift und Tradition rechtfertigt, während Johannes ausdrücklich betont (5,17), dass der Messias Jesus genau wie Gott selbst das Recht und die Pflicht hat, am Sabbat zu wirken. Einem solchen Messiasanspruch gegenüber ist eine Gelassenheit wie die des lukanischen Gamaliel seitens der johanneischen Gegner Jesu nicht möglich. Sie können nicht anders, als nochmals auf seine Verhaftung hinzuwirken (Vers 39a):

Aber wenn der Gegner Johannes heißt? Eine Praxis, die den Zaun um die Tora (den Schabbat) abreißt … {vgl. die Auslegung von Johannes 9,24-34}, konnte nie eine Praxis von Gott her (ergon ek tou theou) sein.

Für uns scheint das alles albern, warum machen die Juden so einen Lärm um ihren Schabbat? Außerdem hat der „Sohn Gottes“ wohl das Recht, am Schabbat zu tun, was er für richtig hält. Diese christentümliche Haltung den Gegnern Jeschuas gegenüber ist nicht nur unfair, sie ist, wenn sie in „wissenschaftlichen“ Kommentaren auftritt, sachlich falsch. Für die Judäer damals war der Zaun um die Tora eine Frage von Leben und Tod.

Deswegen kann man den Konflikt „tragisch“ nennen, obwohl Tragik kein Merkmal der Schrift, sondern der hellenistischen Kultur ist, tragisch deswegen, weil alles, was die Kontrahenten sagen und tun, den Gegensatz unheilbar macht. Die Judäer konnten nach ihrem Selbstverständnis nichts anderes tun als Jeschua zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Immerhin ein Fortschritt gegenüber der Selbstjustiz von 10,31.

Mit der Bemerkung in Vers 39b, dass sich Jesus „seiner Verhaftung [entzog]“, beendet Johannes die unerquickliche Szene einer völlig verfahrenen Auseinandersetzung.

Johannes 10,40-42: Jesus findet dort Vertrauen, wo Johannes getauft hatte

10,40 Und er ging wieder fort auf die andere Seite des Jordans
an den Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte, und blieb dort.
10,41 Und viele kamen zu ihm und sprachen:
Johannes hat zwar kein Zeichen getan;
aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das ist wahr.
10,42 Und viele dort glaubten an ihn.

[19. August 2022] Dem Schluss des Kapitels 10 in den Versen 40-42 widmet Klaus Wengst (W331) nur wenige Zeilen:

Danach lässt der Evangelist Jesus einen weiten Rückzug vornehmen: „Und er ging wiederum weg über den Jordan hinüber an den Ort, wo Johannes zuerst getauft hatte, und blieb dort.“ In 1,28 war dieser Ort als „Betanien“ (= Batanäa) benannt worden. Als Ort des ersten Taufens des Johannes ist diese Landschaft nach der Darstellung des Johannesevangeliums zugleich der Ort des ersten Auftretens Jesu.

Dort wird Jesus zwar „nicht als handelnd dar[ge]stellt“, aber es wird „doch von einer Wirkung seiner Anwesenheit“ berichtet:

„Viele kamen zu ihm und sagten: ,Johannes hat zwar kein einziges Zeichen getan; aber alles, was Johannes über diesen gesagt hat, war verlässlich.‘ Und viele kamen dort zum Glauben an ihn.“

Zur Bedeutung dieses Abschnitts, der den Übergang zwischen der Auseinandersetzung mit Jesu Gegnern und der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus bildet, beschränkt sich Wengst darauf, vier Exegeten <801> zu zitieren. Barrett schreibt zu diesem Übergang, dass nach der Rückkehr Jesu „zu dem Ort …, „an welchem sein Wirken begann“ (Anm. 607), die „nächsten beiden Kapitel … die Passion ein[leiten] und … das Wirken Jesu als Ganzes zusammen[fassen].“ Brodie stellt fest (W331f.):

„Während Jesus jenseits des Jordans bleibt, begegnet ihm genau das, wonach er bei der Konfrontation an Chanukka gefragt hatte und was nicht eingetroffen war: Menschen, die glauben aufgrund von Wort und Zeichen (Werk).“

Dazu schreibt Wengst, indem er sich auf Frey bezieht (W332):

Diese Menschen beteuern als „verlässlich“, als „wahr“, was Johannes über Jesus gesagt hat, womit für die das Evangelium Lesenden und Hörenden vor allem das zu Beginn von ihm Bezeugte in Erinnerung gerufen wird: „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ (1,29).

Die Art, wie an Johannes erinnert wird, verdeutlicht Wengst mit einem Zitat von Zimmermann:

Dieses „Zeugnis des Johannes wird nicht wiederholt, vielmehr wird sein Zeugnis bezeugt. Und das geschieht nicht durch den Mund des Evangelisten, sondern durch den Mund derer, die Jesus folgten“. Sie übernehmen „die Rolle des Zeugen“; so führt das Zeugnis des Johannes zur „Gemeinde der Zeugen“.

Dazu bemerkt Wengst (Anm. 610):

Dass der Evangelist in den hier am ersten Taufort des Johannes dargestellten Menschen „die Gemeinde der Zeugen“ abgebildet sieht, ist umso einleuchtender, wenn es sich bei dieser Gegend um den Entstehungsort des Johannesevangeliums handelt.

Hartwig Thyen (T505) sieht zwar die Verse 40-42 „dadurch aufs engste mit 10,22-39 verbunden …, daß Jesus nicht erneut namentlich genannt wird, sondern in dem Verbum apēlthen {er ging weg} nur als ‚er‘ und danach in dem Demonstrativum als ‚dieser‘ erscheint“, und er sieht in ihnen auch „die Brücke für Jesu Weg zum Grab des ‚Freundes‘ Lazarus im folgenden Kapitel“, aber trotzdem behandelt er doch

diese kurze Passage wegen des gewichtigen Ortswechsels als eine Szene eigenen Rechtes. Wenn Jesus sich hier angesichts der seit Joh 7 ständig eskalierten Verhaftungs- und gar Steinigungs-Drohungen aus dem feindlichen Judäa auf peräisches Gebiet in Transjordanien zurückzieht, und sich an den Ort begibt, wo mit Johannes und seiner Wassertaufe sein irdischer Weg seinen Anfang genommen hatte, so schließt sich damit absichtsvoll ein erster Kreis.

Wie damals in diesem

peräischen ,Bethanien‘ …, auf die martyria {das Zeugnis} des Johannes hin, die ersten beiden Jünger zu Jesus kamen, seine ,Bleibe‘ sahen, bei ihm ,blieben‘ und dann mit den anderen im galiläischen Kana seine Herrlichkeit sahen und an ihn glaubten (2,11), so kommen hier nun viele zu ihm und erklären: „Johannes hat zwar kein ,Zeichen‘ getan, aber alles, was Johannes über diesen gesagt hat, das war wahr“.

Nach Thyen (T506) rufen die auf das Zeugnis des Johannes hin an Jesus Glaubenden „mit dem im Tempus der Vergangenheit gesagten alēthē ēn {es war wahr} … zugleich seinen Tod in Erinnerung und errichten so dem unerschrockenen Bekenner nahe am Ort seines Martyriums gleichsam ein Epitaph.“

In der Bemerkung, Johannes „habe kein Zeichen getan“, sieht Thyen unter Berufung auf Hoskyns <802> „keine Polemik gegen den Täufer; die vielen waren wahrscheinlich seine Jünger, die Jesus die Treue gelobten und damit anerkannten, dass Johannes ein wahrer Prophet war.“ Da nach Thyen „der Prophet wie Mose die ,Zeichen‘, die Mose getan hat, auch tun wird, ja größere als jene wird er tun“, bestätigen „die Vielen“ mit ihrer Erklärung:

„Johannes hat zwar keine Zeichen getan, doch alles, was Johannes über diesen gesagt hat, war wahr“, … daß Johannes als ein anthrōpos apelstalmenos para theou {von Gott gesandter Mensch} (1,6) zwar nicht „der Prophet wie Mose“ war, daß er aber als ein rechter Prophet im ,Namen JHWHs‘ die in Jesus wahr gewordene Wahrheit bezeugt hat, hina pantes pisteusōsin di‘ autou {damit alle an ihn glauben} (1,7).

Wie bereits gesagt (T507), bildet nach Thyen Johannes 10,40-42 den Abschluss der „großen Ringkomposition“ im von ihm so genannten „Buch des Zeugnisses“, indem hier die „Wahrheit der martyria des von Gott als Zeuge Jesu gesandten Johannes durch die ‚Vielen‘“ eindrucksvoll bestätigt wird. So nennt er dieses erste Buch, weil außer Johannes auch der Vater durch „die Zeichen, Worte und Werke Jesu“ als Zeuge für ihn eintritt.

Dass in „Joh 11 mit dem Sterben und der Auferweckung des Lazarus“ eine weitere „Ringkomposition“ beginnen soll, die „mit dem Sterben und Auferstehen Jesu (18-20) beschlossen wird“ und von Thyen das „Buch der Herrlichkeit Jesu“ genannt wird, leuchtet mir insofern nicht ein, da die Auferweckung des Lazarus ebenfalls ein Werk und Zeichen Jesu darstellt und nach der Proklamation Jesu zum König durch die Volksmenge in Jerusalem auf Jesu Wirken zurückgeblickt wird, bevor in 13,1 Jesus erkennt, dass seine Stunde des Aufsteigens zum VATER gekommen ist.

Auch nach Ton Veerkamp <803> ist die

kurze Notiz 10,40ff. … mehr als ein redaktioneller Abschluss. Die Kommentatoren zerbrechen sich regelmäßig den Kopf darüber, wo Bethanien liegt, ob es mehrere Bethanien gibt. Das hat eine alte Tradition. Hersteller sehr alter Handschriften meinten, Bethanien liege in Judäa, in der Nähe Jerusalems, und deswegen gaben sie dem Taufort andere Namen, Betharaba oder Bethabara. Bei der Auslegung geht es aber nicht in erster Linie um die genaue Geographie, sondern um die Funktion des Ortsnamens in der Erzählung.

Veerkamp selbst knüpft an die Ortsangabe „jenseits des Jordans“ eigene Überlegungen an:

Bethanien ist der Ort jenseits des Jordans, wo Jochanan taufte. An diesem Ort wurde zum ersten Mal der Messias bezeugt. Dort „fand“ Jeschua den Kern des neuen Israels. Natürlich kann „jenseits des Jordans“ das ganze Gebiet östlich der Jordansenke bedeuten, aber peran tou Iordanou, jenseits des Jordans, ist das Gebiet, in dem sich Israel sammelte, um das Land Freiheit zu „erben“, wie das Buch Devarim, Reden (Deuteronomium) immer wieder sagt. Hier fing immer alles an. Bei Johannes ist „jenseits des Jordans“ nicht das Land des Exils, sondern Land des Anfangs. Hier heißt Anfang „der Ort, wo zuerst Jochanan taufte“. Genau dorthin begibt sich Jeschua. Er flüchtet nicht.

Dass Jesus zurückkehrt zu dem Ort des Anfangs, von dem die Befreiung Israels ausging, deutet darauf hin, dass nun etwas ganz Besonderes geschehen wird, das auf diese Befreiung hinausläuft:

Viele kamen an diesen Ort. Sie wissen, dass Jochanan keine Zeichen tat. Seine Tat war die Vorbereitung Israels auf die „Zeichen“ dessen, über den er redete. Der Messias heilte Israel, Jochanan stimmte Israel auf diese Heilung ein. Und nun kehrt Jeschua an den Ort zurück, wo alles anfing. Es wird der Ort sein, wo er sein letztes und größtes Zeichen tun wird. Viele haben hier dem Messias vertraut. Wie es dazu kam, erzählt der nächste Abschnitt.

Indem Veerkamp das Kapitel 11 als die Entfaltung des kurzen Satzes „Und viele dort vertrauten ihm“ deutet, verknüpft er das, was am Chanukka-Fest begann, ganz eng mit dem Zeichen der Erweckung des Lazarus. In ihr vollzieht sich seines Erachtens symbolisch die „Erneuerung“ Israels.

Johannes 11,1-5: Lazarus, der Bruder Marias und Marthas und Jesu Freund, ist krank

11,1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien,
dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta.
11,2 Maria aber war es,
die den Herrn mit Salböl gesalbt
und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte.
Deren Bruder Lazarus war krank.
11,3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen:
Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.
11,4 Als Jesus das hörte, sprach er:
Diese Krankheit ist nicht zum Tode,
sondern zur Verherrlichung Gottes,
dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.
11,5 Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus.

[21. August 2022] In Vers 1 des Kapitels 11 stellt der Evangelist die Geschwister Lazarus, Maria und Martha aus Bethanien als bisher nicht genannte Charaktere vor. Dabei bildet Klaus Wengst zufolge (W334) Lazarus nur „den passiven Mittelpunkt der folgenden Erzählung“, denn er „kommt nirgends zu Wort und tritt nur ein einziges Mal selbst aktiv handelnd auf“, indem er nämlich auf die „Aufforderung Jesu“ in Vers 44 aus dem Grab herauskommt. Zur Bedeutung des Namens Lazarus merkt Wengst (Anm. 612) kurz an: „Das ist die gräzisierte Form eines gängigen hebräischen Namens. Lasár ist die Kurzfassung von El-asár = Gott hat geholfen: ‚Gotthilf‘.“

Indem (W334) Betanien als „das Dorf der Mirjam und ihrer Schwester Marta“ bezeichnet wird, führt Johannes „zwei Frauen ein, die durch ihr aktives Reden und Handeln – zuerst gemeinsam und dann je für sich – der folgenden Erzählung ihre besondere Gestalt geben.“ Die Namensform „Mirjam“ für die in unseren Übersetzungen üblicherweise „Maria“ genannte Frau verwendet Wengst auf Grund folgender Überlegungen (Anm. 614):

Der Name der erstgenannten Frau erscheint in den Handschriften häufig in der Form „Maria“. Das ist die gräzisierte Form des aramäischen marjam als Entsprechung des hebräischen Namens „Mirjam“. Da im griechischen Sprachbereich fremde Namen gern gräzisiert werden, um sie deklinieren zu können, und marjam sich in Handschriften findet, dürfte letzeres ursprünglich sein.

Zum Namen „Marta“ erwähnt Wengst, dass das Wort „die feminine Form des aramäischen Wortes mar (‚Herr‘, ‚Gebieter‘)“ darstellt.

Wenn es in Vers 2 zu Maria/Mirjam heißt (W335), dass sie es war, „die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren abgetrocknet hatte“, dann blickt Johannes einmal mehr auf ein

Ereignis zurück, obwohl es in der Erzählung seines Evangeliums noch bevorsteht. Davon wird er in 12,3-8 berichten. Er setzt bei seiner Leser- und Hörerschaft entweder voraus, dass sie es als Tradition kennt, oder erwartet, dass sie es beim Weiterlesen und Weiterhören schon kennenlernen und beim zweiten Lesen und Hören auch an dieser Stelle bereits informiert sein wird.

Als die „Funktion dieser Notiz“ sieht Wengst den „Zusammenhang mit dem Tod Jesu“, den die Salbung nach 12,7 herstellt und in den auch „die mit der Erwähnung der Krankheit des Lazarus beginnende Geschichte von vornherein“ hineingestellt werden soll.

Am Ende von Vers 2 wird wiederholt, „dass Mirjams Bruder Lazarus krank war“, womit zugleich „auch das Verhältnis der beiden Schwestern zu dem Erkrankten geklärt“ ist. Diese Schwestern sind es, die nach Vers 3 „Jesus eine kurze Botschaft“ übermitteln: „Herr, sieh doch! Den du liebst, der ist krank.“ Weil „die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums schon aus 2,3“ eine „solche Jesus gegenüber gemachte Feststellung“ kennen, „die zugleich eine Bitte enthält“, wird sie nach Wengst „darauf gefasst sein, dass Jesus auch jetzt der Bitte nicht sofort entspricht.“

Die unmittelbare Reaktion Jesu in Vers 4 besteht, ohne dass gesagt wird, wen Jesus damit anspricht (W336), in der Feststellung:

„Diese Krankheit führt nicht zum Tod.“ … Sie „erfolgt um der Herrlichkeit Gottes willen“, die sich angesichts des Todes dieses Erkrankten und gegen den Tod erweisen wird. Gegen den Tod wird mit dem Erzählen dieser Geschichte ein „Zeichen“ gesetzt.

In welchem Zusammenhang dieses Zeichen steht, deutet der abschließende Finalsatz an: „damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“. Jesus wird im Folgenden als der dargestellt, der den gestorbenen Lazarus aus dem Grab herausruft und ihn so von den Toten aufweckt. Aber er handelt nicht in eigener Vollmacht, sondern als der den Vater bittende Sohn, der sich gewiss ist, ständig gehört zu werden (11,41f.). Deshalb ist vom „Sohn Gottes“ die Rede.

In welcher Weise dient dieses Zeichen aber zur „Verherrlichung“ des Sohnes Gottes? Nach Wengst „greift das über dieses erzählte Zeichen hinaus“, indem „die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus gleichsam als Vehikel zur eigenen Passion Jesu“ dient, die am Kreuz endet.“

Als Parallele zur „Aussage von 11,4“ sieht Wengst „eine rabbinische Tradition“ zu 2. Mose 16,10, <804> der zufolge der Gott Israels Anschläge, die den von ihm Beauftragten gelten, lieber selber erträgt:

Seht doch, die Herrlichkeit des Ewigen erschien in der Wolke. Rabbi Jose ben Schim‘on sagt: ,Immer wenn die Israeliten Mose und Aaron zu steinigen suchten, (heißt es) sofort: Die Herrlichkeit des Ewigen erschien in der Wolke. Und weiterhin sagt sie (die Schrift in Num 14,10): Da sprach die ganze Gemeinde, sie (Mose und Aaron) zu steinigen. Und was sagt sie hier? Die Herrlichkeit des Ewigen erschien in der Wolke. Und warum all das? Der Heilige, gesegnet er, sprach: Es ist besser, dass die Wolkensäule geschlagen wird, als dass Mose und Aaron gesteinigt werden.‘“ Gott selbst tritt in der Gestalt der Wolkensäule, in der seine Herrlichkeit ist, für seine Beauftragten ein und zieht die ihnen geltenden Anschläge auf sich. Von Mose und Aaron ist nicht überliefert, dass sie umgebracht wurden; es blieb beim Versuch. Jesus ist am Kreuz umgekommen. So wird hier Gottes Herrlichkeit sozusagen bis in diesen Tod hineingezogen und mit ihm zusammen gedacht.

In meinen Augen zieht Wengst allerdings die Konsequenzen aus dieser Parallele nicht weit genug. Tatsächlich bewahrt Gottes Herrlichkeit Mose und Aaron vor dem Tod, während Jesus, der die Herrlichkeit Gottes verkörpert, den Tod erleidet. Was bei Wengst fehlt, ist die Überlegung, zu wessen Gunsten das geschieht. Ist es nicht so, dass Jesus als der zweite Isaak, der Einziggezeugtes des Vaters, monogenēs tou patros, nicht nur Gottes Ehre, sondern zugleich auch Israel als den erstgeborenen Sohn Gottes verkörpert, und dass er den Kreuzestod gleichsam an Stelle Israels erleidet, weil es die Ehre Gottes ausmacht, das Leben Israels zu bewahren bzw. wiederherzustellen?

Dass Johannes (W337) in Vers 5 „nochmals den Grund der an Jesus gerichteten Botschaft“ bestätigt: „Jesus hatte Lazarus lieb – und nicht nur ihn, sondern auch seine Schwestern Mirjam und Marta“, nimmt Wengst lediglich zum Anlass, seine Verwunderung darüber auszudrücken, dass Jesus trotz dieser Verbundenheit „in Liebe“ ihnen nicht sofort zu Hilfe eilt.

Hartwig Thyen weist zu Vers 1 darauf hin (T512), dass „bei Johannes nur hier“ die „in Erzählungen übliche Einführung einer neuen Figur durch die Wendung ēn de tis ktl. {es war aber einer…} und die nachfolgende Identifikation dieses tis {einer} durch die Nennung seines Namens oder anderer Charakteristika“ begegnet.

Zum Namen Lazarus, der „Kurzform des biblischen Namens Eleazar (ˀelˁazar LXX: Eleazar)“, macht er unter Bezug auf Aileen Guilding <805> auf folgene biblische Parallele aufmerksam:

Prominentester biblischer Träger dieses Namens ist der priesterliche Sohn Aarons, der im Josuabuch stets in engster Gemeinschaft, also gewissermaßen als dessen ,Freund‘, mit Josua (LXX: Iēsous) handelt und kurz nach ihm stirbt; vgl. Jos 14,1; 17,4; 19,51; 24,33 u. ö. ln Jos 24,30ff wird erzählt, daß beide en tō orei tō Ephraim {auf dem Gebirge Ephraim} ihr Begräbnis fanden. Auch auf Grund des in Joh 11,54 genannten ,Ephraim‘ vermutet Guilding, daß hier absichtsvoll eine typologische Beziehung zwischen Josua – Eleazar einerseits und Jesus – Lazarus andererseits hergestellt ist. Zwar ist in unserem Text eine derartige „Absicht“ nicht deutlich markiert, gleichwohl ist er jedoch für solche Lektüre jedoch durchaus offen, zumal Jos 24,32 ja bereits im Hintergrund von Joh 4,4ff sichtbar wurde. Außer in unserem Zusammenhang findet sich der Name „Lazarus“ im Neuen Testament nur noch bei Lukas im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (16,19ff).

Leider zieht Thyen aus der bemerkenswerten Betonung der freundschaftlichen Verbindung Jesu mit Lazarus im Spiel mit der Freundschaft eines alttestamentlichen Iēsous mit Eleazar als einem Ahnherrn der jüdischen Priesterschaft keine weiteren konkreten Schlussfolgerungen für die Bedeutung der Person des Lazarus. Mir gibt zu denken, dass der johanneische Jesus einerseits in tödlichem Streit mit den Priestern seiner Zeit liegt, denen er vorwirft, das Heiligtum Gottes zu einem heidnischen Kaufhaus gemacht zu haben und die statt des NAMENS den römischen Kaiser als ihren einzigen König anerkennen, und dass andererseits die erste Person, die ausdrücklich und wiederholt als Jesu geliebter Freund bezeichnet wird, einen so hervorstechend priesterlichen Namen trägt. Deutet das nicht darauf hin, dass Lazarus für ein priesterliches Israel steht, das Jesus trotz allem liebt und nicht aufgibt, auch wenn es unter seiner derzeitigen Führung sterbenskrank darniederliegt, ja, sogar bereits tot ist und in Verwesung übergeht?

Thyen verlässt, wie gesagt, Aileen Guildings Hinweise ohne solche Überlegungen und wendet sich dem Spiel der johanneischen Erzählung mit synoptischen Parallelen zu. Bethanien ist der „Ort der Salbung Jesu durch die namenlose Frau von Mk 14,3ff, die er mit der Lazarus-Schwester Maria identifiziert“. Die „in Lk 10,38f … als unbekannte Personen stilgerecht“ eingeführten Schwestern {T513) nennt Johannes „sogleich namentlich“ und „führt sie also als ein Schwesternpaar ein, das dem Leser von anderswoher, nämlich aus Lk 10, bekannt ist.“ Anders als Wengst meint Thyen auch nicht, dass Vers 2 „nicht etwa schon im voraus“ verrät,

was erst Joh 12,1-8 erzählt werden soll, sondern will gleichfalls als ein Intertextualitätssignal begriffen sein, das die Lazarusschwester Maria mit der Frau von Mk 14,3ff identifiziert und diese wiederum mit den Farben aus der Ezählung von der gynē hamartōlos {sündige Frau} von Lk 7,37 übermalt. Dieses Verfahren kennen wir bereits aus dem Täuferwort von Joh 1,15 und 1,30 als Spiel mit den entsprechenden synoptischen Prätexten (s. o. z. St.).

In der (T512) „Eröffnung der Erzählung durch ēn de tis {es war aber einer}“ vermutet Thyen außerdem ein Intertextualitätssignal, das auf ein Spiel mit dem lukanischen Lazarus-Gleichnis hindeutet:

Denn mit tis ēn {es war einer} leitet auch Lukas sein Gleichnis ein, das er aber im Gegensatz zu Johannes nicht aus der Perspektive des Lazarus, sondern aus derjenigen des reichen Mannes erzählt. Darum lautet seine Eröffnung: anthrōpos de tis ēn plousios ktl. {es war aber ein reicher Mensch} (Lk 16,19).

Erst (T513) in Vers 3 „erfährt der Leser zugleich mit dem bedrohlichen Charakter seiner Krankheit“, dass „Lazarus der Bruder dieser beiden Schwestern ist“. Unter Hinweis auf Vers 5 weist Thyen darauf hin, dass Jesus die Schwestern ebenso „liebt …, wie er ihren Bruder Lazarus liebt“, ohne allerdings zu berücksichtigen, dass die Liebe zu Lazarus hier mit dem Wort philein ausgedrückt wird, während dort das Wort agapan die Liebe zu allen drei Geschwistern bezeichnet. Die Schwestern müssen „um Jesu Aufenthalt im peräischen Bethanien“ wissen, „denn dorthin senden sie ihre Boten mit der Nachricht: ‚Herr, siehe, den du lieb hast, der ist krank.‘“

Zu Vers 4 schreibt Thyen, dass Jesus „diese Nachricht mit den Worten“ aufnimmt:

„Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern sie dient dem Ruhm Gottes dadurch, daß der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.“ Das ist zumindest für die Boten, die der Leser sich offenbar als die Adressaten dieses Satzes vorzustellen hat, ein merkwürdiges Rätselwort.

Mir war im Gegensatz zu dieser Annahme Thyens nie der Gedanke gekommen, Jesus hätte diesen Satz an die Boten der Schwestern gerichtet aussprechen können, die ja in der Geschichte keinerlei selbstständige Rolle spielen. Auch er geht dann sofort dazu über, zugleich die „Jünger, deren Gegenwart V. 7 ja voraussetzt, und mit ihnen de[n] Leser der Erzählung“ als eigentliche Adressaten der Botschaft zu benennen. Bereits die „Blindheit des Blindgeborenen“ hatte ja dazu dienen sollen, dass „die Werke Gottes an ihm offenbar werden sollen“ (9,3). Trotzdem besteht Thyen darauf, dass „dieses Wort durch die einleitende Wendung: akousas de ho Iēsous eipen {als Jesus das hörte, sagte er}, … deutlich als Antwort an die Boten der Schwestern ausgezeichnet“ ist. Das erscheint mir jedoch genauso unsinnig wie die Annahme, dass ich meine Reaktion auf eine Todesanzeige unmittelbar dem Briefträger mitteilen würde; viel näher liegt es doch, dass ich mir vertraute Menschen anspreche, die gerade bei mir sind. Und als solche sind, wie ja auch Vers 7 zeigt, im Johannesevangelium fast immer die Jünger Jesu anzunehmen.

Wichtiger ist Thyens Erwägung zu „Jesu Erwiderung, daß seine Krankheit ‚nicht zum Tode‘ sei“. Sie ist, da

Lazarus aber sehr wohl sterben wird …, wie oft bei Johannes, zumindest nicht eindeutig, zumal Lazarus, wenn er bei Jesu Ankunft bereits seit vier Tagen im Grabe liegt (11,17), zur Zeit, als die Boten bei Jesus eingetroffen waren, womöglich bereits gestorben war…

Durch die Aussagen in Vers 11 und 14, dass Lazarus schlafe bzw. gestorben sei (T514) wird Thyen zufolge jedenfalls

nicht nur das faktische Mißverständnis der Jünger ausgeräumt, sondern zugleich jedes mögliche Mißverständnis der Aussage Jesu, daß Lazarus ‚jetzt schlafe‘, … beseitigt. Der Leser muß darum versuchen, sich auf diesen offenbaren Widerspruch zwischen Jesu Bezeichnung der Krankheit des Freundes als „nicht zum Tode“ und dessen faktischem Gestorbensein einen Reim zu machen. Da er auf Grund seiner bisherigen Lektüre diesem allwissenden Protagonisten einen Irrtum schwerlich unterstellen kann, muß er erkennen, daß Jesus hier wohl in einem anderen als dem gewohnten Sinn vom Tod geredet haben muß.

Dass „die ‚Krankheit‘ des Lazarus … die Herrlichkeit Gottes“ offenbaren soll, indem „der Sohn Gottes durch sie verherrlicht“ wird, kulminiert Thyen zufolge

in unserem Evangelium … in Jesu eigenem Sterben und Auferstehen und der daraus resultierenden Gabe des lebendig machenden Geistes. Darum folgt der Lazaruserzählung nicht zufällig die Szene vom definitiven Beschluß des Synhedriums, daß Jesus sterben müsse (11,47-53). Denn erst in dieser Erhöhung Jesu an das Kreuz hat die Gabe „des ewigen Lebens an Menschen, die bislang dem Todesbereich angehörten“ ja ihren unverrückbaren Grund.

So formuliert Thyen mit Worten von Jörg Frey <806> und zitiert ihn weiter mit den Worten:

„ln ihr [der Erhöhung Jesu ans Kreuz] geschieht jene Stellvertretung, die in der Lazaruserzählung dramatisch zur Darstellung kommt. (Und) insofern ist die Erweckung des Lazarus als sēmeion {Zeichen} nur von Jesu Kreuz und Auferweckung her zu verstehen, als solche weist sie hin auf die Errettung von der astheneia {Krankheit} der Sünde, die remoto Christo {wenn es Christus nicht gäbe} ,Krankheit zum Tode‘ ist, aber aufgrund von Jesu Kreuz und Auferstehung für Lazarus, den paradigmatisch Glaubenden, ihre an den Tod bindende Macht verloren hat“.

Ob Johannes bei der Krankheit des Lazarus, wie Thyen im Anschluss an Frey meint, in einem so allgemeinen Sinne an die Krankheit der Sünde denkt, die durch den Glauben an Jesus geheilt bzw. vergeben wird, ist mir allerdings ebenso wenig gewiss wie Freys selbstverständliche Annahme, Lazarus als „den paradigmatisch Glaubenden“ zu begreifen. Gegen letztere spricht schon die Tatsache, dass Lazarus nirgends, außer in seinem wortlosen Herauskommen aus dem Grab, als handelnde oder sprechende Person dargestellt wird. Und die Verfehlungen, auf Grund derer Jesus den Tod am römischen Kreuz erleiden muss, hat Johannes als jüdischer Messianist eher auf das Fehlen jeglicher toragemäßer Freiheit und Gerechtigkeit für das Volk Israel unter römischer Herrschaft bezogen, statt bereits an so etwas wie den verzweifelten Glaubenskampf eines Kierkegaard gegen die von ihm im landläufigen Christentum diagnostizierte Krankheit zum Tode zu denken.

Ton Veerkamp <807> zieht aus dem Namen des Lazarus weitreichendere Schlüsse als Wengst und Thyen:

Lazarus ist die griechische Form des hebräischen Namens Eleasar (Elˁasar). Der Name bedeutet Gott hilft: Eleasar kommt in der Schrift mehr als siebzigmal vor. In fast 70 Prozent der Fälle ist Eleasar der Name eines Priesters, des ältesten Sohnes und Nachfolgers Aarons, Numeri 20,26ff. Nach Aarons Tod führten Mosche und Eleasar das Volk durch die Wüste. Eleasar war Zeuge, als Mosche Josua in sein Amt als seinen Nachfolger einführte (Numeri 27,18). Josua (Jeschua) und Eleasar waren die Nachfolger Mosches und Aarons.

Nach dem Nachkommen Eleasars, Zadok, wurden die führenden Priester in Jerusalem genannt: bene Zadoq, Sadduzäer. Nach 2 Samuel 8,17 war Zadok Davids Staatspriester. Johannes geht hinter diesen Zadok auf den Stammvater Eleasar zurück, vom Staatspriestertum zum priesterlichen Volk des Wüstenzuges. Das ist ein Verfahren, das wir gut kennen. Der Prophet Jesaja geht in seiner Ankündigung der neuen Monarchie hinter David zurück auf dessen Vater Isai: „Dann fährt ein Reis auf aus dem Strunk Isais“, Jesaja 11,1.

Diesen Hinweis auf eine Form biblischer Kritik an hochgerühmten Gestalten ihrer eigenen Geschichte finde ich aufschlussreich auch deswegen, weil er zusätzliches Licht darauf wirft, warum Jesus im Johannesevangelium zwar als messianischer König proklamiert, aber nicht in eine direkte Beziehung zu David gestellt wird. So korrupt wie Johannes das Priestertum des ersten Jahrhunderts einschätzt, so mörderisch und räuberisch sieht er im Hirtengleichnis ja auch die Zeloten, die Jesus in der Art eines Königs wie David oder der Makkabäer und Hasmonäer auf den Thron des Herodes setzen wollen.

Weiter setzt Veerkamp, obwohl das Bethanien jenseits des Jordans vom Bethanien in der Nähe von Jerusalem geographisch unterschieden sind, die Gestalt des Lazarus in den folgenden Bezug zu dieser Ortsangabe:

Lazarus aus Bethanien, aus dem theologischen, nicht geographischen Ort, wo einst Jochanan taufte. Dieser Lazarus verkörpert durch seinen Namen das Priestertum, die führende politische Schicht in Judäa. In der aktuellen politischen Verfassung Judäas ist die Priesterschaft die Repräsentation des ganzen Volkes. Es geht um die tödliche Erkrankung eines Menschen, der, wie wir hören werden, die „exemplarische Konzentration“ <808> Israels ist. Es geht für Israel um Leben und Tod. „Es war einer krank, Lazarus von Bethanien.“

Was Maria und Martha betrifft, stimmt Veerkamps Sichtweise weitgehend mit Wengst und Veerkamp überein:

Lazarus war auch der Bruder Marias und Marthas. Maria kannten die Hörer des Johannes sehr gut, jene Maria, deren Name in allen messianischen Gemeinden der Syrisch-Palästinischen Region gedacht wurde, wohl auch in einem Lied. Der hebräisch-aramäische Versrhythmus ist unüberhörbar:

die den Herrn salbte mit Myrrhe,
seine Füße trocknete mit ihren Haaren.

Martha ist die weibliche Form des aramäischen Wortes mar, Herr. Sie war also kein Dienstmädchen, sondern Herrin. Die Tradition hinter Lukas 10,38 dürfte auch in der Gruppe um Johannes bekannt gewesen sein. Maria und Martha waren in der messianischen Bewegung bekannte Gestalten und Lazarus ist ihr Bruder. Johannes wird in seiner Erzählung beide Frauen eine entscheidende Rolle spielen lassen.

Neben Simon Petrus wird Martha das messianische Bekenntnis aussprechen, und zwar angesichts des Todes von Lazarus/Israel, 11,27. Sie ist es, die die Ehre Gottes sehen wird. Lazarus kann nur von den beiden Frauen her verstanden werden. Beide Frauen treibt die Sorge um Lazarus um. Sie fordern den Messias auf, sich endlich des todkranken Lazarus anzunehmen. Der, „mit dem du befreundet bist, ist krank“. Denn Lazarus ist der Freund des Messias.

Diese in Vers 3 erwähnte „Tatsache, dass Lazarus wie ein Freund mit Jeschua verbunden war“, ist Veerkamp zufolge „ein Schlüsselelement in der Auslegung“, auf das er „bei der Besprechung von 11,25f.“ zurückkommen wird und das in der Erzählung „kein Geheimnis“ darstellt, denn „die Judäer werden sie [diese Freundschaft] in dieser Erzählung erwähnen, 11,36: ‚Sieh, wie tief er mit ihm befreundet war (pōs ephilei auton).‘“ Es ist diese Freundschaft Jesu zu Lazarus und damit zu Israel, die im Mittelpunkt der Veerkampschen Auslegung unserer Erzählung steht und die durch Thyens Hinweis auf die Freundschaft Josuas mit Eleazar noch zusätzlich gestützt werden kann:

Lazarus ist Israel, Israel im Zustand des Todes. Der Messias bleibt Israel in Leben und Tod verbunden. Bei Johannes ist der Messias kein Allerweltsheiland, sondern bleibt auch für uns, Nicht-Juden, der Messias Israels. In den Abschiedsreden und den Erzählungen über Leiden, Tod und Auferstehung des Messias tritt der Schüler auf, dem der Messias wie ein Freund verbunden war. Damit ist das Geheimnis um diesen anonymen Schüler nicht aufgeklärt, aber beide spielen die Rolle der exemplarischen Konzentration, Lazarus als die exemplarische Konzentration des Volkes im Zustand des Todes, jener Schüler als die exemplarische Konzentration der messianischen Gemeinde.

In seiner Anm. 349 meint Veerkamp, dass die „These ‚Lazarus = Lieblingsjünger‘ … schon von Johannes Kreyenbühl <809> … vertreten“ wurde. „Aber Lazarus ist kein ‚Jünger‘; in der Erzählung hat er nur die Funktion der Repräsentation Israels. Erst beim Abschied sind die Schüler Freunde, 15,15.“

Ausgehend von dieser Identifikation des Lazarus mit Israel kann nach Veerkamp erklärt werden, was Jesus in Vers 4 mit der Krankheit meint, die nicht zum Tode ist:

Lazarus, der Freund des Messias, ist dazu erwählt, an seinem Leibe, ja, an seiner Leiche, zu demonstrieren, dass seine Krankheit nicht zum Tode führt. Er wird der Ehre Gottes wegen erwählt, „damit der bar enosch, MENSCH, geehrt wird“. Die Ehre Gottes ist das lebende Israel. Für den Messias ist der Freund das leidende, das sterbenskranke, ja, verwesende Israel seiner Tage.

Von dieser durch starke Gefühle der Liebe geprägten Freundschaft (philein) unterscheidet Veerkamp die in Vers 5 erwähnte und von ihm mit solidarischer Verbundenheit wiedergegebene Liebe (agapan):

Solidarisch verbunden (ēgapa) war Jeschua Martha und ihrer Schwester „und dem Lazarus“, wie der Erzähler hinzufügt. Die Verbundenheit mit den beiden Frauen hat einen anderen Schwerpunkt als die mit Lazarus.

Auch wenn nach Bultmann [302] „die Verben philein (freundschaftlich verbunden sein) und agapan (solidarisch sein) unterschiedslos gebraucht“ werden, ist Veerkamp zufolge

festzuhalten, dass Freundschaft Solidarität, philia agapē, einschließt, aber nicht umgekehrt. Man kann und muss mit jedem Menschen solidarisch sein; deswegen kann nur die agapē der Inbegriff des „neuen Gebotes“ (13,34) sein, nicht die philia. Man kann und darf von keinem Menschen verlangen, dass er mit allen Menschen gut Freund ist, von „Liebe“ erst gar nicht zu reden. Messianismus ist keine Philanthropie.

Nur am Rande erwähnt Veerkamp (Anm. 348) den „völlig anderen ‚Lazarus‘“ von Lukas 16,19-28:

Dieser ist ein Bedürftiger (ptōchos); er ist der Hiob der messianischen Schriften. Man kann schwer ausmachen, ob der lukanische Lazarus für den Johanneischen Pate stand oder umgekehrt bzw. ob es zwei voneinander unabhängige Traditionen gab. Aus dem Grund müssen die Erzählungen Lukas 16 und Johannes 11 unabhängig voneinander ausgelegt werden.

In dieser Beziehung wird Thyen andere Wege gehen, indem er die johanneische Lazarus-Erzählung auch als ein Spiel mit der lukanischen betrachtet.

Johannes 11,6-10: Nach zwei Tagen will Jesus nach Judäa gehen, einen Gang am Tage

11,6 Als er nun hörte, dass er krank war,
blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war.
11,7 Danach spricht er zu den Jüngern:
Lasst uns wieder nach Judäa ziehen!
11,8 Die Jünger aber sprachen zu ihm:
Rabbi, eben noch wollten die Juden dich steinigen,
und du willst wieder dorthin ziehen?
11,9 Jesus antwortete: Hat nicht der Tag zwölf Stunden?
Wer bei Tage umhergeht, der stößt sich nicht;
denn er sieht das Licht dieser Welt.
11,10 Wer aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich;
denn es ist kein Licht in ihm.

[22. August 2022] Obwohl Jesus (W337) „dem Erkrankten und den indirekt für ihn Bittenden in Liebe verbunden ist“, bleibt er nach Vers 6 „dennoch zwei weitere Tage an seinem Aufenthaltsort“, wobei das „dennoch“ Klaus Wengst zufolge (Anm. 622) mit einem „mén“ {einerseits, zwar} ausgedrückt wird, „dem hier kein {anderseits, aber} folgt.“ Mit „einer doppelten Zeitbestimmung“, nämlich epeita meta touto, „Dann, später“, betont Johannes in Vers 7 nochmals diesen „Zeitabstand von zwei Tagen“.

Die Aufforderung Jesu an seine Schüler: „Lasst uns wieder nach Judäa gehen!“, nennt nicht „das in Judäa liegende Betanien“ als genaues Reiseziel, sondern ruft „die Notiz von 7,1 in Erinnerung“, dass ihm dort „der Tod drohte.“ Indem die Schüler Jesus in Vers 8 sagen, „dass ‚gerade erst‘ versucht worden sei, ihn zu steinigen (10,31; vgl. 8,59)“, macht Johannes ausdrücklich den „Passionskontext deutlich, in dem diese Erzählung steht.“

Die rhetorische Frage Jesus (Vers 9a): „Sind es nicht zwölf Stunden am Tag?“ kann nach Wengst „metaphorisch die Lebenszeit bezeichnen (vgl. zu 9,4)“ und sich deswegen darauf beziehen, dass Jesu „Wirken … noch nicht vollendet“ ist: „Gerade um dessen Vollendung willen, die am Kreuz erfolgen wird, muss er nach Judäa gehen.“ Zur bildhaften Rede Jesu in den Versen 9b-10 schreibt Wengst (W337f.):

An die rhetorische Frage schließt zum Stichwort „Tag“ ein Bildwort an, das auf einer sehr schlichten und elementaren Erfahrung beruht: „Wer am Tag umhergeht, stößt nicht an, denn er sieht das Licht dieser Welt.“ Die Formulierung des gegenteiligen Falles durchbricht ganz am Schluss die Bildebene und verlangt so gebieterisch ein metaphorisches Verständnis: „Wer jedoch in der Nacht umhergeht, stößt an; denn das Licht ist nicht in ihm.“ Doch schon die Rede vom „Licht dieser Welt“ erinnert daran, dass sich in 8,12 Jesus selbst als „das Licht der Welt“ bezeichnet hat. Dort war damit sofort das Thema der Nachfolge verbunden. Sie besteht in einem „Lebenswandel“ im Lichte Jesu, das geradezu zu „verinnerlichen“ ist. Das Problem der Nachfolge stellt sich verschärft angesichts der Passion Jesu – und der seiner Schüler (12,25f.). Das wird in V. 16 wieder anklingen.

Hartwig Thyen (T514) hebt hervor, dass die in Vers 5 nochmals betonte Liebe Jesu „zu den bethanischen Schwestern Maria und Martha und zu ihrem Bruder Lazarus … zusammen mit V. 3 den Rahmen um den eben erörterten V. 4 bildet“. Damit will der Erzähler seines Erachtens verdeutlichen,

daß die gesamte folgende Handlung unter dem Zeichen jener Liebe Jesu begriffen sein will, die sich in seiner „stellvertretenden Lebenshingabe“ für seine idioi {Eigenen} (13,1) und philoi {Freunde} (15,13-15), in der Hingabe „seines Fleisches für das Leben der Welt“ (6,51) vollendet.

Außerdem weist Thyen auf einen Unterschied zum Anfang der Zeichen in Kana hin, „wo abschließend im aktiven Modus gesagt war“, dass Jesus seine Herrlichkeit offenbarte (2,11). Hier stellt Vers 4

die gesamte Lazarus-Erzählung und alles ihr noch folgende mit der passiven Formulierung: hina doxasthē ho hyios theou ti‘ autēs {damit der Sohn Gottes durch sie, die Krankheit des Lazarus, verherrlicht werde}, unter das bestimmende Vorzeichen des heilsamen Sterbens Jesu für die Seinen.

In „dieser Wende vom aktiven Offenbaren seiner doxa {Herrlichkeit} zum passiven doxasthēnai {Verherrlichtwerden} durch den Vater“ erkennt Thyen weiterhin „Implikationen“, die ihm zufolge W. H. Cadman <810> folgendermaßen „einleuchtend aufgewiesen“ hat (T514f.):

„In diesem Vers [11,4] geht es aber nicht um eine Offenbarung seiner ,Herrlichkeit‘ durch Jesus, sondern darum, dass er ,verherrlicht‘ wird, ihm ,Herrlichkeit‘ gegeben wird. Das ist so, aber wenn wir in seiner ,Herrlichkeit‘ den Sinn seiner Vereinigung mit dem Vater finden und im Blick behalten, dass er bei seinem Sterben ,verherrlicht‘, dass ihm wegen seines Sterbens doxa gegeben wird, ist eher zu erwarten, dass sich die verbale Form des Begriffs in V. 4 (doxasthē) auf die Vereinigung zwischen Jesus und den an ihn Glaubenden bezieht, in die sein Sterben sie nach johanneischer Lehre hineinzieht (man beachte z. B., wie die Formel in 10,38; 14,10.11, wo Jesus noch sterben muss, lautet: ‚Der Vater ist in mir und ich bin im Vater‘, aber in 14,20, wo sein Tod rückblickend betrachtet wird, lautet: ‚An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr in mir, und ich in euch.‘ . .. Es zeigt sich also, dass die doxa, die Jesus bereits besitzt und in seinem öffentlichen Wirken offenbart, seine Vereinigung mit dem Vater ist, so dass die doxa, die ihm in 11,4 bei der Kreuzigung gegeben werden soll, seine Vereinigung mit allen ist, die an ihn glauben. Seinem Gewinn an doxa in diesem Sinne würde die Krankheit des Lazarus von Jesus zum Dienst gemacht werden“.

Ich frage mich aber, ob diese spitzfindige Unterscheidung nicht eher den Umstand verschleiert, dass weder Cadman noch Thyen darauf aufmerksam machen, worin sehr zentral bereits die doxa, Ehre bzw. Herrlichkeit, des Gottes Israels besteht und die der Messias Jesus gleichermaßen verkörpert, nämlich das Leben und die Befreiung seines Volkes Israel. Diese Ehre ist es, die Jesus bereits mit den Zeichen zu Kana offenbart, der messianischen Hochzeit und der Belebung des Sohnes des königlichen Beamten, und die er weiter bestätigt mit den Zeichen an Israel im Zustand der Lähmung, des Hungers und der Blindheit. Richtig ist, dass die Auferweckung des Lazarus als des toten und bereits im Zustand der Verwesung befindlichen Israel sich nach Jesu Tod am Kreuz und der Übergabe des Geistes Gottes (19,30; 20,22) in Gestalt der durch den Geist neu belebten messianischen Gemeinde vollzieht. Aber es ist nach Johannes ganz Israel einschließlich Samarias und der jüdischen Diaspora, soweit es auf den Messias vertraut, das in dieser Gemeinde versammelt wird, während Thyen ja selbstverständlich davon ausgeht, dass bereits Johannes an eine weltweite Kirche der Völker denkt, von der sich die Juden weitgehend selber ausschließen.

Die Bemerkung in Vers 6 (T515) über das „Verweilen Jesu“ ist nach Thyen „rätselhaft und soll dem Leser zu denken geben“; vielleicht „ist der Text von Hos 6,1f der intertextuelle Code für dieses Abwarten Jesu“. Thyen lehnt aber Erwägungen wie von Alois Stimpfle <811> ab, dass Jesus, „um das spektakuläre Wunder der Totenerweckung vollbringen zu können, … während dieser beiden Tage von Gott gar den Tod seines geliebten Freundes erbeten“ habe, denn seit Johannes 2,3f. und 7,2ff.10f. „weiß der Leser ja, daß Jesus stets nur dann handelt, wenn sein Vater ihm die Zeit dafür gewährt, und daß er, wenn diese Zeit gekommen ist, nur tut, was der Vater ihm dann ‚zeigen‘ wird (5,20…).“

Die Verse 7-10 fasst Thyen folgendermaßen zusammen:

„Danach (epeita), nämlich nach diesen beiden Tagen (meta touto), sagte er zu seinen Jüngern: Laßt uns wieder nach Judäa ziehen. Da entgegneten seine Jünger ihm: Rabbi, jetzt, da die Juden dich doch zu steinigen trachten (8,59; 10,39), willst du wieder dorthin gehen? Jesus erwiderte: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn einer am Tage wandelt (peripatē), stößt er sich nicht, denn das Licht dieser Welt leuchtet ihm, wandelt er dagegen in der Nacht, so stößt er an, denn das Licht leuchtet ihm nicht (ouk estin en autō {ist nicht in ihm})“.

An dieser Stelle weist Thyen darauf hin, dass Jesus die Jünger „so unvermittelt“ anreden kann, „weil sie als Jesu ständige Begleiter zu denken sind“, obwohl er sie in Vers 4 nicht als die direkten Adressaten seiner Worte voraussetzen wollte. Wie Wengst sieht auch Thyen (T516) die Aufforderung, wieder nach Judäa zu ziehen, als die Eröffnung des Weges „in Jesu eigenes und damit zugleich in das mögliche Martyrium seiner Jünger“.

Mit dem „Bildwort vom Licht des Tages und der Finsternis der Nacht“ werden nach Thyen die Verse 9,4f. wieder aufgenommen und ergänzt:

„Wir müssen wirken … solange (heōs) es Tag ist. (Denn) es kommt die Nacht, da keiner mehr wirken kann. So oft (hotan) ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ (s. o. z. St.). Dabei zeigt im übrigen schon der Wechsel von dem Lexem ergazesthai {wirken} in 9,4 zum Gebrauch von peripatein in 11,9f, daß dieses „Wandeln“ im Sinne unseres Sprechens vom „Lebenswandel“ eines Menschen in seiner unlösbaren Verknüpfung von Wandeln und Handeln begriffen werden muß.

Die „wohl nicht zufällig an Joh 8,12“ erinnernde „Formulierung von V. 9f“ mit ihrer „Rede davon, daß dieses ‚Licht der Welt‘ nicht ‚in demjenigen‘ sei, der in der Nacht wandelt“, verweist Thyen zufolge

auf den symbolischen Modus der Rede Jesu, der das irdische Licht des Tages mit dem vollkommenen Licht vermittelt, das in Christus, dem Licht der Welt, den Kosmos erleuchtet. Zugleich wird so die verrinnende chronische Zeit mit der aionischen Zeit verknüpft, die in Gottes Händen steht.

Diese „Lichtmetapher begründet im Zusammenhang weniger die Notwendigkeit, daß Jesus jetzt handeln muß …, sondern sie ist an die Jünger gerichtet und will ihnen die Angst vor dem erneuten Weg nach Judäa nehmen, weil ihnen doch der vorangeht, der das Licht der Welt und ihr guter Hirte ist.“

Nach Ton Veerkamp <812> hat der Messias gemäß Vers 6 „keine Eile, er bleibt zwei Tage.“ Diese Aussage bezieht er unmittelbar auf die Zeit nach der Kreuzigung Jesu:

Zwei Tage müssen auch die Schüler, muss auch Maria aus Magdala warten, zwei Tage nach dem Tod des Messias.

Die Verse 7-10 ordnet Veerkamp in die Frage ein, wie es unter den Bedingungen der herrschenden Weltordnung möglich ist, den „Gang Gottes“ zu gehen, also ein Leben nach seinen Weisungen zu führen:

„Gehen wir wieder nach Judäa“, sagt Jeschua zum Entsetzen der Schüler. Ausgerechnet dorthin, wo die Judäer auf Jeschua warten, mit Steinen in ihren Händen. In einem solchen Fall pflegt Jeschua, pflegt Johannes, ins Grundsätzliche zu gehen:

„Gibt es nicht zwölf Stunden am Tag?
Wenn einer den Gang tagsüber geht, strauchelt er nicht,
da er ja das Licht dieser Welt sieht.
Wenn er in der Nacht seinen Gang geht, strauchelt er,
weil das Licht nicht mit ihm ist.“

Eingeleitet wird diese Aussage durch eine rhetorische Frage: „Gibt es nicht zwölf Stunden am Tag?“ Zwölf Stunden, um die Werke dessen zu tun, der den Messias sendet, heißt es am Anfang der Erzählung vom Blindgeborenen. Jetzt geht es um peripatein, um die Halakha, den Gang. Nur das Licht dieser Welt macht es möglich, den Gang Gottes unter den Verhältnissen der herrschenden Weltordnung zu gehen. Die Nacht ist die Zeit ohne Licht. Dann strauchelt man, fällt in die Falle, die diese Weltordnung, die ja die Finsternis ist, den Menschen stellt.

Auf dem Hintergrund dieser politischen Analyse, die die Finsternis mit den Todesmächten der herrschenden Weltordnung gleichsetzt, kann konkret bestimmt werden, in welcher Weise Jesus das „Licht dieser Welt“ ist, indem er nämlich durch seine Erhöhung ans römische Kreuz diese Weltordnung ein für alle Mal überwindet:

Das Licht, das wissen die Zuhörenden inzwischen, ist der Messias: „ICH BIN ES: das Licht der Welt“, 8,12. Es heißt nicht: Wenn es Nacht ist, gibt es kein Licht. Sondern: Weil man ohne dieses Licht (in der Nacht) nicht geht, muss man straucheln, in die Falle dieser Weltordnung gehen. Ohne eine messianische Perspektive und die Alternative, die sie verheißt, wird das ganze Leben finster.

Indem der folgende Vers 11 mit den Worten eingeleitet wird: „‚Das sagte er, und danach…‘, … gibt Johannes dem soeben Gesagten großen Nachdruck. Wenn das klar ist kann die Erzählung weiter gehen.“

Johannes 11,11-16: Jesus will Lazarus aufwecken und Thomas mit ihm sterben

11,11 Das sagte er, und danach spricht er zu ihnen:
Lazarus, unser Freund, schläft,
aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke.
11,12 Da sprachen die Jünger zu ihm:
Herr, wenn er schläft, wird‘s besser mit ihm.
11,13 Jesus aber sprach von seinem Tode;
sie meinten aber, er rede von der Ruhe des Schlafs.
11,14 Da sagte ihnen Jesus frei heraus:
Lazarus ist gestorben;
11,15 und ich bin froh um euretwillen,
dass ich nicht da gewesen bin,
auf dass ihr glaubt.
Aber lasst uns zu ihm gehen!
11,16 Da sprach Thomas, der Zwilling genannt wird, zu den andern Jüngern:
Lasst uns mit ihm gehen, dass wir mit ihm sterben!

[23. August 2022] In Vers 11 (W338) folgt eine betonte Unterbrechung der Rede Jesu: „Das sprach er und danach sagte er ihnen“, die Klaus Wengst zufolge nach den Anspielungen auf den „Passionskontext“ und „die Nachfolge Jesu“ in die erzählte Situation zurücklenkt. Dass Jesus Lazarus „jetzt als ‚unseren Freund‘“ bezeichnet, bedeutet nach Wengst, dass auch sie „von seinem Schicksal betroffen“ sind, allerdings sagt er nicht, worin diese Betroffenheit besteht.

Die Aussage über den Schlaf des Lazarus und dass Jesus gehen will, „um ihn aufzuwecken“, versteht Wengst von vornherein „metaphorisch“ im Sinne seiner Erweckung vom Tod. Im „Sinne der Erzählung“ muss der Tod des Lazarus nach den von Jesus abgewarteten zwei Tagen eingetreten sein, nach denen Jesus in vier weiteren Tagen vom peräischen zum judäischen Bethanien gelangt. Die verbreitete Vorstellung (Anm. 627), Lazarus sei bereits „unmittelbar, nachdem die Gesandtschaft an Jesus abgeschickt worden war“ gestorben, und die Reisezeit sowohl der Boten als auch Jesu betrage nur jeweils einen Tag,

resultiert aus der – aus den synoptischen Evangelien gespeisten – altkirchlichen Verortung der Taufstelle des Johannes am Unterlauf des Jordans. Das passt aber nicht zu der in der ersten Woche des Wirkens Jesu im Johannesevangelium vorausgesetzten Topographie und Chronologie.

Ich halte Spekulationen über die Reisedauer Jesu allerdings für müßig, da die Zahlenangaben über die zwei bzw. vier Tage sicher symbolisch zu deuten sind.

Dass Jesus (W338) „vom Tod des Lazarus weiß“, erklärt sich von der Art und Weise her, „wie Jesus bisher schon dargestellt wurde“, nämlich „aufgrund seiner engen Beziehung zu Gott als des Sohnes zum Vater.“

Da die Schüler Jesu (W339) nach Vers 12 „die Aussage Jesu im wörtlichen Sinn verstehen“ und annehmen, dass der „Kranke … sich sozusagen gesund schlafen“ wird, stellt Johannes (Vers 13) in

einer kommentierenden Bemerkung … klar, dass Jesus vom Tod des Lazarus sprach, und macht damit für die Leser- und Hörerschaft ein Missverstehen ganz und gar unmöglich. „Sie aber (die Schüler) meinten, dass er vom gewöhnlichen Schlaf spräche.“ Warum lässt er die Schüler so grob missverstehen? Er macht sie immer wieder zum Spiegel der lesenden und hörenden Gemeinde. Hält er ihr in diesem Bild der Schüler vor, dass auch sie in ihren Notsituationen den ihr zugesagten Beistand Gottes nur allzu leicht nicht wahrnimmt und sich von den bedrückenden Realitäten die Hoffnungsperspektive verstellen lässt?

Hier wird überdeutlich, dass Wengst die Krankheit und den Tod des Lazarus als eines Freundes auch der Schüler Jesu ganz im Sinne einer individuellen Notsituation versteht. Dass Lazarus das gesellschaftliche Dahinsiechen und Sterben eines durch Unterdrückung und Korruption vom befreienden Gott Israels abtrünnig gewordenn Israel symbolisieren könnte, kommt nicht einmal ansatzweise in seinen Blick.

Nachdem in Vers 14 „auch die Schüler von Jesus unmissverständlich Aufschluss darüber“ erhalten haben, „dass Lazarus gestorben ist“, bemerkt Jesus (Vers 15) „gleich wieder über die erzählte Situation“ hinaus: „Und um euretwillen – damit ihr glaubt – freue ich mich, dass ich nicht dort war.“ In der Bemerkung von Schnelle: <813> „Jesus heilt nicht aus Mitleid, sondern um seine Macht zu demonstrieren und Glauben hervorzurufen“, sieht Wengst „eine schiefe Gegenüberstellung“:

Einmal sollte nicht vergessen werden, dass in der bisherigen Darstellung dreimal von der Liebe bzw. Freundschaft Jesu zu Lazarus die Rede war. Zum anderen bezieht sich die hier geäußerte Freude Jesu ausdrücklich nur auf die Schüler und ihren intendierten Glauben. Schenke <814> hat beobachtet, dass nach der Totenerweckung der Glaube der Schüler gar nicht vermerkt wird, was die Frage provoziert: „Wann werden die Jünger wirklich glauben?“ Das weist, wie auch gleich die Aussage des Schülers Thomas, über die Totenerweckung hinaus. So war schon in V. 4 diese Tat mit der „Verherrlichung“ Jesu am Kreuz verknüpft worden. Die eigentliche Demonstration seiner Macht ist so der aus Liebe (13,1) erfolgende Gang in die Ohnmacht seines Todes, aus dem – im Vertrauen auf die neuschöpferische Macht Gottes – Leben erwächst.

So sehr ich Wengsts Kritik an Schnelle begrüße, so wenig befriedigt mich auf der anderen Seite seine eigene Deutung. Wozu braucht Jesus die Gelegenheit zu einer un-„eigentlichen“ Demonstration seiner Macht in Form des von ihm sogar erwünschten Todes seines Freundes, um ihn wieder erwecken zu können, wenn Lazarus als solcher für ihn ansonsten keine zentrale Rolle spielt? Steht Lazarus aber symbolisch für Israel, ist unmissverständlich klar, zu welchem Ziel der Tod Jesu am Kreuz und sein Aufsteigen zum VATER erfolgt, nämlich um die Ehre des Gottes Israels in Form des Lebens seines erwählten Volkes Israel wiederherzustellen.

Nachdem Jesus die „vorher gegebene Aufforderung, nach Judäa zu gehen“, mit den Worten: „Aber jetzt lasst uns zu ihm gehen!“ eindeutig auf Lazarus bezogen hat (W339f.),

antwortet mit Thomas ein einzelner Schüler, hier erstmals im Evangelium erwähnt, indem er zu seinen Mitschülern spricht: „Lasst uns auch gehen, um mit ihm zu sterben!“ Er bekundet damit Bereitschaft zu radikaler Nachfolge bis in den Tod. Jesus hatte vorher schon das Thema der Nachfolge angeschlagen. Nach seinen Worten in 12,25f. kann die Nachfolge auch den Tod einschließen.

Wengst (W340) relativiert die „Aussage des Thomas“ aber insofern, als er genau so wenig wie Simon Petrus nach seiner Ankündigung in 13,37 „sein Leben für Jesus geben wird, sondern Jesus das seine für ihn“. Außerdem bringt er die Äußerung des Thomas in einen Zusammenhang mit den weiteren beiden Stellen seines Auftretens im Johannesevangelium:

Zum anderen erweist sich die Bereitschaft des Thomas als voreilig…, weil sie den Weg Jesu ans Kreuz noch nicht als Verherrlichung durch Gott begriffen hat. Das zeigt die nächste Stelle, an der Thomas im Evangelium begegnet. In 14,5 ist gerade er es, der bekennt, nicht zu wissen, wohin Jesus geht, und damit auch den Weg nicht zu kennen. Schließlich tritt er an einer dritten Stelle auf (20,24-29). Hier spricht er angesichts der Wundmale des Gekreuzigten gegenüber dem Auferweckten das Bekenntnis aus: „Mein Herr und Gott!“ (20,28) Mit der Gestalt des Thomas spannt Johannes somit einen Bogen von der ersten Erwähnung in 11,16 bis fast zum Ende seines Evangeliums. Er beantwortet damit zugleich auch die Frage: „Wann werden die Jünger wirklich glauben?“ Sie hatte sich dadurch ergeben, dass zwar als Ziel des Handelns Jesu an Lazarus der Glaube seiner Schüler angegeben worden war, im Verlauf der Erzählung aber kein entsprechender Glaube festgestellt wird. Die Frage des Glaubens stellt sich nach Johannes angesichts des Gekreuzigten, der als von Gott aufgeweckt bezeugt wird.

Darin (T516), dass in Vers 11 „Jesus den Tod des Lazarus durch kekoimētai als „Schlaf“ bezeichnet“, sieht Hartwig Thyen einen intertextuellen Bezug zur „Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jaïrus (Mk 5,22-24.35-41 / Mt 13,53-58 / Lk 4,16-30)“ (T517), in der Jesus erklärt: „Das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft nur“:

Obwohl hier für ,schlafen“ das Verbum katheudein gebraucht ist, liegt es gerade wegen der umgekehrten Folge von ,schlafen‘ und ,sterben‘ in Joh 11,11 und 14 nahe, unsere Lazaruserzählung als ein Spiel mit diesem Prätext zu begreifen.

Zur Reaktion der Jünger „mit der Volksweisheit: ‚Herr, wenn er doch schläft, dann ist er ja auf dem Wege der Genesung‘ (ei kekoimētai sōthēsetai)“, weist Thyen auf einen „den ahnungslosen Jüngern freilich noch verborgene[n] Hintersinn“ hin, der in dem „Verbum sōzō {retten}“ liegt, das sich „bei Joh sechsmal“ findet,

und zwar in 12,27 und 47 in Aktivformen und in 3,17; 5,34; 10,9 sowie an unserer Stelle mit dem Passiv sōthēsetai {gerettet werden}. Es bezeichnet stets die eschatologische Rettung aus Tod und Gericht. … In ähnlichem Doppelsinn hatte bereits Jaïrus in einem der Prätexte unserer Erzählung Jesus gebeten, er möge doch kommen und seiner Tochter die Hand auflegen, hina sōthē kai zēsē {dass sie gerettet werde und lebe} (Mk 5,23).

Dabei zieht Thyen wiederum nicht in Erwägung, dass ein jüdischer Messianist wie Johannes „die eschatologische Rettung aus Tod und Gericht“ im Sinne der jüdischen Propheten und Apokalyptiker als endzeitliche Befreiung Israels zum Leben der kommenden Weltzeit auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes verstehen könnte und nicht als die Rettung vor ewiger Verdammung im Jenseits.

Zu Vers 13, in dem „der Erzähler seinem Zuhörer/Leser das Mißverständnis der Jünger“ so erklärt, dass Jesus „von seinem Tod gesprochen“ habe, „sie aber meinten, er habe vom natürlichen Schlafen … geredet“, erörtert Thyen unter Rückgriff auf eine Studie von Rochais <815>

die „weite Verbreitung der metaphorischen Bezeichnung des Sterbens als „entschlafen“ und des Todes als „Schlaf“ sowohl in der alttestamentlichen und jüdisch-apokalyptischen Überlieferung als auch in frühchristlichen Texten wie 1Thess 4,13-16; 1Kor 7,39; 11,30; 15,6.18.51; Act 7,60; 13,36; 2Pt 3,4 u. ö. … Seine Studie zeigt, daß die jüdische Tradition die verstorbenen Gerechten als solche bezeichnet, die in der Erwartung der allgemeinen Auferweckung der Toten am Jüngsten Tage friedvoll in der Scheol schlafen…; daß dem gegenüber die Metapher vom Tod als Schlaf in der frühchristlichen Tradition primär nicht der Beschreibung eines postmortalen Zustands der Frommen, sondern vielmehr der Vergewisserung gilt, daß der Tod nur temporal und durch die Auferstehung Jesu definitiv überwunden ist.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht sein, dass Jesus mit seinen offenen Worten gegenüber seinen Jüngern in den Versen 14-15: „Lazarus ist gestorben. Und um euretwillen bin ich froh, nicht dort gewesen zu sein, damit ihr zum Glauben kommt. Aber laßt uns nun zu ihm gehen!“

„seine vorausgegangene metaphorische Bezeichnung des Todes als ,Schlaf‘ nun durch eigentliche Rede ersetzt hätte. Vielmehr handelt es sich darum, daß er seinen Jüngern dabei hilft, seine um nichts weniger wörtlich zu nehmenden Worte vom Tod des Freundes als Schlaf, aus dem er ihn erwecken will, endlich zu begreifen.

Jesu Satz: „damit ihr zum Glauben kommt (oder: findet)“, soll dabei nach Thyen „in doppelter Hinsicht zu denken“ geben. Erstens verweist er sehr konkret auf das „Herauskommen des ,Tot-Gewesenen‘ (ho tethnēkōs) aus seinem Grabe (11,40-44) als die Bedingung der Möglichkeit, die Herrlichkeit Gottes zu schauen (V. 40)“, und zweitens (T518) nötigt er „zum Bedenken dessen, was hier ,glauben‘ heißt.“

Indem Thyen es – gegen Bultmann und viele seiner Nachfolger – ablehnt, Jesu „,Zeichen‘ und ,Werke‘ … als bloße Symbolisierungen seines offenbarenden ,Wortes‘ zu begreifen“, besteht er mit Oswald Bayer <816> darauf, dass

der Gegenstand der Theologie nicht „personalistisch-zweistellig als reine Korrelation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis“ definiert werden kann, sondern „von vorneherein dreistellig bestimmt (ist) – durch Gott, Welt und Selbst: durch den immer schon weltlich vermittelt anredenden Gott und den ebenfalls weltlich vermittelten Menschen inmitten seiner Mitgeschöpfe“. „Die Existenz läßt sich ohne Selbstzerstörung nicht aus dem Kosmos lösen; eine ,Entweltlichung‘, die nicht eine Bekehrung zur Welt, eine neue Weltwahrnehmung wäre, ist eine tödliche Abstraktion“.

Zum Glauben der Jünger und auch der Martha, die trotz eines jeweiligen Glaubensbekenntnisses, „das nichts zu wünschen übrigläßt und in jeder Hinsicht dem Joh 20,30f formulierten Zweck des Evangeliums entspricht“, dann auch wieder Glaubensfestigkeit vermissen lassen, wird Thyen zufolge

deutlich, daß der Glaube niemals zum verfügbaren Besitz des Menschen werden kann, sondern vielmehr Gottes Gabe ist und dies inmer bleiben wird. Solange wir im Glauben und noch nicht im Schauen leben (1Joh 3,2; vgl. 2Kor 5,7), bleibt er angefochtener Glaube.

Diese Gottesgabe des Glaubens ist nach Thyen gegen Bultmann <817>

als eine solche zu begreifen, die sinnlich erfahren und genossen sein will (vgl. 1Joh 1,1-4), … {und nicht} lediglich als die „Aufgabe“ zur Glaubensentscheidung: „Die Verkündigung des Kreuzes als des Heilsereignisses fragt den Hörer, ob er sich diese Bedeutung aneignen, ob er sich mit Christus kreuzigen lassen will“.

Erst später, nämlich mitten in der Auslegung von Vers 16 (T520) kommt Thyen nochmals auf die Verse 14-15 zurück:

Jesu Wort an seine Jünger: „Lazarus ist gestorben, und um euretwillen freue ich mich, nicht dort gewesen zu sein, damit ihr glaubt. Aber laßt uns nun zu ihm gehen!“, klingt nahezu zynisch: Allein damit seine Jünger zum Glauben finden, freut sich Jesus über den Tod seines geliebten Freundes und darüber, dessen Sterben nicht durch seine Anwesenheit verhindert zu haben! Jesu Freude hat einen doppelten Grund: Einmal freut er sich, daß seine Jünger mit Martha (V. 40) nun am Grabe des Lazarus die Herrlichkeit Gottes sehen sollen, aber zum anderen freut er sich zugleich darüber, daß eben diese Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, zu seinem eigenen doxasthēnai {Verherrlichtwerden} durch Gott am Kreuz von Golgatha führen wird. Denn erst damit ist der letzte Grund des Glaubens gelegt, erst damit ist der Tag gekommen, da Jesus seine Jünger zu seinen ,Brüdern‘ erklärt und da sie erkennen, daß er „in seinem Vater ist“ und daß „sie in ihm sind und er in ihnen ist“ (14,20; s. o. zu V. 4).

Damit vertritt Thyen ähnliche Gedankengänge wie Wengst, mit dem Unterschied, dass er die Auferweckung des tot gewesenen Lazarus weit mehr als nur symbolisch verstehen wollte. Dabei scheint er dessen Herauskommen aus dem Grab konkret auf die endzeitliche Auferweckung derer zu beziehen, die sich als auf Christus vertrauende Entschlafene im postmortalen Zustand eines nicht als endgültig zu verstehenden Todes befinden.

Zu Vers 16 bemerkt Thyen zunächst (T519), dass „Thomas als handelnde Person nur bei Johannes“ erscheint und dass er mit „Ausnahme seines Auftritts in 14,5.8f, wo er zusammen mit Philippus genannt wird, … stets den ‚Beinamen‘ ho Didymos {der Zwilling}“ trägt. Er nimmt aber an, dass das „aramäische Lexem thˀomaˀ = ,Zwilling‘, das des öfteren auch als Eigenname belegt ist, … der eigentliche Name unseres Jüngers gewesen sein“ dürfte. Dann wäre „die Wendung ho legomenos Didymos {das heißt übersetzt: Zwilling} … nach Analogie von 4,25 zu verstehen, wo das transskribierte Messias durch ho legomenos christos {das heißt übersetzt: Gesalbter} übersetzt und nicht etwa als Beiname genannt wird.“

Das Wort „symmathētēs {Mitjünger}“, das „im gesamten Neuen Testament nur hier“ gebraucht wird, soll nach Thyen „wohl die Solidarität der Jünger und den Umstand ausdrücken, daß Thomas hier als der Sprecher der Zwölf nur sagt, was sie in Erinnerung an ihre Warnung (V. 8) alle denken“.

Indem Thomas die freudige Aufforderung Jesu „Laßt uns gehen“ mit den Worten aufnimmt: „agōmen kai hēmeis {lasst auch uns gehen}, daß wir mit ihm sterben“, so liegt darin zwar

ein unüberhörbarer Ton der Resignation, doch darüber sollte man mit Bultmann <818> das Wahrheitsmoment in der Aufforderung des Thomas an seine Mitjünger, Jesus auf seinem Weg ins Martyrium nachzufolgen, nicht übersehen: „Das Thomaswort, nicht mehr an Jesus, sondern an die Gefährten gerichtet, ist keine Warnung mehr, sondern bedeutet Ergebung in das den Jüngern mit Jesus gemeinsam drohende Schicksal. Zum ersten Mal taucht hier die Wahrheit auf, daß die Jünger das Schicksal Jesu für sich übernehmen müssen; die Abschiedsreden werden dieses Thema entwickeln und an Stelle der resignierten Ergebung wird die klare Entschlossenheit treten“.

In der Interpretation von Ton Veerkamp <819> erhält die Freundschaft auch der Schüler Jesu mit Lazarus eine einleuchtende Erklärung. Wenn er Israel symbolisiert, dann kann es nicht anders sein, als dass sie als die Schüler des Messias Israels auch zutiefst vom Schicksal Israels betroffen sein müssen. Dagegen wäre es unwahrscheinlich, sich die aus unterschiedlichen Lebensverhältnissen von Jesus als Schüler berufenen Männer alle als zufällig mit demselben Individuum Lazarus befreundet vorzustellen.

Seine Auslegung der Verse 11-14 setzt voraus, dass das Wort sōthēsetai am Ende von Vers 12 mit „befreit werden“ übersetzt werden muss; außerdem wundert er sich darüber, dass exhypnisō in Vers 11 <820> „in der Regel mit ‚erwecken‘ übersetzt wird“, denn „exhypnizein (‚aus dem Schlaf reißen‘, ex hypnou) ist ein seltenes Wort. In der LXX kommt es nur viermal vor, in den evangelischen und apostolischen Schriften nur hier.“ Von daher argumentiert Veerkamp folgendermaßen:

„Lazarus, unser Freund, hat sich hingelegt, aber ich gehe, damit ich ihn dem Schlaf entreiße.“ Das Missverständnis ist beabsichtigt. Die Schüler sagen, schlafen sei gesund, er werde sich erholen, „befreit werden!“ Gelehrte wie Bultmann <821> halten so etwas für „plump“. Johannes hält die Schüler für kritikwürdig, aber sie sind für ihn nicht „plump“.

Johannes will die vorherrschende Illusion klar ausgesprochen wissen, der Zustand Israels sei eine vorübergehende Baisse, es werde schon wieder besser werden, Lazarus schlafe sich gesund. Nichts wird besser, von Befreiung gar nicht zu reden, weder auf zelotischem noch auf rabbinischem Wege. Er sagte schonungslos: „Lazarus/Israel ist gestorben.“ Hier ist wirklich die Nacht, in der niemand mehr etwas bewirken kann, vgl. 9,4. Aus und vorbei, rien ne va plus.

Versteht man den Tod des Lazarus in dieser Weise im Sinne einer politischen Analyse des Zustandes Israels nach dem Judäischen Krieg unter der anhaltenden Herrschaft der Römischen Weltordnung, dann entkommt man zynischen Spekulationen über die Frage, warum Jesus angesichts der Krankheit eines Freundes denn noch zwei Tage wartete, bevor er ihm zu Hilfe eilte. Die zwei Tage verbinden dann sicher dieses Sterben mit Jesu eigenem zweitägigen Verweilen im Grab, haben aber nichts mit der bewussten Herbeiführung des Todes eines geliebten Menschen zu tun, um ein möglichst sensationelles Wunder vollbringen zu können. Tatsächlich steht im Hintergrund dieser Erzählung die wirklich verzweifelte Lage des Volkes Israel, angesichts derer es alles andere als selbstverständlich ist, zu neuer Zuversicht, neuem Vertrauen zu finden. Nur in diesem Zusammenhang ist Jesu Freude in Vers 15 angemessen und nicht als Zynismus zu begreifen:

„Ich freue mich euretwegen – damit ihr nämlich vertraut -, dass ich nicht da war.“ Ein merkwürdiger Satz, der in der Luft hängen bleibt. Johannes schiebt das wirkliche Ziel der Erzählung als winziges Zwischensätzlein ein. Es geht darum, dass die Schüler darauf vertrauen, dass der Tod eines Menschen, eines Volkes, nicht das letzte Wort ist.

Was Jesu Schüler Thomas betrifft, sieht Veerkamp den Namen „Zwilling“ als wegweisend für seine Bedeutung im Johannesevangelium an. Er ist es, der die Reise nach Judäa zwar ebenso skeptisch beurteilt wie seine Mitschüler, aber sie dennoch todesmutig zum gemeinsamen Aufbruch mit Jesus auffordert:

Jetzt kommt der erste Auftritt des Thomas. Er steht für den Typus des Messianisten, der zwar solidarisch mit seinen Genossen ist, aber an den Sinn des messianischen Kampfes eigentlich gar nicht mehr glauben kann. Er ist dabei, und er bleibt dabei – gehen wir eben gemeinsam unter!

Auch nachdem Lazarus aus dem Grab herausgerufen wurde, wird Thomas nicht wissen, wohin die Reise eigentlich geht. 14,5: „Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst.“ Und am ersten Tag der Woche nach dem Tode Jeschuas lässt sich Thomas nicht vom Auferstehungszeugnis der anderen Schüler überzeugen: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Ihr vielleicht, ich nicht! Bei den Synoptikern ist Thomas nicht als Didymos bekannt, als Zwilling. Der Spitzname ist eine Erfindung des Johannes. Er ist immer zwei, der Solidarische und der Skeptiker.

Sie gehen also.

Johannes 11,17-24: Jesu findet Lazarus im Grab und spricht mit Martha über die Auferstehung am Tag der Entscheidung

11,17 Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen.
11,18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt.
11,19 Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen,
sie zu trösten wegen ihres Bruders.
11,20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt,
ging sie ihm entgegen;
Maria aber blieb im Haus sitzen.
11,21 Da sprach Marta zu Jesus:
Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
11,22 Aber auch jetzt weiß ich:
Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.
11,23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen.
11,24 Marta spricht zu ihm:
Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.

[24. August 2022] Da nach Vers 17 (W341) bei „der Ankunft Jesu in Betanien … Lazarus schon vier Tage im Grab“ liegt „und Lazarus nach den in V. 6 erwähnten zwei Tagen starb“, muss Jesus Klaus Wengst zufolge vier Tage vom „nördlichen Ostjordanland, in Batanäa“, zu dem Bethanien unterwegs gewesen sein, das nach Vers 18 in der Nähe von Jerusalem liegt. Die „Erwähnung der vier Tage“ schließt auch aus, „dass Lazarus nur scheintot sein könnte.“ Dass (Vers 19) „im Haus der Schwestern ‚viele Juden‘ versammelt“ sind, „um diese zu trösten“, ist nach Wengst ein Ausdruck der „g‘milút chassadím, was mit ‚Liebeswerke‘ und ‚Wohltätigkeit‘ nur unzureichend wiedergegeben ist. Es geht um den Erweis von Solidarität aus mitmenschlicher und sozialer Verpflichtung heraus in unterschiedlichen Bereichen.“

Ein Gespräch zwischen Jesus und Martha wird nun eingeleitet (W342), indem zunächst „nur sie von seinem Kommen erfährt“ und „Jesus entgegen“ geht, während „Mirjam im Haus sitzen bleibt“. Ihre doppelte Aussage in den Versen 21 und 22: „Herr, wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben“, und: „Aber auch jetzt weiß ich: Was immer du Gott bittest, wird Gott dir geben“, sieht Wengst als Ausdruck ihres Vertrauens zu Jesus: „Jesus erscheint hier als jemand, der jederzeit unmittelbaren Zugang zu Gott hat und von ihm alle Bitten erfüllt bekommt.“ Zwar ist diese Aussage in „der erzählten Situation … sicher nicht als implizite Bitte um Belebung des toten Lazarus verstanden. Aber für die Lesenden und Hörenden enthält sie diese Möglichkeit.“

Jesus kurzer Antwortsatz in Vers 23: „Dein Bruder wird aufstehen“, ist nach Wengst „sehr offen formuliert“, so dass sowohl an „die Auferstehung des Lazarus zum Leben am Ende der Zeit“ gedacht sein kann als auch an „sein Aufstehen aus dem Grab, wie es nachher in der Geschichte erzählt wird.“ Ob zu beidem das in einem Gegensatz steht, „was Jesus in V. 25f. sagen wird: die durch seine Person gegebene Gewissheit von Leben für die Glaubenden auch angesichts und trotz des Todes“, ist unter den Exegeten umstritten. Wengst kann sich nicht vorstellen, dass die „in V. 23 eingespielten Möglichkeiten … nur den Kontrast“ bilden, „das abzulehnende Falsche oder zumindest Überflüssige, demgegenüber dann Jesus sage, was ‚eigentlich‘ gelte“, denn (W342f.)

auch V. 23 ist eine Aussage Jesu. Sollte das mit ihr Ausgesagte wenig bis keine Bedeutung haben, wäre es seltsam, dass Johannes dann die Geschichte vom Aufstehen des Lazarus aus dem Grab so ausführlich erzählt. Mit dieser Geschichte steht die Vorstellung von der Auferstehung zum Leben am Ende der Zeit in einem engen Zusammenhang. Von daher ist es unwahrscheinlich, dass Marta durch die Offenheit der Formulierung von V. 23 zu einer „falschen“ Aussage provoziert werden solle, die dann anschließend durch Jesus „korrigiert“ werde. Vielmehr ist der Zusammenhang so zu denken, dass die in V. 23 enthaltene und von Marta in V. 24 wahrgenommene Möglichkeit den Rahmen bereitstellt, innerhalb dessen die Aussage Jesu in V. 25f. überhaupt erst gemacht werden kann und Sinn bekommt und ohne den sie in der Luft hinge.

In Vers 24 bezieht Martha Jesu Aussage dann auch wirklich „auf die allgemeine Auferstehung der Toten am Ende der Zeit“ und greift damit eine Hoffnung auf, „die zur Zeit des Evangelisten gleichermaßen geteilt wurde von Jüdinnen und Juden und von jüdischen und nichtjüdischen Menschen in den Gruppen und Gemeinden, die sich auf Jesus als Messias bezogen.“ In diesem Zusammenhang verweist Wengst darauf (W343), dass der „Gedanke einer allgemeinen Auferstehung im Volke Gottes … mit dem Bund im Zusammenhang“ steht; in seiner Treue zu Israel hält Gott „seine im Bund gegebenen Zusagen und lässt sich seine menschlichen Bundespartner auch durch den Tod nicht nehmen:

Die Vorstellung von der Auferstehung der Toten gewann im Judentum Raum in bedrängenden Erfahrungen unter der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: Gott wird mit der Auferstehung denen seine Solidarität und Treue erweisen, die ihm treu geblieben waren und dafür mit dem Tod bezahlt hatten. So wird bestritten, dass diejenigen das letzte Wort behalten, die über Leichen gegangen sind.

Auch nach Hartwig Thyen (T521) wird durch die Angabe in Vers 17, dass Lazarus „bereits seit vier Tagen in seinem Grabe“ lag, „die Endgültigkeit dieses Todes unzweideutig zur Sprache gebracht“. Vielleicht haben wir hier „das früheste Zeugnis der jüdischen Vorstellung vor Augen, daß die Seele eines Verstorbenen in der Hoffnung, in seinen Leib zurückkehren zu können, drei Tage lang in der Nähe seines Grabes weilt, um ihn erst am vierten Tage definitiv zu verlassen“. Thyen schließt auch „eine absichtsvolle Steigerung des Wunders den beiden synoptischen Totenerweckungen gegenüber“ nicht aus.

Zur Aussage von Vers 18: „Bethanien aber liegt nahe bei Jerusalem, nur etwa fünfzehn Stadien entfernt“, erörtert Thyen die Vergangenheitsform des Wortes ēn {war}, die er „durch das präsentische ‚es liegt‘ wiedergegeben“ hat. Er nimmt an, dass hier nicht angedeutet sein soll, in der Zeit des Johannes nach der „Zerstörung Jerusalems und seiner näheren Umgebung im Jahre 70“ sei diese Lage nicht mehr gegeben. Nach Thyen (T521f.) erfüllt die

präzise Lokalisierung und Benennung des Wohnortes der Schwestern Maria und Martha als ,Bethanien‘, den Lukas nur vage eine kōmēn tina {ein Dorf} nennt (Lk 10,38…), … einen dreifachen Zweck: Einmal dient sie der Identifikation der namenlosen Frau, die Jesus in Bethanien mit kostbarer Narde für sein Begräbnis gesalbt hat (Mk 14,3-9) mit Marthas Schwester Maria (Joh 12,1,-8). Zum andern erklärt sie durch die Nähe Jerusalems, das bei der Länge eines ,Stadion‘ von 192 Metern nur knapp drei Kilometer vom Haus der Schwestern in Betanien entfernt ist, die Anwesenheit der vielen Ioudaioi, die – wie 11,45ff zeigt – wohl aus Jerusalem gekommen waren, um nach jüdischem Brauch mit den Schwestern den Tod des Lazarus zu beklagen. … Und zum Dritten endlich führt die Lokalisierung Bethaniens Jesus in die unmittelbare Nähe des Ortes seiner Verherrlichung am Kreuz von Golgatha, die nicht nur die unmittelbare Folge der Auferweckung des Lazarus ist (11,47ff), sondern im Sterben und der Auferweckung des bethanischen „Freundes“ Jesu gewissermaßen ihre Vor-Abbildung erfährt.

In Vers 20 (T522) erinnert Thyen zufolge das unterschiedliche Verhalten der beiden Schwestern an das dem Leser vertraute „Bild der geschäftigen Martha demjenigen ihrer kontemplativen Schwester Maria gegenüber … aus Lk 10,38-42“. Allerdings wird dieses Bild „im folgenden nicht unerheblich differenziert“:

Denn indem er [der Leser] nun auch an Martha als der aufmerksamen Zuhörerin der den Tod überwindenden Worte Jesu und als der Bekennerin des lebendigmachenden Glaubens deren kontemplative Seite und an Maria als derjenigen, die Jesus den Liebesdienst tut, ihn für sein Begräbnis zu salben, deren Aktivität entdecken soll, wird das Klischee einer die vita activa bei weitem überbietenden vita contemplativa höchst fragwürdig und deutlich, daß beide im rechten Christenleben jeweils ihre Zeit und ihren Ort haben müssen und – wie die beiden Schwestern – geschwisterlich zusammengehören.

Wie nach Wengst ist auch nach Thyen Marthas Aussage in Vers 21: „Wärest du hier gewesen“ unter Bezug auf Bultmann <822>

schwerlich ein Vorwurf, sondern eher ein Ausdruck „schmerzlichen Bedauerns“. Denn Marthas darauffolgender Satz ist „natürlich … eine indirekte Bitte, den Bruder zu erwecken; aber es ist bedeutsam, daß (er) nicht als Bitte, sondern als Bekenntnis formuliert ist“.

Vers 22 macht also deutlich, dass ihr „grenzenloses Vertrauen in Jesus als den Heiler der Kranken“ ungebrochen bleibt.

Kritisch sieht Thyen die Beurteilung von „Marthas Glauben“ durch Frey <823> „als defizitär“ (T522f.),

weil sie „die Kraft zum zōopoiein {Lebendigmachen} nicht Jesus, sondern – wie im Kontext des antiken Judentums nicht anders denkbar – allein Gott“ zutraue. Jesus sei für sie nicht mehr als ein „ausgezeichneter Gerechter, dessen Gebet Erhörung“ finde wie einst dasjenige Elias und Elisas. Und zu V. 41f erklärt er, Jesus brauche im Gegensatz dazu „gerade nicht um das Wunder zu bitten, sondern er dankt … für die ständige ,Erhörung‘, die eben darin besteht, daß der Vater dem Sohn alle seine Werke ,zeigt‘ (Joh 5,20), die also ihren Grund in der Einheit des Sohnes mit dem Vater (Joh 10,30) besitzt“.

Dagegen argumentiert Thyen zu Recht, dass sich erstens „natürlich nur einer dafür bedanken“ kann, „daß Gott ihn allezeit erhört …, der wie Jesus als der monogenēs hyios {einziggeborene Sohn} in ständiger und engster Kommunikation mit Gott als seinem himmlischen Vater begriffen ist.“ Beispielhaft wird „diese Einheit Jesu mit ,dem Vater‘ im Gebet (und in der Liebe) … im 17. Kapitel thematisiert“. Und zweitens

hat Martha natürlich ganz recht, wenn sie mit ihrem jüdischen Volk das ,Lebendigmachen‘ der Toten allein Gott „zutraut“. Denn Jesu kühnes Wort: „Ich und der Vater sind Eines“ (10,30) darf nicht im Sinne des von Origenes eingeführten gnostischen Gedankens der ,Homousie‘ als einer ontologisch fundierten Wesenseinheit von Vater und Sohn verstanden werden, so daß man nun auch dem ,Sohn‘ zutrauen müßte, was man bislang allein vom Vater erwartete, sondern vielmehr so, daß der Vater seine rechtfertigende und versöhnende Gegenwart in der Person des jüdischen Mannes Jesus mit ihren Worten und Werken „ereignet“. Einheit mit dem Vater heißt, daß Gott, der seine Wunder immer schon durch weltliche Vermittlungen getan hat, sie jetzt durch diesen jüdischen Mann tut.

Wieder ist in Vers 23 nach Thyen wie nach Wengst „Jesu Wort an Martha: ‚Dein Bruder wird auferstehen‘, absichtsvoll doppeldeutig“, denn er sagt weder, „daß dieses ‚Auferstehen‘ unmittelbar bevorstehe, noch daß er es jetzt bewirken werde“, und daher kann es ebenso im „Horizont der endzeitlichen Totenauferstehung … (vgl. 6,39.40.44 u. 54)“ verstanden werden. Damit ist „Marthas Antwort“ in Vers 24

geradezu vorprogrammiert. Dabei bringt das oida {ich weiß}, mit dem Martha ihre Antwort einleitet, die Gewißheit ihrer Hoffnung auf die allgemeine Auferweckung der Toten am Ende der Tage zum Ausdruck, einer Hoffnung, die sie mit den Pharisäern, weiten Kreisen ihres Volkes und gewiß auch mit Jesus teilt. Weil Jesus selbst diese Antwort förmlich provoziert hat, sollte man sie auch nicht sogleich als Indiz eines defizitären Glaubens werten und als bloßes ,Mißverständnis‘ qualifizieren.

Anders als Wengst und Thyen hebt Ton Veerkamp <824> zu Vers 17 zunächst hervor, dass Jesus seinen Freund Lazarus im Grab „findet“, und das „schon seit vier Tagen“. Außerdem sieht er „in der Nähe Jerusalems“ (Vers 18) nicht nur das baldige Leiden und Sterben Jesu vorangekündigt, sondern er ordnet diese Bemerkung in die Erfahrungen ein, die Johannes und seine Adressaten inzwischen machen mussten:

Was hier geschehen wird, ist in unmittelbarer Nähe zu dem zu sehen, was geschehen ist. Jerusalem ist zerstört, das Volk ist Opfer der Genozide durch die Römer geworden, es ist tot und mehr als tot. Das ist der Befund, für die Personen der Erzählung finstere Zukunft, für den Erzähler grauenhafte Gegenwart.

Zwei Tage hatte Jeschua gewartet. Er kommt am vierten Tag. Der dritte Tag ist also ausgelassen. Mit gutem Grund. Was am vierten Tag geschieht, wird durch das, was am dritten Tag geschehen wird, möglich. Drei Tage wird Jeschua brauchen, um das abgerissene Heiligtum wieder aufzurichten, dabei sprechend von seinem Körper (2,19). Diese Leerstelle weist darauf hin, dass Johannes 11 erst durch Johannes 20 verstanden werden kann; das Grab des Messias ist das Grab Israels. Die Auferstehung des Messias wird die Auferstehung Israels sein.

Die gemeinsame Trauer vieler Juden mit Maria und Martha, von der in Vers 19 die Rede ist, deutet Veerkamp im Sinne einer Gemeinsamkeit, die nach Johannes über politische und theologische Spaltungen hinweg erhalten bleibt:

Die Judäer sprechen den beiden Schwestern Trost zu, des Bruders wegen. Judäer verkehren mit denen, die mit Jeschua befreundet sind. Beide vereint die Trauer um Israel, denn Lazarus ist, wie gesagt, die exemplarische Konzentration eines Israels, das keine Zukunft mehr sieht. „Juden“ sind bei Johannes offenbar nicht die graue Masse eines homogenen Hassobjektes. In Zeiten tiefster Volkstrauer und tiefster Demütigung durch die Feinde sind hier alle Juden. Ein alter Kommunist jüdischer Herkunft sagte: „Ich glaube nicht an Gott, ich glaube nicht an den Zionismus, aber solange es noch einen Antisemiten gibt, bin ich Jude.“

Das Anliegen, das Martha verfolgt, indem sie (Vers 20) Jesus allein entgegen geht, beurteilt Veerkamp anders als Wengst und Thyen im Sinne eines Vorwurfs (Vers 21), der bereits in den jüdischen Schriften dem Gott Israels gegenüber lautstark geäußert wurde:

Sie wird in Form eines Vorwurfs die Frage stellen, die alle Messianisten nach der Zerstörung Jerusalems stellen werden: „Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Die Frage ist keine andere als die des 74. Psalms, 74,9ff.:

Wir sehen kein Zeichen mehr für uns,
auch nicht einen Propheten,
keiner von uns weiß bis wann!
Bis wann, Gott, darf der Würger verhöhnen,
der Feind deinen Namen verachten für immer?
Warum ziehst du zurück deine Hand, deine Rechte
von der Mitte deiner Brust, ganz und gar?

Wie oft hat dieses Volk solche Lieder singen müssen? Wie oft hat es gefragt: „Wo ist Gott?“ Martha ist nicht die erste, nicht die einzige, die feststellt: „Wäre Gott da gewesen, wären wir noch am Leben!“ Dieser Messias kann nichts verhindern, auch wenn Martha zu wissen meint {Vers 22}, dass Gott dem Messias das geben wird, um was der Messias bittet. In den sogenannten Abschiedsreden wird dieses Thema behandelt 14,13; 15,7; 16,23. Aber da ist der Abschied des Messias schon vorweggenommen.

Die Antwort Jesu (Vers 23) und Marthas Reaktion (Vers 24) stellt Veerkamp wie Wengst und Thyen in den Zusammenhang der jüdischen Auferstehungserwartung am Tag der Entscheidung, verweist dabei aber anders als diese auf Daniel 7,10. Und er sieht Jesu Auskunft als nicht unbedingt tröstlich für Martha:

Jeschuas Antwort ist die klassische Lehre des rabbinischen Judentums und der Messianisten: die Toten werden aufstehen. „Das Gericht setzt sich, Bücher werden geöffnet“ (Daniel 7,10), alles, was in Unordnung geraten war, wird in Ordnung gebracht werden und die Toten werden leben. Jeschua: „Dein Bruder wird aufstehen.“ Dass er am „Tag der Entscheidung“ aufstehen wird, tröstet sie nicht. Der „Tag der Entscheidung“ (eschatē hēmera) liegt außerhalb der Reichweite eines Menschenlebens.

Johannes 11,25-27: Jesus als Auferstehung und Leben und Marthas Glaube an den Messias

11,25 Jesus spricht zu ihr:
Ich bin die Auferstehung und das Leben.
Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe;
11,26 und wer da lebt und glaubt an mich,
der wird nimmermehr sterben.
Glaubst du das?
11,27 Sie spricht zu ihm:
Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist,
der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.

[25. August 2022] Für Klaus Wengst (W343) ist der „Horizont der endzeitlichen Auferstehung der Toten“, den Martha aufreißt, der entscheidende Hintergrund für Jesu Aussage in Vers 25: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Er wiederholt dazu zunächst in allgemeiner Form seine Interpretation der Ich-bin-Worte Jesu:

Stellen die absoluten Ich-bin-Worte heraus, dass Gott in Jesus präsent ist, so entfalten die Ich-bin-Worte mit Prädikat die Gaben des in Jesus gegenwärtigen Gottes, für die Jesus in Person einsteht und die er vermittelt. Präsentiert er sich hier als „die Auferstehung und das Leben“, so geben diese Zusammenstellung und ihre Reihenfolge zwei wichtige Hinweise für das Verstehen.

Mir ist auch nach längerem Suchen nicht ganz klar, in welcher Weise Wengst im Folgenden genau zwei Hinweise unterscheidet; letzten Endes läuft seine Auslegung darauf hinaus, dass bereits Jesu Ich-bin-Wort ohne „die futurisch-endzeitliche Dimension“, die in den „folgenden Verheißungsaussagen“ offenbar wird, nicht verstanden werden kann. Im Klartext bedeutet das:

In der Erfahrung einer Welt, in der alles Leben schließlich doch dem Tod anheimfällt, in der das Sterbenmüssen unumgänglich ist, kann wirkliches und dauerhaftes Leben nur im Aufstand gegen den Tod und in seiner Überwindung behauptet werden.

Damit hält Wengst es für (W343f.) „nicht angemessen“, in diesem Ich-bin-Wort Jesu „‚die Gegenwärtigkeit des Heils‘ im Gegensatz zur Zukunftserwartung betont zu sehen.“ Auch Jesus wird ja sterben, und seine Auferweckung wird keine „Wiederbelebung eines Toten auf Zeit“ sein, sondern ist „im Sinne endzeitlicher Totenerweckung“ zu begreifen, „dass Jesus den Tod ein für allemal hinter sich hat und lebt“, worauf bereits in Johannes 2,22 grundlegend verwiesen worden ist.

Im gleichen Sinne versteht Wengst die in den Versen 25b-26a „folgende Verheißung“ als „eine parallele Doppelaussage“ zum „Gabecharakter“ der „Prädikation Jesu als Auferstehung und Leben“:

„Die auf mich vertrauen, werden leben, auch wenn sie sterben. Und alle, die im Vertrauen auf mich leben, sterben ganz gewiss nicht auf immer.“ Auf Jesus vertrauen, an ihn glauben, heißt in diesem Kontext, darauf zu setzen, dass er mit seinem Tod nicht abgetan und erledigt ist, sich darauf zu verlassen, dass Gott an ihm als totenerweckender Gott gehandelt hat. Die auf ihn vertrauen, lassen sich daher in seine Auferstehung und sein Leben einbeziehen.

Nach Wengst mag damit zwar „auch ein qualifiziertes Leben vor dem Tod“ gemeint sein, indem „die Aussage von 5,24“ anklingt, die er in diesem Sinne interpretiert hatte. Dennoch steht hier die „futurische Dimension“ im Vordergrund:

Das Gewicht liegt auf der bleibenden Gültigkeit des Verheißenen. In beiden Sätzen ist der physische Tod im Blick. Er wird nicht ignoriert, aber es wird verneint, dass er eine endgültige Bedeutung habe, dass er das letzte Wort sei. So geht es nicht nur um ein Leben vor dem Tod und angesichts des Todes, sondern es wird Leben verheißen trotz des Todes und über den Tod hinaus. Das kann nur im Kontext endzeitlicher Auferstehung gedacht sein. Diese Aussage Jesu darf also nicht antithetisch zur Aussage der Marta verstanden werden. Sie erfolgt vielmehr in deren Rahmen.

Völlig zu Recht begründet Wengst diese Sicht der Dinge mit der „Geschichte von der Auferweckung des Lazarus“, die keineswegs als „ein Zeichen für das gegenwärtige Leben im Glauben“ erzählt wird:

Wie sollte sie das leisten können? Von Lazarus wird ja nichts sonst erzählt, als dass er krank war, starb und begraben wurde und dass er am vierten Tag auf den Ruf Jesu hin aus dem Grab herausgekommen ist. In dieser völligen Passivität kann er nicht Zeichen für das Leben im Glauben sein. Die Erzählung über ihn entspricht genau der Aussage Jesu in 5,28. Sie ist daher als Zeichen der endzeitlichen Totenauferstehung verstanden und hat somit dieselbe Funktion wie die in der Bibel erzählten Totenbelebungen durch Elia, Elisa und Ezechiel in der rabbinischen Literatur.

Indem Jesus und Martha (W345) „angesichts eines leibhaftigen Toten“ miteinander sprechen, „muss es auch um Auferstehung des ganzen Menschen gehen“ und wird „die futurisch-endzeitliche Dimension“, also die „Erwartung der künftigen Auferstehung … nicht vergleichgültigt oder beiseite geschoben, sondern bestätigt. Sie erhält gerade in der Person und in dem Geschick Jesu ihre Gewissheit. Dafür wird die Auferweckung des Lazarus ein Zeichen sein.“ In dieser Hinsicht erklärt sich Wengst mit Thyen vollständig einig, auf den wir gleich zu sprechen kommen werden, und wendet sich gegen diejenigen, die an Stelle der „Erwartung der endzeitlichen Totenauferstehung“ für die Interpretation von Vers 25-26 „irgendetwas Unsterbliches“ erfinden, zum Beispiel gegen Theobald, <825> der

bestreitet, dass „die Vorstellung einer zukünftigen leiblichen Auferstehung der Glaubenden“ vorliege, und vermutet, der Evangelist denke „an eine Errettung der menschlichen ,Seele‘ im Tod“. … Die Gewissheit auf Teilhabe am Leben – auch gegen den Tod -, die sich daran festmacht, dass Jesus „die Auferstehung und das Leben“ ist, sollte nicht ausgespielt werden gegen die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten und die Teilhabe an der kommenden Welt, wie sie in der jüdisch-rabbinischen Tradition artikuliert wird.

In all diesen Ausführungen ist Wengst in seiner Abgrenzung von einer rein auf die Gegenwart des Glaubens oder auf Unsterblichkeitsspekulationen bezogenen Auslegung des Ich-bin-Wortes Jesu voll und ganz Recht zu geben. Und doch fehlt bei ihm ein entscheidender Gesichtspunkt. Die Konturlosigkeit und das durchgehende Schweigen der Person des Lazarus spricht auch dagegen, dass es hier um die individuelle Totenauferweckung für ein jenseitiges Leben im Himmel gehe. Wengst übersieht, dass Lazarus symbolisch für ganz Israel steht, für seine Verwesung unter der römischen Weltordnung und für sein Leben der kommenden Weltzeit, das durch Jesus anbrechen kann. Denn Endzeit bedeutet für den jüdischen Messianisten Johannes ein Leben in Frieden, Recht und Freiheit hier auf Erden für Israel inmitten der Völker, eingeleitet durch die Auferstehung derer, die auf den Messias des Gottes Israels vertrauen. Darin, dass diese Endzeit mit dem gekreuzigten und auferstandenen Messias Jesus unmittelbar bevorstehen soll, besteht die Provokation des Johannesevangeliums gegenüber dem jüdischen Rabbinen, die aus deren Sicht als unerträglich und gotteslästerlich abgelehnt werden muss.

Ginge es dagegen um die allgemeine Totenauferstehung in einer möglicherweise noch sehr fernen Zukunft, hätte Jesus mit den Rabbinen einig sein müssen – es sei denn, der jüdische Glaube an die Auferstehung wäre, wie die christliche Kirche später behauptete, unzureichend gewesen und nur der Glaube an Jesus könne wirklich Auferstehung bringen, nur in ihm sei der Gott Israels wirklich gegenwärtig. Dieser Konsequenz, dass Juden ohne Vertrauen auf Jesus ewig verloren wären, versucht Wengst dadurch zu entgehen, dass er den bleibenden Sinn der christlichen Botschaft in der Öffnung der Verheißungen Israels durch den jüdischen Messias Jesus auch für die Völker sieht. Aber für Johannes lässt sich das jedenfalls nicht schlüssig belegen.

Zurück zu Wengsts Auslegung der Verse 25-26. Auf die Frage Jesu an Martha am Ende von Vers 26: „Vertraust du darauf?“ „Glaubst du das?“ reagiert Martha in Vers 27 mit einem Bekenntnis, und zwar glaubt sie, „wie der Hofmann in 4,50 auf das Wort Jesu hin glaubte, bevor er das Zeichen gesehen hatte“:

„Ja, Herr, ich habe jetzt das Vertrauen, dass du der Gesalbte bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“ Das ist ein Bekenntnis, wie es Johannes in 20,31 mit fast denselben Worten aufnimmt und dort als Ziel der Abfassung des Evangeliums angibt. Indem Marta die Frage Jesu nicht nur mit „Ja, Herr!“ beantwortet, sondern dieser Bejahung ein ausdrückliches Bekenntnis zu Jesus folgen lässt, nimmt sie wahr und lässt es für sich wahr sein, dass Jesus in seiner Person für das verheißene Leben einsteht. Dabei macht die Zusammenstellung der Bezeichnungen deutlich, dass er es als der tut, der von Gott beauftragt ist, in dem Gott begegnet.

Wie bereits angedeutet, stimmt Hartwig Thyen (T524) in seiner Einschätzung der Verse 25-27 mit Wengst gegen viele andere Exegeten darin überein, dass „dieses egō-eimi-{Ich-bin-}Wort Jesu samt Marthas Antwort, die ihm mit dem sy-ei {du bist} als Bekenntnis genau entspricht, keinesfalls als Polemik gegen den Glauben an die endzeitliche Auferstehung ‚aller, die in den Gräbern sind‘ (5,28f)“ zu begreifen ist:

„Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, der wird in Ewigkeit nicht sterben. Glaubst du das? Da antwortete sie Ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“

Zwar hat Johannes Thyen zufolge „angesichts der andauernden Erfahrung von Anfechtung und Leid sowie von Verfolgung und Tod ein vordringliches Interesse daran…, seine potentiellen Leser zu vergewissern, daß mit Jesu Weg und Werk Gottes neue Schöpfung und sein unzerstörbares Leben bereits in die noch vom Tod gezeichnete alte Welt eingebrochen sind“, aber man darf das, was er hier sagen will, nicht auf den Sinn einer solchen „präsentischen Eschatologie“ reduzieren, denn (T524f.)

der vom österlichen Geist gestiftete und unterhaltene, wenn auch noch ständig angefochtene Glaube ist noch nicht das Schauen des Eschaton {des Letzten, der Erfüllung} (1Joh 3,2). Auch wenn Johannes das nicht wie Paulus eigens thematisiert, sind doch auch für ihn die Liebe und die Hoffnung die wesentlichen Strukturmomente des Glaubens. Das Ziel von Gottes Geschichte ist nicht die Sammlung der Erwählten, sondern die Erlösung des Kosmos (Joh 3,17). Und wie in diesem nichts ohne den Logos geschaffen ist, so darf bei seiner Erlösung auch kein einziges übergangen werden, weder die seufzende außermenschliche Kreatur, noch und schon gar nicht die Gerechten aus dem Gottesvolk Israel und all die unschuldig Gequälten und Ermordeten aus den Völkern, mögen sie nun in ihren Gräbern schlafen oder nicht einmal diese letzte Stätte der Ruhe gefunden haben.

Mit dieser Haltung wendet sich Thyen (T525) gegen „die eher gnostische als biblische Unterscheidung zwischen ‚geistig‘ und ‚physisch Toten‘, die in der Regel auf eine Trennung der einen von den anderen hinausläuft“, als untaugliches Mittel „zur Interpretation unseres Evangeliums“:

Denn der Gedanke, daß die gesamte vorchristliche Menschheit einschließlich Abrahams, Moses, Jesajas und aller unerkannten ,Gerechten‘ eine verlorene Masse „geistig Toter“ sei, ist doch alles andere als „johanneisch“. Zudem zeigt die zentrale Stellung der Szene von der Auferweckung des Lazarus aus seinem Grabe als Peripetie der gesamten Erzählung von den bethanischen Geschwistern, daß hier Leibliches und Geistiges nicht voneinander zu trennen sind.

Ausführlich wehrt sich Thyen auch gegen alle Versuche, aus dem Ich-bin-Wort Jesu den zweiten Bestandteil „und das Leben“ auf Grund textkritischer und überlieferungsgeschichtlicher Erwägungen herauszustreichen, und besteht darauf (T526), dass „diese beiden Verse in ihrer überlieferten Gestalt, ebenso wie alle anderen prädizierten egō-eimi-Worte unseres Evangeliums auch, eine ad-hoc-Bildung {neue Wortbildung aus einer besonderen Situation heraus} unseres Evangelisten“ sind:

Die Kopula eimi versetzt ihren Sprecher in den Bereich der Ähnlichkeit mit der eschatologischen Auferstehung der Toten und des ewigen Lebens bei Gott und damit in die paradoxe Spannung zwischen einem „Ich bin“ und „Ich bin nicht“. Jenseits unseres gewöhnlichen Verständnisses von Realität, die mittels der Adäquation „verifiziert“, d.h. als ,Wahrheit‘ erwiesen wird, versetzt die Metapher in den Raum einer dynamischen und nicht objektivierbaren Wirklichkeit, die nur bezeugt, nicht aber behauptet werden kann.

Thyen hält auch an dieser Stelle daran fest, dass Jesu Ich-bin-Worte weder eine Wesenseinheit Jesu mit Gott noch (T527) seine rein „soteriologische {rettende} Funktion als des Gesandten Gottes“ ausdrücken.

Die beiden Sätze in Vers 25b und 26ab, die das Ich-bin-Wort Jesu erläutern, sind nach Thyen nicht gleichbedeutend:

Martha und mit ihr der Leser kann Jesu Wort, daß der Glaubende leben wird, auch wenn er stirbt, gar nicht anders als auf ihren gestorbenen Bruder beziehen. Zugleich ist damit gesagt, daß auch Glaubende wie Lazarus sterben müssen. Das steht aber – zumindest scheinbar – in ekklatantem Widerspruch zum folgenden Satz: „Wer da lebt und an mich glaubt, der wird in Ewigkeit nicht sterben“. Da man aber Johannes kaum zutrauen wird, daß er Jesus in einem derart gewichtigen Wort sich selbst widersprechen läßt, können Leben und Sterben in den beiden Sätzen nicht das Gleiche bedeuten.

Daher ist nach Thyen nur die Schlussfolgerung mölich, wie er mit einem Zitat von Jörg Frey <826> feststellt (T527f.), dass das Wort apothnēskein {sterben} in den Versen 25b und 26b

„in unterschiedlichem Sinn zu lesen ist, nämlich in der Konzession kan apothanē {auch wenn er stirbt} in Bezug auf den leiblichen Tod (wie in Joh 11 von Lazarus berichtet), in der Lebenszusage V. 26b ou mē apothanē eis ton aiōna {wird in Ewigkeit niemals sterben} hingegen in einem spirituellen Sinn: Diese Wendung, die als emphatische Negation ,gewiß nicht sterben‘ zu übersetzen ist, kann hier nur dies besagen, daß das in Christus geschenkte ,ewige Leben‘ der Glaubenden unzerstörbar ist und … auch im leiblichen nicht endet. Negiert ist für die Glaubenden also nicht die Realität des leiblichen Todes, sondern die Bedrohung durch den ,ewigen Tod‘“. Frey verweist dazu auf die Analogie der Rede vom ,zweiten Tod‘ in Apk 2,11; 20,6.14 und 21,8 und schlägt vor, entsprechend auch zwischen dem Hendiadyoin ho zōn kai pisteuōn eis eme {wer lebt und an mich glaubt}, das von dem ,ewigen Leben‘ rede, das dem Glaubenden bereits jetzt geschenkt sei, und dem „auffällig futurisch formulierten zēsetai {wird leben} zu unterscheiden, das im Sinne der Symbolik der Lazaruserzählung als die Verheißung eines ,Auflebens‘ begriffen werden müsse, das im Falle des leiblichen Todes dem Glaubenden zuteil“ werden solle.

Diesem „begründeten Lektürevorschlag“ folgt Thyen einerseits (T528), um „das verheißene eschatologische Ziel der Erlösung des kosmos (3,17), der Auferweckung der Toten und des gerechten Gerichts“ sowie schließlich auch „Israels Erlösung“ nicht preiszugeben. Andererseits fordert ihm zufolge „das späte Johannesevangelium durch seine enge Intertextualität mit den biblischen und auch den synoptischen Texten zu seiner ‚kanonischen Interpretation‘ geradezu heraus“. Wenn man das Lazaruswunder nicht wie Frey auch als Zeichen auf diese endzeitliche Erlösung hin begreifen will, ist man Thyen zufolge wie Jürgen Becker <827> dazu

genötigt, Joh 11,38-44 lediglich „illustrativen Charakter“ zuschreiben, an den Evangelisten „die Anfrage zu richten, ob solche Illustration wie in Joh 11 noch sachlichen Sinn hat“, um dann zu dekretieren: „Muß man nicht, um der Tragweite von 11,25f willen … die theologische Bedeutungslosigkeit des Lazaruswunders herausstellen? In der Tat: von 11,25f her muß das Bestaunen des Wunders und das Hoffen auf wunderbare Vorgänge wie in 11,1ff als theologisch überflüssig und ohne Sinn gelten“.

So überzeugend Thyen hier argumentiert, bleiben doch auch bei ihm wie bei Wengst entscheidende Fragen offen:

1. Wenn ihm „Israels Erlösung“ am Herzen liegt, warum vermag er dann nicht einmal zu erwägen, das Lazarus ein Israel verkörpert, das tot ist und der Auferweckung durch den Messias Jesus bedürftig ist?

2. Hat Johannes als jüdischer Messianist den Satz ou mē apothanē eis ton aiōna unbedingt schon spirituell im Sinne einer Bewahrung vor dem ewigen Tod im jenseitigen Himmel verstanden? Kann er ihn nicht auch auf ein „niemals Sterben bis in die kommende Weltzeit hinein“ bezogen haben, wenn er davon ausging, dass mit der Überwindung des gegenwärtigen Äons der herrschenden Weltordnung durch Jesu Tod am römischen Kreuz dieses ewige Friedensreich auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes unmittelbar bevorstand?

3. Und schließlich, auch wenn Johannes sein Evangelium spät und in Kenntnis anderer Evangelien verfasst: Grenzt er sich nicht doch insofern von diesen ab, als er die Aufgabe des Messias auf die Sammlung und Befreiung ganz Israels konzentriert und einer allgemeinen Völkermission gegenüber mit großer Zurückhaltung begegnet?

Auf Jesu Frage in Vers 26c:

pisteueis touto? {Glaubst du das?} antwortet Martha nun: „Ja, Herr, ich glaube fest (pepisteuka {wörtlich: ich habe geglaubt}): Du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ Mit ihrem sy ei ho christos ktl. {Du bist der Gesalbte usw.} entspricht Martha formgerecht dem vorausgegangenen egō eimi Jesu…

Allen Versuchen gegenüber, Marthas Glauben als unangemessen oder unzureichend zu beurteilen, beruft sich Thyen auf Sandra Schneiders, <828> die zu „Marthas Bekenntnis“ in Vers 27 auf Grund des Offenbarungswortes Jesu in den Versen 25-26 „treffend bemerkt“:

„Die Offenbarung Jesu an Martha ist jedoch keine Darlegung endzeitlicher Lehrsätze, sondern eine Selbstenthüllung, die eine persönliche Antwort verlangt. Glaube ist an dieser Stelle nicht theologische Zustimmung, sondern persönliche geistige Verwandlung“. … Die Autorin unterscheidet hilfreich zwischen ,Theologie‘ und ,Spiritualität‘ als der Differenz zwischen einem „Nachdenken über Offenbarung“ und einer „persönlichen Hingabe an den Offenbarer“ und sieht in Marthas Bekenntnis ihren Eintritt in das ewige Leben: „Die Szene endet abrupt, nicht weil Marthas Antwort unzureichend wäre, sondern weil diese Antwort in ihr ein neues Leben in Gang gesetzt hat, das der Horizont aller weiteren Erfahrung ist“. … Darum gilt von dem Versuch, Marthas Glauben auf Grund ihrer in V. 39 erzählten Äußerung als ,inadäquat‘ zu erweisen: „das geht völlig am Thema vorbei. Wie Petrus, der die Rede vom Brot des Lebens nicht ganz verstanden hat, glaubt Martha nicht an das, was sie versteht, sondern an den, der die Worte des ewigen Lebens hat (vgl. 6,68)“.

Im Zuge der Auslegungen von Wengst und Thyen hatte ich bereits auf eine Reihe offener Fragen aufmerksam gemacht, die Ton Veerkamp <829> im Rahmen seiner auf die Belebung und Befreiung Israels bezogenen Lektüre von Kapitel 11 anders beantwortet. Hinzu kommt bei Veerkamp eine weitaus größere Skepsis im Blick auf die tröstliche Wirkung der Wort Jesu über Auferstehung und ewiges Leben:

Jetzt erklingt: „ICH BIN ES: die Auferstehung und das Leben“, Worte, die unzählige Male an den Gräbern der Christen gesagt wurden, manchmal Trost spenden, sehr oft auch nicht. Wir sind wie Martha.

Jeschua fügte hinzu: „Wer mir vertraut, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und mir vertraut, wird nicht sterben für die kommende Weltzeit.“ Was heißt das? Johannes weiß, dass die Leute sterben werden. Aber sie sterben im Wissen, dass der Tag der Entscheidung da ist und dass die Dinge in Ordnung kommen! Innerlich? Geistig? Im Jenseits? Es geht hier nicht um Leben nach dem Tod. Es geht um Leben trotz des Todes, des allgegenwärtigen Todes, trotz der Allmacht der Todesmacht Rom.

Damit hält Veerkamp an einer Hoffnung fest, von der ihm zufolge schon die biblische Tora und die Propheten erfüllt waren und die bis in unsere Zeit hinein von denjenigen nicht aufgegeben worden ist, die auf eine Überwindung der gesellschaftlichen und ökologischen Todesmächte hinarbeiten. Gegen die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass die buchstäbliche Auferweckung des verwesenden Leichnams des Lazarus letzten Endes auf die spirituelle Auferstehung der Toten im Himmel bzw. auf ihre Errettung vor der ewigen Verdammnis hindeutet, beharrt Veerkamp auf einer Auslegung der Lazaruserzählung, die den konkreten Erfahrungen der messianischen Gemeinde im und nach dem Judäischen Krieg standhält und vor allem anderen die Befreiung Israels nicht aus den Augen verliert:

Wenn irgendwo, hat das Johannesevangelium hier eine durchschlagende Wirkung gehabt. Die Sätze von 11,25f. werden in aller Regel aufgefasst als Bestätigung für das Weiterleben der individuellen Person nach dem Tod. Aber Lazarus ist nicht nur eine individuelle Persönlichkeit. Eine Erweckung aus dem individuellen Tod hilft ihm nicht, er müsste dann noch einmal sterben. Es gibt keine Aussage, keine erzählte Tat des Lazarus. Er hat in der Erzählung keine Persönlichkeit, mit Absicht. Das liegt nicht an mangelndem erzählerischem Talent. Die Frau aus Sychar, der Blindgeborene, auch Nikodemus, auch Thomas Didymos: sie alle haben Persönlichkeit. Lazarus‘ Persönlichkeit geht völlig auf in der Funktion, die er in der Erzählung hat: den tödlichen Zustand Israels zu repräsentieren. Wer – als Kind des Volkes – dem Messias vertraut, wird genausowenig wie das Volk sterben. Bleibt Israel, bleibt der Name jedes Kindes Israels.

Mit seiner Auslegung enttäuscht Veerkamp viele Erfahrungen und Erwartungen, die wir als Christen mit diesem Ich-bin-Wort Jesu verbinden, das wir vielleicht seit dem Konfirmandenunterricht auswendig können und das den einen oder die andere im Falle des Todes geliebter Menschen getröstet hat. Ich selber will nicht ausschließen, dass es auch in diesem Sinne gedeutet werden darf. Aber ich stimme Veerkamp zu, dass zumindest für Johannes diese Deutung nicht im Vordergrund steht:

Was passiert mit mir als Individuum, wenn ich sterbe? Auf diese Frage gibt Johannes zumindest hier keine Antwort. Wenn du da gewesen wärst, wäre Lazarus nicht gestorben: Das ist keine Frage, sondern ein Vorwurf. Jeschua entgegnet: ICH BIN ES (egō eimi), Lazarus lebt, auch wenn seine Leiche verwest.

Das muss ja wohl heißen: Auch wenn Jerusalem in Trümmern liegt, Tausende von Juden an römischen Kreuzen gestorben sind, ein Ende der versklavenden Herrschaft Roms nicht absehbar ist, verkörpert der Messias Jesus dennoch den befreienden NAMEN des Gottes Israels. Der offensichtliche Sieg des römischen Imperiums über Israel ist nicht endgültig. Gott bleibt der Gott der Lebenden und eröffnet durch den Tod des Messias das Leben der kommenden Weltzeit für Israel. Das gilt gegen allen Augenschein, nur auf Grund der Treue des Gottes Israels.

Die Frage, ob „Martha diesem Wort“ Jesu vertraut, das Veerkamp mit dem hebräischen Wort für „Wort“ eine „Tatsache (davar)“ nennt, beurteilt er skeptisch. Zur Begründung beruft er sich auf einen Text, der von der in den Handschriften „fast einhellig“ belegten Perfekt-Form des Satzes „Ich habe vertraut, pepisteuka“, abweicht:

Der älteste nahezu vollständige Text, Papyrus 66, schreibt aber ein Präsens, „ich vertraue, pisteuō“. Das Präsens könnte heißen: „Ich will ja darauf vertrauen, dass DU ES BIST (sy ei), der Messias, wie Gott kommend in die Weltordnung.“ Schafft dieses Vertrauen den Tod aus der Welt, den Tod der Weltordnung des Todes?

Der Satz ist das Bekenntnis der messianischen Gemeinde. Solche Bekenntnissätze werden nicht selten artig daher gesprochen. Die Artigkeit aus Marthas Mund kann ihre Skepsis kaum verhüllen, wie wir am geöffneten Grab ihres Bruders hören werden. Kirchlich ist das Perfekt identisch mit dem christlichen Credo, der Bekenntnisstand ist der erreichte Stand der Gemeinde. P66 misstraut dem kirchlichen Credo. Vertrauen ist angesichts des Standes der Dinge, eines Reiches unter der Verwaltung der ersten Soldatenkaiser und der heftiger werdenden Verfolgungen der messianischen Gemeinden, immer ein Stehen am Rande des Abgrunds. Das war die Situation dessen, der die Handschrift P66 um das Jahr 200 anfertigte. Wir halten das Präsens für angemessen.

Ich stelle fest, dass Veerkamp damit ebenso wenig wie Wengst und Thyen Marthas Bekenntnis als unzureichend brandmarken will. Er nimmt allerdings ernst, dass auch ein angemessenes Bekenntnis angesichts realer Todeserfahrungen und einer abgrundtief gefährdeten Situation nicht davor gefeit ist, zum bloßen Lippenbekenntnis zu werden. Dass er diese Unsicherheit eines Bekenntnisses im Präsens besser als im Perfekt ausgedrückt findet, will mir jedoch noch nicht so recht einleuchten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Veerkamp in einer Anmerkung zu seiner späteren Übersetzung des Johannesevangeliums im Jahr 2015 <830> seine Angabe über das Präsens pisteuō im Papyrus 66 korrigiert und auf Grund des hebräisch-semitischen Hintergrundes des Johannesevangeliums folgendermaßen deutet:

Dieser hat pisteuō, egō pepisteuka, alle anderen Handschriften haben nur egō pepisteuka. Ein semitisches Perfektum zeigt auf eine Handlung, die in der Vergangenheit begonnen und abgeschlossen wurde, ein semitisches Imperfekt auf eine Handlung, die in der Vergangenheit begann und nicht abgeschlossen wurde bzw. auf eine Handlung, die gerade beginnt, also ein open end hat. Das kann auf Griechisch mit einem Imperfectum oder auch mit einem Präsens übersetzt werden. Martha trifft hier keine Feststellung: „ich habe vertraut“, sondern spricht ein Bekenntnis: „ich vertraue“ oder besser: „ich will vertrauen“. Der Tod des Bruders (der Untergang Israels) hat ihr „Ich habe vertraut, dass du …“ zerstört. Ihr Vertrauen war durch die Vergangenheit des Krieges erledigt („abgeschlossen“, daher Perfekt). Jetzt will sie noch einmal vertrauen. Das ist die Deutung von P66, und das besagt das griechische Präsens.

Johannes 11,28-32: Maria wird heimlich gerufen, trauernde Juden folgen ihr zu Jesus

11,28 Und als sie das gesagt hatte,
ging sie hin und rief ihre Schwester Maria
und sprach heimlich zu ihr:
Der Meister ist da und ruft dich.
11,29 Als Maria das hörte,
stand sie eilends auf und kam zu ihm.
11,30 Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen,
sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war.
11,31 Als die Juden, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten,
sahen, dass Maria eilends aufstand und hinausging,
folgten sie ihr, weil sie dachten:
Sie geht zum Grab, um dort zu weinen.
11,32 Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn,
fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm:
Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.

[26. August 2022] Obwohl Klaus Wengst zufolge (W346)

in dem Abschnitt 11,17-27 mit der Selbstvorstellung Jesu als der Auferstehung und des Lebens und mit dem Bekenntnis Martas zu ihm auch für das Verständnis der dann folgenden Wundergeschichte das Entscheidende gesagt ist, wird diese keineswegs rasch zu Ende erzählt. Sie ist vielmehr dramaturgisch breit ausgestaltet. Die Erzählung des Wunders klappt nicht nach; sie hat auch hier ihr eigenes Gewicht.

Damit wendet sich Wengst (Anm. 646) „entschieden gegen die Einschätzung“ von Rudolf Bultmann, <831> „in V. 28-44 werde ‚der primitive Glaube derer gezeichnet, die des außerlichen Wunders bedürfen, um Jesus als den Offenbarer anzuerkennen‘“.

Obwohl (W347) Jesus nicht ausdrücklich einen solchen Auftrag erteilt hatte, heißt es in Vers 28, dass Martha ihre Schwester mit den Worten ruft: „Der Lehrer ist da und ruft dich.“ Der Umstand (Anm. 647), dass „sie das ‚heimlich‘ tut“, hat nach Wengst wohl nur „erzählpragmatische Bedeutung“, indem die sie tröstenden Juden „zum Mitgehen motiviert“ werden und die „folgende Totenbelebung“ miterleben. Dass Martha (Anm. 648) „nun von Jesus als ‚dem Lehrer‘ redet, soll gewiss nicht besagen, sie habe plötzlich vergessen, als wen sie ihn gerade bekannt hatte. Gegenüber denen, die bei ihm ‚in die Schule gehen‘, sich von ihm etwas sagen lassen, ist Jesus ‚der Lehrer‘. Vgl. 3,2; 13,13; 20,16.“ Indirekt (W347) ist es „Jesus als der gute Hirte“, der Maria „im Rufen der Marta“ zu sich ruft.

Zwei Mal (Vers 29 und 31) heißt es von Maria, dass sie „schnell“ zu Jesus ging, wie zum Ausgleich dafür, „dass sie erst nach ihrer Schwester Jesus begegnet.“ Der wartet nach Vers 30 auf sie „an der Stelle, an der die Begegnung mit Marta erfolgte“, aber vor ihrer Begegnung wird erwähnt, dass „die Juden, die bei ihr im Haus waren und sie trösteten“, ihr folgen, „weil sie annehmen, sie ginge zum Grab. Sie werden also als Mitfühlende gezeichnet, die Mirjam auch und erst recht am Grab nicht allein lassen wollen.“

Die Begegnung Jesu mit Maria mündet nicht wie bei Martha in ein Gespräch. Stattdessen fällt Maria (Vers 32) wie „der geheilte Blindgeborene (9,38) … Jesus zu Füßen und gibt damit ein Zeichen großer Verehrung“, und außerdem wiederholt sie nur, „was Marta gesagt hat: ‚Herr, wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben.‘ Aber damit brechen die Gemeinsamkeiten ab.“

Auch Hartwig Thyen (T530) wendet sich gegen Bultmanns [309] oben bereits von Wengst zitierte „Charakterisierung von 11,28-44 als bloßes ‚Gegenbild‘ zu 11,17-27, in dem ‚der primitive Glaube derer‘ gezeichnet werde, ‚die des äußerlichen Wunders bedürfen, um Jesus als den Offenbarer anzuerkennen‘“, da ganz im Gegenteil „nach Joh 20,30f alle auf Jesu ,Zeichen‘ angewiesen sind, damit sie den Glauben gewinnen, daß Jesus der messianische Gottessohn ist und in solchem Glauben das ewige Leben finden in seinem Namen“:

Der ewige Logos Gottes ist in Jesu irdischem Weg und in seinen Werken Fleisch und sinnlich wahrnehmbar geworden. Seine Worte dürfen seinen Werken, die doch der Schöpfer selbst durch ihn wirkt, weder übergeordnet noch von ihnen getrennt werden. Beide interpretieren sich vielmehr wechselseitig.

Zum Ruf der Maria durch ihre Schwester Martha in Vers 28 meint Thyen, dass Jesu „egō-eimi-Wort – ebenso wie Marthas dadurch herausgefordertes Bekenntnis – diesen ,Missionsauftrag‘ bereits impliziert haben“ muss:

Dadurch, daß Martha, wie im Anfang Johannes der Täufer, zur Zeugin dessen geworden ist, der mitten in der Welt des andauernden Sterbens die Auferstehung und das Leben ist, bestätigt sie leibhaftig die Wahrheit ihres Bekenntnisses und zeigt so, daß „wer liebt, … auf keinen Fall allein errettet werden“ will. <832>

Indem Martha ihre Schwester „heimlich auf Jesu Ankunft aufmerksam macht“, wird Thyen zufolge erstens Maria „als die alleinige Gesprächspartnerin Jesu in der folgenden Szene“ aus dem Kreis der sie umgebenden Juden herausgenommen, wodurch „zum Vergleich mit der vorausgegangenen Martha-Episode“ herausgefordert wird, zweitens folgen ihr die Juden gerade wegen ihres spontanen Aufbruchs „und treffen so unerwartet auf Jesus“, drittens werden diese „auch zu Zeugen des Wunders der Auferweckung des Gestorbenen.“ Obwohl (T530f.) „von einer feindlichen Haltung derer, die – mit den Schwestern wohl freundschaftlich verbunden – zu ihnen gekommen sind, solidarisch mit ihnen um Lazarus zu trauern, … überhaupt keine Rede sein“ kann, hält Thyen Dorothy Lees <833> „Erwägung“ für bedenkenswert,

daß Martha – womöglich im Wissen um die Jesus in Judäa drohenden Nachstellungen (vgl. 11,8) und besorgt um sein Leben – ihren ‚Herrn‘ vor der Öffentlichkeit habe verbergen und Maria deshalb heimlich zu ihm habe bringen wollen. Denn „Martha, so scheint es, versteht noch nicht die symbolische Bedeutung der Reise Jesu nach Judäa“.

Zu Vers 32 fragt sich Thyen, wie es zu beurteilen ist, dass Maria Jesus zwar mit denselben Worten wie zuvor Martha begrüßt, aber „an die Stelle von Marthas indirekter Bitte, Jesus möge doch auch jetzt noch helfen, Marias stumme Tränen der Trauer um den verlorenen Bruder getreten sind“ (T531f.):

Darf man in diesen Tränen und in der solidarischen Totenklage der Juden, die mit Maria gekommen waren, wie Bultmann und viele andere einen Ausdruck des Unglaubens oder eines primitiven Wunderglaubens sehen? Doch an eine derartige Abwertung Marias ihrer Schwester Martha gegenüber darf man schwerlich denken. Denn den Gestus, daß sich Maria Jesus als ihrem kyrios zu Füßen wirft (vgl. 9,38), muß man wohl als Ausdruck ihres Glaubens und als ein stummes Bekenntnis ansehen [vgl. D. Lee 207]. Zudem will bedacht sein, daß der Erzähler noch ehe er Martha als Marias Schwester identifiziert, diese als die bekannte Frau in seine Erzählung eingeführt hatte, die Jesu Füße gesalbt und sie mit ihren Haaren getrocknet hatte (11,1f). Und wie die Erzählung von den bethanischen Geschwistern mit der Nennung Marias eröffnet wurde, so wird sie durch deren Akt der Salbung Jesu beschlossen.

Ton Veerkamp <834> macht zu Vers 28 darauf aufmerksam, dass in der Formulierung „Der Lehrer ist angekommen und ruft dich“, das Wort parestin {ankommen} eine in der messianischen Gemeinde vertraute endzeitliche Hoffnung aufruft, nämlich das Wort „parousia …, das endgültige Kommen des Messias.“ In der Deutung der Heimlichkeit des Rufs der Martha an Maria geht Veerkamp noch einen Schritt weiter als Dorothy Lee, indem er ihn von der subversiven, vor der Öffentlichkeit verborgenen Existenzweise der messianischen Gemeinde her begreift:

Martha ruft Maria, aber ihr Ruf war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt (lathra). Auch bei den Synoptikern zielt lathra auf eine Handlung jenseits der Öffentlichkeit (Matthäus 1,19). Der Ruf Marthas soll hier keine öffentliche Angelegenheit werden. Das kann kaum etwas anderes bedeuten als die gelebte, nicht öffentliche, ja subversive Existenzweise der messianischen Gemeinde, für die Martha steht. Dieser subversiven Strategie folgt aber der weitere Verlauf der Erzählung.

Wie dem auch sei, die subversive Existenz der messianischen Gemeinde hatte schon bisher nicht verhindert, dass Jesus dennoch immer wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde:

Die judäische Öffentlichkeit kann man so nicht abschütteln, und da Johannes hier so erzählt, wie er erzählt, will er das auch nicht. Die Existenz der messianischen Gemeinde ist die Existenz angesichts Israels. Johannes will keine jüdische Geheimsekte. Dass ausgerechnet er in einem geschlossenen Raum landet – „die Türen verschlossen aus Angst vor den Judäern“ (20,19.26) –, ist die Tragik dieses Textes, der der Anhang – Johannes 21 – zu entfliehen sucht.

An dieser Stelle nimmt Veerkamp das unterschiedliche Auftreten der beiden Schwestern zum Anlass für einen differenzierten Blick auf die Gemeinde, die sich um den Messias Jesus schart:

Was die Judäer und Maria verbindet, ist die Trauer um Lazarus. Die Beweinung eines Toten ist eine öffentliche Angelegenheit, alle nehmen an der Trauer teil und zeigen das. Martha und Maria sind zwei Gesichter in der messianischen Gemeinde, das eine im „Raum mit den geschlossenen Türen“, das andere in der Auseinandersetzung mit den Judäern. Das erste Gesicht – Martha – ist das Gesicht der „bekennenden Kirche“, das zweite – Maria – das Gesicht der Gemeinden mit den Judäern trauernd um Israel. Die messianische Gemeinde wird niemals ohne die Juden sein. Das erspart beiden Seiten nicht die prinzipielle Auseinandersetzung über den Gang in und gegen die Weltordnung.

Mit anderen Worten: So wichtig dem Evangelisten die klaren bekennenden Worte der Martha zum Messias Jesus sind, dürfen diese doch keineswegs im Sinne einer Aufkündigung der Solidarität mit Israel verstanden werden, trotz aller in größter Schärfe ausgetragenen Konflikte der Messianisten mit rabbinischen und zelotischen Juden. In der Klage um das ausweglos erscheinende Schicksal des von Gott erwählten und geliebten Volkes Israel, hier verkörpert in der Gestalt des Lazarus, stimmen beide Frauen wortwörtlich miteinander überein, um dann ein völlig anderes Verhalten zu zeigen:

Jeschua hat sich nicht von der Stelle gerührt, und die Worte, die Maria an ihn richtet, sind die gleichen Worte wie die Worte Marthas. Die Szene unterscheidet sich von der mit Martha deutlich. Martha beginnt gleich zu reden, Maria „fiel ihm zu Füßen“. Es findet kein Gespräch statt. Jeschua sah die Trauer Marias und die Trauer der Judäer.

Anscheinend muss Johannes diese Geschichte so ausführlich erzählen, um deutlich zu machen, wie tief Jesus als der Messias Israels sich vom Tod Israels betreffen lässt. Daher wird im Folgenden von außergewöhnlichen Gefühlsausbrüchen Jesu die Rede sein.

Johannes 11,33-38a: Jesu wutschnaubende Erschütterung und Tränen über den Tod des Lazarus

11,33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten,
die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und erbebte
11,34 und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt?
Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh!
11,35 Und Jesus gingen die Augen über.
11,36 Da sprachen die Juden:
Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt!
11,37 Einige aber unter ihnen sprachen:
Er hat dem Blinden die Augen aufgetan;
konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste?
11,38a Da ergrimmte Jesus abermals und kommt zum Grab.

[27. August 2022] Auf den einzigen Satz, den Maria in diesem Kapitel zu Jesus sagt, antwortet dieser nicht, vielmehr erscheint sie Klaus Wengst zufolge (W348) aus

der Perspektive Jesu … – gemeinsam mit ihrer Begleitung – ausschließlich als Trauernde: „Als Jesus nun sie und die mit ihr gekommenen Juden weinen sah.“ Mirjam wurde zu Jesus gerufen und sie kommt auch zu ihm. Aber sie tut bei dem, der sich Marta als „die Auferstehung und das Leben“ vorgestellt hatte, genau das, was die zum Trösten gekommenen Juden vermutet hatten: Sie weint, als wäre sie am Grab des toten Bruders.

Jesu Reaktion auf diese Trauer: „Er ergrimmte innerlich und erregte sich“, richtet sich nach Wengst keinesfalls gegen diese Trauer, als gäbe es „keinen Grund zum Weinen“, zumal es auch von Jesus in Vers 35 heißen wird, dass er, vom Tod des Lazarus zutiefst berührt, „Tränen vergießt“. Er selbst hält „die u. a. von Zahn <835> gegebene Erklärung“ für zutreffend:

„Diese zornige Erregung Jesu richtet sich aber selbstverständlich nicht gegen das Weinen der Maria und das Mitweinen ihrer teilnahmsvollen Begleiter […], sondern gegen die Macht des Todes“, also gegen das, was das Weinen verursacht. Denn obwohl Jesus aufgrund dessen, dass Gott ihn von den Toten aufgeweckt hat, „die Auferstehung und das Leben“ ist, hat der Tod ja immer noch Macht, wird weiterhin gestorben und also notwendigerweise auch getrauert. Aber als „die Auferstehung und das Leben“ gibt Jesus Gewissheit, dass dem Tod der Charakter des Endgültigen genommen ist. Dafür will die weitere Erzählung dieser Geschichte ein Zeichen setzen.

Der einzige Satz, den Jesus in dieser Szene spricht (Vers 34): „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ richtet sich nicht etwa an Maria, die „in die Pluralitat der Trauernden eingegangen“ ist, sondern „an eine Mehrzahl“, die Jesus auch die entsprechende Antwort gibt: „Herr, komm und sieh!“

Daraufhin heißt es in Vers 35: „Jesus kamen die Tränen.“ Mit einer Formulierung von Wilckens <836> drückt Wengst aus, dass Jesus, den er sich nun zusammen mit den anderen „auf dem Weg zum Grab des Lazarus“ vorstellt, „in seinem eigenen Innern teil[nimmt] an den Tränen der vom Tod heimgesuchten und bewegten Menschen“. Keinesfalls darf man Wengst zufolge (Anm. 656) „gegeneinander ausspielen“, dass „Johannes in V. 33 und 35 unterschiedliche Verben gebraucht“, wie es Udo Schnelle <837> tut:

„Das ritualisierte Klagen der Juden kennzeichnet er mit dem Verb klaíein, den Gefühlsausbruch Jesu hingegen mlt dakrýein“. Denn klaíein gebraucht er nicht nur von „den Juden“, sondern auch von Mirjam, weiter in der Ankündigung 16,20 von den Schülern und in 20,11.13.15 von Mirjam aus Magdala.

Auch darf nach Wengst (W348) die Deutung, die in Vers 36

die mitgehenden Juden dem Weinen Jesu geben: „Seht doch, wie lieb er ihn hatte!“, … nicht als Missverständnis interpretiert werden. Dass Jesus Lazarus liebte, war schon in V. 3 in der Botschaft der Schwestern gesagt, in V. 5 vom Evangelisten kommentierend festgestellt und in V. 11 von Jesus bestätigt worden, wenn er Lazarus gegenüber seinen Schülern als „unseren Freund“ bezeichnete.

Erst im folgenden Vers 37 zeigt sich ein

negativer Akzent in der Zeichnung der Beteiligten …, wenn – abgesetzt von den in V. 36 sprechenden Juden – „einige“ sprechen: „Hätte der da, der dem Blinden die Augen geöffnet hat, es nicht bewirken können, dass auch dieser nicht gestorben wäre?“ Gegenüber dem feststellenden Satz der Schwestern (V. 21.32), in dem Bedauern mitklang, der aber vor allem Vertrauen aussprach, ist hier der Ton der vorwurfsvollen Frage nicht zu überhören. Mit dieser doppelten Reaktion auf das Weinen Jesu ist die doppelte Reaktion auf seine im Folgenden erzählte Tat vorbereitet, wo neben der positiven Antwort „vieler“ die negative „einiger“ steht (V. 45f.).

Das in Vers 38 wiederholte innerliche „Ergrimmen“ Jesu kann Wengst zufolge „von Johannes nicht als Reaktion Jesu auf den zuvor geäußerten Vorwurf verstanden sein“, da es „dem Kommen zum Grab partizipial zugeordnet und als gleichzeitig damit geschehend gedacht“ ist: „So erfolgt es angesichts der am Grab klar zutage liegenden Macht des Todes und gegen sie.“

Konsequent bezieht Wengst also zwei der drei hervorstechenden Gefühlsäußerungen Jesu in den Versen 33 und 38 in einer sehr allgemeinen Weise auf die „Macht des Todes“, während er seine Tränen in Vers 35 in der Trauer um den persönlichen Freund begründet sieht. Die Heftigkeit der Erschütterung Jesu vermag Wengst damit allerdings nicht zu erklären, wenn Jesus doch schon weiß, dass er den Freund schon wenige Augenblicke später vom Tode erwecken wird.

Anders als Wengst beschäftigt sich Hartwig Thyen (T532) eingehend mit der „Frage nach einer angemessenen Übersetzung und entsprechenden Sinndeutung der Wendung: enebrimēsato tō pneumati kai etaraxan heauton“ in Vers 33, die er selbst (T530) so wiedergibt: „da erfaßte ihn tiefe Bewegung und er erregte sich“ (T532):

Das Lexem embrimaomai ist insgesamt höchst selten. Im NT findet es sich nur 5mal, nämlich Mt 9,30; Mk 1,43; 14,5 sowie hier in Joh 11,33 u. 38. Von einer Vorgeschichte in der LXX kann ebenfalls nicht die Rede sein, denn da kommt es nur einmal in Dan 11,30 vor; darüberhinaus findet es sich gelegentlich in den Übersetzungen Aquilas, der damit regelmäßig das hebräische saˁam wiedergibt (etwa Ps 7,12; Jer 10,10; Num 23,8 u. ö.) und des Symmachus (Is 17,13).

Nach Barnabas Lindars <838> bezieht „embrimaomai sich in der Regel weniger auf innere Emotionen oder Ärger als solchen … als vielmehr auf einen von außen wahrnehmbaren ‚agressiven Verhaltensstil‘“. Seine „reiche Phantasie“ verleitet ihn Thyen zufolge jedoch zu Unrecht dazu, in Analogie zu Markus 1,43 „diesen Sprachgebrauch auch für die von Johannes hier vermeintlich verarbeitete ‚Quelle‘“ anzunehmen, nämlich

eine Mk 9,14-29 ähnliche Erzählung …, in der Jesus „den Geist“, nämlich den unreinen Geist eines Besessenen, schroff angefahren und ihm befohlen habe, aus seinem Opfer auszufahren. Danach habe er dann den „Wie tot daliegenden“ (egeneto hōsei nekros ktl.) und von vielen für tatsächlich tot gehaltenen Knaben erweckt, und der sei vor aller Augen aufgestanden (ēgeiren auton kai anestē: Mk 9,26f). Aus dem Befehl Jesu an den bösen Geist soll Johannes dann die Worte gemacht haben: Lazare, deuro exō {Lazarus, komm heraus}.

Da Johannes aber „den Dativ to pneumati“ gar nicht (T533) „als Objekt verstanden wissen will“, sondern in adverbialem Sinn {wörtlich: im Geist}, „und weil bei ihm tarassō nie äußeres Gebaren, sondern stets inwendigen Kummer oder Angst bezeichnet (12,27; 13,21; 14,1.27)“, kann der Text nichts anderes bedeuten, als dass „das Weinen Marias und das Wehklagen der mit ihr gekommenen Juden Jesus in große innere Bewegung versetzt und ihn tief erschüttert“.

Dass die Äußerung dieser Gefühlsbewegung im Weinen Jesu (Vers 35) durch „das Verbum dakryō“ und nicht wie „im Kontext – und weit darüber hinaus im gesamten Neuen Testament – durch das Verbum klaiō ausgedrückt wird“, mag nach Thyen

Zufall sein oder sich aus der schon des öfteren beobachteten Vorliebe unseres Ezählers für den Gebrauch von Synonyma erklären. Doch wie Beutler <839> (Ps 42/43) wahrscheinlich gemacht hat, gibt es dafür in dem nicht nur hier, sondern auch Joh 12,27 und 13,21 zu beobachtenden intertextuellen Spiel mit dem biblischen Doppelpsalm einen weit einleuchtenderen Grund. Der Psalm spricht von den Tränen, die seinem gerechten Beter Tag und Nacht zum Brot geworden sind (41,5 {tatsächlich LXX 41,4}), der erklärt: pros emauton hē psychē mou etarachthē {LXX 41,7: betrübt ist meine Seele in mir}, und zumal sein signifikanter Kehrvers: hina ti perilypos ei, psychē, kai hina ti syntarrasseis me? elpison epi ton theon, hoti exomologēsomai autō {Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken} (LXX 41,6.12; 42,5) weisen auf diese Spur. Zudem macht Beutler darauf aufmerksam, daß das aktive und „reflexive etaraxen heauton {er erregte sich} … in der Tat in der gesamten griechischen Bibel am ehesten im Kehrvers unseres Psalms seine Entsprechung“ habe.

Als den „Grund für Jesu große Betrübnis und für seine Tränen“ schließt Thyen wie Wengst die bei vielen Exegeten „gängige … Erklärung“ aus (T533f.),

daß Jesus über den Unglauben Marias und das vermeintlich nur äußerliche Lamento der sie begleitenden Juden erzürnt sei, weil die es wagten in der Gegenwart dessen, der sich doch bereits in V. 25f als die Auferstehung und das Leben offenbart habe, noch den dadurch bedeutungslos gewordenen Tod des Lazarus zu beklagen… {, zumal} doch weder Maria noch erst recht ihre Freunde – der Sitte der Zeit entsprechend wohl vorwiegend Freundinnen -, die gekommen waren, mit den Schwestern den Tod des Bruders zu beklagen, Zeugen des an Martha ergangenen Offenbarungswortes Jesu waren. Wohl legt es der Erzähler selbst seinen Zuhörern nahe, die beiden Schwestern miteinander zu vergleichen. Doch bestellt er sie damit noch lange nicht zu deren Richtern.

Mit Recht beurteilt Thyen daher eine Erklärung wie die von Mark Stibbe <840> als problematisch (T534):

„Die Trauer von Martha lässt Raum für ein Wachstum des Auferstehungsglaubens. Die Trauer Marias ist eine verzweifelte, leidenschaftliche und trostlose Angelegenheit. Sie wirft sich Jesus zu Füßen. Das Pathos ihrer Reaktion ist sogar so intensiv, dass Jesus selbst in Tränen ausbricht. Indem er Maria auf diese wilde und natürliche Weise schildert, zeigt der Autor sein Bestreben, Figuren nicht nur als Stereotypen der Glaubensantwort (Martha), sondern auf möglichst realistische Weise (Maria) darzustellen“. Denn auch wenn der Evangelist bei seiner Zeichnung dieser beiden so verschiedenen Schwestern tatsächlich großes literarisches Geschick zeigt, kann man – zumal angesichts von Joh 12,3ff – doch schwerlich behaupten, Marias Kummer lasse dem Glauben an die Auferstehung keinen Raum. Außerdem sollte man sich auch nicht zum Richter über rituelle Sitten anderer Völker und Zeiten und deren Art von ,Trauerarbeit‘ erheben und diese Nachbarn und Freunde solidarisch vereinende Totenklage als unangebrachtes Lamento und Ausdruck von Unglauben verdächtigen.

Zustimmend zitiert Thyen (T534f.) daher folgende Fragen des Exegeten L. Schenke: <841>

„Darf Maria, wenn sie glaubt, nicht mehr über den Tod ihres Bruders, über den Tod als Geschick des Menschen überhaupt weinen? Das wäre ein harter, zynischer und unmenschlicher Glaube. Darum kann sich die Darstellung, daß Jesus beim Anblick der weinenden Maria und der sie begleitenden Juden ,außer sich geriet und sich erregte‘ (11,33), nicht gegen ihre Emotionen richten. Ihr Weinen darf nicht als Zeichen des Unglaubens angesehen werden, gegen den sich Jesus wendet. Jesus weint schließlich selbst (11,35) und zwar, wie die Juden richtig feststellen, über den Tod des Lazarus (11,36).“ Da Jesu eigener Tod so eng mit dem seines Freundes Lazarus verbunden ist – wahrscheinlich ja auch durch das der Getsemane-Szene entstammende intertextuelle Spiel mit dem Leidenspsalm 42/43 (s. o.) – „dürften seine Emotion und Erregung hier zugleich seinem eigenen Sterben gelten“.

Zu den Versen 36-37 beschränkt sich Thyen auf folgende kurze und klare Deutung:

Die Differenzierung zwischen „den Juden“ und „einigen unter ihnen“ entspricht wohl derjenigen in V. 45 u. 46, wonach „viele der Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was er tat, an ihn glaubten“ (V. 45), während „einige von ihnen zu den Pharisäern hingingen und ihnen berichteten, was Jesus getan hatte“ (V. 46) und damit das Todesurteil des Synhedriums über Jesus auslösten. Deshalb wird man die Deutung der Tränen Jesu als Zeichen seiner Liebe zu Lazarus nicht einfach als ein „typisch johanneisches Mißverständnis“ deklarieren dürfen. Dagegen könnten sich in der distanzierten Frage von V. 37 durchaus schon jene späteren Denunzianten zu Wort melden.

Zur erneuten Beschreibung der inneren Bewegung Jesu in Vers 38a weist Thyen zum einen auf die hier erfolgende Zusammenziehung der in Vers 33 parallel gebrauchten Wendungen hin, „die noch einmal deren Synonymität erweist“; zum anderen meint er, „daß es die Nähe des Grabes ist, die Jesu erneute Trauer um den verstorbenen Freund auslöst“. Auch Thyen bezieht also Jesu Gefühlsbewegung einerseits auf seine eigene Trauer um den persönlichen Freund als Individuum und andererseits als ein mitfühlendes Weinen mit den Weinenden.

Ton Veerkamp <842> übersetzt die Wendung enebrimēsato tō pneumati mit den Worten „er schnaubte vor Wut“ und schreibt zur Erläuterung:

Das Verb ist selten. In der LXX kommt es nur in Daniel 11,30 vor, die einzige Stelle in der LXX, wo auch das Wort Rōmaioi, „Römer“, steht. In den synoptischen Evangelien kommt das Verb einige Male vor. Das hebräische Verb hier ist saˁam, es hat Bedeutungsschattierungen von „beschimpfen“ bis zum „feierlich verwünschen, verfluchen“. In anderen griechischen Fassungen dient das Wort zur Wiedergabe von saˁam in Ezechiel 21,36 saˁami be-esch ˁevrathi, „ich schnaubte mit dem Feuer meiner Wut“, und Klagelieder 2,6 be-saˁam apo, „das Schnauben seines Zornes“ (Buber: „dräuen“). Außerhalb der Schrift bedeutet es „Schnauben (eines Pferdes).“ In Markus 1,43 droht Jeschua dem von ihm geheilten Aussätzigen, in Markus 14,5 beschimpften die Schüler die Frau, die Jesu Füße gesalbt hatte. Luther hat: „ergrimmte im Geist und betrübte sich selbst.“ Das ist zu schwach. Jeschua verflucht diesen Tod und ist entsetzt über den Zustand, in dem sich Lazarus/Israel befindet: verwesend, mehr als tot. Der Zusatz tō pneumati bedeutet „ganz und gar“ (vgl. Matthäus 5,3; Jesaja 57,15 usw.).

In einer Anmerkung zu seiner zehn Jahre zuvor erstellten Übersetzung desselben Verses erklärt er den Ausdruck tō pneumati unter Bezug auf die eben erwähnten Bibelstellen noch näher:

En tō pneumati ist nicht „im Geiste“, also „innerlich“, sondern ist eine Verstärkung. Schefal-ruach, Jesaja 57,15, bedeutet nicht „erniedrigt im Geist“, sondern „ganz und gar erniedrigt“ oder „erniedrigt, dass kein Lebensgeist mehr in ihm ist“. Die LXX übersetzt schefal-ruach mit oligopsychois, „wenig an Seele“. Die ptōchoi en pneumati von Matthäus 5,3 sind nicht „im Geist arm“, sondern „ganz und gar arm“, erleiden eine Armut, die ihren Lebensgeist antastet.

Diese Erregung Jesu, in der Zorn und Trauer ihn ganz und gar erfüllen, kann sich Veerkamp zufolge nicht einfach auf den Tod als allgemein menschliches Schicksal beziehen und erst recht nicht gegen die um Lazarus trauernden Juden richten:

Jeschua sah die Trauer Marias und die Trauer der Judäer. Angesichts dieser Trauer war der Messias außer sich, wurde von einer ganz wütenden Erschütterung ergriffen (enebrimēsato, etaraxen). Einige Kommentatoren sehen diese Erschütterung als Zorn Jeschuas, der sich gegen den Unglauben der Juden und Marias richtet. Andere sehen hier einen Protest Jeschuas gegen die Allmacht des Todes. Es geht ihnen also um den Tod im allgemeinen.

Zur letzteren Möglichkeit führt er wie Wengst Ulrich Wilckens [179] an, zur ersteren beruft er sich wie Wengst und Thyen auf Rudolf Bultmann [310] und fügt hinzu (Anm. 359):

Der verbreitete giftige Antijudaismus der Johanneskommentare des 19. Jahrhunderts tritt u.a. bei Bernhard Weiß <843> – „Oberconsistorialrath und ordent. Prof. an der Universität Berlin“ – zutage:

Worüber er ergrimmte, ergibt der Kontext durch das hōs eiden – klaiountas, das ausdrücklich mit dem Weinen der tief fühlenden Maria (klaiousan) in einen bedeutsamen Gegensatz gestellt ist und also von ihm als leeres Kondolenzzeremoniell erkannt wird, so dass er über dies heuchlerische klaiein der Juden, das mit der bittersten Feindschaft gegen den geliebten Freund der Trauernden gepaart ist, ergrimmt in tief sittlicher Entrüstung.

Über Theologen, die diese Sicht der jüdischen Trauer um Lazarus bis in die heutige Zeit hinein teilen, fällt Veerkamp ein scharfes Urteil:

Der endemische Antijudaismus der christlichen Exegeten wuchert in ihnen wie ein Geisteskrebs. Der Jude Johannes trauert mit seinen Mitjuden; aber Johannes ist für diese Professoren kein Jude, sondern Christ, also muss die Trauer der Juden eine falsche, „ungläubige“ Trauer sein. Wenn einige aufgeklärte Leserinnen und Leser dieser Auslegung meinen, dieser Antijudaismus sei überwunden, irren sie sich gewaltig. Der sich immer weitere verbreitende christliche Fundamentalismus ist vehement antijüdisch. Kehren wir zurück zum Text.

Gegenüber den erörterten unmöglichen Auslegungsmöglichkeiten betont Veerkamp, dass sich die zornig erregte Trauer Jesu auf einen konkreten Tod bezieht, allerdings nicht den Tod eines Individuums mit einer bestimmten Persönlichkeit, sondern den Tod des Volkes, dessen Leben zu bewahren oder neu zu ermöglichen, die ganze Ehre des Gottes Israels und seines Messias ausmacht. Er bietet auch eine Erklärung dafür, warum Jesus ausgerechnet auf die sonst nur noch in Johannes 1,46 vorkommende Wendung erchou kai ide, „Komm und sieh!“ in Tränen ausbricht:

Der Tod des Lazarus ist ein konkreter Tod, der Tod Israels. Er fragt: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ Die Antwort: „Komm und sieh“ kennen wir von der Reaktion des Philippus, als Nathanael bezweifelte, dass aus Galiläa etwas Gutes kommen könnte, 1,46. Hier freilich ist nicht das Gute zu sehen, sondern das Gegenteil. Jeschua vergoss Tränen. Das Weinen (klaiein) und Tränen vergießen (dakryein) ist bis heute im Orient jenes öffentliche Beweinen eines Toten, das mit heftigen emotionalen Ausbrüchen verbunden ist.

Die zweifache Reaktion der Juden auf Jesu Trauer (Verse 36-37) begreift Veerkamp nicht wie Wengst und Thyen lediglich als Vorgriff auf die sich später erneut zeigende Spaltung zwischen Juden, die auf Jesus vertrauen bzw. ihn denunzieren. Ihm zufolge müssen beide als ernst gemeint und berechtigt eingeschätzt werden:

Die Judäer stellen die tiefe Freundschaft zwischen Jeschua und Lazarus fest. Das heißt, sie sehen, wie dem Messias bzw. der messianischen Gemeinde das Schicksal Lazarus‘/Israels zu Herzen geht. Um so berechtigter die Frage: Warum hat der Messias dies nicht verhindert, wo er doch Blinde sehend gemacht hatte, was nutzt ein Messias, wenn geschehen kann, was nicht geschehen darf, der Untergang Jerusalems, der Tod des Lazarus? Wird eine solche Frage unterdrückt, wird jeder Messianismus nicht nur albern, sondern gefährlich.

Gegenüber jüdischem Zweifel an der Messianität eines gekreuzigten Jesus, nicht zuletzt weil die kommende Weltzeit von Freiheit, Recht und Frieden nach wie vor nicht angebrochen ist, bleibt diese Frage in der Tat höchst aktuell.

Johannes 11,38b-44: Als Gesandter des VATERS ruft Jesus Lazarus aus dem Grab

11,38b Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor.
11,39 Jesus spricht: Hebt den Stein weg!
Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen:
Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen.
11,40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt:
Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?
11,41 Da hoben sie den Stein weg.
Jesus aber hob seine Augen auf und sprach:
Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
11,42 Ich wusste, dass du mich allezeit hörst;
aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich‘s,
damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.
11,43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme:
Lazarus, komm heraus!
11,44 Und der Verstorbene kam heraus,
gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen,
und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch.
Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen!

[29. August 2022] Nach (W349) einer „knappen Beschreibung des Grabes“ in Vers 38b als „eine Höhle, in die man entweder hinabsteigen oder – wenn sie sich in eine Felswand hinein öffnete – hineingehen konnte“, kann Klaus Wengst zufolge (Vers 39)

die Erzählung damit fortfahren, dass Jesus auffordert, den Stein wegzuheben. Das provoziert einen Einwand der Marta, die als handelnde Person zuletzt in V. 28 erwähnt war und nun wieder auftritt, ausdrücklich als „die Schwester des Verstorbenen“ eingeführt: „Herr, er riecht schon; er ist ja den vierten Tag tot.“ Stärker noch als in V. 17, ja geradezu drastisch ist damit hier, am Ort des Grabes, auf die – aus menschlicher Perspektive gesehen – Definitivität dieses Todes hingewiesen.

Wengst wehrt sich allerdings dagegen, in Marthas Äußerung allzu viel hineinzudeuten, „weder in der einen noch in der anderen Richtung“, wie es etwa Calvin und Bultmann oder Schenke <844> tun. Calvin begreift sie „als ‚ein Zeichen mangelnden Vertrauens‘“, Bultmann gar als „Ausdruck der ‚Glaubenslosigkeit‘“:

Dass man sie auch ganz anders lesen kann, zeigt Schenke, wenn er schreibt: „Drastischer kann der unbedingt eingetretene Tod nicht festgestellt, deutlicher die Haltung Marthas, die kein Zeichen mehr braucht und erwartet, nicht beschrieben werden“. … Die Ankündigung Jesu in V. 23, dass Martas Bruder aufstehen wird, enthält zwar auch die Möglichkeit der nun gleich erzählten Wiederbelebung des Lazarus aus dem Grab heraus. Aber diese Möglichkeit wurde Marta in dem Gespräch mit Jesus nicht deutlich gemacht – wie ja auch die glaubende Gemeinde, deren Bekenntnis Marta in V. 27 gesprochen hat, es nicht zu ihrer Erfahrung zählt, dass Tote für eine Zeit lang wiederbelebt werden, um dann erneut zu sterben.

Wie dem auch sei, nach Wengst (W350) veranlasst „der Hinweis Martas auf die schon beginnende Verwesung am Leichnam ihres Bruders“ außerdem Jesus zu folgender Reaktion (Vers 40):

„Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du vertraust, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Das hat er so nicht zu ihr gesagt. Wie schon an anderen Stellen greift Johannes auch hier über das Gespräch mit der unmittelbar beteiligten Person hinaus und verweist die Lesenden und Hörenden auf größere Zusammenhänge. Zunächst und vor allem liegt ein Rückbezug auf die Aussage Jesu in V. 4 vor, dass die Krankheit des Lazarus „nicht zum Tode“ führe, sondern „um der Herrlichkeit Gottes willen“ erfolge. Daran schloss sofort als Zielangabe an, „damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde“. Dessen Verherrlichung aber erfolgt schließlich am Kreuz. … Dafür wird er nun in der Auferweckung des Lazarus ein weiteres Zeichen setzen, wie er schon im ersten Zeichen, dem Weinwunder von Kana, „seine Herrlichkeit offenbarte“ (2,11). Auch dort hatte Johannes das Zeichen nicht ohne Anklang an Tod und Auferweckung Jesu erzählen können.

Damit hat Wengst zwar Recht, aber er nimmt, wie erneut zu sagen ist, die Zusammenhänge von Jesu Frage nicht übergreifend genug in den Blick. Die Herrlichkeit oder Ehre Gottes besteht nicht in Jesu Tod und Auferweckung als solcher, sondern im Ziel dieses Todes und seines Aufsteigens zum VATER, nämlich im Leben Israels in der kommenden Weltzeit – und auf genau dieses Leben wird die Erweckung des bereits im Zustand der Verwesung befindlichen Lazarus symbolisch hindeuten.

In Vers 41 macht Wengst darauf aufmerksam, dass in den beiden Sätzen: „Da hoben sie den Stein weg“, und: „Jesus hob seine Augen auf, nach oben, und sprach“, das „Aufheben des Steines“ entsprechend dem „Aufheben der Augen Jesu nach oben“ mit zwei Formen desselben griechischen Wortes airein {aufheben}, ēran und ēren, ausgedrückt wird: „Damit wird der Tote gleichsam Gott überwiesen.“

Jesus wird in den Versen 41b-42 als ein Betender dargestellt, „der jedoch zugleich über sein Beten reflektiert“:

Das Beten Jesu ist von größter Gewissheit geprägt. Ohne dass vorher eine Bitte ausgesprochen worden wäre und noch bevor das Wunder geschehen ist, dankt Jesus Gott als dem Vater, dass er auf ihn gehört habe, und begründet das mit seinem Wissen, dass Gott immer auf ihn höre. Er bestätigt hier die Aussage, die Marta in V. 22 ihm gegenüber gemacht hat. Im Verhältnis zum Vater ist er ganz und gar Bittender; aber er ist sich als Sohn gewiss, immer gehört zu werden, sodass er zugleich Dankender sein kann. Zwischen Vater und Sohn besteht dabei selbstverständlich ein Gefälle, das nicht umkehrbar ist.

Indem (W351) Jesus nach Vers 42 diese Worte über sein Beten lediglich „um der Leute willen, die hier herumstehen“ ausgesprochen hat, „damit sie glauben, dass Du mich gesandt hast“, wird nach Wengst erneut

die Botenvorstellung aufgenommen. Das schon vor dem Zeichen ausgesprochene Dankgebet, das Jesus als den mit Gewissheit bittenden Sohn herausstellt, der vom Vater Erfüllung erfährt, soll die dann vollzogene Zeichenhandlung so verstehen lehren, dass durch sie Jesus als Beauftragter Gottes erkannt werden kann und soll.

Nach seinen Gebetsworten wendet sich Jesus (Vers 43)

dem Toten im Grab zu und ruft „mit lauter Stimme“: „Lazarus, komm heraus!“ Er setzt sein Wort dem Tod entgegen. Wo er als „die Auferstehung und das Leben“ da ist, kann der Tod nicht das letzte Wort behalten. In der das Evangelium lesenden und hörenden Gemeinde wird Jesus schon als endzeitlich Auferweckter geglaubt. So können die mit ihm verbundenen Toten nicht tot bleiben, sondern haben die Zusage des Lebens.

Als ein Zeichen für diese Zusage wird „in der Erzählung … als Höhepunkt und Abschluss beschrieben“:

„Der Gestorbene kam heraus, gebunden mit Tüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch umwickelt.“ Hier ist an einem einzelnen Toten ins Bild gesetzt, was in 5,28f. von der endzeitlichen Auferweckung der Toten gesagt wurde. Für sie ist die Auferweckung des Lazarus ein Zeichen. Dafür spricht auch, dass einerseits die Leiche realistisch beschrieben wird, ihr Herauskommen aus dem Grab aber auf eine unwirkliche Weise erfolgt. Lazarus kommt heraus, obwohl er an Händen und Füßen gebunden und sein Gesicht mit einem Schweißtuch bedeckt ist.

Dafür, dass die Auferweckung des Lazarus in dieser Weise „als Zeichen der endzeitlichen Auferstehung verstanden ist, und zwar der mit Freispruch verbundenen Auferstehung zum Leben“, spricht nach Wengst auch, dass „nichts mehr erzählt“ wird „von den Schwestern, die Lazarus am nächsten stehen, und nichts von Lazarus selbst“, außer dem „diese Szene abschließenden Befehl Jesu …: ‚Bindet ihn los und lasst ihn gehen!‘“ Zu weit ins Jenseits holt diese Interpretation allerdings insofern aus, als der Evangelist wohl noch nicht an einen Freispruch für das ewige Leben nach dem Tod im Himmel dachte, sondern an die mit dem Anbruch der kommenden Weltzeit bevorstehende Befreiung Israels auf der Erde unter dem Himmel Gottes.

Hartwig Thyen beschäftigt sich eingehend mit dem Grab und den Grabtüchern des Lazarus, von denen in den Versen 38b und 44 die Rede ist (T535f.):

Das Grab wird als eine Felshöhle beschrieben, die durch einen großen und schweren Stein verschlossen ist. Daraus kann freilich nicht „sozialgeschichtlich“ auf den Reichtum und die Zugehörigkeit von Gliedern einer vermeintlichen „johanneischen Gemeinde“ zur Oberklasse geschlossen werden, denn die so beschriebene und außerhalb des Dorfes gelegene Grabstätte ist sicher nicht zufällig nach dem Muster des Grabes Jesu gezeichnet (19,38-20,18). Die ,Grabbinden‘ (keiriai), mit denen der Tote an Füßen und Händen gewissermaßen ,gefesselt‘ ist (dedemenos), und das ‚Schweißtuch‘ (soudarion), das sein Antlitz verhüllt, entsprechen den ,Leinenbinden‘ (othonia), mit denen Jesus „gebunden“ (edēsan) wurde (19,40), wie sie auch sein Antlitz durch ein (soudarion) verhüllten (20,7). Damit wurden beide bestattet, kathōs ethos estin tois Ioudaiois entaphaizein {wie die Juden zu begraben pflegen} (19,40).

Als (T536) „absichtsvolle Differenz zwischen der Auferweckung des Lazarus und der Auferstehung Jesu“ betrachtet es Thyen, dass hier der Stein (Vers 39a) erst mühsam „beiseite geschafft“ und der Tote von den Tüchern (Vers 44) „entbunden werden muß“, während im Falle Jesu der Stein (20,1) „wie von unsichtbarer Hand beseitigt“ sein und die Tücher (20,6f.) „ordentlich gefaltet (entetyligmenon) jeweils an ihrer Stelle“ liegen werden:

Einander gegenübergestellt sind so Jesus, der sich selbst und in eigener Vollmacht (10,18) aus Tod und Grab befreit, und Lazarus, den Jesus mit Hilfe der von ihm Beauftragten erst buchstäblich den „Banden des Todes“ entreißen muß…

Obwohl diese Gegenüberstellung auf den ersten Blick bestechend wirkt, bleibt doch die Frage, wozu sie letzten Endes dienen soll – lediglich der Hervorhebung der größeren Vollmacht und Herrlichkeit Jesu als einer gottgleichen himmlichen Gestalt? Wä­re es diesem Zweck nicht sogar dienlicher gewesen, wenn Jesus auch den Stein mit übermenschlicher Kraft vom Grab wegbewegt hätte und die Grabtücher von Lazarus wie von selbst abgefallen wären? Was Befreiung wirklich im Blick auf Lazarus bedeutet, wenn man ihn als Verkörperung Israels betrachtet, kommt bei Thyen nicht einmal ansatzweise in den Blick.

Zu den Versen 39b-40 setzt auch Thyen sich mit Ludger Schenke auseinander, urteilt aber anders als Wengst über dessen Einschätzung:

Gewiß ist die Unwiderruflichkeit des Todes kaum „drastischer“ zur Sprache zu bringen und damit zugleich die Unmöglichkeit dessen, was hier möglich werden soll, nicht deutlicher auszudrücken als durch Marthas Einwand gegen Jesu Befehl, das Grab zu öffnen, daß doch „vom Leichnam bereits Verwesungsgeruch“ ausgehe [Schenke 229]. Ob man deshalb aber wie Schenke fortfahren kann, „die Haltung Marthas, die kein Zeichen mehr braucht und erwartet“, könne klarer „nicht beschrieben werden“, scheint uns ein problematischer Rückfall in die verbreitete Rede vom bloßen und unzureichenden Zeichenglauben zu sein. Wurde das Evangelium nicht deshalb geschrieben, weil alle Glaubenden der „Zeichen bedürfen (20,30f)? Und ist Marthas Intervention am Grab ihres Bruders darum nicht eher Ausdruck ihrer erneuten Zweifel und des Umstands, daß ihr Glaube durch die sinnlich wahrnehmbare Gewalt des Todes erneut ,angefochten‘ ist? Bedarf sie nicht deshalb der ermahnenden Erinnerung Jesu: „Habe ich dir nicht gesagt, daß du die Herrlichkeit Gottes schauen solltest, wenn du glaubtest“.

Zwar hatte Jesus nur seinen Jüngern gegenüber davon gesprochen, „daß ‚der Sohn Gottes‘ durch Krankheit und Tod des Lazarus verherrlicht werden solle“, aber was er

ihr jedenfalls wörtlich nicht gesagt hatte, daß sie die Herrlichkeit Gottes schauen solle, muß … der Sache nach wohl in seinem göttlichen egō eimi {ICH BIN} (V. 25f) und in Marthas Einverständnis damit bekundendem Bekenntnis (V. 27) impliziert gewesen sein.

Zum Dank Jesu an seinen „Vater für die Erhörung seines Gebets“ in den Versen 41-42 betont Thyen dessen ganz besondere Beziehung zu Gott (T536f.):

Wie in 12,27f und 17,1 sowie in der lukanischen Gestalt des Herrengebets (Lk 11,2-4), ist die Gebetsanrede das einfache und exklusive patēr {Vater}. Jesu besondere Relation zu Gott als die des monogenēs hyios {einziggeborenen Sohnes} ist eine andere als die aller übrigen Menschen. Erst nach seiner „Verherrlichung“ wird er Maria Magdalena, seine erste Osterzeugin, mit dieser Botschaft zu seinen Jüngern senden: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: ,Ich fahre jetzt auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott‘“ (20,17). So macht er erst durch seinen Weg durch Tod und Grab die Jünger zu seinen Brüdern und seinen Vater zu ihrem Vater, so daß sie fortan beten können: „Vater unser …“. Dem Dank für die Erhörung seines Gebets fügt er seine Gewißheit hinzu, „daß du mich ständig erhörst“, und daß er das in dieser Öffentlichkeit nur äußere, damit die Umstehenden zum Gauben kommen, „daß du mich gesandt hast“.

Ob die Erwähnung der Brüder in 20,17 aber genau diesen Sinn haben wird, ist in meinem Augen immer noch zu bezweifeln, auch wenn Thyen diesen Gedankengang nun schon mehrfach wiederholt hat.

Die laute Stimme (phōnē megalē), mit der Jesus ruft: „Lazarus, komme heraus!“ erinnert nach Thyen (T537)

nicht zufällig an das gerade zuvor von dem ,guten Hirten‘ Gesagte, der seine Schafe bei Namen ruft …, der ihnen das ewige Leben gibt … (10,28-30). Ja weit über die Hirtenrede hinaus muß sich der Leser an Jesu sabbatliche Rede an die Ioudaioi erinnern, denen er … gesagt hatte, es komme die Stunde, ja schon jetzt sei sie da, „da die Toten die Stimme des Gottessohnes hören, und da leben werden, die sie erhören“ (5,24; s. o. z. St.). In der erzählten Welt des Evangeliums ist diese Stunde mit Jesu lautem Ruf: „Lazarus, komme heraus!“ jetzt gekommen: „Und der Totgewesene kam heraus“.

Unter Bezug auf Sandra Schneiders <845> erwägt Thyen, ob „dieser Ruf Jesu und sein Auftrag, Lazarus von seinen Fesseln zu lösen, ein Spiel mit Jes 49,8f“ sein könnte:

Und zugleich ist in dieser Erweckung des physisch Toten jene andere und eschatologische „Stunde“ vorabgebildet, da „alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und herauskommen werden, die da Gutes getan haben zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (5,28f). Das neue Leben des Erweckten offenbart beides: Seine gegenwärtige Teilhabe am ewigen Leben und „die endgültige Auferstehung derjenigen, die gläubig sterben. Sie symbolisiert das Zusammentreffen von gegenwärtiger und zukünftiger Eschatologie“.

Es ist bedauerlich, dass Thyen Jesaja 49,8-9 einfach nur am Rande erwähnt und in keinster Weise ernstnimmt, dass in diesem Jesajakapitel von der Sammlung und Heimführung der zerstreuten Kinder Israels die Rede ist, ja, in 49,24-25 sogar von den Gefangenen, die einem Gewaltigen entrissen werden. Dort hat das mit der Befreiung der Israeliten aus der Gewalt Babylons zu tun, wozu der Gott Israels die Macht eines anderen Eroberervolkes der Völker, nämlich der Perser, in seinen Dienst nimmt. Johannes könnte entsprechend an die Befreiung Israels aus der Hand eines anderen Gewaltigen denken, nämlich der römischen Weltordnung, die durch seinen Tod am Kreuz zu überwinden der Messias Jesus angetreten ist.

Dass Thyen grundsätzlich offen sein müsste auch für solche Überlegungen, zeigt sein Urteil zum Schweigen des Erzählers „über die Reaktion der Umstehenden auf Jesu Gebot: ‚Löst ihm die Fesseln und laßt ihn gehen!‘“ Er meint nämlich, dass er damit „eine ,Leerstelle‘“ <846> schafft, „die der Leser/Zuhörer füllen muß“:

„Es wird uns weder gezeigt noch gesagt, dass (geschweige denn, wie oder von wem) Lazarus losgebunden und ‚freigelassen‘ wurde. Wir werden über die Reaktionen der beiden Schwestern oder der Jünger völlig im Unklaren gelassen, ganz zu schweigen von den Reaktionen des Lazarus selbst. Die unvollendete Aufgabe, Lazarus loszubinden, wird zur Aufgabe des Lesers, den Text aufzubinden … Die Herausforderung an den Leser, diesen Text zu enträtseln, ist nicht nur unvollendet; aufgrund der Rhetorik der Glaubenserzählung ist es eine unvollendbare Aufgabe“.

Immerhin wendet sich Thyen zu Recht dagegen (T537f.), die Auferweckung des Lazarus in eine „spiritualisierte und von allen Weltbezügen gelöste Eschatologie {Lehre von den letzten Dingen}“ einzuordnen (T538),

die als „rein präsentische“ auf den schmalen Sektor einer „geistlichen Auferstehung“ allein der an Christus Glaubenden reduziert ist – wobei diese Wenigen zu solchem Glauben noch von Ewigkeit her prädestiniert sein sollen -, {und kaum} … noch „Eschatologie“ zu nennen [ist]…

Ist das Thema einer wahren Lehre von den letzten Dingen, wie Thyen fragt, nicht vielmehr

die endzeitliche Erlösung und Verwandlung der gesamten geschaffenen Welt und zumal des von Gott erwählten Volkes Israel, die Auferstehung aller, „die in den Gräbern sind“ (Joh 5,28f), und das gerechte Gericht Gottes? Unser überliefertes Johannesevangelium jedenfalls liefert für eine derartige Reduktion keinerlei Berechtigung, es sei denn man rücke ihm literarkritisch mit Schere und Kleister zu Leibe und mißachte seine enge Intertextualität mit den synoptischen Evangelien und biblischen Texten.

Mit einer erneuten Bezugnahme auf Schneiders <847> betont Thyen:

Johannes hat die „finale Eschatologie“ nicht beseitigt, sondern ihr aus der Erfahrung der Gegenwart des abwesenden Christus – „Herr, wärest du hier gewesen …“ – eine neue Tiefendimension erschlossen: „Die Auferstehung am ‚letzten Tag‘ ist keine Zukunft rein jenseits der Zeit, die das Leben in die eschatologische Zukunft verschieben würde, sondern eine Zukunft, die bereits die Gegenwart des Gläubigen mit ewigem Leben erfüllt“.

Seiner Annahme, dass „die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus und von seinen bethanischen Schwestern eine fiktionale Komposition auf der Grundlage der genannten synoptischen Texte sein dürfte“, widerspricht es Thyen zufolge im Übrigen ganz und gar nicht, dass zweifellos

der Autor und seine Leser an den Erweis von Jesu Macht auch über den physischen Tod ernsthaft geglaubt haben. Gewiß hat Johannes den Vorschein dieses Eschaton in der Sendung sowie im Sterben und Auferstehen Jesu deutlicher als andere neutestamentliche Autoren wahrgenommen und ihn als das Scheinen des Lichtes in der Finsternis (1,5; vgl. 1Joh 2,8) zum Brennpunkt seines Evangeliums gemacht. Denn es galt ja allen Zweifeln gegenüber, das Gekommensein des messianischen Gottessohnes „im Fleisch“ als die reale Prolepse des eschatologischen Heils inmitten einer noch von Gesetzlosigkeit, Leid und Tod gezeichneten, unerlösten Welt als den verläßlichen Grund der Hoffnung stark zu machen. Und er hat ihn so stark gemacht, daß einige glauben konnten, damit habe er das eschatologische Heil auf das reine Präsens der „Glaubensentscheidung“ reduzieren wollen.

Abschließend bezeichnet Thyen die „Lazarus-Szene“ als „eine ,symbolische Erzählung‘, das heißt, was hier irdisch manifest wird, hat zugleich symbolische Obertöne.“ Was Thyen damit genau ausdrücken will, ist mir auch hier wieder nicht ganz klar. Will er sagen, dass der Evangelist selbstverständlich davon ausging, dass Jesus wortwörtlich einen vier Tage lang toten und schon verwesenden Leichnam aus dem Grabe rief? Würde er eine Interpretation wie die von Veerkamp, die Lazarus als Verkörperung Israels versteht, als unangemessene Abtrennung der „sybolische[n] Obertöne“ der Erzählung „von der Realität des erzählten Basisgeschehens“ beurteilen, wodurch dieses Geschehen „zur bloßen Allegorie würde“? Ich lasse es offen, zumal auch nach Thyen „das Symbol, wie Ricoeur es ausdrückt, jenseits der Ontologie ‚zu denken‘“ gibt und „so Prozesse der Konkretion“ eröffnet, „die unabschließbar sind.“

In meinen Augen wird der Text keineswegs zu einer bloßen Allegorie, wenn Jesus in der Gestalt seines toten Freundes Lazarus im Grab symbolisch dem Tod des Volkes Israels unter der Gewaltherrschaft der römischen Weltordnung entgegentritt. Ton Veerkamp <848> wird seine dahingehende Auslegung mit einer ganzen Reihe biblischer Belegstellen unterfüttern, vor allem aus den Propheten und Psalmen. Die erste von ihm angeführte Parallele zu Vers 38 steht aber im Markusevangelium:

Jeschua schnaubte wieder vor Wut (embrimōmenos). Er steht an der Grabhöhle, ein Stein ist vorgewälzt. Den Stein kennen wir sehr gut, Markus 15,46ff. Bei Markus wurde der Stein wie von Geisterhänden weggewälzt, Markus 16,4. Hier werden die Menschen aufgefordert, den Stein wegzuwälzen.

Das griechische Wort teleutan, das im Johannesevangelium nur in Vers 39 in einer näheren Beschreibung der Martha vorkommt und auf das Wengst und Thyen nicht eingegangen waren, nimmt Veerkamp zum Anlass für einen Vergleich mit zwei anderen vom Evangelisten im Zusammenhang mit Jesus verwendeten Wörtern:

Jetzt spricht Martha, „die Schwester des Vollendeten (teteleutēkotos)“. Jeschua wird sein „Ende“ anders benennen; er verwendet ein etwas anderes Verb (telein, sein Ziel, telos, erreichen, statt teleutan, das Ende erreichen, vollenden). Bei der Besprechung von 19,28.30 werden wir diesen Unterschied beachten müssen.

Dann wendet sich Veerkamp der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem harten Wort zu, das Martha über den buchstäblichen Verwesungsgestank ihres toten Bruders äußert, und stellt es in den Zusammenhang einer verständlichen Hoffnungslosigkeit, die sich in der messianischen Gemeinde in den Jahrzehnten nach dem Judäischen Krieg breitmachen konnte. Ist in einer solchen Situation noch das Vertrauen darauf möglich (Vers 40), die Herrlichkeit bzw. Ehre Gottes zu sehen?

„Herr“, sagt sie, „er stinkt schon, es ist der vierte Tag.“ Das heißt: „Er ist tot und mehr als tot. Er ist nicht vollendet, sondern verendet!“ Der Gestank der Verwesung ist mehr als ein Grund für ihre Skepsis. Von Lebenden kann man sich verabschieden, von Toten vielleicht, aber nicht von solchen, die stinken und mehr als tot sind. Man begräbt sie und überlässt sie der Ruhe der Verwesung. Wenn Lazarus Israel ist, und alles spricht dafür, dass er es ist, dann sagt Martha: „Alles ist vorbei und mehr als vorbei.“ Für einige, erst recht für die Messianisten, war die Zerstörung von Heiligtum und Stadt das endgültige Ende Israels, zumal sie schon eine Generation zurückliegt, wenn wir eine verbreitete Datierung um 100 annehmen. Wenn das so ist, hilft die Große Erzählung Israels auch nicht mehr. Skepsis und Bekenntnis, 11,39 und 11,27, schließen sich nicht aus. „Wer vertraut, wird die Ehre Gottes sehen.“ Wie denn? Wann denn? Wo denn? Verzweiflung war nichts Neues in der Geschichte dieses Volkes. In einem ähnlichen Augenblick hatte ein Prophet folgende erschütternde Worte gesagt, Jesaja 26,18f.:

Schwanger waren wir, wälzten uns,
und als wir geboren hatten, war es Wind.
Keinerlei Befreiung wurde dem Land getan,
keineswegs fielen die Weltbewohner.
Mögen doch meine Toten leben,
mögen doch meine Leichen aufstehen,
mögen sie aufwachen, jubeln, die im Staub wohnen.
Dass Tau der Lichter dich betaue,
das Land der Gespenstischen zerfalle.

An solche und viele weitere Zeugnisse einer Hoffnung gegen allen Augenschein, gegen eine Macht des scheinbar endgültigen Todes, die in den jüdischen Schriften aufbewahrt sind, knüpft Johannes in seiner Lazaruserzählung an, indem Jesus (Vers 41) betend seine Augen zum befreienden und Leben schaffenden Gott Israels erhebt:

Einige in Israel wollten nie wahrhaben, dass alles vorbei war. Zu ihnen gehörte der Prophet Jesaja, zu ihnen gehört Jeschua. Er erhebt die Augen – wie in 17,1. Es ist die Haltung des betenden und hoffenden Israels: „Zu DIR erhebe ich meine Seele“ (Psalm 25,1), „zu den Bergen hebe ich meine Augen“ (Psalm 121,1) u.ä. Er dankt, wie er dankte, als er Israel ernährte, 6,11. Das Wort ist bei Johannes kein Terminus technicus des kirchlichen Abendmahls, sondern geht den entscheidenden Zeichen für die Aufrichtung Israels voran. Er sagt: „Ich danke dir, dass du auf mich hörst. Ich weiß aber, dass du immer auf mich hörst.“ In den Psalmen ruft Israel immer wieder: „Gott, höre auf meine Stimme“, Psalm 130,1 u.ä. Der Messias Israels ist das betende Israel, und das betende Israel findet Gehör:

Und Elia, der Prophet, trat heran, er sprach:
„DU, Gott Abrahams, Isaaks, Israels,
heute möge erkannt werden,
dass du Gott bist in Israel, und ich dein Knecht,
und dass ich nach deinem Wort alle diese Worte tue.
Antworte mir, Adonaj, antworte mir,
dass sie, dieses Volk, erkennen,
dass du der Gott bist,
dass du ihr Herz zurückverwandelt hast.“

Dieses Gebet Elias in 1 Könige 18,36ff. ist sachlich verwandt mit dem Gebet Jeschuas. In beiden Fällen war die Lage aussichtslos, 1 Könige 19,10:

„Geeifert habe ich, geeifert, für DICH, Gott der Heerscharen,
die von Israel haben den Bund verlassen,
deine Schlachtstätte haben sie verwüstet und deine Propheten
mit dem Schwert getötet.
Ich allein bin übriggeblieben,
sie suchen mir meine Seele wegzunehmen.“

Die „Rückverwandlung des Herzens Israels“ ist die Belebung des toten Lazarus. Bei Elia soll das Volk „erkennen“, hier soll es „vertrauen“. Erkennen soll das Volk am Leben spendenden Regen nach drei Jahren Hungersnot, vertrauen soll das Volk auf neues Leben nach Jahren der Verwüstung. Deswegen spricht Jeschua aus, was wirklich nötig ist: dass es einen Gott und seine Treue (alētheia) gibt in Israel. Deswegen muss Lazarus leben. Vom TeNaK her zeigt diese Stelle, dass es kein Hokuspokus einer Totenbeschwörung gibt, sondern dass der Tod in Israel nicht das letzte Wort sein darf, Ezechiel 37,1ff.:

Über mich geschah die Hand des NAMENS.
Er führte mich, inspiriert durch den NAMEN,
er ließ mich nieder mitten auf einer Ebene, voll mit Knochen.
Er trieb mich um sie herum und herum,
da, viele, sehr viele waren es auf der Ebene,
da, verdorrt waren sie, sehr.
Er sprach zu mir:
„Menschenkind, sollen diese Gebeine wieder aufleben?“
Ich sprach: „Mein Herr, DU, du weißt es.“

Die Erzählung der Belebung des Lazarus können wir nur verstehen, wenn wir sie von diesen Texten her lesen. Jeschua schreit es mit „großer Stimme“ aus, phōnē megalē, qol gadol. Bei den Synoptikern schreit Jeschua im Augenblick vor seinem Tod mit dieser „großen Stimme“. Hier erklingt seine „große Stimme“ am Grab Israels. Er schreit, er brüllt. Das ist kein Zeichen ruhiger Gottgewissheit, das ist ein wütender Befehl.

An dieser Stelle schlägt das Herz der Auslegung Ton Veerkamps, hier wird deutlich, wie tief die Wurzeln des Johannesevangeliums in den heiligen Schriften Israels verankert sind. So verstanden verliert die Erzählung der Auferweckung des Lazarus jede Peinlichkeit eines bloßen Mirakels für einfach gestrickte Menschen, die ein göttlicher Wundertäter mit angeblich übernatürlichen Fähigkeiten vollbringen muss, um ihren schwachen Glauben an eine Auferstehung im Sinne eines Lebens nach dem Tod im Himmel zu stärken.

Auch zum letzten Vers der Auferweckungserzählung (Vers 44) steuert Veerkamp von den jüdischen Schriften her aufschlussreiche Überlegungen bei:

Der Gestorbene kam heraus, aber als eingewickelte Leiche, Hände und Füße verbunden, das Gesicht verdeckt. Das ist zwar kein Toter mehr, aber noch lange kein Lebender. Deswegen der Auftrag: „Macht ihn los (lysate) und lasst ihn gehen.“ Erst wenn dieser Auftrag ausgeführt ist, wird aus dem Toten ein Lebender. Das Verb lyein, lösen, los machen, hören wir auch im Psalm eines Erniedrigten, Verzagten, der seine Klage dem NAMEN ausschüttet“. Wir hören (Psalm 102,19-22):

Geschrieben wird‘s für ein späteres Geschlecht:
dass ein Volk der Schöpfung den NAMEN preist,
dass er aus der Höhe herabsieht, der NAME,
von seinem Himmel auf die Erde blickt,
das Stöhnen der Gefesselten zu hören,
los zu machen (lysai) die Söhne des Todes,
dass sie SEINEN Namen auf Zion erzählen,
seine Preisung in Jerusalem,
dass die Völker aufziehen vereint,
die Königreiche dem NAMEN dienen.

Hört man den letzten Abschnitt der Erzählung von der Belebung des Lazarus mit diesem Psalm zusammen, weiß man, um was es hier geht. Rom ist die Gesamtheit der Völker, die vereint auszog, Jerusalem zu vernichten (Gog von Magog, Ezechiel 38-39). Das ist die Gegenwart. Die Belebung des Lazarus ist genau das Gegenteil. Sie ist die Hoffnung des Johannes und mit ihm Israels. Und der Auftrag der messianischen Gemeinde besteht darin, das nicht mehr tote und noch nicht lebende Israel „los zu machen“, zu erlösen von der Bindung des Todes.

Ein weiterer Satz, den Veerkamp diesen Erwägungen hinzufügt, überrascht mich ein wenig, da er den Blick, ähnlich wie Wengst es tut, dann doch von Israel weg auf die Völker richtet:

Die messianische Gemeinde ist an die Menschheit gewiesen (Matthäus 28,19), an ihr das zu tun, was sie an dem nicht mehr toten und noch nicht lebenden Lazarus tun sollte, „losmachen“.

Ich kann Ton Veerkamp nicht mehr fragen, wie genau er das gemeint hat. Sicher nicht in dem Sinne, dass bereits Johannes wie Matthäus eine generelle Völkermission propagiert hätte. Vielleicht will er die christliche Kirche, die das Evangelium in den Kanon ihrer Bibel übernommen hat, dazu ermahnen, dass sie das, was der Evangelist noch als reale Hoffnung auf ganz Israel bezog, als befreiende Botschaft in die Menschheit hineinträgt und dabei ihre Verantwortung für Israel nicht vergisst. An dieser Stelle erkenne ich eine erstaunliche Überschneidung zwischen den Auslegungen von Klaus Wengst und Ton Veerkamp.

Johannes 11,45-53: Kaiphas rät dem Sanhedrin, Jesus für das Volk sterben zu lassen

11,45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren
und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.
11,46 Einige aber von ihnen gingen hin zu den Pharisäern
und sagten ihnen, was Jesus getan hatte.
11,47 Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat
und sprachen: Was tun wir?
Dieser Mensch tut viele Zeichen.
11,48 Lassen wir ihn gewähren,
dann werden sie alle an ihn glauben,
und dann kommen die Römer
und nehmen uns Tempel und Volk.
11,49 Einer aber von ihnen, Kaiphas,
der in diesem Jahr Hoherpriester war,
sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts;
11,50 ihr bedenkt auch nicht:
Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk,
als dass das ganze Volk verderbe.
11,51 Das sagte er aber nicht von sich aus,
sondern weil er in diesem Jahr Hoherpriester war, weissagte er.
Denn Jesus sollte sterben für das Volk
11,52 und nicht für das Volk allein,
sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.
11,53 Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.

[30. August 2022] Auf die Auferweckung des Lazarus hin werden in den Versen 45 und 46 zwei gegensätzliche Reaktion verzeichnet (W352f.), „zunächst eine positive Reaktion“, nämlich,

dass „viele von den Juden, die zu Mirjam gekommen waren“, zum Glauben an Jesus kamen. Dieser positive Aspekt wird jedoch im Folgenden in der Sicht anderer negativ gewertet. In der weiteren Darstellung spielen diese „Vielen“ keine Rolle als selbst Handelnde; sie sind nur darin wichtig, wie sie von anderen wahrgenommen werden.

Auf der anderen Seite gibt es aber „einige“, die „den Pharisäern sagten, was Jesus getan hatte“. Diese Aktion ist Klaus Wengst zufolge

nicht als neutraler Bericht verstanden, schon gar nicht als Glaubenszeugnis, sondern – wie auch aus der Fortsetzung erhellt – als Anzeige bei der Behörde. „Die Juden“ erscheinen hier als umfassendere Bezeichnung, denen gegenüber „die Pharisäer“ die Behörde bilden. Wieder ist deutlich, dass Johannes Verhältnisse der eigenen Zeit in die Darstellung der Geschichte Jesu zurückprojiziert.

Diese Anzeige veranlasst nun „die Oberpriester und die Pharisäer“ dazu, „eine Sitzung des Synhedriums“ einzuberufen, wobei erneut „‚die Pharisäer‘ als die treibende Kraft“ erscheinen:

In 11,47 handelt es sich um die einzige Stelle, an der er dieses oberste Organ jüdischer Selbstverwaltung unterhalb der römischen Oberhoheit ausdrücklich nennt. „Die Oberpriester und die Pharisäer“ berufen es nicht nur ein; sie sind es auch, die dort reden. Nach der Vorstellung, die Johannes davon gibt, scheint es aus ihnen zu bestehen. „Die Ältesten“ und „die Schriftgelehrten“, die zusammen mit den Oberpriestern im historischen Synhedrium bis zur Zerstörung des Tempels vertreten waren, erwähnt er nirgends. Die Darstellung in 7,47-49 legt nahe, dass für ihn Pharisäer und Schriftgelehrte zusammenfallen. Das zeigt einmal mehr, dass die Perspektive seiner eigenen Zeit seine Darstellung bestimmt.

Zunächst erscheinen „die im Synhedrium Versammelten“ ratlos: „Was richten wir schon aus, da dieser Mensch viele Zeichen tut?“ Sie befürchten (Vers 48), „wenn man nicht handelt, wenn man dem Lauf der Dinge tatenlos zusieht“, unerwünschte Konsequenzen:

„Wenn wir ihn so gewähren lassen, werden alle an ihn glauben und die Römer werden kommen und uns sowohl den Ort als auch das Volk wegnehmen.“ Dies ist die einzige Stelle in den Evangelien, an der die Römer namentlich erwähnt werden. Die im Blick auf das Wirken Jesu geäußerte Befürchtung ist politischer Natur.

Nach Wengst (W354) sind die „geäußerten Befürchtungen … jedenfalls für die dargestellte Zeit plausibel“, denn wenn, wie „Johannes vermerkt, … ‚viele‘ an ihn [Jesus] glaubten, auf ihn ihr Vertrauen setzten“, dann konnte das von Rom als der „Ordnungsmacht als Gefährdung der politischen Stabilität angesehen werden.“ Dazu verweist Wengst auf Josephus, <849> der „immer wieder vom ‚Vertrauen (pístis) auf die Römer‘“ spricht:

Für die Zeit vor dem jüdisch-römischen Krieg berichtet er vom Auftreten einiger messianischer Prätendenten, die das Eingreifen der römischen Macht herausforderten. Das blieben kleinere Aktionen, die zwar das Ende der jeweiligen Prätendenten und der von ihnen entfachten Bewegungen bewirkten, aber keine grundlegenden Änderungen herbeiführten. Die brachte dann allerdings der Krieg.

Dass Jesu Wirken bzw. das seiner messianischen Gemeinde tatsächlich gegen die römische Weltordnung gerichtet sein könnte, ist für Wengst nicht einmal erörternswert. Zwar erwähnt er einen Hinweis von Haenchen <850> auf 6,14f. (W353f.):

Dort „geschieht nach der Darstellung des Erzählers eben das, was der Hoherat befürchtet“. Allerdings entzog sich Jesus dem Zulauf des Volkes, das ihn zum König machen wollte.

Aber Wengst erwägt nicht, dass dieser Rückzug sich lediglich auf die Art des Aufstands gegen Rom beziehen könnte, nämlich den zelotisch-militärischen Kampf, der letzten Endes die Mittel der Weltordnung aufgreift und den Jesus ablehnt. Dass der Messias, der den befreienden NAMEN des Gottes Israels verkörpert, tatsächlich in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu dem Cäsar steht, den die judäischen Hohenpriester (19,15) als ihren einzigen König akzeptieren, kommt ihm nicht in den Sinn, obwohl er durchaus sieht, dass „das Synhedrium politische Erwägungen“ durchaus auch im eigenen Interesse anstellt, denn dessen Mitglieder wären von „den befürchteten Folgen … selbst unmittelbar betroffen“, da sie innerhalb der beschränkten Autonomie … von den bestehenden Verhältnissen“ profitierten: „Das Volk würde ihnen genommen, wenn Jerusalem und der Tempel zerstört würden, wohin das Volk vor allem zu den Wallfahrtsfesten kommt und vieles einbringt.“

Obwohl Wengst „die geäußerten Befürchtungen für die erzählte Zeit“ als durchaus „plausibel“ ansieht, konnten sie in der in unserem Text „formulierten Konkretheit doch erst nach 70 geschrieben werden“. Zwei kommentierende Bemerkungen von Blank und Schenke, <851> die Wengst in diesem Zusammenhang anführt, lassen erkennen, dass Johannes in ihren Augen kaum mit den Juden bzw. Israel über die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem trauert, sondern dieses Ereignis sozusagen als gerechte Strafe für die Herbeiführung des Todes Jesu beurteilt. So weiß „die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums“ nach Blank: „Genau das, was man damals durch den Tod Jesu hat verhindern wollen, ist inzwischen geschehen.“ Und (Anm. 671) Schenke meint:

„Der Leser durchschaut von seinem Standpunkt aus die tiefe Ironie, die hier waltet, blickt er doch auf den jüdischen Aufstand gegen Rom und den Jüdischen Krieg zurück, in dessen Folge die Priesterschaft sowohl ihre Machtstellung als auch ihr Zentrum, den Tempel, verlor.“

Zur Einführung des Kaiphas (Kajafas) als den „Hohepriester jenes Jahres“ in Vers 49 wendet sich Wengst gegen die Vorstellung, der Evangelist sei so „falsch informiert und den jüdischen Verhältnissen fernstehend“ gewesen, dass er nicht über die lange Amtszeit gerade dieses Hohenpriesters „von 18-37 n. Chr.“ Bescheid gewusst hätte.

Inhaltlich tritt Kaiphas der Ratlosigkeit des Synhedrions mit Worten entgegen, die „wenig schmeichelhaft“ für dessen Mitglieder sind: „Ihr wisst gar nichts.“ Zwar bestreitet er damit nicht (W355) die „Analyse der Situation“, aber den Mangel an notwendigen Abwehrmaßnahmen (Vers 50):

„Ihr bedenkt auch nicht, dass es euch zuträglicher ist, wenn einer für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ Politische Opportunität im Blick auf das Ganze verbindet sich hier mit dem Interesse persönlicher Machterhaltung. Um den Tempel zu erhalten und das Volk vor dem Untergang zu bewahren, muss gegen einen mit größter Härte vorgegangen, muss er geopfert werden.

Absichtlich lässt Johannes in dieser Äußerung des Kaiphas „die Bekenntnissprache der Gemeinde hindurchschein[en]“, so dass der Hohepriester für „die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums … viel mehr“ sagt,

als er selbst in der dargestellten Situation meinen kann. Das wird in den beiden folgenden Versen in einer kommentierenden Bemerkung ausdrücklich entfaltet. So heißt es zunächst: „Das aber sprach er nicht von sich aus, sondern weil er Hohepriester in jenem Jahr war, redete er prophetisch, dass Jesus für das Volk sterben sollte.“ Die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums wird aus der Gemeindetradition wissen, „dass der Gesalbte für uns bzw. unsere Sünden gestorben ist“, „dass Gott seinen Sohn für uns dahingegeben hat“. Das liest und hört sie auch in den Worten des Kajafas. Den prophetischen Charakter seines Redens hebt Johannes dadurch hervor, dass er nicht „von sich aus“ als Person spreche, sondern kraft seines Amtes als Hohepriester.

Nach Vers 51 ist Wengst zufolge klar, dass „Jesus nicht gegen, sondern für sein Volk“ stirbt, womit Johannes eindeutig „das jüdische Volk“ meint. In Vers 52 setzt Johannes (W355f.)

seine Erläuterung fort: „Und nicht für das Volk allein“ werde Jesus sterben, „sondern damit er auch die zerstreuten Kinder Gottes zusammenbrächte.“ … Wie in 10,16 im Bild von den Schafen, „die nicht aus dieser Hürde sind“, kommen nun auch hier Menschen jenseits des jüdischen Volkes in den Blick: „die zerstreuten Kinder Gottes“, die Jesus – als Frucht seines Todes – „zusammenbringt“.

Bezeichnend für anhaltend antijüdische Strömungen in der christlichen Johannesauslegung ist, dass Wengst sich an dieser Stelle (Anm. 675) gegen den Exegeten Theobald <852> wehren muss, demzufolge „die Konstruktion des Textes“ Wengsts „Deutung ,scheinbar‘ nahelege, aber dennoch ‚in die Irre führe‘.“ Dazu schreibt Wengst:

„In die Irre“ führt dann aber der Autor, nach Theobald „der Redaktor“, dem er V. 51f. zuschreibt. Dem, so behauptet er dann, „liegt nicht an der Integrität des jüdischen Volkes […], sondern es geht ihm um eine andere, ekklesiologische Wirklichkeit, also das wahre ,Volk (Gottes)‘ (V. 50c)“.

Das heißt: Während Theobald sogar bestreitet, dass das vom Hohenpriester Kaiphas genannte Volk, für das Jesus sterben soll, das reale Volk Israel in Gestalt der Juden ist, sieht Wengst in den verstreuten Kindern Gottes von Vers 52 Menschen aus den Völkern, die den Schafen Israels hinzugefügt werden. Wie schon in der Auslegung zu 10,16 beruft sich Wengst zur Begründung auf Jesaja 11,12, ohne allerdings zu berücksichtigen, dass diese Jesajastelle ausdrücklich nur die zerstreuten Kinder Israels und Judas nennt, die wieder gesammelt werden sollen:

Das Motiv der endzeitlichen Sammlung des Gottesvolkes Israel ist hier variiert aufgenommen, insofern in der durch Jesu Tod und Auferstehung heraufgeführten Endzeit die „Gotteskinder“ außerhalb des jüdischen Volkes herbeigebracht werden und sie sich in der Gemeinschaft derer finden, „die auf seinen Namen – den mit dem Wort Gottes identifizierten Namen Jesus – vertrauen“. So wurden „die Kinder Gottes“ in 1,12 – der einzigen anderen Stelle, an der sie im Evangelium erwähnt werden – charakterisiert. Vielleicht liegt hier eine Anspielung auf Gen 11,1-9 vor. Dort verstreute Gott diejenigen, die sich selbst einen Namen machen wollten. Hier werden aus der Zerstreuung zusammengebracht, „die auf seinen Namen vertrauen“.

Auch wenn diese Überlegungen nicht ganz abwegig sein mögen, ist es doch seltsam, dass Wengst nicht einmal darüber nachdenkt, ob mit den zerstreuten Gotteskindern, tekna tou theou dieskorpismena, nicht auch wortwörtlich die Kinder Israels aus der jüdischen Diaspora gemeint sein können.

Als das Ergebnis „der Synhedriumsversammlung“ stellt Johannes in Vers 53 fest:

„Von jenem Tag an waren sie nun entschlossen, ihn zu töten.“ Jetzt gilt als definitiv, was erstmals schon in 5,18 festgestellt wurde. Man kann nicht sagen, dass es nach dieser Darstellung einen formellen Beschluss des Synhedriums gegeben habe, Jesus zu töten. Dagegen spricht die Formulierung „von jenem Tag an“. Zum Ausdruck gebracht wird vielmehr die endgültige Entschlossenheit des Synhedriums zur Tötung Jesu. Das entspricht der 18,31 mitgeteilten Sicht, dass es dem Synhedrium nicht gestattet war, Kapitalprozesse zu führen.

Nach Hartwig Thyen (T539) will die Aussage von Vers 45, dass „viele der zur Totenklage zu den Schwestern gekommenen Juden“ als „Augenzeugen von Jesu wunderbarem Zeichen … fortan an ihn glaubten …, so verstanden sein, daß diese Jesu Wirken tatsächlich als ‚Zeichen‘ gesehen und begriffen haben und darum einstimmen können in den Lobpreis der ‚Wir‘ des Prologs: ‚Und wir sahen seine Herrlichkeit …‘.“

In diesem Zusammenhang wendet sich Thyen nochmals gegen das

Bild, das Martyn, Brown, Neyrey, Nicholson, Wengst und viele andere von der sogenannten „johanneischen Gemeinde“ gezeichnet haben. Danach soll diese „Johannine Community“ nämlich eine definierbare jüdisch-christliche Sondergemeinde gewesen sein, die sich zum einen durch ihren sektiererischen Charakter deutlich von der „Großkirche“ unterschieden habe und die zum anderen gewaltsam aus ihrer heimatlichen Synagoge ausgeschlossen und damit ihrer sozialen Wurzeln beraubt worden sei.

Gegen dieses Bild spricht nämlich nach Adele Reinhartz <853> „die Anwesenheit der vielen befreundeten Juden im Trauerhaus der bethanischen Geschwister – nach dem Kontext unserer Erzählung doch wohl ein ,christliches‘ Haus – und der Joh 12,11 genannte Glaube vieler Juden an Jesus aufgrund der Erweckung des Lazarus“.

Thyen plädiert aber (T540), statt „das Phantom einer ‚johanneischen Gemeinde‘ gleichsam zum Mutterschoß unseres Evangeliums zu erklären“, für eine umgekehrte Sichtweise, nämlich dass erst die „Lektüre“ des Johannesevangeliums (T540f.),

wie sich etwa an der Johannesverehrung der ephesinische Kirche des zweiten Jahrhunderts und an seiner kaum zu überschätzenden Bedeutung für die folgenden christologischen und trinitarischen Streitigkeiten zeigt, hier und da so etwas wie „johanneische Gemeinden“ hat entstehen lassen.

Damit wendet sich Thyen auch dagegen, die Rede von „den Juden“ im Johannesevangelium auf

eine extratextuelle Größe, seien es die empirischen Juden, das Judentum, die Judäer oder die jüdischen Führer zur Zeit des Evangelisten“ zu beziehen. Wir halten das für den grundsätzlichen Fehler einer „referential fallacy“ {Fehlschluss des Bezugs}, und sehen darin den frühen Ursprung der ja tatsächlich antijudaistischen Rezeptionsgeschichte unseres Evangeliums.

Ob es aber genügt, wie es Thyen alternativ fordert, „den Gebrauch der Fügung hoi Ioudaioi {die Juden} auf die jeweils erzählten Antagonisten Jesu und auf ihr erzähltes Verhalten in den einzelnen Szenen des Evangeliums zu beziehen“, scheint mir zweifelhaft. Kann es denn sein, dass Johannes von „Juden“ oder „Judäern“ spricht, ohne an reale Erfahrungen mit jüdischen Menschen oder mit Israel zu denken? Erst recht aber muss doch jede Leserin und jeder Hörer des Evangeliums mit dem Stichwort „Juden“ konkrete Vorstellungen verbinden.

Wie dem auch sei, Hartwig Thyen zufolge haben die Verse 45 und 46

deutlich die Funktion einer Brücke zwischen den Teilszenen des Erweckungswunders (11,38-44) und des definitiven Beschlusses, Jesus zu töten (11,45-57). Während V. 45 der Sache nach wie Joh 2,11 noch unmittelbar zu dem Erweckungswunder gehört, leitet V. 46 über in das Lager der Feinde Jesu. Durch die einleitende, nur pronominale Wendung „Einige von ihnen aber“, nämlich von den vielen Juden, die zu Maria gekommen waren (V. 45), sind die beiden Teilszenen sehr eng miteinander verbunden ist. Doch wegen des Ortswechsels, der Abwesenheit Jesu und seiner Jünger sowie wegen der Versammlung des Synhedriums behandeln wir 11,45-57 als eine ,Teilszene‘ eigenen Rechtes. Diejenigen, die Jesus jetzt bei den Pharisäern denunzieren, dürften, wie oben bereits vermutet, mit den tines {einige} identisch sein, die einander zuvor tadelnd gefragt hatten, warum der, der dem Blinden die Augen aufgetan hatte, denn das Sterben des Lazarus nicht hat verhindern können (V. 37).

Da bei Johannes nur in Vers 47 das Wort „synhedrion {Synhedrium, Hoher Rat} (vgl. Mk 14,55; Mt 26,59; Lk 22,66)“ vorkommt, sieht Thyen unsere Szene als ein Spiel mit der „synoptischen Erzählung von Verhör und Verurteilung Jesu durch das Synhedrium“ (T542):

Wegen der unmittelbaren Folge der „Salbung in Bethanien“ auf diesen ,Todesbeschluß‘, der bei Mt unter der Ägide des hier ausdrücklich als Hoherpriester genannten Kaiaphas gefaßt wird (Mt 26,1-5), dürfte Mt 26 der konkrete Prätext sein, mit dem Johannes hier spielt. Kaiaphas erscheint bei Joh außerdem in 18,13f, wo der Erzähler an unsere Szene erinnert, und Joh 18,24. Die in der synoptischen Verhörszene bei Mt 26,57 neben dem Hohenpriester Kaiaphas genannten ,Schriftgelehrten‘ und ,Ältesten‘ identifiziert Joh mit den Pharisäern, „indem er die Vergangenheit im Lichte der Bedingungen seiner eigenen Zeit sieht“. <854>

Die „Angabe“ in Vers 49, Kaiaphas sei ‚in jenem Jahre der (amtierende) Hohepriester gewesen‘“, die in 11,51 und 18,13 noch zwei Mal wiederholt wird, muss man Thyen zufolge „mit Morris <855> wohl so wiedergeben …, daß Kaiaphas in jenem schicksalhaften Jahr der Kreuzigung Jesu Hoherpriester in Israel war.“

Das Problem, das sich nach Vers 47 „bis zu den zum Synhedrium Versammelten herumgesprochen“ hat, besteht darin, dass

Jesus „viele Zeichen tut“ …, und sie bezweifeln das nicht, sondern stellen es einfach nur fest: Was tun wir, während der doch viele Zeichen tut? Die Zeichen sind also nicht das Problem, sondern ihre Folgen, daß nämlich, wenn wir ihn so weitermachen lassen, schließlich alle auf Grund dieser Zeichen an ihn glauben werden, und daß dann womöglich die römischen Legionen anrücken und „und uns den Tempel (topon {wörtlich: den Ort}) und das Volk nehmen“. Wie in 4,20 und Dtn 12,5 ist hier topos wohl die fast technische Bezeichnung des Tempels als der heiligen Stätte Israels. Die Befürchtung der Versammelten setzt voraus, daß sie das Tun Jesu nach Analogie der von Josephus geschilderten „Zeichenpropheten“ gedeutet haben dürften, die für die Befreiung Israels vom römischen Joch kämpften… Wie die Hohenpriester nach 12,10f den Beschluß faßten, auch Lazarus zu töten, „weil um seinetwillen viele Juden hingingen und an Jesus glaubten“, so ist auch hier der Glaube vieler Juden an Jesus das eigentliche Ärgernis.

Wie Wengst nimmt also auch Thyen wahr, dass Jesu Zeichen in Analogie zu den prophetischen Handlungen anderer gedeutet werden können, „die für die Befreiung Israels vom römischen Joch kämpften“, aber in keinster Weise hält er eine Erwägung für angebracht, ob es auch das Ziel des johanneischen Jesus sein könnte, auf seine Weise diese Welt, kosmon touton, der römischen Weltordnung zu überwinden.

Der Rat des Kaiphas (Kaiaphas) ist Thyen zufolge (T543) in „dieser Situation der Ratlosigkeit“, dass man Jesus „eben nicht ‚so weitermachen‘“ lässt, denn es ist

doch besser …, einen Mann für das ganze Volk (laos) sterben als um seinetwillen das ganze Volk (holon to ethnos) zugrunde gehen zu lassen. Im Munde des Kaiaphas und als politisches Kalkül muß die Fügung hyper tou laou natürlich die Bedeutung von „anstelle des Volkes“ haben.

Johannes versteht diesen Ausdruck jedoch als doppeldeutig:

Denn er kommentiert dieses Wort des Kaiaphas, das den Todesbeschluß des Synhedriums auslösen (ebouleusanto {sie beschlossen} V. 53) und Jesu irdisches Schicksal besiegeln sollte, sogleich so: „Das sagte er aber nicht aus eigenem Antrieb (aph‘ heautou), sondern weil er in jenem Schicksalsjahr Hoherpriester war, weissagte er (eprophēteusen), denn Jesus sollte ja tatsächlich für das Volk (hyper tou ethnous: zugunsten und zum Heil des Volkes) sterben, ja nicht nur für das Volk (Israel) allein, sondern auch dazu, daß er die zerstreuten Kinder Gottes zur Einheit zusammen führe (synagagē eis hen)“.

Die beiden Wörter „laos und ethnos“ versteht Thyen als gleichbedeutend, worin „sich also einmal mehr die Vorliebe unseres Erzählers für den Gebrauch synonymer Ausdrücke“ zeigt. Auf jeden Fall beziehen sich beide „auf das Gottesvolk Israel“, und zwar auch im Kommentar des Erzählers.

Hartwig Thyens Überlegungen (T544) zu „den tekna tou theou {Kindern Gottes}“, von denen „in unserem Evangeliums nur hier und im Prolog die Rede“ ist (1,12), „wo gesagt war, daß der ,Logos‘ denen, die an seinen Namen glauben, die Vollmacht gab, Gottes Kinder zu werden“, sind nur innerhalb seiner Argumentation zu begreifen, die sich dagegen wendet, bereits im Johannesevangelium eine christliche Dogmatik der Prädestination, also der Vorherbestimmung zur Erlösung oder zur Verdammnis, vorgeprägt zu finden. Sein exegetischer Gegner in dieser Hinsicht ist Jürgen Becker, <856> der die Verse 51-52 „seinem ‚kirchlichen Redaktor‘ zuschreibt“, weil

Jesus hier im Unterschied zum universalen Horizont des Evangelisten „nur für Erwählte“ sterbe, „nämlich für das jüdische Heilsvolk und für die zuvor bestimmten Kinder Gottes aus den Völkern“.

In Thyens Augen dagegen widerspricht die „Rede von der Sammlung der zerstreuten Gotteskinder … keineswegs dem universalen Erlösungshorizont des Evangelisten“, denn für Johannes (T545) sind

potentiell alle Menschen ,Gottes Kinder‘ …, wie sie ja auch ausnahmslos alle ,durch den Logos geschaffen wurden‘ (1,3). Darum ist die Vexierfrage {scheinbar und vielleicht auch objektiv unlösbare Frage}, ob nur diejenigen der Stimme ihres guten Hirten zu folgen vermögen, die immer schon seine Schafe waren, oder ob das Hören seiner Stimme sie allererst zu seinen Schafen werden läßt, unbeantwortbar und muß es auch bleiben, solange unser ,Erkennen Stückwerk ist‘ (1Kor 13,12).

Meine Frage sowohl an Becker als auch an Thyen ist aber, ob mit den „zerstreuten Gotteskindern“ in Johannes 11,52 überhaupt Menschen aus den Völkern gemeint sind oder nicht vielmehr nur die jüdische Diaspora. Thyen hatte bereits bei der Auslegung von Johannes 10,16 „diese Hirtenpassage ebenso wie 11,52 als ein intertextuelles Spiel mit Jes 56,7f begriffen“ und die zur Schar der Versammelten Israels Hinzugesammelten auf Menschen aus den Völkern bezogen. Der Kontext dieser Jesaja-Verse lässt aber klar erkennen, dass sie nicht einfach einen universalen Erlösungshorizont in dem Sinne eröffnen, wie er später im Christentum Wirklichkeit geworden ist, nämlich dass das Volk Israel von einer heidenchristlich dominierten Kirche völlig in den Hintergrund gedrängt und seiner religiösen Verheißungen enterbt wird. Vielmehr geht es ganz im Gegenteil (Jesaja 56,6) um eine wohl überschaubare Anzahl von Fremden, die sich dem Gott Israels zuwenden und an seinem Bund festhalten. Falls Johannes seinen Vers 11,52 tatsächlich auf Menschen aus den Völkern bezogen haben sollte, dann in diesem eingeschränkten Sinn, der sich auch in 12,20 zeigen wird, aber nicht im Sinne einer generellen Völkermission, die bei ihm an keiner Stelle thematisiert wird. Damit ist keineswegs gesagt, dass Johannes die Völker im Übrigen für auf ewig verdammt halten würde. Vermutlich würde er annehmen, dass Gott für die Völker selbst auf je ihre eigene Weise sorgt. Von den jüdischen Heiligen Schriften her ist die Universalität Gottes jedenfalls darauf konzentriert, dass es ihm zentral um das Leben seines erwählten Volkes Israel inmitten der Völker geht, und wenn dieses Leben in Freiheit, Recht und Frieden nur möglich ist, wenn die gesamte Weltordnung überwunden und verwandelt wird, dann muss der Messias Jesus dieses Werk durch seinen Tod am Kreuz der Römer in Angriff nehmen.

Am Rande sei noch erwähnt, dass Thyen (T544) in seiner Argumentation gegen Becker auch auf die unterschiedlichen Vokabeln eingeht, mit denen in der Bibel von den „zerstreuten Gotteskindern“ die Rede ist. In Johannes 10,12 und 16,32 wird skorpizein, in 11,52 wie in Sacharja 13,7 diaskorpizein verwendet, in Hesekiel 34,5 dagegen diaspeirein. Mir scheint, dass beide Wörter sich in den Schriften in der Regel auf die Zerstreuung Israels unter den Völkern und nicht auf Menschen aus diesen Völkern selbst beziehen.

Indem der Evangelist die Rede des Kaiphas (T545) als „prophetisch“ deutet,

so erklärt er damit denjenigen, der doch in kaltem politischem Kalkül den Zweck das Mittel heiligen läßt, wider dessen Willen und ohne, daß er es geahnt hätte, zum Werkzeug in der Hand Gottes, so daß Kaiaphas mit seinem vorgeschlagenen Unrecht in einem höheren Sinn auch noch Recht hat und dem Liebeswillen Gottes dienen muß. … Und daß ein amtierender Hoherpriester die Gabe der Prophetie besitzt, sagt die Bibel zumindest indirekt in den Erzählungen von Eleasar (Num 27,21) und von Zadok, der David Gottes Urteil über ihn kund tun soll (2Sam 15,27f).

Indem nach „vielen Versuchen und Plänen, Jesus zu beseitigen“, gemäß Vers 53 „das hohepriesterliche Wort des Kaiaphas nun zum definitiven Beschluß des Synhedriums“ führt, Jesus zu töten, kommt Thyen zufolge „auf diesem merkwürdigen Umweg … das Heil mittels der prophetischen Stimme des Kaiaphas, weil der in jenem schicksalsträchtigen Jahr Hoherpriester war, von den Juden (4,22) und zu den Juden (hyper tou laou).“

Ton Veerkamp <857> nimmt den politischen Hintergrund der Verse 11,45-54 nicht nur am Rande wahr, sondern macht ihn zur Grundlage seiner Auslegung:

Johannes verfährt strukturell wie sein großer Vorgänger Jechesqel/Ezechiel {Hesekiel}. Zwischen die große Vision des Buches Ezechiel über die Belebung des mehr als toten Israels und die Vereinigung der beiden Häuser Israel und Jehuda (Ezechiel 37) einerseits und über den Wiederaufbau des Heiligtums bzw. des neuen Gemeinwesens (Ezechiel 40-48) andererseits werden die gespenstischen Kapitel über „Gog vom Land Magog“ eingeschaltet. Die vereinte destruktive Macht der Völker kommt noch einmal, um das Land zu vernichten. So auch hier bei Johannes. Nach der Vision der Belebung Israels/Lazarus‘ kommt die nüchterne Einschätzung der politischen Lage.

Auch an dieser Stelle, in den Versen 45 und 46 werden die Juden oder Judäer nicht als einheitlich dargestellt. Während die einen auf Grund des Zeichens, das er an Lazarus getan hat, auf Jesus vertrauen, denunzieren ihn andere bei den Pharisäern:

Einige der Judäer gingen zu den Peruschim. Zum dritten Mal tritt im Johannesevangelium eine Spaltung unter ihnen auf, zum zweiten Mal (vgl. 7,43) hat die Spaltung eine Konsultation auf höchster Ebene zur Folge.

Die Situation ist prekär. Das Problem ist Jeschua oder besser gesagt, die vielen Zeichen, die er tut. „Wenn wir ihn so gewähren lassen“, so sagen sie, „… dann kommen die Römer“. Es ist das einzige Mal, dass das Wort Römer in den Evangelien vorkommt. Der Sanhedrin befürchtet, dass das Auftreten Jeschuas das Ende des Ortes und der Nation bringen könnte.

Bis hierhin stimmen Veerkamps Ausführungen noch weitgehend mit denjenigen von Wengst und Thyen überein. Aber seine Analyse der Verse 47-48 geht tiefer. Bereits die Gestalt des Lazarus hatte er ja als Verkörperung der politischen Situation des Volkes Israel unter einer priesterlichen Führung verstanden, die sich mit der römischen Besatzungsmacht arrangieren muss:

Die politische Führung und die offizielle Opposition der Peruschim wollen keine Veränderungen des Status quo. Sie sehen nicht, dass die Gesellschaft bereits auseinandergefallen ist. Das Zeichen für den unaufhaltsamen Zerfall der Gesellschaft ist der Tod des Lazarus. Es gibt kein Beispiel in der Geschichte dafür, dass irgendeine politische Führung von sich aus entscheiden kann, dass ihr System am Ende ist und etwas radikal Neues beginnen muss. Das Neue würde das Ende des Systems bedeuten.

Sie sehen aber nicht das globale System, den kosmos, sondern nur ihr eigenes lokales System, das im globalen System funktioniert. Die Aufhebung ihres Systems ist ihr Problem, Rom ist für sie nicht das Problem. Arousin, aufheben, ist das Wort. „Den Ort aufheben“ kann bedeuten, den Ort aus den Händen der Bevölkerung und ihrer Führung wegnehmen. Das stimmt überein mit „die Nation aufheben“. „Der Ort“ (ha-maqom) ist nicht nur die Stadt, sondern das Heiligtum als ihr politisches Herz.

Im Rahmen seiner politischen Analyse spielt für Thyen auch die Verwendung der verschiedenen Vokabeln ethnos und laos für das Volk Israel eine Rolle. Er sieht von der Tora her, wie der Hohepriester Kaiphas sie in den Versen 49 und 50 für propagandistische Zwecke in Anspruch nimmt:

Jetzt müssen wir auf den Unterschied zwischen Nation, ethnos, und Volk, laos, aufmerksam machen. Ethnos ist auf hebräisch goj, und laos ist ˁam. Deuteronomium 4,6 begegnen beide Wörter in einem Satz: „Was ist das doch für ein weises und vernünftiges Volk (ˁam-chakham we-navon), diese große Nation (ha-goj ha-gadol ha-se).“ Ein ethnos/goj ist ein Volk, wie es nach außen, auf die Außenwelt wirkt. Ein laos/ˁam ist ein Volk, wie es nach innen zusammengehalten wird. Die Römer haben es mit einem ethnos/goj zu tun; wenn sie das Volk als ethnos/goj anerkennen, gewähren sie ihm ein gewisses Maß an Selbstverwaltung. „Die Nation aufheben“ ist einem Volk das Recht auf Selbstverwaltung nehmen. Genau das befürchtet die politische Führung.

Folgerichtig ist der kohen gadol (archiereus), der Großpriester, gefragt. Er tritt als der überlegene Vorstandsvorsitzende auf, der das ratlose Management („Ihr wisst gar nichts“) auf Kurs bringen muss. Er appelliert nicht an die Moral, sondern an die Interessen: „Ihr bedenkt nicht, dass es in eurem Interesse ist (sympherei hymin).“ Um das Heiligtum und somit das Volk als laos/ˁam zu retten – und das heißt in den Augen der Führung, den Untergang des ethnos/goj zu verhindern -, muss ein Mensch sterben. Politisches Interesse geht vor Moral; Kaiphas sagt, wie später Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Es geht ihnen nicht um das Volk, sondern um ihr Selbstverwaltungsmodell, um den Status des ethnos Ioudaion. Ihr politisches Interesse ist die Aufrechterhaltung der örtlichen Selbstverwaltung. Denn auf sie reduziert sich ihre Vorstellung vom Ort, maqom. Es geht ihnen nicht um „den Ort (ha-maqom), den der EWIGE erwählt, um dort seinen Namen wohnen zu lassen (Deuteronomium 16,2 usw.)“.

Diese listige Begriffsverwirrung, diese Kontamination von laos mit ethnos, gehört zum ständigen Repertoire aller Politik. Hyper tou laou, des Volkes wegen, ist hier das propagandistische Element. Das zögerliche Führungskollektiv muss begreifen, dass Jeschua sowohl in ihrem Interesse (der eigentliche Grund) als des Volkes wegen (Propaganda) getötet werden muss.

Was der Evangelist in den Versen 51-52 deutend zu den Worten des Hohepriesters sagt, stellt für Ton Veerkamp das Herzstück der politischen Theologie des Johannes dar. In seinen Augen geht es hier nicht wie bei Wengst und Thyen um die Begründung der Heidenmission in Analogie zu Paulus oder den Synoptikern, sondern um die Sammlung ganz Israels, das unter die Völker zerstreut wurde:

Hier greift der politische Schriftsteller Johannes ein. Das alles sage Kaiphas nicht aus sich selbst, aus Jux und Laune, schreibt Johannes, sondern er müsse ja als Großpriester des Jahres als Prophet auftreten, das heißt hinweisen auf das, was politisch zwingend notwendig ist. Er gibt im Sanhedrin eine Regierungserklärung ab (das bedeutet hier prophēteuein), Jeschua solle der Nation wegen sterben, und so des Volkes wegen. Aber, so sagt Johannes, hier, im Sanhedrin, gehe es nicht um das Volk (laos), sondern um die Selbstverwaltung (ethnos). Jeschua werde sterben, aber nicht nur der Selbstverwaltung (ethnos) wegen, wie Kaiphas sagte, sondern um „auch alle Kinder Gottes, die auseinandergejagt wurden, in eins zusammenzuführen“.

Alle Kinder Gottes, ganz Israel, wo sie auch immer unter der herrschenden Weltordnung leben, in eine Synagoge zusammenzuführen (synagagein): Das ist das Ziel der johanneischen Politik. Wenn alle Gottgeborenen zusammengeführt worden sind, dann werde es den Ort geben, wo der Gott Israels seinen Namen wohnen lassen will. Denn es geht bei den Gottgeborenen nicht um die Kinder Adams, gar um die Kinder Gottes, um die Menschen allgemein, sondern um bestimmte Menschen, um die Kinder Israels. Und ein Kind Israels ist der Mensch, der „das Licht“ annimmt, „der nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes (Abrahams), sondern gottgemäß gezeugt worden ist“, 1,13.

Diaskorpizein, auseinanderjagen, bezieht sich immer auf das Schicksal Israels nach der Zerstörung des ersten Heiligtums. Diese zentrifugale Bewegung, die das Leben Israels in der Diaspora seit der ersten Zerstörung des Ortes bestimmte, wird in eine zentripetale Bewegung umgekehrt, auf den einen Ort hin. Das ist keine Erfindung des Johannes, sondern gute prophetische Tradition.

Die Botschaft bei Johannes ist nicht, dass „Jesus für alle Menschen gestorben ist“ und dass Israel nach dem Fleisch ausgedient hat, sondern dass die Bestimmung der Menschen, soweit sie „das Licht annehmen“, im neu geschaffenen Volk (ˁam nivraˀ) von Psalm 102 {Vers 19} ihre Bestimmung finden. Das ist bei Johannes etwas anderes als Heidenmission und christliche Kirche.

Den abschließenden Vers 53 dieser Szene im Sanhedrin kommentiert Veerkamp mit den lapidaren Worten:

Die ganze Geschichte hat für die Führung nur die Konsequenz, die Beseitigung des Messias zu planen, der Beschluss ist hiermit gefasst. Wie ein guter Vorstandsvorsitzender hat sich Kaiphas im Management durchgesetzt.

Johannes 11,54: Jesus zieht sich in die Stadt Ephraim nahe der Wüste zurück

11,54 Da ging Jesus nicht mehr frei umher unter den Juden,
sondern ging von dort weg in eine Gegend nahe der Wüste,
in eine Stadt mit Namen Ephraim,
und blieb dort mit den Jüngern.

[31. August 2022] Klaus Wengst scheint es für verwunderlich zu halten, dass sich Jesus, der doch „schon dicht an Jerusalem herangekommen“ ist, als „Reaktion auf die Synhedriumssitzung“ erneut zurückzieht: „Da zog Jesus nicht mehr öffentlich unter den Juden umher.“ Verwunderlich findet er auch (W357)

die jetzt wieder gebrauchte pauschale Rede von „den Juden“, nachdem doch in V. 45f. unter ihnen differenziert worden war. Sie sind offenbar zu fürchten im Blick auf die gerade genannte Tötungsabsicht. Obwohl also „viele von den Juden, die zu Mirjam gekommen waren, zum Glauben an ihn kamen“, erscheinen „die Juden“ – im Bereich von Jerusalem – als feindliche Mehrheit.

Jesu Rückzug vor einer ihm drohenden Gefahr wird Wengst zufolge (W356, Anm. 678) von Origenes <858> zum Anlass genommen, um

davor zu warnen, dass man Martyrien provoziert: „Ich bin der Meinung, dass dieses und ihm Ähnliches deshalb geschrieben steht, weil das Wort uns davon abhalten will, dass wir uns mit zu großer Leidenschaft und Unvernunft danach drängen, bis zum Tode für die Wahrheit zu kämpfen und für sie Zeugnis abzulegen. Es ist zwar gut, dass sich dem Bekenntnis nicht entzieht noch zaudert, für die Wahrheit zu sterben, wer in den Kampf gerät, wo Jesus zu bekennen ist. Aber keineswegs weniger gut als das ist es, keinen Anlass für eine solche Herausforderung zu geben, sondern sie unter allen Umständen zu vermeiden. Und zwar nicht allein deshalb, weil der Ausgang in ihr für uns ungewiss ist, sondern auch deshalb, damit wir nicht dafür Veranlassung werden, dass diejenigen in größere Sünde und in größeren Frevel gerieten, die unser Blut in in der Tat nicht vergossen hätten, wenn wir das uns Mögliche getan hätten und denen, die uns bis zum Tode nachstellen wollen, ausgewichen wären“.

Ganz so weit wie am Ende von Kapitel 10 zieht sich Jesus allerdings nicht zurück; er verlässt Judäa nicht (W357), sondern geht „weg in die Gegend nahe der Wüste zu einer Stadt namens Efraim.“ Dazu merkt Wengst unter Verweis auf 1. Könige 19,4 und Offenbarung 12,6 an, dass „die Wüste traditionell der Ort ist, an dem man sich verbergen kann“. Zum Rückzugsort Jesu „nahe der Wüste, dessen Name mit Efraim angegeben wird“, führt Wengst einige Quellen über dessen Lokalisierung und seine Eroberung durch Vespasian im Jüdischen Krieg an, die aber keinerlei Aufschluss zum möglichen Grund seiner Erwähnung durch Johannes geben. Er betont lediglich, dass Jesus mit seinen Jüngern sich dort „nicht lange“ verbirgt und dass dieser Ort „zum Ausgangspunkt seiner letzten Reise nach Jerusalem und damit auch zum Ausgangspunkt seiner Passion“ wird.

Hartwig Thyen stellt zu Vers 54 fest (T545), dass der Todesbeschluss für Jesus durch das Synhedrium nicht nur „der Tora schroff widerspricht, weil er in Abwesenheit und ohne Anhörung des Beschuldigten gefaßt wurde“, sondern dass ihm auch abgesehen davon „einstweilen noch einiges entgegen“ steht. Denn zum einen

war Jesus mittlerweile gar nicht mehr ,greifbar‘, weil er nicht mehr öffentlich (parrhēsia) unter den Ioudaioi auftrat, sondern sich von dort zurückgezogen hatte „in die Gegend nahe der Wüste, wo er sich mit seinen Jüngern in der Stadt namens ,Ephraim‘ aufhielt“. Und zum anderen steht der Exekution des Todesurteils das Dilemma entgegen, in das sich das Synhedrium durch sein Urteil verwickelt hat. Auch wenn sein Urteil nämlich nach der Anhörung Jesu toragemäß nach Lev 24,16 ergangen wäre, wonach gilt: „Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muß er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht“ (Joh 19,7), so könnten sie es dennoch nicht vollstrecken, weil die römische Besatzungsmacht ihnen das ius gladii {Schwertrecht} entzogen hat: „Wir dürfen niemanden töten“ (18,31; s. u. z. St.). Sie sind also wohl oder übel auf die Kooperation mit dem im Volk verhaßten Römer Pilatus angewiesen.

In Thyens Augen (T546) ist eine „,Stadt‘ (polis) namens ,Ephraim‘ … nicht sicher identifizierbar“, was schon „die Differenzen in der handschriftlichen Textüberlieferung“ zeigen:

Die meisten neueren Kommentatoren identifizieren ,Ephraim‘ mit dem 2Sam 13,23 genannten ˀephrajim (LXX: Ephraim – v.l. Gophraïm)… Der Ort ist wohl mit dem biblischen ˁephrah von Jos 18,23 und 1Sam 13,17 identisch. 1Makk 11,34 nennt dieses ursprünglich samaritanische Gebiet Aphairema. Der etwa 20 km nordöstlich von Jerusalem gelegene Ort heißt heute arabisch et-taijibeh. A. Guilding <859> sieht hier in den typologischen Entsprechungen zwischen Eleazar und Lazarus, sowie zwischen Josua und Jesus ein intertextuelles Spiel mit Jos 24,29-33, wo von beider Tod und von ihrem Begräbnis im des Gebirge Ephraim erzählt wird.

Ton Veerkamp <860> zufolge hat der Todesbeschluss des Sanhedrin für Jesus die

Konsequenz, dass er nicht länger öffentlich (parrhesia) unter den Judäern auftreten will (den Gang gehen, peripatein). Es gibt in diesem Teil über den verborgenen Messias (Johannes 7,11-12,50) immer den Gegensatz zwischen „öffentlich“ und „im verborgenen“, 7,1ff. Die ständigen Versuche, ihn festzunehmen oder ihn zu steinigen (7,30.44; 8,59; 10,31.39) machen seinen öffentlichen, messianischen Gang unter den Judäern unmöglich. Er kann genau dort, wo er Messias sein muss, nicht Messias sein. Das wird uns bei der Besprechung des Einzugs des Königs, 12,12-19, deutlicher werden.

Den exegetischen Bemühungen, die Stadt Ephraim zu identifizieren und ihrer Erwähnung einen Sinn zu verleihen, fügt Veerkamp einen in meinen Augen erwägenswerten Vorschlag hinzu:

Jeschua geht in eine Stadt in der Nähe der Wüste, Ephraim genannt. Sie sei das biblische Ophra, sagen die Kommentatoren. Nur wird der Ort in der griechischen Schrift ganz verschieden geschrieben: Aphairenem, Phophera, Phara, Aphar. Eine Stadt Ephraim gibt es im Kriegsbericht des Josephus {Bell. 4. 9. 9}. Barrett <861> schreibt: „Der Name Ephraim hat weder einen allegorischen noch sonst einen besonderen Sinn, er ist wahrscheinlich traditionell“. Welche Tradition? Barrett schweigt.

Ephraim ist, wie Bethanien, ein theologischer, kein geographischer Ort. Tatsächlich ist der Name traditionell, nur anders als Barrett meint. Jeschua nimmt seinen Auftrag, Israel zusammenzuführen, wieder auf, denn Ephraim ist eine Andeutung des Israels der zehn Stämme des Nordens. Um die Zusammenführung aller Kinder Israels möglich zu machen, begibt Jeschua sich in die Nähe der Wüste, des Ortes, wo einmal Israel durch die Disziplin der Freiheit zu einem Volk zusammengeführt wurde. Er handelt in Erfüllung der Sicht der Propheten Jeremia und Ezechiel, die von „Haus Juda und Haus Israel“ reden. In einem Text der Schrift hat die Vokabel Wüste (eremos, midbar) immer diesen Sinn: Ort der Erneuerung, Chanukka. Sie ist nicht nur die Erneuerung des ethnos Judäa, des politischen Gemeinwesens der zwei Stämme Juda und Levi, es ist auch die Erneuerung Ephraims, der zerstreuten zehn Stämme des ganzen Israels.

So gesehen bestätigt die Erwähnung von Ephraim auch Veerkamps Interpretation, dass die „auseinandergejagten Gottgeborenen“ von 11,52 nicht auf Menschen der Völker, sondern auf die Wiederherstellung der Gesamtheit der zwölf Stämme Israels einschließlich ihrer unter die Völker zerstreuten Bestandteile zu beziehen sind.

Wengst und Thyen behandeln die restlichen Verse des 11. Kapitels im unmittelbaren Anschluss an Vers 54. Veerkamp legt – in meinen Augen zu Recht – Wert darauf, dass das in 10,22 mit dem Hinweis auf das winterliche Tempelweihfest begonnene johanneische Kapitel über die Erneuerung Israels mit 11,54 endet:

Damit findet der Abschnitt über das Fest Chanukka einen sinnvollen Abschluss. Ab jetzt wird bei Johannes nur noch Pascha sein.

Pascha: Jesu Salbung und Einholung als König Israels, dessen Stunde gekommen ist (Johannes 11,55-12,50)

[5. September 2022] Es ist schwierig, die letzten Verse des 11. und das gesamte 12. Johannes-Kapitel nach unserer vertrauten Zählung eindeutig in eine Gliederung des Evangeliums einzuordnen. In der Einleitung zum johanneischen Chanukka-Kapitel war bereits gesagt worden, dass nach Hartwig Thyen (T511) gute Gründe dafür sprechen, die Salbung Jesu durch Maria und den Beschluss der Hohenpriester, auch Lazarus zu töten (Johannes 12,1-11), in einen engen Zusammenhang mit der Lazarusgeschichte zu stellen. Ja, sogar die Volksmenge, die anschließend Jesu Einzug in Jerusalem bejubelt, besteht aus den Menschen, die die Auferweckung des Lazarus erlebt hatten (12,17). Das würde dafür sprechen, vielleicht sogar Johannes 12 im Ganzen (mit seinem letzten öffentlichen Wirken und dem Fazit im Blick auf das gesamte Wirken Jesu) mit Kapitel 11 zusammenzufassen.

Klaus Wengst (W358) zitiert zum „ganzen Kapitel“ Johannes 12 Charles Barrett: <862> Es „schaut zurück auf das Wirken Jesu als auf eine jetzt vergangene Episode und blickt voraus auf die Kreuzigung“. Wengst zufolge beginnt mit Johannes 12,1 die letzte Woche des Lebens Jesu, wobei mit der „Zeitangabe: ‚sechs Tage vor Pessach‘ … der erste Tag der Woche im Blick“ ist, „nach unserer Benennung also der Sonntag, da nach dem Johannesevangelium der erste Tag dieses Pessachfestes mit dem Sabbat zusammenfällt“:

Wie am Beginn des Wirkens Jesu … nun an seinem Ende der Verlauf einer Woche skizziert. Allerdings werden jetzt nur die ersten beiden Tage dieser Woche erzählerisch ausgefüllt. Die nächsten drei Tage finden keinerlei Erwähnung. In 13,1 setzt der zweite Teil des Evangeliums mit dem sechsten Tag ein, dem Tag unmittelbar vor dem Fest. In diesem Evangelium bilden also die ersten beiden Tage der letzten Lebenswoche Jesu den Abschluss seines öffentlichen Wirkens. Der wird in Kap. 12 dargestellt.

Interessant ist nun, dass Thyen (T548) die „letzte Woche“ Jesu ebenfalls „durch deutliche Markierungen ihrer Tage geprägt“ sieht, aber in etwas anderer Weise als Wengst, da nach Thyen „das bethanische Festmahl und Jesu Salbung zu seinem Begräbnis an einem Sabbat erfolgt sein“ dürfte. Als Grund führt er an, dass der Tag der „Salbung in Bethanien … durch 12,7 … fest mit dem letzten verknüpft“ ist, nämlich

mit dem Tag von Jesu Begräbnis am Abend vor dem Beginn des Passafestes: 19,14.31.42. … Alles, was nach dieser Salbung „über Jesus kommen sollte“ (panta ta erchomena ep‘ auton: 18,4), geschah noch vor Anbruch des Passafestes, das nach 19,31.42 in diesem Jahr mit einem Sabbat begann.

Zählt man allerdings vor diesem Sabbat, der mit Sonnenuntergang des Tages begann, den wir den Karfreitag nennen, exakt sechs Tage bzw. Vorabende zurück: Do – Mi – Di – Mo – So – Sa, dann landet man zwar an unserem Samstag, aber eben erst am Abend dieses Tages, mit dem nach jüdischer Rechnung der erste Tag der Woche, unser Sonntag, beginnt. So gesehen würde das zu Ehren Jesu gegebene Festmahl dann doch, wie Wengst es annimmt, am Sonntag stattfinden, genauer gesagt, nach dem Ende des Sabbats am Abend unseres Samstags. Dass Thyen diesen ersten Tag der letzten Lebenswoche Jesu irrtümlich mit dem Sabbat und nicht mit dem ersten Tag der jüdischen Woche gleichsetzt, erweist Thyen übrigens selbst, wenn er die weiteren fünf Tage dieser Woche als folgendermaßen gefüllt betrachtet (ich füge in geschweiften Klammern die Bezeichnungen der Tage nach unserer Wocheneinteilung ein, wobei man sich den Beginn dieser Tage jeweils bereits am Vorabend vorstellen muss):

Mit der aus 1,29.35.43 bekannten Wendung tē epaurion {am folgenden [Tag]} wird in V. 12 dann der zweite Tag {Montag} markiert. Es ist der Tag des triumphalen Einzugs Jesu in Jerusalem als des basileus tou Israēl {Königs von Israel} (12,13). Die nächsten temporalen Markierungen des nun wohl dritten Tages {Dienstag} mit dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern erscheinen dann 13,1 und 30. Da die Tage vom Abend her gezählt werden, eröffnet Jesu lange Abschiedsrede (13,31ff) den vierten Tag {Mittwoch}. Der fünfte {Donnerstag} ist dann der Tag der Gefangennahme Jesu (18,1ff) und der sechste {Freitag} endlich, durch ēn de paraskeuē tou pascha {Rüsttag des Passafestes} (19,14) markiert, ist der Tag seiner Kreuzigung und seines Begräbnisses …

Thyens vage Formulierungen über den „nun wohl dritten“ und die folgenden Tage können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass letzten Endes doch nur eine einzige konkrete Zeitangabe auf einen folgenden Tag dieser Woche hindeutet (12,12).

Für den Auftakt des 13. Kapitels kann man zwar tatsächlich den Beginn eines neuen Tages annehmen, da das ab 13,2 beschriebene Mahl Jesu mit seinen Schülern wohl mit dem Sonnenuntergang begonnen haben wird. Aber mit keinem Wort wird angedeutet, dass dieser Tag unmittelbar auf den zweiten Tag folgt, denn in 13,1 erscheint lediglich ein erneuter Hinweis auf die unmittelbare Nähe des Passafestes. Um herauszufinden, welcher Tag hier tatsächlich beginnt, muss gefragt werden, welche Zeitangabe den Beginn eines darauf folgenden Tages anzeigt.

Dieser weitere neue Tag beginnt keinesfalls mit der in 13,30 bezeichneten Nacht, denn zwischen dem Abend des Mahls und der Fußwaschung und dieser Nacht liegt kein ganzer heller Tag. Und da die von Judas angeführte Kohorte zur Verhaftung Jesu gemäß 18,3 mit Fackeln und Lampen anrückt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die in 13,30 erwähnte Nacht vorüber, zumal Jesus nach 18,28 erst am frühen Morgen dem Pilatus überstellt wird. Da schließlich das Verhör Jesu durch Pilatus sich nicht über zwei Tage erstreckt, ergibt sich aus der von Thyen erwähnten Bezeichnung als Vorbereitungstag des Passafestes (19,14) eindeutig, dass alles, was in den Kapiteln 13 bis 19 erzählt wird, an einem einzigen Tag geschieht, nämlich vom Vorabend des Karfreitags an bis zur Grablegung Jesu gegen Ende des Karfreitags, bevor der Sabbat des Passafestes anbricht.

Daraus ergibt sich, dass die Annahme von Wengst und Thyen, Johannes wolle parallel zur ersten Woche des Wirkens Jesu auch die letzte Lebenswoche Jesu als eine volle Woche gestalten, nicht wirklich überzeugend ist. Tatsächlich wird nur erzählt, was am ersten und zweiten Tag dieser Woche geschieht, und alle Geschehnisse der Passion einschließlich der gesamten Abschiedsreden Jesu ereignen sich am sechsten Tag, nämlich dem Karfreitag.

Auch Ton Veerkamp hat sich ein wenig schwergetan mit der Einordnung des Kapitels 12 in die Gliederung des Johannesevangeliums. Für ihn stellt bereits die Angabe über die Nähe des Passafestes in 11,55 das Signal für einen entscheidenden Einschnitt im Text dar, so dass er am Schluss des vorigen Abschnitts sagen konnte: „Ab jetzt wird bei Johannes nur noch Pascha sein.“ In seiner Auslegung aus dem Jahr 2006/07 hat er demzufolge schon das gesamte Kapitel 12 in den „Dritten Teil“ <863> des Johannesevangeliums unter dem Titel „Pessach – der Abschied des Messias, 11,55-20,31“ eingeordnet:

Pascha ist das große Fest der Befreiung. Das Johannesevangelium ist das „Osterevangelium“ par excellence. Dieses Fest ist immer „nahe“, von Anfang an, 2,13.

Wenn ich nun aber doch das Kapitel 12 einschließlich der vorbereitenden Verse 11,55-57 aus diesem Veerkampschen „Dritten Teil“ herausnehme und an das Ende des „Zweiten Teils – Der verborgene Messias“ versetze, dann geschieht das im Einverständnis mit Ton Veerkamp selbst, der bereits im Jahr 2015 in seiner Übersetzung des Johannesevangeliums den „Teil III“ erst mit Johannes 13,1 beginnen ließ. In Absprache mit ihm habe ich daher auch die Neuveröffentlichung seiner Auslegung auf bibelwelt.de in diesem Sinne verändert.

Für diese Änderung spricht vor allem, dass sich zwar tatsächlich ab 11,55 alles im Evangelium weiterhin Erzählte in der Nähe des Passafestes abspielt, das Wirken Jesu unter den Judäern in der Verborgenheit seiner subversiven Existenz aber erst mit 12,36 abgeschlossen sein wird. Dem folgt dann noch ein bitteres „Fazit“ und eine „Zusammenfassung der Lehre Jeschuas“, <864> mit denen er und „die messianische Gemeinde“ sich vollständig „in die Verborgenheit“ zurückziehen:

Was Jeschua im verbleibenden Teil des Textes zu sagen hat, findet im Verborgenen statt. Die Passion findet zwar in der Öffentlichkeit statt, aber was dort passiert, ist ihr verborgen. Mitten in der Vorbereitung auf das Paschafest bricht die Auseinandersetzung Jeschuas und der messianischen Gemeinde mit der judäischen Öffentlichkeit ab.

Aus diesen Gründen ist denn doch mit Johannes 13,1 ein deutlicherer Einschnitt im Evangelium gegeben, während Johannes 11,55-12,50 als ein fünftes johanneisches Kapitel von Teil II <865> angesehen werden kann, das wie Johannes 6 „in der Nähe des Pascha“ stattfindet und letzten Endes zeigt, dass Jesus „als der messianische König vollständig missverstanden wird“. Auf Grund der Erweckung des Lazarus empfangen viele Jerusalemer Jesus als den verheißenen König Israels, aber allem Anschein nach immer noch verbunden mit zelotischen Erwartungen, während die judäischen Gegner Jesu sogar den Tod des Lazarus planen, um Jesu Umtrieben Einhalt zu gebieten.

Für ausgesprochen spannend halte ich die Frage, was Jesus in diesem Kapitel zu der Erkenntnis bringt, dass die Stunde seiner Verherrlichung oder Ehrung gekommen ist, die in seiner Erhöhung ans Kreuz geschehen wird.

Johannes 11,55-57: Zweifel, ob Jesus zum Passafest kommt, und ein behördlicher Aufruf, ihn zu denunzieren

11,55 Es war aber nahe das Passafest der Juden;
und viele aus der Gegend gingen hinauf nach Jerusalem vor dem Fest,
dass sie sich reinigten.
11,56 Da suchten sie Jesus
und redeten miteinander, als sie im Tempel standen:
Was meint ihr? Er wird doch nicht zum Fest kommen?
11,57 Die Hohenpriester und Pharisäer aber hatten geboten,
wenn jemand wüsste, wo er wäre, sollte er‘s anzeigen,
damit sie ihn ergreifen könnten.

[6. September 2022] Klaus Wengst behandelt die abschließenden Verse von Johannes 11 als einführende Bemerkungen zu Kapitel 12. Indem (W357) Johannes in Vers 55 nach 2,13 und 6,4 zum „dritten Mal … die Nähe eines Pessachfestes“ ansagt, mag es sich der „Leser- und Hörerschaft … aufdrängen, dass nun das Pessach bevorsteht, an dem ‚seine Stunde‘ kommt. So wird er es in 13,1 ausdrücklich feststellen.“ Durch die Erwähnung, dass „viele vor Pessach vom Land hinauf nach Jerusalem“ zogen (W357f.),

markiert Johannes eine Gegenbewegung zum Rückzug Jesu – eine Gegenbewegung, in die auch Jesus hineingenommen werden wird. Vor Pessach nach Jerusalem hinaufzuziehen, verfolgt die Absicht, „sich zu reinigen“. Wer also – etwa durch Berührung mit einem Toten – im kultischen Sinn unrein geworden ist, unterzieht sich bestimmten Reinigungsriten. Es vor einem Wallfahrtsfest in Jerusalem zu tun, vermindert die Gefahr, erneut unrein zu werden.

Die bereits im Tempel anwesenden Festpilger fragen sich (W358) gemäß Vers 56, „ob Jesus zum Fest komme oder nicht“, was sie eher anzweifeln. Das wiederum wird in Vers 57 mit Hilfe von amtssprachlich geprägten Formulierungen erläutert:

„Anweisungen geben“ bzw. „Anordnungen erlassen“, „anzeigen“ bzw. „Meldung (bei der Behörde) machen“, „festnehmen“ bzw. „verhaften“. Als handelndes Subjekt erscheinen dieselben, die eine Sitzung des Synhedriums einberufen hatten: „die Oberpriester und die Pharisäer“. Die vorher erwähnte Entschlossenheit, Jesus zu töten, konkretisiert sich hier in der Anordnung, den Aufenthaltsort Jesu – wer immer ihn erfährt – anzuzeigen, um ihn festnehmen zu können.

Allerdings „bleibt dem Evangelisten noch viel zu schreiben“, bevor es tatsächlich dazu kommt, „dass Jesus festgenommen werden wird.“

Hartwig Thyen (T546) legt zur Formulierung des Passafestes als „Passa der Juden“ nochmals dar, dass diese „völlig neutral“ zu verstehen ist:

Sie will als „Ausdruck der Kommunikation zwischen Autor und implizitem Leser“ und keinesfalls in dem Sinne verstanden sein, als solle damit eine Distanzierung der ,Christen‘ vom Judentum und seinen Festen ausgedrückt werden. Eher ist schon daran zu denken, daß der Autor hier auch potentielle heidnische Leser seines Evangeliums im Blick hat. Denn in der „Außenperspektive“, das heißt, wenn Juden zu Heiden reden oder auch für Heiden schreiben, wie etwa Josephus, <866> so bezeichnen sie ihr Volk als hoi Ioudaioi und Jüdisches als Ioudaïkos… Auf der Ebene unserer Erzählung dient die Rede vom „Passa der Juden“ jedoch primär der Motivation des Pilgerwegs der vielen Juden aus dem Lande „hinauf nach Jerusalem“ und ihrer Absicht, sich dort vor dem Fest entsprechend zu „heiligen“. Denn es ist ja ihr (der Juden) hohes Fest, das dort gefeiert wird …, und zu dessen Feier auch der Jude Jesus mit seinen jüdischen Jüngern „hinaufzieht nach Jerusalem“. Und das Fest heißt auch darum das „Passa der Juden“, weil von seiner Feier alle Nichtjuden streng ausgeschlossen sind.

Dass Johannes (T547) „nach 2,13ff und 6,4ff“ nun bereits vom dritten Passafest berichtet, darf Thyen zufolge

nicht als historisches Indiz dafür genommen werden, daß Jesu öffentliche Wirksamkeit 2-3 Jahre gewährt habe. Eher scheint uns hier die dichterische Freiheit unseres Evangelisten am Werk gewesen zu sein. Denn wie er die Ereignisse der einen Passionswoche aus dramaturgischen Gründen über sein gesamtes Evangelium verteilt hat (s. o. zu 10,22ff), so hat er auch das eine Passafest seiner synoptischen Prätexte gewissermaßen verdreifacht. Durch die Wendung von der „Nähe des Passafestes“ in dessen Licht gestellt, erzählt er von der Tempelreinigung und von Jesu geheimnisvollem Wort über die Zerstörung und Neuerrichtung des Tempels binnen dreier Tage, womit Jesus – wie der Erzähler anmerkt – vom „Tempel seines Leibes“ gesprochen hatte, bereits im zweiten Kapitel (2,12ff). Und auch das sechste Kapitel ist durch eben diese Wendung (6,4) ins Licht der synoptischen Passawoche getaucht, wenn der Erzähler da Jesu Lebensbrotrede in dem Wort gipfeln läßt: „Ich bin das vom Himmel herab gekommene ,lebendige Brot‘, und dieses Brot ist mein für das Leben der Welt dahingegebenes Fleisch“ (6,51), und ihn darnach mit den Texten der synoptischen Einsetzung des Herrenmahls spielen läßt (6,52ff).

Auf diese Weise hat Johannes „aus dem Markusevangelium, das Kähler treffend als eine ‚Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung‘ bezeichnet hatte“, ein Evangelium gestaltet, das ganz und gar von der Passion Jesu geprägt ist und mit einer Formulierung von Wilkens <867> ein „Passionsevangelium“ genannt werden kann.

Für Ton Veerkamp <868> zeigen die Verse 11,55-57, dass das, was nun erzählt werden soll, von besonders großer Bedeutung ist:

Das Volk zieht nach Jerusalem, dem ausgewiesenen Ort für die Feier des Befreiungsfestes. Alle müssen sich „heiligen“, alles, was der Teilnahme am Fest im Wege steht, muss bereinigt werden. Dafür sind bestimmte Riten vorgesehen. Die Aufforderung: „Heiligt euch (hagnisasthe)“ dient der Vorbereitung auf entscheidende Ereignisse, etwa bei der ersten Überschreitung des Jordans, Josua 3,5, oder der Erneuerung des Bundes unter dem König Josia, 2 Chronik 29,5.

Welcher entscheidende Tag ihnen bevorsteht, ahnen die meisten nicht, weder die Masse der Pilger, noch die Schüler Jeschuas. Eine ahnt etwas, Maria, die Schwester des Lazarus.

Wiederum suchen die Menschen Jeschua, aber die Suche geschieht unter unheilvollen Umständen. Die Mitglieder des Sanhedrins erließen ein Dekret, das alle zur Denunziation auffordert.

Johannes 12,1-3: Bei einem Mahl in Bethanien salbt Maria Jesu Füße

12,1 Sechs Tage vor dem Passafest kam Jesus nach Betanien,
wo Lazarus war, den Jesus auferweckt hatte von den Toten.
12,2 Dort machten sie ihm ein Mahl,
und Marta diente bei Tisch;
Lazarus aber war einer von denen, die mit ihm zu Tisch saßen.
12,3 Da nahm Maria ein Pfund Salböl von unverfälschter, kostbarer Narde
und salbte die Füße Jesu
und trocknete mit ihrem Haar seine Füße;
das Haus aber wurde erfüllt vom Duft des Öls.

[7. September 2022] Zur Erzählung von Jesu Fußsalbung durch Maria erwähnt Klaus Wengst (W360, Anm. 684) nur nebenbei, dass sie „eine in manchen Zügen analoge, in anderen abweichende Parallele in Mt 26,6-13/Mk 14,3-9“ hat und dass sich die „Motive, dass eine Frau Jesus die Füße salbt und sie mit ihren Haaren abwischt, … auch in der Erzählung Lk 7,36-50“ finden. Die Diskussion der Frage, ob „Johannes die anderen Evangelien kannte … oder … eine gemeinsame Tradition benutzte“, hat Wengst zufolge „das Verstehen des vorliegenden johanneischen Textes öfter gehindert als gefördert.“

Zur Rückkehr Jesu nach Bethanien in Johannes 12,1 (W360) betont Wengst, dass er sich „bewusst der in 11,50.53 deutlich gewordenen und unmittelbar vorher in 11,57 noch einmal erinnerten Gefahr“ aussetzt. Das für Jesus veranstaltete Festmahl (Vers 2) kommentiert er folgendermaßen:

Wer das Gastmahl gegeben hat, ist nicht erwähnt. Aber dass Lazarus zweimal genannt wird und es von Marta heißt, dass sie aufwartete, und schließlich auch noch Mirjam auftritt, erweckt bei den Lesenden und Hörenden den Eindruck, dass sich Jesus im Haus der Geschwister aufhält. Während Lazarus ausdrücklich als einer der zu Tisch Liegenden erscheint, haben seine Schwestern andere Rollen: Die eine versieht den Tischdienst, die andere vollbringt eine ungewöhnliche Tat. Daraus ergibt sich, dass dieses Gastmahl – wie üblich – als Gastmahl der Männer vorgestellt ist.

Letzteres muss wohl tatsächlich vorausgesetzt werden, wie der Evangelist ja auch nicht von der Vorstellung der Zwölf als einer nur aus Männern bestehenden Führungsgruppe der messianischen Gemeinde abweicht. Dennoch fällt auf, wie häufig Johannes Frauen ausgesprochen wichtige und in keinem Fall negativ beurteilte Rollen zuspricht. An dieser Stelle wäre es ihm ein Leichtes gewesen, Lazarus als Gastgeber zu benennen; tatsächlich aber ist Martha diejenige, die nicht einfach kellnert, sondern diēkonei, wörtlich: „diakonischen“ Dienst versieht, womit nichts anderes gemeint ist, als dass sie die Gastgeberin ist, was Veerkamp eingehender begründen wird.

Was in Vers 3 als besonders „erzählenswert erscheint“, ist Marias ungewöhnliches Verhalten: „Da nahm Mirjam eine Litra von unverfälschtem, kostbarem Nardensalböl.“ Die Maßeinheit Litra, die „als Fremdwort im rabbinischen Schrifttum“ begegnet, beträgt nach Wengst „etwas mehr als ein Viertelliter“. Zur Narde weist er darauf hin, dass Plinius <869> neben dem Nardenöl die viel kostbarere „Zimtsalbe“ erwähnt; sie „kostet 35 bis 300 Denare.“ Außerdem zählt er

„neun Kräuterarten“ auf…, „die der indischen Narde gleichen: so reichlich ist der Stoff für die Verfälschung!“ Darin ist es begründet, dass das Nardensalböl in Joh 12,3 ausdrücklich als pistiké gekennzeichnet wird: „echt“, „unverfälscht“.

Dass (W361) „bei einem Gastmahl“ eine Salbung geschieht, ist an sich noch „nicht ungewöhnlich“, allerdings wird normalerweise vor allem der Kopf gesalbt:

Ungewöhnlich ist hier aber, dass bei einem Gastmahl nur die Füße Jesu gesalbt werden, und ungewöhnlich ist auch, dass es mit einer unverhältnismäßig großen Menge außerordentlich kostbaren Nardenöls geschieht. Mirjam salbt hier Jesus die Füße, wie sie ihm in 11,32 zu Füßen gefallen ist. Beide Male wird damit ihre verehrende Zuwendung herausgestellt…

Darin, „dass Mirjam mit ihren Haaren Jesu Füße abwischt“, sieht Wengst eine Verstärkung des Aspekts dieser „verehrenden Zuwendung“:

Damit wird geradezu buchstäblich ins Bild gesetzt, dass sie sich Jesus ganz und gar zuneigt. Indem sie sich so in völliger Zuneigung mit ihm verbindet, geht „der Duft des Salböls“ nicht nur von Jesus, sondern auch von ihr aus und erfüllt „das Haus“. Dieser Duft ist ein Duft des Lebens, der „in krassem Gegensatz zum ,Geruch des Todes‘“ steht (11,39). <870> In der „Assoziation der Fülle, des grenzenlosen Überflusses“ entspricht diese Erzählung am Beginn der letzten Woche des Wirkens Jesu der vom Weinwunder in Kana am Ende der ersten Woche seines Wirkens.

Im Gegensatz zu Exegeten (Anm. 694), die dem Evangelisten „schriftstellerische Unbeholfenheit“ unterstellen, indem er eine mit Lukas 7,38 verwandte Vorlage in unsinniger oder verwirrender Weise aufgegriffen habe, geht Wengst davon aus, „dass er, was er geschrieben hat, auch so schreiben wollte – gleichgültig, in welcher Form er welche Texte kannte.“

Hartwig Thyen (T548) betont zum Festmahl, das Jesus in Bethanien bereitet wird, dass gegenüber „gewöhnlichen täglichen Mahlzeiten“, die

im Sitzen eingenommen wurden, … Festmahle oder rituelle Mahlzeiten wie das Passamahl dadurch ausgezeichnet“ waren, daß die Teilnehmer zu Tische lagen … Und zumal im Anschluß an 11,44 über keinerlei Reaktion der Betroffenen auf das Wunder berichtet worden war, ist die buchstäbliche ,Wiedergeburt‘ des Lazarus jetzt doch wohl Grund genug, sie mit einem festlichen Mahl zu feiern. Daß es dabei Martha ist, die ihre Gäste bediente (diēkonei), weiß der Leser bereits aus dem lukanischen Prätext: hē de Martha periespato peri pollēn diakonian {Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen} (Lk 10,40).

Indem Thyen (T549) von der festen Überzeugung ausgeht, dass Johannes in der Gestaltung auch dieser Erzählung „von den literarischen Werken der Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas und nicht etwa nur von einer vagen ‚synoptischen Tradition‘“ abhängig ist, wie Maurits Sabbe <871> erwiesen hat, begreift er wie gewohnt „diese ,Abhängigkeit‘ unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität“, nämlich in dem Sinne, „daß diese Prätexte stets mitgelesen sein wollen. Denn der ,Witz‘ solcher Intertextualität besteht ja gerade darin, daß der Sinn des neuen Textes in diesem ‚Inter‘ (Zwischen) erscheint.“ Dabei greift Johannes nicht nur vor allem auf Markus zurück, der von der Salbung Jesu zum Auftakt seiner Passion erzählt, sondern er überträgt „zugleich auch noch die merkwürdige Handlungsweise der ,stadtbekannten Sünderin‘ aus der Erzählung von Lk 7,36ff auf Maria …, indem er sie Jesu Füße salben und mit ihren Haaren abtrocknen läßt“ (Vers 3):

Maria, die schon in Lk 10,39 pros tous podas tou kyriou {zu den Füßen des Herrn} saß, während Martha sich der diakonia {Dienst} hingab, wendet sich auch hier wieder den Füßen Jesu zu, die sie nun mit kostbarem Nardenöl salbt. Anstelle der Alabasterflasche (alabastron myrou: Mk 14,3 / Mt 26,7 / Lk 7,37) läßt Johannes Maria hier eine litra myrou nardou pistikēs polytimou {ein Pfund echten und sehr kostbaren Nardenöls} herbeibringen, um Jesu Füße damit zu salben.

Zur litra erwähnt Thyen, dass sie „ein römisches Maß von 327 Gramm“ darstellt und „im NT nur hier und – ebenfalls im Zusammenhang der Salbung, nunmehr aber des Leichnams Jesu – Joh 19,39“ vorkommt. Dass „Judas, der sich auf solche Dinge zu verstehen scheint“, den Wert des Nardenöls „sogleich mit ,dreihundert Denaren‘ beziffern wird (V. 5)“, mag in Thyens Augen als ein Spiel „mit den ,dreißig Silberlingen‘ von Mt 26,15“ zu verstehen sein. Der entscheidende Unterschied (T550)

unserer Erzählung dem Prätext ,Markus‘ gegenüber liegt nun darin, daß Maria nicht wie jene anonyme Frau ein Alabastergefäß zerbricht, um mit dessen kostbarem Inhalt nun das Haupt Jesu zu salben (katecheen autou tēs kephalēs), sondern daß sie die erhebliche und höchst wertvolle (polytimou) Menge des echten Nardenöls dazu nutzt, Jesus damit die Füße zu ,waschen‘, wie es die Sünderin bei Lukas mit ihren Tränen tat, um die so gewaschenen Füße dann, wie jene Frau, mit ihren Haaren zu trocknen, so daß das ganze Haus vom Duft des Öles erfüllt wurde.

Der Luxus, der sich in diesem Duft kundtut, ist nicht nur Anlass für „den folgenden Protest des Judas gegen solche Verschwendung“, sondern bringt auch „symbolische Obertöne zum Erklingen“, indem er „im Blick auf den unmittelbar folgenden öffentlichen Einzug Jesu in Jerusalem als des basileus tou Israēl {Königs von Israel} (12,13) wohl ein intertextuelles Spiel“ mit dem Hohenlied der Lied 1,12 darstellt, wo es nach dem Luthertext heißt: „Solange der König beim Mahle war, gab meine Narde ihren Duft.“  Außerdem hat Johannes (T550f.)

mit dieser Erzählung von der ungewöhnlichen und luxuriösen „Waschung“ der Füße des kyrios {Herrn} durch seine ergebene doulē {Sklavin} Maria (vgl. 13,12-17) ein Gegenstück geschaffen zur Waschung der Füße der Jünger durch ihren ,Herrn‘ (13,1-11; s.u. z. St. …). Diese letztere Fußwaschung entspricht auch darin dem Tun der Frau von Lk 7 und demjenigen Marias in unserer Szene, daß sie nicht vor, sondern während der Mahlzeit vorgenommen wird. Das widerspricht allen Bräuchen ritueller Reinigungen, die wir kennen.

All diese Fußwaschungen sind nach Thyen (T551) jenseits „aller levitischen Reinigungen“ als Liebeserweise zu deuten, was Jörg Augenstein <872> folgendermaßen begründet:

„Die Waschung der Füße ist in der Antike ein verachtenswerter Sklavendienst. Ein jüdischer Diener durfte zu solchem Sklavendienst nicht gezwungen werden. Deshalb war im jüdischen Bereich die Fußwaschung nur als Arbeit nichtjüdischer Sklaven bekannt. Die Fußwaschung kann aber nicht nur das Verhältnis Sklave – Herr ausdrücken, sondern kann auch, wenn sie freiwillig geschieht, die Liebe zwischen zwei freien Personen darstellen. So ist es in Israel die Frau, die ihrem Mann aus Liebe – so zumindest als Motivangabe in unseren Quellen – die Füße wäscht. Auch den Kindern erwächst aus Kinderliebe und schuldiger Ehrerbietung die Pflicht, dem Vater die Füße zu waschen. Ehrerbietung soll auch darin ausgedrückt werden, daß Schüler ihrem Lehrer bzw. Rabbi die Füße waschen“.

Ton Veerkamp <873> betont zur Ortsangabe „Bethanien“ zunächst nochmals deren übergreifende Bedeutung im Johannesevangelium:

Jeschua gehört zu den Pilgern, und sein Weg führt über Bethanien. Der Weg des Messias führt bei Johannes immer über Bethanien. Dort fing der Weg an, dort belebte er Lazarus, den Repräsentanten Israels. Dort findet eine Mahlzeit statt.

Dazu hebt Veerkamp hervor, dass Jesus bei Johannes nur zweimal ein solches Festmahl, deipnon, hält. Indem diese erste Mahlzeit „eingebettet [ist] in zwei Notizen über die Suche der Judäer nach Jeschua Messias, 11,55-57 und 12,9-11“, ist sie ganz und gar

eine offene Angelegenheit: „Viele Leute der Judäer erkannten, dass er dort war“, 12,9. Erst nachdem das Scheitern Jeschuas in der judäischen Öffentlichkeit festgestellt ist, 12,37-50, findet die zweite Mahlzeit in einer geschlossenen Gesellschaft statt, 13,1ff. Bei der Mahlzeit in Bethanien spielen die Schülerinnen die Hauptrolle, bei der Mahlzeit vor Pascha die Zwölf.

In diesem Zusammenhang weist Veerkamp darauf hin, dass der Dienst der Martha in der Regel vollkommen missverstanden wird:

„Martha bewirtete“, übersetzen wir. Die Diakonin ist keine Dienstmagd, sondern gehört zum Hof des Königs. Das Verb selbst, diakonein, Dienst tun, taucht in der griechischen Schrift nicht ein einziges Mal auf. Die Substantive diakonia, Bewirtung, und Diakon, privilegierter Diener, finden wir in der Rolle Esther. Dort gibt es sieben sserissim {ins Griechische mit Eunuchen übersetzt}, die „vor dem Antlitz des Königs Ahasveros ihren Dienst versahen“, Esther 1,10. Sie standen wohl Pate für die sieben Diakone in Apostelgeschichte 6. Marthas Amt ist daher herausgehobener Dienst.

Ergänzend erläutert Veerkamp (Anm. 377) zum in Esther 1,10 verwendeten „Verb scharath“, dass es

bedeutet „einen höheren Dienst versehen“. Diesen Dienst versah Joseph im Haus Potiphar; er war bei ihm der Majordomus, Genesis 39,4. So war Josua der erste Assistent (meschareth) Mosches (Exodus 24,13), Elisa der erste Assistent Elias (1 Könige 19,21). Die LXX gibt diese „Dienstleistung“ wieder mit therapōn bzw. leitourgos.

Später „in diesem Abschnitt“, nämlich in 12,26, wird Jesus verdeutlichen, was „messianische Diakonia ist“. Im Blick auf die beiden Fußwaschungen während der beiden erwähnten Mahlzeiten betont Veerkamp deren Unterschiede, die er an den jeweils verwendeten Stichworten diakonia {gehobener Dienst} bzw. douleia {Sklavendienst} festmacht:

Während des Mahles in Bethanien wird es eine Art Fußwaschung geben. Es ist ein prophetisch-priesterlicher Dienst am Messias, aber ein Dienst ganz besonderer Art. Was Jeschua später, während der Mahlzeit mit den Schülern, tun wird, wird Sklavendienst des Herrn sein, douleia, nicht diakonia: „Der Sklave ist nicht größer als sein Herr“ (13,16). Jeschua verrichtet den Sklavendienst des Fußwaschens. Er ist der Herr, die Schüler sind auf alle Fälle ihm untergeordnet. Erst während des langen Gespräches nach der Mahlzeit werden aus den Schülern Freunde (15,15).

Auch Veerkamp zufolge kennt Johannes die überlieferte Erzählung von der Salbung Jesu, wobei er offen lässt, ob dieser die synoptischen Evangelien kannte. Wichtig ist ihm, in welcher besonderen Weise der Evangelist die Erzählung aufgreift:

Lazarus war einer derer, die zu Tisch „anlagen“, aber die Hauptrolle spielt die Schwester Lazarus‘ und Marthas. Die Szene der Salbung Jeschuas war unter den messianischen Gruppen ein weitverbreitetes Erzählelement. Es ist wichtig, zu sehen, wie Johannes die Erzählung verfremdet, indem er die einzelnen Elemente neu ordnet. Alle drei Synoptiker kennen sie.

Markus und Matthäus haben wie Johannes den Auftritt kurz vor Pascha, aber anders als Johannes nach dem Einzug in Jerusalem. Bei ihnen gehört das Haus der Mahlzeit einem gewissen Simon: bei Markus und Matthäus dem „leprösen Simon“, bei Lukas wird aus ihm „Simon parusch“ (Pharisäer).

Was Johannes aus den Erzählungen des Markus und Matthäus aufgreift, ist die prophetisch-priesterliche Funktion der Königssalbung des Messias , die dort einer nicht mit Namen benannten Frau zugeschrieben und hier auf Maria übertragen wird:

Die Frau, die bei Markus und Matthäus die Salbung vornimmt, wird nicht näher bestimmt, sie salbt aber den Kopf des Messias. Die Salbung ist eine Salbung des Königs. In Israel nehmen die Priester die liturgischen Salbungen vor. Der König, der anstelle eines anderen eingesetzt werden soll (1 Samuel 16,12ff.; 2 Könige 9,1ff.), wird vom Propheten gesalbt. Lukas hat die Erzählung an ganz anderer Stelle, 7,36ff., im sogenannten „kleinen Reisebericht“. Lukas verfolgte einen anderen Zweck als Johannes, Matthäus und Markus. Die Frau muss bei Lukas eine „Frau der Verirrung“ sein, damit Jeschua dem Simon Parusch etwas klarmachen kann. Jeder Gastgeber war verpflichtet, seinen Gästen Wasser für die Fußwaschung zu reichen. Das Waschen selbst war Sklavenarbeit. Die „Frau der Verirrung“ übernimmt die Pflichten des säumigen Gastgebers. Bei den anderen drei handelt es sich um eine prophetisch-priesterliche Handlung.

Dennoch übernimmt Johannes auch ein wichtiges Element „aus der Erzähltradition, aus der auch Lukas schöpft“, nämlich „das Element der Fußwaschung“, jedoch gibt er ihm

einen ganz anderen Stellenwert. Von Markus und Matthäus entlehnt er die Nähe zum Einzug in Jerusalem. Eine Königssalbung soll es sein, aber der messianische König wird ein ganz anderer König sein als alle anderen Könige und kein neuer David. Für die Erklärung müssen wir bis zum Verhör Jeschuas durch Pilatus warten. Dem messianischen König salbt man die Füße, nicht der Kopf. Was das heißt, wird die Fußwaschung nach der Mahlzeit mit den Schülern zeigen: der Herr ist der Knecht, der die Füße wäscht. Die Salbung der Füße ist daher hintersinnig: dieser Messias ist anders als alle denken. Darum geht es Maria. Den König salbt man nicht mit ordinärer Ware, sondern mit ausgesuchtem Balsam, nicht den Kopf, sondern die Füße.

Abschließend beschreibt Veerkamp die Art, wie Johannes die von den Synoptikern jeweils bereits unterschiedlich überlieferte Erzählung in den Zusammenhang seines Evangeliums einbaut:

Bei Johannes ist das Haus in Bethanien das Haus der drei Geschwister. Johannes will der klassischen Erzählung einen Ort im Rahmen seiner eigenen Erzählung geben. Maria ist nicht die weinende Frau, sie hatte nach der Erweckung Lazarus keine Veranlassung dazu. Maria ist diejenige, mit der die Judäer verbunden sind. Konsequent tauchen sie sofort nach der Erzählung der Salbung auf, 12,9-11. Maria tritt auf als die Vertreterin der Judäer, die Jeschua vertrauten. Gerade sie wird das Amt der Balsamierung des noch lebenden, aber dem Tod entgegengehenden Jeschua übernehmen. Das weiß sie noch nicht, das wird Jeschua ihr und den Zwölf, vor allem dem Judas Iskariot, deutlich machen.

Johannes 12,4-8: Jesus weist die Kritik des Judas Iskariot an der Salbung zurück

12,4 Da sprach einer seiner Jünger, Judas Iskariot,
der ihn hernach verriet:
12,5 Warum wurde dieses Öl nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft
und das Geld den Armen gegeben?
12,6 Das sagte er aber nicht, weil ihm an den Armen lag,
sondern er war ein Dieb;
er hatte den Geldbeutel und nahm an sich, was gegeben wurde.
12,7 Da sprach Jesus: Lass sie.
Es soll gelten für den Tag meines Begräbnisses.
12,8 Denn Arme habt ihr allezeit bei euch;
mich aber habt ihr nicht allezeit.

[8. September 2022] Nach Klaus Wengst (W362) übernimmt bei Johannes „ein einzelner Schüler“, nämlich „Judas Iskariot“, die Rolle der Schüler, die bei Markus und Matthäus „auf das Handeln der Frau unwillig reagieren“ (Vers 4):

Er wurde schon in 6,70f. als Negativgestalt im Zusammenhang des Petrusbekenntnisses eingeführt, auch dort als der charakterisiert, der Jesus ausliefern würde. Der engeren Beziehung, die Mirjam hier gegenüber der Frau in der Salbungsgeschichte bei Matthäus und Markus zu Jesus hat, entspricht eine dunklere Zeichnung der Gegenfigur.

Dabei liegt sein Einwand (Vers 5): „Warum ist dieses Salböl nicht für 300 Denare verkauft und den Armen gegeben worden?“ durchaus nahe: „statt diesen Luxusartikel so maßlos zu verschwenden, etwas Hilfreiches, ja Notwendiges damit anzufangen.“

Zum „Wert einer Litra Nardenöl“, den „Judas mit 300 Denaren“ beziffert, stellt Wengst fest, dass dieser Betrag, der „dem Lohn eines Tagelöhners von anderthalb Jahren“ entspricht, „als zu hoch gegriffen“ scheint, da ein solcher Preis eher für die oben erwähnte Zimtsalbe angemessen wäre:

Ob für Johannes Nardenöl einfach ein viel zu teurer Luxusartikel war, über dessen Preis er keine genaue Vorstellung hatte, oder ob er Judas bewusst übertreiben lässt, ist kaum zu entscheiden. Immerhin zeigt er weder in der Geschichte vom Weinwunder noch hier eine grundsätzliche Aversion gegen Luxus.

In Vers 6 wird die „an sich nachvollziehbare Erwägung des Judas … mit einer kommentierenden Bemerkung in ein schlechtes Licht“ gerückt:

„Das aber sagte er nicht, weil ihm an den Armen lag, sondern weil er ein Dieb war und als Kassenhalter das Eingeworfene beiseite schaffte.“ … Wer Jesus verraten hat – auf der Zeitebene des Evangelisten: wer sich aus der eigenen Gruppe wieder zurückgezogen und sich von ihr abgewandt hat -, kann offenbar nur als nicht integer betrachtet werden und muss schon immer und in jedem Fall unlautere Absichten gehabt haben.

Indem Judas „wie in 13,29 als Kassenwart der Schülerschaft Jesu vorgestellt“ ist und der „Begriff glossókomon, auch als Fremdwort im rabbinischen Schrifttum belegt, … einen Kasten oder Beutel“ bezeichnet, in den ‚eingeworfen‘ wird“, zeigt Wengst zufolge (W363) die Stelle 12,6, „dass Johannes sich die Versorgung der Gruppe um Jesus als durch Spenden zustande gekommen vorstellt (vgl. Lk 8,3), über die ein Schüler als Kassenwart gesetzt war.“

Jesu Verteidigung des Verhalten der Maria in Vers 7 gibt Wengst so wieder:

„Lass Sie (dafür gehandelt haben), dass sie es für den Tag meiner Beisetzung bewahrt hätte.“ Sie hat es – wie immer sie selbst ihr Handeln verstanden hat – so für den Tag der Beisetzung Jesu bewahrt, dass sie Jesus schon jetzt salbt. Paradox formuliert: Gerade indem sie es jetzt an Jesus verschwendet, hat sie es für den Tag seiner Grablegung verwahrt. Denn dabei wird sie nicht anwesend sein. Dort werden andere handeln; Josef von Arimatäa und Nikodemus, die Jesu Leichnam mit hundert Litra einer Mixtur aus Myrrhe und Aloe versehen (19,39f.). Von daher wird deutlich, warum Mirjam Jesus nur die Füße salbt: Sie lässt gleichsam Platz für das Tun der beiden, die das Begräbnis Jesu besorgen.

In Vers 8 fügt Jesu als weitere Rechtfertigung der Salbung durch Maria hinzu:

„Die Armen habt ihr ja jederzeit bei euch, mich aber habt ihr nicht jederzeit.“ Die persönliche und leibhaftige Gegenwart Jesu ist – im Unterschied zur Gegenwart der von Judas ins Spiel gebrachten Armen – begrenzt. Daher hat Mirjam zur rechten Zeit das Rechte getan.

Da Jesus mit dem Satz: „Die Armen habt ihr jederzeit bei euch“ auf 5. Mose 15,11 anspielt: „Arme wird es immer im Lande geben“, eine Erfahrung, die im Gegensatz zur Zielvorstellung von 5. Mose 15,4 steht, dass es unter Gottes Segen in Israel „keine Armen geben sollte“ (Dtn 15,4), kann mit dem ausdrücklich zitierten Anfang von 5. Mose 15,11 auch das Ende mitgehört werden: „Öffnen, öffnen sollst du deine Hand für deinen heruntergekommenen und verarmten Bruder in deinem Land“. Daraus zieht Ludger Schenke <874> den Schluss, dass Jesus in Johannes 12,8 indirekt doch die Adressaten des Evangeliums ermahnt, an die Armen zu denken: „Ihnen bleiben nur die Armen, und der Dienst an ihnen ist der zukünftige Jesusdienst“. Mit dieser Auslegung ist Wengst allerdings nicht ganz einverstanden, indem er schreibt:

Spannungsvoll daneben setze ich die Erwägung von Zahn, <875> die mir – wenn auch eigenartig formuliert – keinesfalls abwegig zu sein scheint. Er erkennt in diesem Wort Jesu einen „Schutzbrief für alles Schöne, was keinen andern Zweck hat, als eine reine Darstellung des Guten und Wahren zu sein, eine Rechtfertigung aller frommen Kunst und jedes edlen Luxus gegenüber der einseitigen Forderung, daß alles Handeln ein nützliches sein und außerhalb seiner selbst liegenden Zwecken dienen müsse“.

Hartwig Thyen (T551) macht sich zu Vers 4 Gedanken darüber, warum Judas, der in Johannes 6,71 als der Sohn „Simons (tou Simōnos), des Iskarioten (Iskariōtou)“, bezeichnet wurde (was in 13,2 und 13,26 wiederholt wird), nunmehr „selbst als ‚Iskariot‘ bezeichnet“ wird. Dass einige Handschriften (T551f.)

in 6,71 anstelle von Iskariōtou die präpositionale Fügung apo Kariōtou {aus Ke­rioth] bieten, könnte ein Hinweis auf die mögliche Bedeutung des Beinamens ,Iskariot‘ sein und zugleich dessen Übertragung von dem Vater auf den Sohn erklären: Denn wie sein Vater stammte Judas dann als ein ˀisch kerijoth, ein ‚Mann aus Kerioth‘, aus dem Jos 15,25 genannten judäischen Ort ,Kerioth‘ …

Diesen Judas (T552) macht „Johannes, der es liebt, konkrete einzelne Sprecher zu benennen, … zum Tadler der Verschwendung“, die mit der Salbung Jesu durch Maria geschieht, während Markus (14,4) noch „einige aufgebrachte Leute“ und Matthäus (26,8) „die verärgerten Jünger“ in dieser Rolle gesehen hatten:

Zugleich läßt der Erzähler seine Zuhörer/Leser aber wissen, daß des Judas Engagement für die Armen ein scheinheiliger Vorwand für seine eigene Geldgier ist: „Das sagte er freilich nicht, weil ihm an den Armen gelegen gewesen wäre, sondern weil er ein Dieb war, der als der Verwalter der Reisekasse die Einlagen beiseite schaffte“.

Gegenüber einer „gängigen Interpretation der Figur des Judas“, die nach Klaus Beckmann <876> „mittels kollektiver Übertragung des doppelten Stigmas von Geldgier und Verrat auf ,die Juden‘ eine in unserem Jahrhundert gipfelnde Wirkmächtigkeit furchtbarster Art und unvorstellbaren Ausmaßes entfaltet“ hat, verweist Thyen jedoch auch auf „bedenkenswerte“ Differenzierungen, die Johannes im Blick auf das Judasbild der Synoptiker vornimmt:

Dennoch will beachtet sein, daß Johannes Judas stets als denjenigen bezeichnet, der Jesus „ausliefern sollte“, und ihn nie wie Lukas (6,16) den „Verräter“ (prodotēs) nennt. Auch bietet Johannes weder die Erzählung von den dreißig Silberlingen, um die Judas nach Mt 26,15 käuflich gewesen sein soll (vgl. Mk 14,10 und Lk 22,3-6, wo es nicht Judas ist, der auf diesen „Judaslohn“ aus ist, sondern wo es die Hohenpriester sind, die ihm eine Belohnung versprechen), noch die vom „Judaskuß“ (Mt 26,47ff; Mk 14,44f; Lk 22,47f), ja auch die Erzählung vom Selbstmord des Judas (Mt 27,311) oder von dem schrecklichen göttlichen Strafgericht, das den Verräter „mitten entzwei bersten ließ, so daß alle seine Eingeweide heraustraten“ (Act 1,15ff), sucht man bei Johannes vergeblich. Vielmehr hat Jesus nach Joh 6,70f im Wissen um alles, was ihm widerfahren sollte, Judas als einen der Zwölf von vorneherein dazu erwählt, daß der ihn ausliefern sollte.

Offen lässt Thyen allerdings die Frage, warum Johannes den Judas dennoch als Dieb und zuvor bereits als diabolos {Teufel} (6,70) brandmarkt, was gegenüber den Synoptikern auch als eine Verschärfung der Vorwürfe betrachtet werden könnte.

Die Formulierung von Jesu Satz in Vers 7: „aphes autēn hina eis tēn hēmeran tou entaphiasmou mou tērēsē auto“, hält Thyen für „schwierig“. Sie wird von manchen Exegeten, etwa Zahn und Bauer, <877> folgendermaßen übersetzt: „Nun laß sie doch den Rest der Narde für den Tag meines Begräbnisses aufbewahren!“ Obwohl sich nach Bauer „die Rede von einem Rest … ‚gleich schwer mit auto {es, also das Salböl} wie mit V. 3‘“ verträgt, soll sie „dennoch … ‚den Sinn des Evangelisten treffen, der den synoptischen Gedanken, daß der Tat prophetische Bedeutung zukomme, nicht mehr begriff‘“. Da aber „von irgendeinem Rest des Salböls nirgendwo die Rede“ ist und die „Pointe der Erzählung … gerade die restlose Verschwendung der kostbaren Narde für diese seltsame ,Fußwaschung‘“ ist, sind es vielmehr diese Exegeten, die den von Johannes be­absichtigten Sinn von Vers 7 nicht begreifen, der nach Thyen so zu umschreiben ist:

Laß sie in Frieden! Sie hat das Nardenöl nämlich darum nicht verkauft, weil sie es für den Tag der Bereitung zu meinem Begräbnis aufbewahren wollte. Und dieser Tag im Haus der bethanischen Geschwister ist der Tag des entaphiasmous.

Dabei kann das Wort entaphiasmos (T553) „hier nicht das Begräbnis bezeichnen, sondern muß Ausdruck der ihm vorausgehenden Einbalsamierung sein“, was allerdings kein „Denkverbot den genannten symbolischen Obertönen einer königlichen Salbung gegenüber impliziert“.

Die Fortsetzung der Rechtfertigung des Verhaltens der Maria durch Jesus in Vers 8 interpretiert Thyen vor dem Hintergrund der synoptischen Prätexte Lukas 10 und Markus 14:

Unbeschadet der bleibenden Forderung der Tora, sich der Armen in ihrer Not, der Witwen und Waisen in ihrer Einsamkeit solidarisch anzunehmen, die zu erfüllen Jesu Jünger allezeit Gelegenheit haben, gibt es hin und wieder gewichtigere Dinge, die unaufschiebbar an der Zeit sind: „Mich aber habt ihr nicht alle Zeit in eurer Mitte“. Darum hat Maria zur rechten Zeit, das Eine getan, „das not ist“, darum hat sie tēn agathēn merida {den guten Anteil} erwählt, der nicht von ihr genommen werden soll (Lk 10,42), darum wird man, wo immer das Evangelium in der ganzen Welt verkündet wird, von dem erzählen, was sie getan hat, „zu ihrem Gedächtnis“ (Mk 14,9).

Ton Veerkamp <878> führt die von Johannes in den Versen 4-6 gegenüber den synoptischen Evangelien veränderte Betrachtungsweise der Kritik an Jesu Salbung auf unterschiedliche politisch-soziale Zielsetzungen der jeweiligen Evangelisten zurück:

Ein weiteres Detail wird von Johannes geändert. Entrüstet sind bei Matthäus und Markus die Zwölf bzw. nicht näher bezeichnete „einige“. Entrüstet ist bei Johannes nur der Dieb und Kassenwart Judas. Bei den Synoptikern ist das nicht verwunderlich, spielen doch bei ihnen die Bedürftigen, ptōchoi, ˀevjonim eine zentrale Rolle; bei Johannes glänzen diese durch ihre völlige Abwesenheit. Die Bedürftigen dienen hier als heuchlerischer Vorwand eines räuberischen Kassenwarts, der einer entgangenen Beute nachtrauert. Johannes sieht ihn als Verräter und Dieb, weil er das Königtum Jeschuas, vor allem, weil er ein Königtum, das „nicht nach der herrschenden Weltordnung“ funktioniert, ablehnt und sich an der messianischen Bewegung bereichert.

Bereits in seiner Auslegung von Johannes 10,1.8.10 hatte Veerkamp die dort erwähnten Diebe in den Zusammenhang mit Johannes von Gischala gebracht, der nach Josephus (Bell. 2, 21, 1-2) nichts anderes als ein räuberischer Bandit war und sich nur aus Gewinnsucht an den Kämpfen im Judäischen Krieg beteiligte. Indem Judas in den Augen des Johannes eine solche zwielichtige Gestalt vorwegnimmt, kann seine Charakterisierung als Dieb auf keinen Fall im Sinne einer generellen Verunglimpfung jedes Juden als gewinnsüchtig verstanden werden.

Wie beurteilt Veerkamp nun die Rechtfertigung Jesu für die luxuriöse Salbung? In Vers 8 lässt der Evangelist Jesus die Tora zitieren, indem er eine ihrer Bestimmungen zugunsten einer Handlung, die sich auf ihn als den Messias bezieht, vorübergehend zurücktreten lässt:

In 13,29 ist Judas sozusagen der Armenfürsorger vom Dienst. Johannes beschäftigt sich vor allem mit großer Politik. Die soziale Frage sei eine ewige Frage, sagt Johannes, hier aber stehe zunächst die politische Frage im Vordergrund. Deswegen zitiert er Deuteronomium 15 (insbesondere V.11). In diesem großen Toratext geht es um „Soziales“, Schuldenerlass, Vermögensverteilung. Eine Gesellschaft, die auf Egalität aller Familien des Volkes beruht und beruhen will, muss solches tun. Hier aber, bei Johannes, geht es um die politische Linie eines Königtums für ganz Israel. Kurz vor der direkten Konfrontation des Messias mit dem Repräsentanten der Weltordnung (18,33ff.) muss Sozialpolitik zurückstehen. Wer wie Johannes die Armen nur in Zusammenhang mit dem Verräter (12,5.8; 13,29) und sonst gar nicht auftreten lässt, will über Jeschua aus Nazareth völlig anders erzählen. Das kann als politische Kritik der Gruppe um Johannes an den messianischen Gemeinden aus den orientalischen Judäern verstanden werden. Durch die vorrangige Sorge um die Armen würden diese die große politische Linie verlieren, die Politik der Großen Alternative.

Die Handlung Marias macht deutlich, dass der Messias ein König ist, aber einer, wie es noch keinen gab. Iskariot, der Mann aus Kerijot, sieht das als alberne politische Kapriolen: Hätte man das viele Geld nicht besser den Bedürftigen geben sollen, um den Rückhalt im Volk zu vertiefen? So mag Judas gedacht haben. Johannes deutet Judas als den, der die johanneische Politik blockiert.

Demgegenüber ist Maria in Veerkamps Augen eine Prophetin, die weiter sieht als Judas und auch die anderen Schüler Jesu und mit ihrer zeichenhaften Handlung das tut, was zu dieser Stunde notwendig ist, und worauf Jesus in Vers 7 hindeutet:

Maria aber salbt den lebenden Messias, der sterben wird. Sie feiert vorweg den Abschied des Messias, des Königs, der nicht wie alle anderen ist. Er ist der König, der weg geht, der sich verabschiedet, der beerdigt wird. Maria ist für Johannes entscheidend politischer als Judas und die Zwölf, die hier wohl mit Judas sympathisierten. Denn Jeschuas Antwort richtet sich an alle Schüler: „Die Bedürftigen behaltet ihr …“

Johannes 12,9-11: Auch Lazarus soll getötet werden, weil viele Juden um seinetwillen auf Jesus vertrauen

12,9 Da erfuhr eine große Menge der Juden, dass er dort war,
und sie kamen nicht allein um Jesu willen,
sondern um auch Lazarus zu sehen,
den er von den Toten erweckt hatte.
12,10 Aber die Hohenpriester beschlossen, auch Lazarus zu töten;
12,11 denn um seinetwillen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus.

[9. September 2022] Im Anschluss (W363) an „die Gastmahlszene“ machen sich gemäß Vers 9 „viele Leute“ nach Bethanien auf, und zwar nicht nur wegen Jesus, sondern auch wegen „Lazarus, den sie als von den Toten Erweckten sehen wollen.“ Daraufhin berichtet Vers 10 von einem Beschluss der „Oberpriester“, nunmehr

auch Lazarus als Anlass für solchen Zulauf zu töten. Von einer Verfolgung oder gar Ausführung dieses Plans erzählt Johannes jedoch nichts. Dessen Erwähnung an dieser Stelle soll wohl die Entschlossenheit der Gegner Jesu herausstellen, alles Erdenkliche gegen ihn und den von ihm ausgelösten Auflauf zu unternehmen.

Hinter diesem Beschluss stehen nach Klaus Wengst „möglicherweise Erfahrungen zur Zeit des Evangelisten.“ Johannes gibt in Vers 11 als Grund an (W364), dass wegen Lazarus „viele Juden hingingen und an Jesus glaubten“. Auch solche Angaben mögen Wengst zufolge – wie bereits in 6,66 – Fluktuationen der Mitgliederzahl der johanneischen Gemeinde widerspiegeln.

Hartwig Thyen widmet der Auslegung von Johannes 12,9-11 lediglich einen einzigen Satz (T553):

Mit dieser letzten Nennung des von den Toten erweckten Lazarus und dem Beschluß der „hohepriesterlichen Brüder des reichen Mannes“ die doch „Mose und die Propheten haben“ (Lk 16,30f), nun auch Lazarus zu töten, weil er zum lebendigen und in ihren Augen bedrohlichen Zeugen des Glaubens anJesus geworden ist, beschließt unser Erzähler seine Geschichte von den bethanischen Geschwistern und „Freunden“ Jesu.

Für Ton Veerkamp <879> liegt im Beschluss der Hohenpriester, auch Lazarus zu töten, eine weitaus tiefere Ironie verborgen, verbunden mit einem ungleich höheren Ernst, verkörpert Lazarus in seinen Augen doch das wiederbelebte Israel:

Jetzt kommen Marias Gesellen, die Judäer, und zwar eine große Menge von ihnen. Jeschua und Lazarus sind für die Judäer eine sensationelle Attraktion, sie kommen, um den Messias und das wieder belebte Israel zu sehen. Was wäre legitimer für die Kinder Israels? Für die führenden Priester – die Peruschim {Pharisäer} lässt Johannes hier weg – ist die verhängnisvolle Konsequenz aus dieser Popularität, dass die Eliminierung des Messias die Vernichtung des wieder belebten Lazarus nach sich zieht. Jeschua muss weg. Dann muss Lazarus auch weg. Die Führung Israels will auch den töten, der Israel repräsentierte, als Toter und als Lebender. Eine Führung bringt das eigene Volk um. Es war nicht das erste Mal, das eine Führung das eigene Volk opfert; es wird auch nicht das letzte Mal sein.

Johannes 12,12-19: Jesu Einholung nach Jerusalem als König von Israel auf einem Eselchen

12,12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war,
hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde,
12,13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien:
Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn,
der König von Israel!
12,14 Jesus aber fand einen jungen Esel
und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9):
12,15 „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion!
Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.“
12,16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht;
doch als Jesus verherrlicht war,
da dachten sie daran,
dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
12,17 Die Menge aber, die bei ihm war,
als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte,
bezeugte die Tat.
12,18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen,
weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.
12,19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander:
Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet;
siehe, alle Welt läuft ihm nach.

[10. September 2022] Da die mit Vers 12-13 beginnende Erzählung (W364) „am nächsten Tag“ geschieht, also am Tag nach der „Salbung in Betanien“, die Wengst zufolge (W365) „als an einem Sonntag geschehen vorgestellt“ ist, legt Johannes

damit den Einzug in Jerusalem auf einen Montag. In Anknüpfung an 11,55f. erzählt er ihn zunächst aus der Perspektive der schon in Jerusalem weilenden Menge von Festpilgern. Sie hatten dort – eher skeptisch – die Frage gestellt, ob Jesus käme. Nun ist er im Anzug. Als sie davon erfahren, geraten sie sofort in Bewegung: Sie nehmen Palmzweige und gehen Jesus entgegen.

Auch diese Erzählung hat „eine enge Parallele in den anderen Evangelien: Mt 21,1-9; Mk 11,1-10; Lk 19,28-40“, und auch in diesem Fall lässt sich nach Wengst „das Verhältnis zueinander nicht eindeutig klären“. Manche Exegeten setzen die Benutzung der Synoptiker voraus, andere den Rückgriff auf eine den Synoptikern lediglich ähnliche Erzähltradition:

Angesichts dieser nicht geklärten und wohl auch nicht zu klärenden Situation empfiehlt es sich, an den vorliegenden Texten mögliche Beobachtungen für die Interpretation fruchtbar zu machen, ohne das mit Schlüssen zu verbinden, die die eine oder andere Theorie voraussetzen. Blickt man so auf den Anfang von V. 13, ist es auffällig, dass die beiden hier zuerst genannten Momente – das Nehmen von Palmzweigen und das Hinausgehen aus Jerusalem Jesus entgegen – dem Johannesevangelium eigentümlich sind.

Dieses „Motiv des Nehmens von Palmzweigen“ ist nach Wengst „im Zusammenhang der Vorstellungen von Freude und Sieg“ zu verstehen:

So heißt es in 2. Makk 10,6f. im Blick auf die Weihung des Tempels im Jahr 165 v. Chr.: „Und mit Freude begingen sie acht Tage in der Weise des Laubhüttenfestes […]. Deshalb brachten sie – mit Thyrsosstäben und schönen Zweigen, dazu auch noch mit Palmen in Händen – dem Hymnen dar, der es hatte gelingen lassen, dass sein Ort gereinigt worden war.“ Nach 1. Makk 13,51 zog man nach der Vertreibung der seleukidischen Besatzung aus der Tempelburg im Jahr 142 v. Chr. in sie ein „mit Lobgesang und Palmzweigen, unter dem Klang von Harfen, Zimbeln und Zithern, unter Hymnen und Liedern, weil ein so großer Feind aus Israel hinaus geschlagen worden war“. In der Vision in Apk 7,9 hat die unzählbar große Menge vor dem Thron Gottes weiße Kleider an „und Palmen in ihren Händen“.

Weiter wird mit der „Bemerkung, dass diejenigen, die Palmzweige genommen hatten, Jesus entgegen gingen, … das Motiv der Einholung“ aufgenommen: „Herrscher und andere hochgestellte Persönlichkeiten wurden beim Besuch einer Stadt von deren Honoratioren und Einwohnerschaft bereits vor den Toren empfangen und feierlich hineingeleitet.“ Dazu verweist Wengst auf den instruktiven „Bericht des Josephus über den Einzug des Titus in Antiochia, nachdem er den Krieg in Judäa mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels beendet hatte“ (Bell. 7, 5, 2).

Indem Johannes auf diese Weise „den letzten Einzug Jesu in Jerusalem als feierliche Einholung“ gestaltet, rückt er Jesus „von vornherein in eine königliche Dimension.“ Jesus kommt nicht wie bei „den vorher im Evangelium erwähnten Wallfahrtsfesten … als bloßer Pilger nach Jerusalem“. Das wird unterstrichen (W366), indem die „Menge … Jesus mit lautem Rufen“ begrüßt. Dabei unterscheidet Wengst zwischen zwei verschiedenen Rufen, die ihm zufolge im griechischen Text, wie ihn einige wenige Handschriften überliefern, durch ein kai {und} voneinander abgesetzt sind. Die beiden Rufe lauten: „Hosanna! Gesegnet, der da kommt im Namen des Ewigen!“ und: „Der König Israels!“, wobei er erste Ruf ein „Zitat aus Ps 118,25f.“ darstellt und Johannes den zweiten „als eigenen Ruf betont am Schluss“ hinzufügt. Dazu erläutert Wengst (Anm. 701), dass das „kai (‚und‘) … ursprünglicher Text sein“ muss:

Es zu streichen und damit die Bezeichnung „König Israels“ in das vorangehende Zitat zu integrieren, wie das in Lk 19,38 der Fall ist, lag ungleich näher, als es im umgekehrten Fall – bei Voraussetzung der der Ursprünglichkeit des unmittelbaren Anschlusses von „König Israels“ an den vorangehenden Ruf – sekundär hinzuzufügen. Dieses kai stellt die ihm folgende Bezeichnung als eigenen Ruf heraus. Es epexegetisch zu verstehen („und zwar“), ist innerhalb eines Aufrufs ein Unding.

Dass alle Evangelisten (W366) „das Zitat aus Ps 118,25f.“ mit „je unterschiedliche[n] Erweiterungen“ zitieren, kommentiert Wengst nicht näher. Daraus, dass Johannes das „in Umschrift“ aus „dem vorangehenden Vers“ zitierte

Wort hosanná, das sich aus der an Gott gerichteten Bitte des hebräischen Textes hoschíah na (= „Rette doch!“) ergeben hat, … – ebenso wie das Wort ‚Amen‘ – nicht übersetzt, muss geschlossen werden, dass er es als im Gemeindegebrauch bekannt voraussetzt.

Daraus, dass beispielsweise „in Mt 21,9 … mit dem Hosanna der Dativ … ‚dem Sohn Davids‘ verbunden“ ist, ergibt sich für Wengst, „dass es nicht mehr als Bittruf verstanden wurde, sondern zum ‚Jubelruf geworden war‘“. <880>

Es ist nach Wengst noch nicht der erste Ruf, der Jesus „aus der Schar der Festpilger heraus[hebt]“, denn die „Aussage aus Ps 118,25f. gilt grundsätzlich allen, die zu einem Wallfahrtsfest nach Jerusalem kommen.“ Erst durch den zweiten Ruf proklamiert die Menge Jesus als den „König Israels“, wie er „schon in 1,49 von Natanael bekannt und damit im Kontext dieser Stelle als Gottes messianischer Beauftragter kenntlich gemacht worden“ war. Diese Proklamation wird in Vers 14 durch Jesus selbst auf besondere Weise interpretiert (W366f.):

Anders als in 6,14f., wo die Leute Jesus nach dem Brotwunder zum König machen wollten, entzieht er sich ihnen jetzt nicht, stellt aber durch eine Zeichenhandlung klar, wie sein Königtum zu verstehen ist. Er findet ein Eselchen und setzt sich darauf. Während er nach den anderen Evangelien seinen Einzug nach Jerusalem von vornherein selbst inszeniert, indem er zwei Schüler ausschickt, um für ihn einen Esel zu besorgen, kommt der Esel hier erst in den Blick angesichts der Jesus einholenden und ihn als „König Israels“ begrüßenden Menschenmenge.

Dass Jesus auf einem „Eselchen“ in Jerusalem einreitet (W367), versteht Wengst als bewussten Ausdruck seiner Niedrigkeit, in der er sich sogar der Lächerlichkeit preisgibt:

Das von Jesus „gefundene“ Tier wird als „Eselchen“ bezeichnet. Er sitzt also nicht nur nicht auf einem Pferd, nicht einmal auf einem Esel, sondern auf einem „Eselchen“. Was für ein Bild: der König auf einem Eselchen! Man stelle sich vor, bei der oben im Exkurs nach Josephus wiedergegebenen Einholung des Titus nach Antiochia wäre dieser siegreiche Feldherr und Kaisersohn auf einem Eselchen eingeritten. Er hätte sich der Lächerlichkeit preisgegeben. Indem Johannes Jesus auf einem Eselchen reiten lässt, macht er klar, dass dieser König kein hoher Herr ist, sondern in Niedrigkeit kommt.

Auf den ersten Blick erscheint mir diese Sichtweise, wie Wengst sie erläutert, als plausibel. Beim näheren Nachdenken passt aber nicht dazu, dass Johannes mit keinem Wort irgendeine Reaktion seitens der Volksmenge oder der Gegner Jesu erwähnt, die die Umstände von Jesu Einzug lächerlich gefunden hätten. Stattdessen schreibt Johannes in Vers 15, dass Jesu Handeln dem Schriftwort Sacharja 9,9 entspricht: „Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Sieh doch! Dein König kommt, sitzt auf einem Eselsfüllen.“

Johannes zitiert Sacharja 9,9 aber mit einigen Veränderungen:

Aus der doppelten Anrede in Sach 9,9: „Freue dich sehr, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem!“ hat er nur die an die „Tochter Zion“ aufgenommen, allerdings mit der Aufforderung: „Fürchte dich nicht, Tochter Zion!“ Das findet sich so nirgends. Aber in Jes 40,9 werden Zion und Jerusalem angehalten, sich nicht zu fürchten (vgl. Jes 54,14). Am nächsten kommt Zeph 3,16: „Fürchte dich nicht, Zion!“ Der ganze Zusammenhang Zeph 3,14-18 klingt bei Johannes an. Dort ist in V. 14 die „Tochter Zion“ angeredet; und in V. 15 und 17 wird versichert, dass Gott als „König Israels“, als „starker Retter“ in Jerusalems Mitte sei. Mit der Aufforderung, sich nicht zu fürchten, wird also das Vertrauen auf das rettende Kommen Gottes eingespielt, auf seine hilfreiche Gegenwart, die nach dieser Stelle des Johannesevangeliums im Kommen Jesu schon da ist. Aus Sach 9,9 hat Johannes nur zwei kurze Aussagen aufgenommen. Die erste – „Sieh doch! Dein König kommt“ – stimmt mit der Septuaginta überein, die hier genau dem hebräischen Text folgt. Die zweite – „sitzt auf einem Eselsfüllen“ – weicht stark von der Septuaginta ab. Es handelt sich um eine verkürzte, aber sachlich zutreffende Wiedergabe des hebräischen Textes.

Obwohl also Jesus nach Wengst durch „den mit dem Reiten auf dem Eselchen gegebenen Verweis auf Sach 9,9 … die ihm zuteilwerdende Einholung und die ihm gegenüber ausgebrachte Proklamation als ‚König Israels‘ in bestimmter Weise“ interpretiert, wird dennoch keineswegs diese „Proklamation“ selbst dementiert (W367f.):

Wenn der Evangelist immer wieder von Jesus als „König Israels“ und „König des jüdischen Volkes“ geredet sein lässt, müsste er dieses Königtum Jesu schon ausdrücklich verneinen, wenn er es für eine falsche Zuschreibung hielte. Da er das nicht tut, wird er auch nicht die mit diesem Königtum verbundenen Inhalte stillschweigend negieren, d. h. den primären Bezug auf Israel, der dessen irdische Wohlfahrt einschließt. Gegenüber Pilatus verortet Jesus sein Königtum nicht in einer anderen Welt, sondern betont, dass er es nicht nach Art dieser Welt mit imperialer Gewalt vollziehe (vgl. zu 18,36). Dafür steht hier das Eselchen und mit ihm der Bezug auf Sach 9,9. Damit ist schon angedeutet, dass Gott gerade auf dem Weg Jesu ans Kreuz da ist und begegnet, Gottes Königtum sich in der Ohnmacht des Gekreuzigten erweist.

Diese Ausführungen scheinen sich sehr weit der Auslegung Veerkamps anzunähern. Es bleibt aber abzuwarten, in welcher Weise Wengst die Niedrigkeit und Ohnmacht des Gekreuzigten in eine konkrete Beziehung zur Rettung bzw. Befreiung Israels auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes setzen wird.

Die „kommentierende Bemerkung“ des Evangelisten (W368) in Vers 16: „Das verstanden seine Schüler zunächst nicht. Aber als Jesus verherrlicht worden war, da erinnerten sie sich, dass das über ihn geschrieben war und man das für ihn getan hatte“, ist nach Wengst eine genaue Entsprechung zu Johannes 2,22. Wie dort das „zuvor gesprochene Wort Jesu über das Zerstören und Aufrichten des Tempels“ erst im Nachhinein verstanden werden kann, kann auch hier der „Einzug Jesu in Jerusalem“ erst „aus der österlichen Perspektive“ so gesehen werden, „wie ihn Johannes jetzt darstellt“, dass nämlich „Gott auch noch im gekreuzigten Jesus als präsent“ erkannt werden kann: „Dass der Gekreuzigte König ist, wird Johannes in der Passionsgeschichte in aller Schärfe herausstellen.“

Den „Abschluss dieses Abschnitts“ in den Versen 17-18 versteht Wengst als eine „Rückblende“, die den Einzug in Jerusalem „mit der Geschichte von der Erweckung des Lazarus“ verbindet:

Die Ereignisse des Einzugs Jesu nach Jerusalem, soweit sie das Handeln der Volksmenge betreffen, gelten als Auswirkung jener Tat. Daher kommen auch diejenigen wieder in den Blick, die Jesus nachstellen und schon unmittelbar im Anschluss an sie entschlossen waren, ihn zu töten. So bilden diese Verse eine Brücke zur Passionsgeschichte. Johannes vermerkt, dass die bei der Erweckung des Lazarus Anwesenden für Jesus Zeugnis abgelegt hatten. Die im griechischen Text gebrauchte Zeitform des Verbs lässt an eine wiederholte und andauernde Tätigkeit denken. Eine Rückblende begründet, dass es dieses Zeugnis war, das die Leute veranlasste, Jesus entgegen zu gehen.

Dieser Zulauf veranlasst wiederum gemäß Vers 19 „die Pharisäer“ zum Eingeständnis ihres Misserfolgs

hinsichtlich der geplanten Festnahme Jesu …: „Merkt ihr, dass ihr nichts ausrichtet? Seht doch, alle Welt ist ihm nachgelaufen.“ … „Alle Welt“ ist hier – wie in 18,20 – selbstverständlich die jüdische Welt. Mit ihr sind keine anderen gemeint als mit „alle“ in 11,48, wo ebenfalls ausschließlich Juden im Blick waren.

Damit schließt Wengst kategorisch aus, dass sich der Ausdruck „alle Welt“ in irgendeiner Weise auf die Völkerwelt beziehen könnte (Anm. 709):

Die in der Auslegung oft gegebene Interpretation, dass hier die an Jesus glaubende nichtjüdische Welt in den Blick komme, wofür dann auch auf die in 12,20 begegnenden „Griechen“ hingewiesen wird, scheitert daran, dass Johannes eine Vergangenheitsform gebraucht. Das verdecken Übersetzungen, die gegen den griechischen Text präsentisch formulieren. Hätte Johannes diese Dimension der an Jesus glaubenden Nichtjuden mitgemeint, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die Pharisäer im Präsens sprechen zu lassen. Er lässt sie aber auf das gerade erzählte Ereignis zurückblicken.

Zum Hintergrund (T554) der „Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem“ bleibt Hartwig Thyen seiner Linie treu, ein Spiel „mit seinen synoptischen Prätexten“ vorauszusetzen, und bezeichnet sie „als eine Art von Palimpsest über den entsprechenden synoptischen Texten (Mk 11,1-10; Mt 21,1-11; Lk 19,28-38).“ Da er „weniger an der Eruierung einer mutmaßlichen Vorgeschichte unseres Textes als vielmehr an der Interpretation des überlieferten Evangeliums interessiert“ ist, folgt er der Einschätzung von Hoskyns: <881>

„Die johanneische Erzählung hängt von der markinischen ab … Neben den johanneischen Eigenheiten enthält sie jedoch auch gewisse Annäherungen an die lukanische und matthäische Version… Bei der Begrüßung der Volksmenge fügt Lukas das Wort „König“ ein (19,38); und wie Johannes stellt auch er fest, dass die Intensität der Begrüßung zumindest zum Teil auf dem Wissen um die Wunderkraft Jesu beruhte (Lk 19,37). Matthäus stellt wie Johannes, aber anders als Markus und Lukas, den Bezug zur Prophezeiung in Sacharja her und berichtet zu diesem Zweck, dass die Eselin von ihrem Fohlen begleitet wurde (Mt 21,2-5)“.

Da der „folgende Tag“ (Vers 12) „der fünfte vor dem nahen Passafest“ ist und … das bethanische Festmahl wohl ein sabbatliches war“, will Thyen in diesem Tag unseren „Palmsonntag“ sehen. Nach meinen in der Einleitung zu diesem Abschnitt zur Thematik der letzten Lebenswoche Jesu angestellten Überlegungen wäre das aber nur möglich, wenn das Festmahl kein abendliches gewesen wäre, sondern vor Sonnenuntergang stattfand.

Die Palmzweige, mit denen die Festpilger Jesus (Vers 13) entgegenziehen, werden Thyen zufolge mit einer Art Hendiadyoin bezeichnet: ta baïa tōn phoinikōn, denn to baïon heißt „der Palmzweig“ und phoinix „die Palme oder ebenfalls der Palmzweig“ (T555):

Mit „Lobgesängen und Palmzweigen“ (meta aineseōs kai baïōn) huldigen die Jerusalemer dem Makkabäer Simon, weil er einen „großen Feind aus Israel beseitigt hat“ (1Makk 13,51).

Thyen sieht in den Palmzweigen kaum bereits „einen christlichen Palmsonntagsbrauch“, sondern „eher das Übliche bei der Akklamation eines Königs oder Gottes – wie beim Laubhüttenfest“.

Im Gesang des Psalms 118 durch „die große Pilgerschar“, der durch das Zitat von dessen Vers 26a aufgerufen wird, ergänzt durch den „in der LXX fehlenden Jubelruf ‚Hosianna‘ (hoschiˁah naˀ) aus dem hebräischen V. 25 des Psalms“

identifiziert Johannes im intertextuellen Spiel mit Zeph 3,15 denjenigen, der da kommt im Namen des Herrn, als ho basileus tou Israēl {den König von Israel} (vgl. Sach 9,9). Wie Nathanael Jesus, nachdem der ihn „Zeph 3,13 folgend einen Israeliten, an dem kein Trug ist {Johannes 1,47}, genannt hat, das eschatologische Gottesprädikat ,König Israels‘ nach Zeph 3,15 zukommen“ läßt {Johannes 1,49}, so werden bei diesem Einzug in Jerusalem „mit dem in die Welt gekommenen Logos der Sohn Gottes und JHWH als ,eines‘ (10,30) in der Mitte Israels epiphan {offenbar}: ,Der König Israels, der Herr, in deiner Mitte“ (en mesō sou, Zeph 3,15)“. <882> Um schon bei diesem Einzug zu verdeutlichen, daß Jesu Königsein „nicht von dieser Welt ist“ (18,36), übergeht Johannes den Lobpreis der „kommenden Königsherrschaft unseres Vaters David“ von Mk 11,10 und läßt die Menge Jesus darum als den „König Israels“ preisen (vgl. Lk 19,38).

Nach Hartwig Thyen „übergeht Johannes“ absichtlich die synoptische „Erzählung von Jesu Beauftragung zweier seiner Jünger, den Esel (bzw. die Eselin und ihr Füllen: Mt 21,2) zu suchen und zu ihm zu bringen“, und bemerkt in Vers 14

erst nach dem königlichen Empfang, den die Festpilger Jesus bereitet haben, gleichsam als seine Reaktion darauf lapidar: „Jesus aber fand einen jungen Esel (onarion)“. Dabei könnte dieses Deminutivum wohl ein Spiel mit der Näherbestimmung dieses Tieres als ein pōlon … eph‘ hon oudeis oupō anthrōpōn ekathisen {Füllen…, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat} bei Mk 11,2 sein (vgl. Lk 19,30). Jedenfalls aber ist onarion synonym mit pōlon onou {Eselsfüllen} in V. 15. Wie Jesus Pilatus gegenüber sein Königtum verbal als eines bestimmen wird, „das nicht von dieser Welt ist“ wie geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt zu dir sitzend auf dem Füllen einer Eselin“ (Sach 9,9). Wie zumeist bei Johannes dient auch hier das Zitat der Erinnerung an dessen Kontext: „Juble laut Tochter Zion, jauchze Tochter Jerusalem! Siehe dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich. Demütig ist er und reitet auf einem Esel, auf dem Füllen einer Eselin. Er beseitigt die Streitwagen aus Ephraim und die Streitrosse aus Jerusalem. Die Kampfbogen werden vernichtet. Er gebietet den Völkern Frieden, und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer, und vom Strom bis an die Enden der Erde“. So kommentiert Jesus durch sein Verhalten die Königsakklamation der Pilgerscharen und weist alle ihre möglichen nationalistischen Untertöne und Hoffnungen in ihre Schranken.

Diese Ausführungen Thyens zu den Versen 14 und 15 lese ich mit gemischten Gefühlen. Zum einen mag er mit den „nationalistischen“ Untertönen und Hoffnungen zwar Recht haben, soweit sie sich auf zelotische Ambitionen beziehen, die sich etwa im Judäischen Krieg so verheerend ausgewirkt haben. Wenn er aber jüdisch-messianische Befreiungshoffnungen politischer Art grundsätzlich als nationalistisch brandmarken will, schrammt er gefährlich nahe am Antijudaismus vorbei. Vor allem aber scheint er das Königtum des johanneischen Jesus zu Unrecht jenseitsweltlich zu verorten, statt es an den Bestimmungen der Tora als ein Königtum zu messen, unter dem Israel auf der Erde unter dem Himmel Gottes in Freiheit, Recht und Frieden leben kann. Der von Thyen zitierte Kontext von Sacharja 9,9 meint jedenfalls einen politisch zu begreifenden Frieden für die Völker, durch den auch Israel Frieden findet.

In demselben Sinne dürfte auch das von Thyen bereits im Hintergrund von Johannes 12,13 gesehene Kapitel Zephanja 3 zu verstehen sein, dem zufolge die Völker dazu gebracht werden, sich dem Gott Israels zu beugen (3,8-9), und ein Rest Israels gesammelt und „unter allen Völkern auf Erden“ Lob und Ehre erfahren soll (3,12-20). Auch der Anfang von Johannes 12,15 ruft nach Thyen dieses Zephanja-Kapitel auf (T555f.):

Wenn der Erzähler anstelle von Sacharjas Aufruf zu Freude und Jubel das Zitat mit den Worten: Fürchte dich nicht! einleitet, dürfte er, wie zuvor schon bei der Hinzufügung von ho basileus tou Israēl {der König von Israel} zum Zitat von Ps 118, das tharsei Ziōn {Fürchte dich nicht, Zion} aus der Rede vom Tag JHWHs in Zeph 3,16, vor Augen haben.

Dass in Vers 16 (T556) unvermittelt die Jünger Jesu erwähnt werden, darf nach Thyen nicht verwundern, da sie seit Johannes 6,68f. „stets da [sind], wo ihr Herr ist“:

Erst nach der Verherrlichung Jesu, und das heißt ja zugleich erst dadurch, daß der Geist-Paraklet sie an das Geschehen erinnert und sie in die ganze Wahrheit führt, werden die Jünger begreifen, daß Sacharja da über Jesus geschrieben hatte und daß die Festpilger recht hatten Jesus als dem König Israels zu huldigen.

In diesem Zusammenhang wendet sich Thyen auch gegen folgenden kritischen Einwand im Blick auf Vers 16 durch Barrett [414]:

„Die Erzählung widerspricht sich wirklich selbst“. Denn wenn sogar „die Jünger im Einzug Jesu nicht den Einzug des Messias sahen“, sei es doch höchst unwahrscheinlich, „daß die Menge dies tat. Warum sollten sie schneller die atl. Anspielung sehen? Joh aber schildert sie, wie sie Jesus als ho basileus tou Israēl {den König von Israel}… begrüßte“. Doch in unserer Erzählung folgt die „atl. Anspielung“ der Akklamation Jesu als des „Königs Israels“ durch die Menge ja erst … Sie ist also keinesfalls deren Motiv.

Das Motiv der Menschen, die Jesus als König Israels bejubeln, wird nach Thyen wie nach Wengst in den Versen 17-18 nachträglich hervorgehoben:

Wie die V. 17f ausdrücklich erklären, ist das vielmehr ihr Bezeugen (emartyrei) des messianischen Zeichens der Erweckung des Lazarus von den Toten. Und daß die Jünger in Jesu Weg nach Jerusalem „nicht den Einzug des Messias“ gesehen hätten, ist doch weder explizit noch auch nur implizit gesagt. Was sie erst nach der Verherrlichung Jesu am Kreuz begreifen werden, ist vielmehr die unverwechselbare Art seines messianischen Königtums, die sich ihnen u. a. im Licht von Sach 9 erschließen wird. Und das gilt, trotz seines korrekten Bekenntnisses für Nathanael (1,45ff) natürlich ebenso wie für diese Pilgerscharen, die gleichwohl die Wahrheit proklamiert haben. … Wie Kaiaphas (11,47ff) unwissend die Wahrheit sagt, so hat Gott hier durch den Mund der Pilgerscharen des Passafestes seinem messianischen Sohn das angemessene Lob bereitet.

Die in Vers 19 erscheinende Wendung „Siehe, alle Welt läuft ihm nach!“, mit der sich „die Pharisäer … die Vergeblichkeit all ihrer bisherigen Bemühungen eingestehen müssen, Jesus zum Schweigen zu bringen“, begreift Thyen im Gegensatz zu Wengst als doppeldeutig, nämlich einerseits (T557) wie Barrett [415] als „eine gebräuchliche Redewendung in dem Sinne von ‚jedermann‘ (tout le monde)“:

Zum anderen aber ist es, wie das Wort des Kaiaphas über die Notwendigkeit des Sterbens Jesu für das Volk, wider den Willen der Sprecher zugleich eine prophetische Aussage über die Universalität des Evangeliums, die in dem eben durch das Zitat herbeigerufen Sacharjatext ja bereits angelegt war und sich in der jetzt folgenden Szene von den „Griechen“, die Jesus gerne sehen wollen, fortsetzt.

Thyens Annahme zur hier angeblich ausgesagten „Universalität des Evangeliums“ findet aber im zitierten Sacharjatext nicht in dem Sinne eine Stütze, dass bereits dort eine Völkermission vorausgesagt worden wäre; vielmehr ging es um die Überwindung der Unterdrückung und Zerstreuung Israels durch die Völker, um Israels Ehre und Leben wiederherzustellen. Wenn Thyen anders als Wengst ohne nähere Begründung präsentisch „alle Welt läuft ihm nach“ übersetzt, mag er den Aorist apēlthen {wörtlich: ging weg} als den Beginn einer Handlung verstehen, die immer noch andauert und sich fortsetzen wird.

Auch Ton Veerkamp <883> vergleicht die „Erzählung über den Einzug in Jerusalem“ bei Johannes mit der „Erzählung bei den Synoptikern“ und stellt fest, dass diese sich „wesentlich“ voneinander unterscheiden:

Das Ereignis selbst ist bei allen das gleiche: Jeschua reitet auf einem Esel, die Menge begrüßt ihn, indem sie ihm mit Zweigen des Olivenbaums zuwinkt und den Psalm 118 singt. Johannes schildert den Einzug als einen normalen Vorgang, zumindest erlebten ihn die Schüler so. Erst später erinnerten sie sich daran, dass es sich nicht um einen normalen Vorgang handelte, sondern dass der Jubel dem galt, der Lazarus erweckt hatte.

Diese Darstellung finde ich ein wenig seltsam, da sich die spätere Erinnerung der Schüler in Vers 16 doch auf das Verständnis des Einzugs in Jerusalem im Licht des Sacharjazitats von Vers 15 bezieht und nicht auf die darauf folgenden Verse 17-18, in denen es um Lazarus geht. Das ändert aber nichts an der weiteren Interpretation.

Nach Veerkamp kann nur verstehen, „was hier geschieht“, wenn man den Psalm 118 kennt, der in „den messianischen Gemeinden … eine große Rolle gespielt“ hat:

Alle Evangelisten kennen die öffentliche Liturgie – ein richtiges Volksfest! -, mit der die Paschapilger begrüßt werden. Psalm 118 diente als Begrüßungsgesang für die Pilger, im Wechselsang zwischen den Pilgern und den Bewohnern der Stadt. Er fängt mit einem Wechselsang an (Verse 1-3):

Dankt dem NAMEN:
denn seine Solidarität in Weltzeit!
Sage doch lsrael:
denn seine Solidarität in Weltzeit!
Sage doch das Haus Aarons:
denn seine Solidarität in Weltzeit …

Es folgt ab V.5 ein längeres „Solo“ bis zu den Versen 17-18:

Ich werde nicht sterben, denn ich will leben,
die Taten des NAMENS will ich erzählen.
Gezüchtigt, gezüchtigt hat der NAME mich,
aber dem Tod hat er mich nicht übergeben.

Dann setzt der Wechselsang wieder ein (19-27a):

Öffnet mir die Tore der Bewährung.
Durch sie werde ich kommen, dem NAMEN zu danken.
Dies ist das Tor zum NAMEN,
Bewährte kommen da durch.
Ich danke DIR, wohl hast du mich erniedrigt,
aber DU bist zu meiner Befreiung geworden.
Der Stein, den die Bauleute verwarfen,
der ist zum Haupteckstein geworden.
Vom NAMEN her ist dies geschehen,
ein Wunder ist‘s in unseren Augen.
Dies ist der Tag, den der NAME gemacht hat,
jubeln wollen wir, uns freuen an ihm.
Ach DU, befreie doch (hoschiaˁ-na),
ach DU, errette doch (hazlicha-na).
Gesegnet der, der kommt in seinem NAMEN,
wir segnen euch von SEINEM Haus her.
Gott ist der NAME, er leuchtet uns …

Besonders hebt Veerkamp den Ruf hoschiaˁ-na im 25. Vers dieses Psalms hervor:

In allen großen christlichen Liturgien eröffnen Gesänge mit Worten dieses Psalms die Karwoche. Für alle Evangelisten war der Vers 25 („befreie doch, hoschiaˁ-na) ausschlaggebend. Im Christentum ist die abgeschliffene Form des Ausrufs hoschiaˁna, Hos(i)anna, nicht nur sprachlich zu einer völlig abgegriffenen Floskel geworden, die bei Außenstehenden Ekel erregt.

Das heißt, in den Augen von Veerkamp ist der Hosianna-Ruf nicht einfach nur als Jubelruf zu verstehen, sondern als Ausdruck der Sehnsucht des Volkes Israel nach Befreiung aus seiner verzweifelten Situation der Versklavung unter die herrschende Weltordnung. Diese sehr allgemeine Hoffnung wird nun konkret auf Jesus als den messianischen König Israels bezogen:

Dann fügt Johannes das Wort „König“ nach dem Psalmvers: „Gesegnet der, der kommt mit seinem NAMEN“ ein: „der König Israels“. Die Messianisten machen aus einer jüdischen Liturgie der Pilgerbegrüßung einen Einzug des messianischen Königs. Bei Markus heißt es: „Befreie doch, Gesegneter, der kommt in seinem NAMEN – gesegnet das Königtum Davids – befreie doch, in den Höhen.“ Matthäus wird noch deutlicher: „Befreie doch, Sohn Davids, Gesegneter, der kommt in Seinem NAMEN, befreie doch, in den Höhen.“ Lukas schließlich: „Gesegnet der König, der kommt in Seinem NAMEN.“ Ein Königtum aus dem Haus David wird bei Johannes unterdrückt. Johannes kennt, wie wir sahen, keine davidische Herkunft Jeschuas; für Johannes ist er schlicht Jeschua ben Joseph aus Nazareth, Galiläa. Freilich ist für ihn Jeschua König, aber nicht wie David (18,36f.)!

In welcher Weise sich Jesu Königtum von einem Königtum davidischer Prägung unterscheidet, darauf weist Jesus in Vers 14 durch eine zeichenhafte Handlung hin:

Mitten im Tumult beim Einzug der Pilger in der Woche vor Pascha „findet Jeschua ein Eselchen“. Bei den Synoptikern wird der Esel sozusagen vorab „bestellt“, damit ein königlicher Einzug stattfinden kann. Hier gibt Jeschua eine Andeutung, die offenbar von niemandem begriffen wird. Bejubelt wurde von der Menge der, der Lazarus erweckt hat und deswegen König sein soll. Diese Reaktion ist keine andere als die nach der Ernährung der Fünftausend, 6,15. Tatsächlich bejubelt die Menge den messianischen König, aber keinen zelotischen König, den sie eigentlich will. Deswegen „erfindet“ Jeschua das Eselchen.

An dieser Stelle geht Veerkamp kritisch auf die oben erwähnte Bemerkung von Wengst ein (W367), dass „dieser König kein ‚hoher Herr‘ ist, sondern in Niedrigkeit kommt“:

Die Gefahr solcher Bemerkungen ist, dass der Messias ein netter, bescheidener König ist. Der Fehler liegt bei den meisten Kommentaren, dass sie den Schriftbeweis, den Johannes bringt, nicht ernst nehmen und ihn den heutigen Lesenden nicht erklären. So lernen diese nicht, Johannes „von der Schrift her“ zu lesen.

Nun hatten wir allerdings gesehen, dass sowohl Wengst als auch in noch größerem Umfang Thyen den Einzug Jesu in Jerusalem durchaus vor dem Hintergrund prophetischer Schriftstellen betrachten. Trotzdem war mein Eindruck, dass beide die Aussageabsicht des Johannes nicht konsequent genug von den auf die diesseitige Sammlung und Befreiung Israels bezogenen Verheißungen der Propheten her auslegen. Eine solche Auslegung versucht Veerkamp anzubieten:

Das Zitat stammt aus dem ersten der drei „Lastworte“, die dem Buch Sacharja angefügt sind. Sacharja 9,1-9 beschreibt vermutlich die Eroberung der Ostküste des Mittelmeeres von Tyrus bis Ekron (vom Libanon bis zur ägyptischen Grenze) durch Alexander, den Mazedonier. Das alles geschieht sozusagen „unter der Regie“ des Gottes Israels: „Der NAME hat ein Auge auf die Menschheit und auf alle Stämme Israels“, 9,1. Dann folgt das Fragment, aus dem das Zitat Johannes 12,15 stammt, Sacharja 9,9ff.:

Juble laut, Tochter Zion,
blase die Trompete, Tochter Jerusalems,
Dein König kommt zu dir,
ein Wahrer, ein Befreier ist er,
ein Erniedrigter, reitet auf einem Esel,
auf einem Füllen, dem Kind der Eselin.
Er rottet Streitwagen aus Ephraim aus, Kavallerie <884> aus Jerusalem,
ausgerottet wird der Kriegsbogen:
Frieden wird er den Völkern zusprechen,
seine Regierung dauerhaft, vom Meer zum Meer,
vom großen Strom bis an die Ränder der Erde.

Genau diesen Text hatte auch Thyen zitiert und im Sinn einer Zurückweisung aller „möglichen nationalistischen Untertöne und Hoffnungen“ des Königtums Jesu verstanden. Veerkamp setzt die Akzente anders. In seinen Augen mag Sacharja ursprünglich an einen Friedensschluss erinnert haben, den ein für seine Größe bewunderter König wie Alexander zwischen verfeindeten Mächten in Israel durch seine militärische Übermacht erzwungen hat, aber für seine Charakterisierung der politischen Absichten Jesu konzentriert sich Johannes auf einen Frieden, den ein König erreicht, der „auf einem Eselchen“ reitet und seine Erhöhung ans römische Kreuz erfahren wird:

Im Buch Sacharja bringt der messianische König den Frieden in die Stadt. Wir wissen nicht genau, auf welche Situation dieser Text zielte. Jedenfalls beendet der König den Krieg zwischen Ephraim und Jerusalem, das große Thema des Gespräches zwischen dem Messias und der Samaritanischen am Jakobsbrunnen. Der König von Sacharja 9 mag Alexander gewesen sein. Die Menschen neigen dazu, solche großen Könige wie Kyros, den Perser, oder Alexander, den Mazedonier, für Messias zu halten.

Johannes hat genug von solchen großen Messiassen. Diese Ernüchterung ist ein durchgehender Zug in den messianischen Gruppen. Wenn König, dann einer auf einem Eselchen. Keine großen Könige mehr. Die Bedingung für den Frieden zwischen Ephraim Samaria und Jerusalem/Judäa ist der Weltfriede für die Völker. Genau das ist es, was die Menge will, ohne wirklich zu wissen, dass sie es will. Sie weiß nicht, dass der Weltfriede nichts ist als die andere Seite der Belebung Lazarus‘/Israels. Sie weiß es nicht und die Schüler wissen es auch nicht. Erst später werden sie es wissen, werden sie „die Schriften“ verstehen, auch die Schriftstelle Sacharja 9,9ff. Die „Erfindung“ Jeschuas, eine Erfindung der ganzen messianischen Bewegung – das Eselchen (onarion) – ist die Frucht des Studiums der Schrift in den messianischen Gemeinden.

In seiner Interpretation von Vers 19 macht Veerkamp auf die unterschiedlichen Interessenlagen und Sichtweisen von Pharisäern und Hohepriestern aufmerksam:

Die Peruschim, bewandert in den Schriften, verstehen sehr gut, was sich hier abspielt. „Es hat keinen Zweck“, sagen sie, „die Welt ist ihm nachgegangen.“ Meistens versteht man diesen Satz als eine Ankündigung, dass jetzt noch härtere Mittel einzusetzen sind. Welche anderen Mittel bleiben ihnen? Nein, der Satz ist resignierend. Sie wissen nicht, was zu tun ist. Die Priester aber wissen es!

Bereits in Johannes 12,10 war ja der Beschluss der Priesterschaft, auch Lazarus zu töten, ohne Beteiligung der Pharisäer gefasst worden. Offenbar sieht Johannes bei aller Kritik am rabbinischen Judentum seiner Zeit die Hauptverantwortung für den Tod Jesu und auch für die Entwicklungen, die zur Zerstörung des Tempels führten, doch bei einem Hohepriestertum, das mit Rom kollaborierte – und zwar bis hin zur Anerkennung des Kaisers als einzigem König (19,15).

Johannes 12,20-22: Einige Griechen wollen Jesus sehen, vermittelt durch Philippus und Andreas

12,20 Es waren aber einige Griechen unter denen,
die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest.
12,21 Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war,
und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen.
12,22 Philippus kommt und sagt es Andreas,
und Andreas und Philippus sagen‘s Jesus.

[11. September 2022] Zur Auslegung von 12,20-22 gehe ich zunächst auf Hartwig Thyen ein. Was Vers 20 betrifft erblickt er (T557f.) eine „tiefe Ironie“ in dem Umstand, dass „nach dem Satz: ‚Siehe, alle Welt läuft ihm nach‘ jetzt kaum zufällig … ‚einige Griechen‘ (Hellēnes tines) erscheinen, die sich mit dem Wunsch, Jesus kennenzulernen, an Philippus wenden“. Allerdings „dürfte es sich“ nach Thyen

bei diesen Leuten kaum um ,Griechen‘ im eigentlichen Sinn, oder in jüdischer Perspektive gesagt: um Heiden handeln. Denn sie werden als solche gekennzeichnet, die … zu den Festpilgern gehören, die zur Feier des Passa nach Jerusalem gekommen sind. Da aber Heiden von der Teilnahme gerade am Passafest strikt ausgeschlossen waren, muß es sich bei diesen ,Griechen‘ um griechisch sprechende Juden aus der Diaspora handeln, oder, wenn nicht um von einer jüdischen Mutter als Juden Geborene, zumindest um zu Juden Gewordene, nämlich um Proselyten.

Zwar „mag sich hier in dem Erscheinen dieser ‚Griechen‘ die nachösterliche Sammlung der verstreuten Gotteskinder auch unter den Heiden symbolisch schon ankündigen“, man darf

diese Hellenen jedoch schwerlich wie Lindars als „Repräsentanten der heidenchristlichen Kirche“ oder gar als „Repräsentanten der Heiden“ (Kossen) <885> ansehen. Denn zu derart groben Anachronismen ist Johannes, wie der unmittelbar folgende Abschnitt zeigt, nicht geneigt. Denn Barrett erklärt treffend, daß das Evangelium „erst nach der Kreuzigung sowohl Juden als auch Heiden“ erreichen wird. Doch daß dann für Johannes – im Unterschied zu Paulus, der nach Röm 9-11 an der bleibenden Erwählung Israels festhalte – „Jesus keinen Platz mehr im Judentum“ und dieses „für sich selbst seinen Platz in den Plänen Gottes verworfen“ haben soll, vermögen wir dem Evangelium nicht zu entnehmen.

Dass in Vers 21 „ausgerechnet Philippus hier von jenen ,Griechen‘ angesprochen wird“, ist nach Thyen wohl darauf zurückzuführen (T558f.),

daß er, der Meinung unseres Erzählers nach und seiner Herkunft aus Betsaida entsprechend, auch des Griechischen mächtig war. Philippus berät die Bitte der Griechen nun mit dem bereits vor ihm berufenen Andreas (1,35ff), der ebenfalls Träger eines griechischen Namens und sein gaulanitischer Landsmann ist (nach 1,44 stammt das Brüderpaar Andreas und Simon Petrus auch aus Bethsaida). Philippus und Andreas kommen überein, Jesus die Bitte der Griechen vorzutragen.

Klaus Wengst betont zum mit Vers 20 beginnenden Abschnitt (W369), dass ebenso unvermittelt einige „zum Pessachfest gekommene Griechen“ erwähnt werden, die „mit Jesus bekannt gemacht werden wollen“, wie diese auch „sofort wieder aus der Szene“ verschwinden:

Statt ihrer treten in V. 29 und 34 „die Leute“ auf, die durch V. 34 eindeutig als jüdisch gekennzeichnet sind. In der Rede Jesu sind allerdings die Griechen implizit mit im Blick.

Gegen Thyen sind Wengst zufolge (W370) diese Griechen, die nach Vers 20 auf dem Fest anbeten und nach Vers 21 Jesus sehen wollen, aber wohl nicht „Proselyten“,

die durch ihren Übertritt ganz zum Judentum gehörten mit allen Rechten und Pflichten, sondern „Gottesfürchtige“ – Sympathisanten aus der hellenistischen Welt, die vom Judentum aufgrund seines Monotheismus und seiner Ethik angezogen waren. Sie traten nicht zum Judentum über, vor allem wohl aus sozialen und ökonomischen Gründen, um nicht von ihrer nichtjüdischen Umwelt isoliert zu werden, nahmen aber am synagogalen Leben teil und unterstützten die jüdischen Gemeinden. Gelegentlich beteiligten sich auch einige an Wallfahrtsfesten. So erwähnt Josephus im Blick auf das Pessachfest vor der Zerstörung Jerusalems „Nichtjuden, die zum Gottesdienst da waren“ {Bell. 6, 9, 3}.

Diese Josephus-Stelle bestätigt nach Wengst (W371) gegen Thyen, dass sich auch gottesfürchtige Menschen aus den Völkern „im äußeren Vorhof aufhalten, bestimmte Opfer darbringen und Weihgeschenke stiften“ konnten.

Im Zusammenhang mit dem Wunsch dieser „Griechen“, Jesus zu sehen, hält Wengst es für „eigenartig“ und gewiss nicht für einen „Zufall, dass sich an dieser Stelle gehäuft Übertreibungen und auch Verzeichnungen in der Interpretation finden.“ Wenn etwa Hirsch <886> schreibt: „Allein das vierte Evangelium wagt das Ungeschichtliche, Jesus selbst mit gottesfürchtigen griechischen Heiden in Berührung zu bringen“, so übersieht er,

dass es hier zu gar keiner „Berührung“ kommt. Zu einer Berührung mit Nichtjuden kommt es dagegen in den anderen Evangelien in Gestalt des „Hauptmanns von Kafarnaum“ (Mt 8,5-13; Lk 7,1-10), der in Lk 7,4f. deutlich als „Gottesfürchtiger“ gezeichnet wird, in Gestalt der kanaanäischen Frau (Mt 15,21-23; Mk 7,24-30) und im Wirken Jesu in der Dekapolis (Mt 8,28-34; Mk 5,1- 20; Lk 8,26-39). Nach Johannes treten „einige Griechen“ zwar an Philippus heran, aber sie kommen nicht zu Jesus und „sehen“ ihn nicht.

Andere Exegeten setzen ihre Fehlinterpretation von Vers 19 fort, in der Welt, die Jesus nachläuft, nicht die jüdische Volksmenge des Einzugs in Jerusalem zu sehen, sondern die Völkerwelt, die durch die wenigen Griechen repräsentiert sein soll. Dass damit die Sendung Jesu nach dem Johannesevangelium von den Juden zu den Heiden übergeht, formuliert Käsemann <887> in größtmöglicher Zuspitzung:

„Hier ist in einem Bilde von äußerster Symbolkraft dargestellt, daß das (!) Heidentum gleichsam in einem Vortrupp von sich aus und ohne besonderen Anlaß zu Jesus hindrängt, während zur gleichen Zelt die (!) Juden den Mord des Gottgesandten planen“.

Solche Exegeten lassen Wengst zufolge nicht nur die geringe Zahl der Griechen und ihr sofortiges Verschwinden aus dem Evangelium außer Acht, sondern auch, dass mit „den jüdischen Gegnern Jesu… im Johannesevangelium trotz aller Pauschalisierung … die führenden Kräfte“ und nicht alle Juden insgesamt gemeint sind.

Nachdem diese „Griechen … an Philippus … als Vermittler“ herangetreten sind, wendet sich dieser in Vers 22 (W371f.)

nicht direkt an Jesus, sondern an seinen Mitschüler Andreas. … Beide, Andreas und Philippus, haben sich … bei ihrem ersten Auftreten im Evangelium als Vermittler an Jesus betätigt, die ihm je einen weiteren Schüler zuführten. Beide sind – einschließlich der in den anderen Evangelien genannten – die einzigen Schüler Jesu, die einen rein griechischen Namen tragen. Diese beiden gehen nun gemeinsam zu Jesus und tragen ihm die Bitte der Griechen vor. Im Blick auf die geschilderte Situation wären also für eine erfolgreiche Vermittlung die besten Voraussetzungen gegeben – und doch kommt es zu keiner direkten Begegnung zwischen den Griechen und Jesus.

Dass „Johannes eine solche Begegnung nicht erzählt“, liegt nach Wengst (W372) nicht nur am Wissen des Evangelisten um das lediglich innerjüdische Wirken Jesu. Den darüber hinaus vorliegenden Grund formuliert Wengst allerdings in seltsam gewundener Weise:

Er wertet die nicht erfolgte Begegnung in der gleich folgenden Rede theologisch aus und zeigt, wie und wo es nach Ostern zur Begegnung mit Jesus kommt. Aber das gilt dann nicht nur für Griechen.

Wie kann man eine „nicht erfolgte Begegnung“ auswerten? Meint Wengst, dass Jesus mit seiner Rede über das Weizenkorn, das sterben muss, darauf aufmerksam macht, wie schwierig es ist, ihm nachzufolgen? Interpretiert er die Erwähnung der Griechen zwar nicht wie diejenigen, die er soeben kritisiert hat, als Abkehr Jesu von den Juden zu den Heiden, wohl aber im Sinne eines Nadelöhrs, durch das nach Ostern dann doch die Menschen der Völker mit den Juden zu Jesus gelangen können?

Sicherlich zu Recht schätzt Wengst das Johannesevangelium als „in jüdischem Kontext geschrieben“ ein und lehnt Schlussfolgerungen aus Johannes 12,20-21 ab, die auf vorwiegend heidnische Adressaten hindeuten:

Johannes setzt unter seiner Leser- und Hörerschaft gewiss auch Nichtjuden voraus, wie einige erklärende Bemerkungen über Jüdisches deutlich machen. Darauf weisen ebenfalls die hier erwähnten „Griechen“ hin, die zu den schon in 10,16 und 11,52 auch in den Blick Genommenen gehören. Aber dass es zu keiner Begegnung kommt, dass diese Griechen nur eben erscheinen, um sofort wieder zu verschwinden, macht es nicht gerade wahrscheinlich, den nichtjüdischen Anteil an der ursprünglichen Leser- und Hörerschaft des Evangeliums hoch zu veranschlagen. Daher ist es ebenfalls unwahrscheinlich, ausgerechnet an dieser – für historische Auswertung vagen – Stelle den entscheidenden Bezugspunkt auf die textexterne Welt der Leser- und Hörerschaft zu sehen.

Damit wendet sich Wengst vor allem gegen Jörg Frey, <888> der behauptet,

dass die Griechen von 12,20f. die Vorhut der zu Jesus kommenden „Heidenwelt“ bildeten; in ihnen könnten sich die „heidenchristlichen“ Adressaten des Evangeliums in Kleinasien wiederfinden. Er entfaltet seine These, indem er „nur versteckt subtile Hinweise auf die durch Jesu Tod begründete spätere Heidenmission und die Heilsteilhabe der Heidenchristen“ aufspürt, die der Evangelist in sein Werk „eingefügt“ habe [263].

Zur Widerlegung von Frey weist Wengst „nur auf zwei offenkundige Verzeichnungen des johanneischen Textes bei der Darstellung der These“ hin:

1. Im Blick auf 12,20f. spricht Frey von zu Jesus „strömenden“ Griechen [257] und sagt noch einmal, „der Evangelist“ lasse „die Griechen zum irdischen Jesus hinströmen“ [262]. Der Text spricht von „einigen Griechen“. 2. „Die Rettung“, das sei „der Retter“, „ist“ nach 4,22 von den Juden „gekommen“ und nach 7,35 zur Diaspora der Griechen „gegangen“ [263]. Im Text von 4,22 steht das Präsens (estín).

Aber selbst wenn Freys „Verortung“ des Johannesevangeliums in der Heidenwelt als eine „denkbare Möglichkeit … nicht schlechthin ausgeschlossen werden kann“, stellt Wengst die berechtigte Frage, ob man diese einfach kritiklos nachzeichnen und übernehmen darf, wie es Frey mit folgenden Worten tut [263]:

„Ekklesiologische Begriffe, die einst das alttestamentliche Gottesvolk auszeichneten, werden nun für die ,wahren‘, eschatologischen, an Christus glaubenden ,Israeliten‘ (1,47) und über das Gottesvolk hinaus für die universal ‚gesammelten‘ Gotteskinder, den neuen laós {Volk}, die eine Herde unter dem einen Hirten verwendet“.

Nach Ton Veerkamp <889> beginnt mit Vers 20 ein Abschnitt, der bis Vers 36 reicht und den er mit „Er verbarg sich vor ihnen“ überschreibt:

Dieses Stück hat drei Teile. 1) Das Weizenkorn; 2) Meine Seele ist erschüttert; 3) Wer ist dieser bar enosch {Menschensohn}? Die Teile 1) und 2) sind durch die Worte psychē, „Seele“, und doxa, „Ehre“, die Teile 2) und 3) durch das Wort hypsothēnai, „erhöht werden“, verklammert. Es geht einmal mehr um die Frage, wer der Messias ist und was mit ihm geschehen wird.

Was die in Vers 20 erwähnten „Griechen“ betrifft, erwähnt Veerkamp die darauf bezogenen Spekulationen der Exegeten und tendiert selbst zur von Wengst vertretenen Annahme:

Über die Griechen von 12,20 haben die Exegeten viel spekuliert. Manche sahen in ihnen Diasporajuden, andere Proselyten, manche Gojim („Heiden“), wieder andere religiös Gesinnte, die mit dem Judentum sympathisierten (sebomenoi, [Gottes-]Verehrer, Apostelgeschichte 17,4.17 u.ö.). Für letzteres spricht einiges. Es handelt sich um Griechen, die zum Fest der Judäer hinaufgegangen sind. Sie wollen „sich“ nicht „heiligen“, wie die Judäer, sondern „sich“ vor Gott „verneigen“.

Was Johannes in den Versen 21 und 22 über den Zugang dieser Griechen zu Jesus darlegt, interpretiert Veerkamp als Bestätigung seiner Überzeugung, dass der vierte Evangelist sich mehr als die drei anderen auf Israel als seine Zielgruppe konzentriert:

Sie wollen zum Messias, aber sie haben keinen direkten Zutritt zum Messias. Die Verbindung zum Messias läuft nur über die Vermittlung der Schüler. Der Ansprechpartner ist Philippus. Für die Griechen ist er eine Respektsperson, sie nennen ihn „Herr“. Allein sieht sich Philippus nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Er zieht Andreas, der wie er selber und Simon Petrus aus dem gleichen Ort Bethsaida in Galiläa stammt, zu Rate. Beide gehen dann zu Jeschua. Diese umständliche Prozedur zeigt, wie schwer es sich die messianische Gruppe um Johannes gemacht hat, Menschen, die nicht aus Israel sind, in die messianische Bewegung aufzunehmen. Das bestätigt unsere These, Johannes kenne keine „Heidenmission“ als genuinen messianischen Auftrag. Andererseits wird der Zugang nicht völlig ausgeschlossen. Es wird aber eine hohe Hürde errichtet.

Auf diese Hürde kommen wir erst in der Auslegung der folgenden Verse zu sprechen, in denen Jesus

seine heutigen und künftigen Schüler umgehend darüber auf[klärt], welche Bedingungen die Schüler überhaupt zu erfüllen haben. Der direkte Kontakt zu Jeschua kam offenbar nicht zustande, zumindest wenn wir den Satz: „Jeschua antwortet“ auf Philippus und Andreas und nicht auf die Griechen beziehen. Die Griechen werden nicht abgewiesen, aber sie werden auch nicht eingeladen. Johannes steht dem Projekt des Paulus, einer messianischen Gemeinde aus Judäern und Gojim, skeptisch gegenüber.

Mit dieser Einschätzung geht Veerkamp davon aus, dass die „messianische Bewegung, die Jeschua als Messias Israels sieht, … in der Zeit, in der Johannes schrieb, extrem zersplittert“ war und dass ein „einheitlicher, über die ganze (kath‘ holon) römische Welt verbreiteter Messianismus … damals nicht in Sicht“ war. Das änderte sich jedoch in den darauf folgenden Jahrzehnten:

Ab Ende des 2. Jh. konnte man von so etwas wie einer katholischen Kirche reden. Das Römische Reich stabilisierte sich im 2. Jh., und aus dem revolutionären Messianismus war eine christliche Religion geworden.

Johannes hat diese Entwicklung natürlich nicht vorausgesehen, aber er befürchtete, dass ein nennenswerter Zutritt von „Griechen“, überhaupt von Gojim, aus der messianischen Gemeinde des neuen Israels etwas anderes als den Ort machen würde, in den die auseinandergejagten Kinder Israels zusammengeführt werden sollten. Eine Gemeinde aus Judäern und Gojim ist etwas anderes als die große einheitliche Synagoge Israels von 11,52, das politische Hauptziel des Johannes. Deswegen erschwert Johannes (Jeschua) die Zutrittsbedingungen. Mit seinen Schülern wird er, wie wir in 13-16 hören werden, ganz anders reden.

Wenn man sich vor Augen hält, in welch massiver Weise die heidenchristlich dominierte Kirche das Johannesevangelium zu antijüdischen Zwecken in ihren Dienst nehmen würde, ist eine solche johanneische Zurückhaltung nur allzu gut zu begreifen, wenngleich sie leider ihr Ziel nicht zu erreichen vermochte.

Johannes 12,23-26: Die Stunde des sterbenden Weizenkorns und seine Nachfolger

12,23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach:
Die Stunde ist gekommen,
dass der Menschensohn verherrlicht werde.
12,24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
12,25 Wer sein Leben lieb hat, der verliert es;
und wer sein Leben auf dieser Welt hasst,
der wird‘s bewahren zum ewigen Leben.
12,26 Wer mir dienen will, der folge mir nach;
und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.
Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

[12. September 2022] Die in Vers 23 beginnende Rede Jesu begreift Klaus Wengst (W373) als Antwort auf

Andreas und Philippus, ohne auf die von ihnen vermittelte Bitte der Griechen direkt einzugehen. Diese treten nicht mehr auf, werden auch in der Rede Jesu nicht erwähnt. Stattdessen sagt er, die Stunde sei gekommen, und entfaltet das zunächst unter dem Aspekt der Nachfolge. Das ist eine indirekte Antwort auf die an ihn herangetragene Bitte der Griechen, insofern den das Evangelium Lesenden und Hörenden zu verstehen gegeben wird, dass sie in der durch Jesu Tod eröffneten Möglichkeit der Nachfolge Jesus „sehen“, mit ihm bekannt werden und bleiben können. Diese Antwort kann erst nach Ostern gegeben werden. Sie wird auf dem vermittelten Weg, den die Bitte genommen hat, in umgekehrter Richtung erfolgen. Deshalb geraten in der erzählten Situation die Griechen sofort wieder aus dem Blick.

Tatsächlich ist es auffällig, dass nach der umständlichen Art und Weise, in der das Anliegen der Griechen an Jesus übermittelt wird, keine direkte Begegnung mit Jesus ermöglicht wird und die Griechen sang- und klanglos aus der Erzählung verschwinden. Sollte hier wirklich, wie Wengst annimmt, sozusagen eine Leerstelle angedeutet sein, die „erst nach Ostern“ gefüllt werden kann? Dann könnte die umständliche Vermittlung einer Begegnung der Griechen mit Jesus ein Fingerzeig dafür sein, welche Voraussetzungen ernstzunehmen sind, damit wir Menschen aus den Völkern die Botschaft des Evangeliums begreifen: Wir brauchen die Vermittlung durch jüdische Menschen, die auf den Messias Israels vertrauen und ihn von den jüdischen heiligen Schriften her als die Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels bezeugen. Die Ehre dieses NAMENS besteht zu allererst in der Befreiung Israels inmitten der Völker – und in einer so befreiten Welt können auch wir befreit im Einklang mit Israel leben.

Mit Josef Blank <890> mag Wengst die „Aussage, ‚die Stunde‘ sei gekommen“,

„als Überschrift oder als Angabe des Hauptmotivs für den ganzen Abschnitt 12,20-36 ansehen“. Bisher wurde dreimal konstatiert, dass die Stunde Jesu noch nicht gekommen sei (2,4; 7,30; 8,20). In 7,30 und 8,20 war damit die Vergeblichkeit von Versuchen begründet worden, ihn festzunehmen. Ist nun die Stunde gekommen, heißt das, dass der nächste Versuch gelingt. Es wird noch dauern, bis Johannes davon in Kap. 18 erzählt. Doch schon das Bildwort im nächsten Vers macht eindeutig klar, dass die gekommene Stunde die Stunde der Passion und des Todes Jesu ist. Dennoch wird ihr Inhalt damit umschrieben, „dass der Menschensohn verherrlicht werde“. In dem Passiv ist Gott logisches Subjekt: Er hat seine Herrlichkeit, seine Ehre im Kreuz Jesu gesucht (5,44). Er ist es, der sich mit dessen Tod identifiziert.

In diesem Zusammenhang weist Wengst darauf hin, dass im „Johannesevangelium … die Bezeichnung Jesu als des Menschensohnes auffällig … mit der Rede vom Erhöht- und Verherrlichtwerden“ verbunden ist; das wurde bereits in 1,51 und 6,62 angedeutet und wird in 12,32.34 noch einmal aufgegriffen. Nach Wengst geht es dabei immer darum, „die Präsenz Gottes gerade im Kreuzesgeschehen auszusagen. Da Gott in diesem Tod präsent ist, ist es kein vergeblicher und fruchtloser Tod, sondern ein Tod, der ‚viel Frucht bringt‘“, was in Vers 24 in einem Bildwort ausgeführt wird:

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es für sich; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ Johannes betont hier den Gegensatz des Bleibens für sich, der Vereinzelung auf der einen Seite und der „vielen Frucht“ auf der anderen Seite. Das macht das Weizenkorn anschaulich, das „sterben“ muss, um „viel Frucht“ zu bringen.

Indem Jesus (W373f.) „nicht für sich“ bleibt, erwächst aus seinem Tod (W374)

als Frucht die Gemeinde, die in diesem Tod die sich selbst hingebende Liebe Gottes erkennt (3,16), sich darauf einlässt und verlässt und von ihr lebt. Dieses Bildwort enthält die darüber hinausgehende allgemeine Aussage, dass Sterben die Bedingung für Leben sein kann.

Diese allgemeine Aussage wird nach Wengst in Vers 25 „ohne Bild aufgenommen und negativ und positiv ausgeführt“, indem „ein fast unmerklicher Übergang von Jesus zu seinen Schülern“ erfolgt: „Die ihr Leben lieben, verlieren es; aber die ihr Leben in dieser Welt hassen, werden es für das ewige Leben bewahren.“

Zu diesem Wort verweist Wengst auf „enge Parallelen in den anderen Evangelien“, von denen Johannes allerdings „in der Formulierung, nicht in der Sache“, abweicht (Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 9,24 sowie Mt 10,39; Lk 17,33), und auf eine ganz paradoxe Aussage in der rabbinischen Tradition, <891> der zufolge

unter den zehn Fragen, die „Alexander der Makedonier“ an „die Alten des Südens“ richtete, die folgenden [waren]: „,Was soll ein Mensch tun, dass er lebe?‘ Sie sagten ihm: ,Er bewirke sein Sterben.‘ ,Was soll ein Mensch tun, dass er sterbe?‘ ‚Er bewirke sein Leben.‘“ Die Antworten können präziser und markanter auch so übersetzt werden: „Er töte sich selbst.“ „Er belebe sich selbst.“ Im hebräischen Text stehen außer dem Objekt nur Formen der Verben „leben“ und „sterben“.

Den johanneischen Vers 12,25 legt Wengst folgendermaßen aus:

Die ihr Leben lieben, die nur auf die eigene Selbstverwirklichung aus sind, werden es gerade damit verfehlen. Wenn er auf der anderen Seite vom Hassen des Lebens in dieser Welt spricht, meint er damit so wenig einen prinzipiellen Masochismus, wie der rabbinische Text an Selbstmord denkt, der noch zugespitzter von Selbsttötung redet. Das hier gemeinte Hassen verneint diejenige „Liebe“, die nur das eigene Leben, die Durchsetzung der eigenen Interessen im Blick hat. Demgegenüber ist hier die Erfahrung von Leben im Blick, die sich gerade in der Hingabe an andere einstellt. Dafür steht Jesus selbst ein, der nach 10,17f. sein Leben einsetzt, auf dass er es wieder erhalte.

Im ersten Teil von Vers 26 wird dann Wengst zufolge nicht mehr allgemein „vom Gewinnen und Verlieren des Lebens“ gesprochen, sondern konkret vom Dienst für Jesus:

„Wer mir dienen will, soll mir nachfolgen.“ Das „Dienen“, von dem hier die Rede ist, hat seinen ursprünglichen Ort im Verhältnis von Lehrer und Schüler. Der Schüler geht nicht nur zum Unterricht zu seinem Lehrer, sondern lebt mit ihm zusammen und dient ihm. … Da Jesus aber keinen festen Wohnsitz hatte, sondern „umherzog“, wie das Johannesevangelium mehrfach vermerkt, konnten Schüler nur Lebensgemeinschaft mit ihm haben und bei ihm in die Schule gehen, indem sie ihm buchstäblich nachfolgten. Dieses Nachfolgen wurde nachösterlich so aufgenommen, dass es – in Entsprechung zum Verhalten Jesu – die Preisgabe des Lebens für andere bezeichnete.

Den zweiten und dritten Teil von Vers 26 sieht Wengst als eine „Verheißung“ für diejenigen, die Jesus nachfolgen (W374f.):

„Wo ich bin, da wird auch sein, wer mir dient. Diejenigen, die mir dienen, wird mein Vater ehren.“ Die Nachfolge ist der Ort, wo Jesus nach Ostern zu „sehen“ ist, wo Menschen mit ihm bekannt werden können. Hier liegt die Antwort auf die Bitte der Griechen, eine Antwort, die alle das Evangelium Lesenden und Hörenden beherzigen sollen. Nicht von ungefähr wird ihnen Ehre durch Gott verheißen. Ist doch der Weg der Nachfolge nicht unbedingt einer, der imponiert und sich selbst Ehre zu schaffen vermag – wie ja auch der irdische Weg Jesu nicht im Triumph endete, sondern in der schmählichen Erniedrigung des Kreuzestodes. Wie aber Jesus nicht seine eigene Ehre sucht, sondern sie bei Gott aufgehoben weiß, der seinerseits seine Ehre im Kreuz Jesu gesucht hat, verheißt er hier den ihm Nachfolgenden Ehre von Gott.

Indem Wengst hier Jesu Verheißung der „Ehre von Gott“ mit der Erfüllung der Bitte der Griechen, ihn zu sehen, verbindet, lässt er allerdings außer Acht, worauf die Ehre des Gottes Israels und die Ehrung durch ihn letzten Endes hinausläuft: Sie besteht ja nicht im Kreuzestod Jesu als solchem und auch nicht allgemein in der Auferstehung der Toten, sondern in der durch Jesu Tod am römischen Kreuz erfolgenden Überwindung des Fürsten dieser Welt und dem dadurch ermöglichten Leben der kommenden Weltzeit für Israel inmitten der Völker.

Hartwig Thyen (T559) betrachtet die Antwort Jesu an Philippus und Andreas in Vers 23 als ein

Rätselwort: „Die Stunde ist gekommen, daß der Sohn des Menschen verherrlicht wird!“, als ob zwischen der Ankunft jener ,Griechen‘ und dem Gekommensein der Stunde der Verherrlichung des Sohnes des Menschen eine geheime Beziehung bestünde. Diese Koinzidenz kommt u. a. in dem Spiel mit dem doppeldeutigen Ausdruck doxasthēnai zur Sprache, sofern hier der Augenblick, da alle Welt einschließlich der Vertreter der fernen Diaspora ihm „nachläuft“, um ihm die ihm gebührende „Ehre“ (doxa) zu erweisen, und die „Stunde“, da der Vater den Sohn des Menschen mit seiner Herrlichkeit (kavod) bekleiden wird, zusammen fallen …

So gesehen kann die Stunde Jesu in dem Augenblick kommen, in dem nicht nur nach Johannes 4 die Samaritaner Jesus als den Befreier der Welt anerkannt haben, sondern sowohl Juden von Jerusalem/Judäa ihm nachlaufen als auch Juden aus der fernen Diaspora (oder gottesfürchtige Menschen aus den Völkern) Jesus ihn sehen wollen. Wie Wengst schließt damit auch Thyen aus, dass mit der Ankunft der Griechen das von Jesus vermittelte Heil von den Juden auf die Völker übergeht. Dennoch erinnert Thyen zufolge

die Wiederaufnahme des Prädikats ho hyios tou anthrōpou {der Sohn des Menschen} aus 3,14ff daran, daß diese „Erhöhung“ und „Verherrlichung“ des Sohnes des Menschen geschehen „muß“, daß die Welt durch ihn gerettet werde (hina sōthē ho kosmos di‘ autou: 3,17). Wir haben oben das mit der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus einsetzende „zweite Buch unseres Evangeliums“ das „Buch der Doxa“ genannt, denn während im ersten Buch, dem vom Zeugnis des Johannes gerahmten „Buch der Martyria“, stets betont war, daß Jesu „Stunde“ oder kairos (7,6ff) noch nicht gekommen sei (2,4; 7,30; 8,20), heißt es jetzt erstmals im bezeichnenden Modus des griechischen Perfekts (elēlythen), daß diese Stunde nun angebrochen und da ist (vgl. 13,1; 17,1 und Mk 14,41: ēlthen hē hōra {die Stunde ist gekommen}).

In der mit Vers 23 beginnenden Rede erläutert Jesus „im Spiel mit synoptischen Prätexten …, daß der irdische Tod des Menschensohns Teil und Vorbedingung seiner himmlischen Verherrlichung ist.“ Barrett <892> zufolge erinnert das „Wort vom Weizenkorn, das sterben muß, ehe es Frucht tragen kann“,

„an die synoptischen Gleichnisse über Saat und säen (Mk 4,3-9.26-29.30-32; Mt 13,3-9.42-30.31f; Lk 8,4-8; 13,18f). Die folgenden Logien (V 25f) über den Verlust und die Errettung des Lebens werden mit nur geringen Veränderungen aus Mk (8,34f; Mt 10,39; Lk 9,23f; 17,33) entnommen. V. 27-30 entstammen den synoptischen Erzählungen über den Kampf Jesu in Gethsemane (Mk 14,32-42; Mt 26,36-46; Lk 22,40-46), und der Schlußabschnitt kehrt zurück zu den Bildern von Licht und Finsternis“.

Erst Johannes macht „das Wort vom Weizenkorn dadurch, daß es in die Erde fallen und sterben muß, um reiche Frucht zu bringen, … zur Metapher für seinen eigenen Tod und sein Begräbnis“. Und diese reiche Frucht besteht in der Sammlung der „Gotteskinder“, die an Jesus glauben (T559f.):

So wie die Ankunft der Samaritaner zeigt, daß das Feld „weiß ist zur Ernte“ (Joh 4,31ff), so zeigt das Kommen der Griechen an, daß die Stunde geschlagen hat, da eine Herde unter dem einen guten Hirten sein wird.

Auch in Vers 25 sieht Thyen (T560) wie Barrett [418], ein bewusstes johanneisches Spiel „mit dem Markustext“ 8,35, statt die Unterschiede zu den synoptischen Varianten „Mk 8,35; Lk 9,24; Mt 10,39; 16,25 und Lk 17,33“ auf unterschiedliche mündliche Überlieferungen zurückzuführen, da der Text

mit seinem Gegenüber von ,Liebe‘ und ,Haß‘, mit seiner Rede vom kosmos houtos {diese Welt} sowie von der zōē aiōnios {ewiges Leben} allzu deutlich das Gepräge der Handschrift unseres Evangelisten zeigt und ihm zudem wie in Mk 8,35 Jesu Ankündigung seines Sterbenmüssens unmittelbar vorausgeht und ihm hier wie da der Ruf zur Nachfolge folgt…

Was bedeutet nun in diesem Vers nach Thyen das Lieben oder Hassen des eigenen Lebens?

„Sein Leben zu lieben“ heißt, das eigene Leben und Überleben als der Güter Höchstes zu betrachten, es heißt, allein darauf bedacht zu sein, die eigenen Interessen durchzusetzen, und das Ansehen unter den Menschen über dasjenige vor Gott zu stellen und damit das Grundgebot Israels von Dtn 6,4f mit Füßen zu treten.

Die „Rede vom misein des eigenen Lebens ‚in dieser Welt‘“ klagt demgegenüber „die durch das Grundgebot geforderte Rangordnung“ ein:

Anstatt mit dem so emotional gefärbten ,Hassen‘ wird man misein darum im Sinne seines biblischen Gebrauchs als Wiedergabe des hebräischen ßanaˀ (vgl. Dtn 21,15; Gen 29,31ff) besser durch ,hintansetzen‘ oder dem höheren Gut gegenüber ,geringachten‘ übersetzen. Sachlich am nächsten steht V. 25f wohl Lk 14,26, wo ebenfalls von der Notwendigkeit die Rede ist, die Sorge um das eigene Leben hintan zu setzen: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern und überhaupt sein eigenes Leben geringachtet (misei … kai tēn psychēn heautou), so kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein“.

Auf diese Weise wird in den Versen 25 und 26 „zusammen mit den angeredeten Jüngern und den zuhörenden Pilgerscharen (V. 29) nun auch der implizite Leser“ in die „Notwendigkeit des ,Sterbens‘ miteinbezogen“, das von Jesus ausgesagt wurde (T560f.):

Nach der Beschreibung Marthas als derjenigen, die beim bethanischen Mahl den Gästen und Jesus ,diente‘ (diēkonei: 12,2), begegnet das Lexem diakonein {dienen} im gesamten übrigen Evangelium nur noch zweimal, nämlich in unserem V. 26. Und die Bezeichnung dessen, der Jesus dient und ihm nachfolgt als sein diakonos {Diener} findet sich nach der Benennung der Saaldiener als diakonoi, die im Unterschied zu ihrem ahnungslosen Speisemeister um das Woher des köstlichen Weines wußten und nach dem Gebot der Mutter Jesu „alles taten, was er ihnen sagte“ (2,5 u. 9) ebenfalls nur hier … Wo immer Jesus ist, nämlich in Leben oder Tod, in Niedrigkeit und Angst oder in Herrlichkeit, da wird auch sein Diener sein. Jenseits aller Ehrungen, auf die die Welt aus ist, und die sie so freigibig verteilt, soll demjenigen, der Jesus als sein Nachfolger ‚dient‘, die unvergängliche Ehrung durch den Vater zuteil werden (timēsei auton ho patēr {den wird der Vater ehren}: V. 26b).

Auch Ton Veerkamp <893> sieht die Worte Jesu ab Vers 23 vor dem Hintergrund der synoptischen Parallelen:

Die Instruktion über die Nachfolge ist zwar nicht aus der synoptischen Tradition abgeschrieben, aber sie zeigt eine Auffassung über die Bedingungen der Schülerschaft, die Gemeingut in allen messianischen Gruppen waren. Etwa die Auffassung über den Samen, der reiche Frucht trägt.

Entscheidend für die Auslegung der Verse 24 und 25 ist nach Veerkamp die Bedeutung, die man dem Ausdruck en tō kosmō toutō, „in dieser Weltordnung“, zumisst. Denn damit ist ihm zufolge ja der jetzt noch andauernde Äon, die jetzt noch herrschende Weltzeit der Versklavung unter die römische Weltordnung, gemeint, die durch das Leben der kommenden Weltzeit abgelöst werden soll:

Der Spruch vom Weizenkorn, das in die Erde fällt, stirbt und nur so Frucht trägt, ist das Bild für den, der „seine Seele in dieser Weltordnung hasst“. Das „Sterben“ des Weizenkorns ist in diesem Zusammenhang kein natürlicher Vorgang, sondern Nachfolge des Messias, der ermordet werden wird. Das zeigt das Wort über „Seele hassen, Seele lieben“.

Oft wird das Wort psychē mit „Leben“ übersetzt, aber „Seele“ hat eine andere Bedeutungsfärbung. Die Seele ist die Lebensmitte. Die Solidarität mit dem Gott Israels, „mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Leidenschaft“, Deuteronomium 6,5, nimmt den ganzen Menschen ungeteilt in Anspruch.

„Seele in dieser Weltordnung“ beschreibt die Existenz eines Menschen, der sich der Weltordnung anpasst. Genau diese Existenzform (Seele) soll man hassen. Hier wird kein Märtyrergehabe seliggesprochen. Von keinem Menschen wird verlangt, dass er sein Leben hassen soll, keinen Menschen darf man verurteilen, der sein Leben liebt. Die Worte „in dieser Weltordnung“ sind ausschlaggebend. Was nach der Maßgabe dieser Weltordnung Herzens- und Seelenangelegenheit für die Menschen ist, das soll denen, die dem Messias nachfolgen wollen, verhasst sein, und zwar deswegen, weil sie sonst „ihre Seele“ zugrunde richten, also das, was ihnen zutiefst „am Herzen“ liegt.

Im Folgenden vergleicht Veerkamp die johanneischen Aussagen mit entsprechenden Parallelen bei Markus und Paulus:

Die Negation geht bei Johannes der Position voran. Die Position ist die der Nachfolge. „Wer in den Dienst des Messias treten will (diakonē, nicht douloi!), der folge mir nach.“ Markus (8,35) setzt die Position voran:

Wenn jemand seine Seele befreien will, soll er sie zugrunde richten;
wenn jemand seine Seele zugrunde richtet,
um meinetwillen und des Evangeliums willen, wird sie befreien.

In allen messianischen Gemeinden ist der Messias und sein „Evangelium des Jeschua Messias“ die Herzens- oder Seelensache, und alles andere ist im Vergleich damit nichtig. Einen ähnlichen Gedanken finden wir bei Paulus: „Was mir Gewinn war, das erachte ich um des Messias willen als Verlust“ (Philipper 3,7).

Darüber hinaus erkennt Veerkamp auch Übereinstimmungen dessen, was Jesus im Johannesevangelium fordert, mit der Lebenshaltung überzeugter Revolutionäre, die in der Neuzeit für die Überwindung menschenunwürdiger Verhältnisse eintraten:

Diese Haltung ist für alle, die sich in der jeweils herrschenden Weltordnung eingerichtet haben, unverständlich. Denen aber, die die geltende Ordnung durch eine radikale Alternative ersetzen möchten, ist sie vertraut. Alle wirklich überzeugten Revolutionäre des 20. Jahrhunderts haben zumindest zeitweise so gelebt.

Die Aussagen von Vers 26 bezieht Veerkamp auf eine konsequent messianische Existenz, die einerseits den Hass der Weltordnung zu spüren bekommen kann, andererseits aber im Leben der kommenden Weltzeit die Würdigung durch den Gott Israels erfährt. Wenn Menschen aus den Völkern zur Sammlung ganz Israels in der messianischen Gemeinde hinzustoßen wollen, müssen sie beides voll und ganz in Betracht ziehen:

Wer sich auf eine wirklich messianische Existenz einlässt, muss mit dem Messias den ganzen Weg gehen: „Wo ich bin, dort auch wird mein Dienstmann sein.“ Der diakonos wird zum Hof des messianischen Königs gehören. Diese Zukunft wird eine würdevolle sein: „Wenn jemand mir dienen will, wird der VATER ihn würdigen.“ Dieses Wort müssen die Griechen akzeptieren, wenn sie den Messias sehen wollen. Wie schwer das sein wird, sagt der Messias selber.

Johannes 12,27-29: Die Erschütterung der Seele Jesu und die Ehrung des NAMENS

12,27 Jetzt ist meine Seele voll Unruhe.
Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde?
Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.
12,28 Vater, verherrliche deinen Namen!
Da kam eine Stimme vom Himmel:
Ich habe ihn verherrlicht und will ihn abermals verherrlichen.
12,29 Da sprach das Volk, das dabeistand und zuhörte:
Es hat gedonnert.
Andere sprachen: Ein Engel hat mit ihm geredet.

[14. September 2022] Indem Jesus Klaus Wengst zufolge (W375) in Vers 27 ohne „jede szenische Zwischenbemerkung“ seine Rede fortsetzt, spricht er angesichts seines bevorstehenden Todes „seine Bestürzung aus“ und greift dazu auf ein Zitat aus Psalm 6,4a zurück: „Jetzt bin ich tief bestürzt.“ Im Psalm folgt dann aber

die Frage an Gott: „Wie lange noch?“ und die Bitte: „Kehre um, Ewiger, rette mein Leben, hilf mir um Deiner Freundlichkeit willen!“ Die Bitte um Rettung nimmt auch Jesus als eine Möglichkeit auf, die kurz als Frage erwogen wird: „Was soll ich sagen? ,Vater, rette mich aus dieser Stunde!‘?“ Doch in der Situation der nun gekommenen Stunde verwirft er für sich diese Möglichkeit: „Doch nein, deswegen bin ich in diese Stunde gekommen.“

Dass Jesus „die Bitte um Rettung als von der Schrift gegebene Möglichkeit“ nicht wahrnehmen „will und darf, ergibt sich erst aus der österlichen Perspektive, die diese ‚Stunde‘ seiner Passion und seines Todes als Stunde der ‚Verherrlichung‘ begreifen lässt, aus der ‚viel Frucht‘ erwachsen wird.“ Dementsprechend spricht Jesus nach Vers 28a dann auch tatsächlich die Bitte aus: „Vater, verherrliche Deinen Namen!“ Damit (Anm. 724) nimmt Johannes

hier die Tradition auf, die sich in den anderen Evangelien ausführlich als Gebetskampf in Getsemani unmittelbar vor der Festnahme Jesu findet (Mt 26,36-46; Mk 14,32-42; Lk 22, 39-46). Er macht sie nicht zum eigenen Thema, sondern streift sie kurz an dieser Stelle, die das Gekommensein der Stunde vermerkt, und stellt sie für die Deutung dieser Stunde in Dienst.

Jesu Bitte (W375) wird „sofort durch ‚eine Stimme vom Himmel‘ beantwortet: ‚Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wiederum verherrlichen.‘“ Auf diese Weise (W376)

wird hier einerseits herausgestellt, dass seine Bitte bereits erfüllt ist, und andererseits versichert, dass sie erfüllt werden wird. Jesus hat nach der bisherigen Darstellung des Evangeliums nicht die eigene Ehre und Herrlichkeit gesucht, sondern allein die Gottes. Daher ist schon in seinem Reden und Tun Verherrlichung des Namens Gottes erfolgt. Und sie wird auch in seinem Erleiden erfolgen, da er als Beauftragter Gottes bis zu seinem Tod und mit ihm für den einsteht, der ihn gesandt hat.

Diese Verherrlichung des Namens Gottes stellt Wengst in einen Zusammenhang mit der „Heiligung des Namens (kiddúsch ha-schem)“, die „ein zentrales biblisch-jüdisches Konzept“ darstellt und grundlegend auf 3. Mose 22,31-33 zurückgeht:

Als menschliches Tun umfasst die Heiligung des Namens drei Aspekte: das Erleiden des Martyriums, vorbildliches ethisches Verhalten und Beten. … In der Heiligung des Namens Gottes steht Jesus inmitten vieler Brüder und Schwestern seines Volkes. Dass Johannes diese Tradition rezipiert, um den gewaltsamen Tod Jesu zu deuten, sollte unseren Blick nicht darauf verengen, sondern uns gerade auch die vielen anderen wahrnehmen lassen. Dagegen wird in Auslegung von Joh 12,28 immer wieder „die Exklusivität der Offenbarung Gottes in Jesus“ betont, z. B. von Chibici-Revneanu: <894> „Gott kann gar nicht verstanden oder erkannt werden außerhalb seiner Offenbarung in dem Menschen Jesus“.

Ein wenig irritiert mich, dass Wengst so selbstverständlich die Verherrlichung oder Ehrung des Namens Gottes einfach mit dessen Heiligung gleichsetzt. Indem er diese Heiligung außerdem ausschließlich auf die Aspekte „des Martyriums, vorbildliches ethisches Verhalten und Beten“ bezieht, konkret also allein auf den Kreuzestod Jesu als solchen, bleibt außer Acht, was nach Johannes das Ziel der Erhöhung Jesu an das römische Kreuz ist. Das kann dann in den Blick kommen, wenn man den wesentlichen Hintergrund des Verbs doxazein beachtet, der in der Vorstellung der doxa, hebräisch: kavod, Gottes besteht, mit der die Ehre des NAMENS gemeint ist, die auf die Befreiung und das Leben des erwählten Volkes Israel ausgerichtet ist (vgl. dazu Veerkamps Auslegung von Johannes 1,14cd).

Vers 29 vermerkt nach Wengst „zwei unterschiedliche Reaktionen der als anwesend vorgestellten Leute, obwohl sich Jesu Rede nur an Andreas und Philippus richtete.“ Die Meinung, „es habe gedonnert“, knüpft nach Bauer <895> „an der alttestamentlichen Auffassung von Gottes Rede als einem Donner an“. Aber ob in dieser Weise „die Leute ahnen, etwas Bedeutsames sei geschehen, oder ob es völliges Nichtverstehen ausdrücken soll, lässt sich“ nach Wengst

nicht entscheiden. Andere meinen: „Ein Engel hat mit ihm geredet.“ Damit haben sie die Stimme vom Himmel indirekt als von Gott her kommend wahrgenommen. Nach 1. Kön 13,18 behauptet ein Prophet gegenüber einem anderen: „Auch ich bin ein Prophet wie du und ein Engel hat zu mir geredet mit dem Wort des Ewigen.“

Nach Hartwig Thyen (T561) steht „im Hintergrund dieser Passage die synoptische Gethsemane-Tradition“, wie sogar Bultmann <896> einräumt, der „dem Gedanken, daß Johannes unsere synoptischen Evangelien nicht nur selbst gekannt, sondern ihr Bekanntsein auch bei seinen Lesern vorausgesetzt habe, mit äußerster Skepsis“ begegnet. Dieser erklärt zu den Versen 27-28a:

„Da der Evglist die Mk 14,32-42 bezeugte Tradition, zu welcher in seiner eigentlichen Passionsgeschichte eine Parallele fehlt, gekannt haben wird, ist V. 27f als das von ihm geschaffene Gegenstück dazu anzusehen. … Dem Gebet Jesu Mk 14,36 entspricht das sōson me {rette mich}, und das dort folgende all‘ ou ktl. {doch nicht usw.} ist in dem doxason ktl. {verherrliche usw.} radikalisiert. Entsprechend ist das ēlthon hē hōra {die Stunde ist gekommen}, Mk 14,41, das vielleicht schon V. 23 vorschwebt, in das nyn {jetzt} V. 31 verwandelt worden und damit anstelle des sichtbaren geschichtlichen Geschehens das unsichtbare heilsgeschichtliche, das sich in diesem vollzieht, gesetzt worden. – Hat der Evglist das Mk-Evg gekannt, so ist es möglich, daß er, wie er sich in V. 25f auf Mk 8,34f bezogen hätte, jetzt auch ein Gegenstück zu Mk 9,2-8 zu geben beabsichtigt“.

Bezeichnend ist an dieser Interpretation, der ich im Blick auf die Beziehung der beiden Evangelien zustimme, dass das „heilsgeschichtliche“ Geschehen, um das es im Johannesevangelium geht, von vornherein als eine „unsichtbare“ und damit offenbar auch ungeschichtliche Gegebenheit verstanden wird: eine jenseitsweltliche oder spirituell zu verstehende Rettung von ewiger Verdammung und nicht eine Befreiung dieser Welt von der widergöttlichen Weltordnung, die auf ihr lastet.

Thyen begreift jedenfalls „unsere Passage ohne Bultmanns ‚hätte‘ und ‚wäre‘ als ein intertextuelles Spiel mit den synoptischen Szenen des Gebets Jesu in Gethsemane (Mk 14,32-42 parr) sowie mit der Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem hohen Berg (Mk 9,2ff parr.)“. Und indem hier das Wort hōra {Stunde} aus Vers 23 wiederaufgenommen wird, scheint umgekehrt „der V. 23 seinerseits eine ,Johanneisierung‘ von Mk 14,41 zu sein, wo es heißt: ēlthen hē hōra, idou paradidotai ho hyios tou anthrōpou eis tas cheiras tōn hamartōlōn {die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird überantwortet in die Hände der Sünder}.“

Was Jesus in tiefer Erschütterung ausspricht: „Jetzt ist meine Seele betrübt“ (tetaraktai), sieht Thyen (T561f.) wie schon die „Beschreibung der heftigen Emotionen Jesu … sowie seiner Tränen am Grab des Freundes Lazarus“ (11,33. 35.38) … als ein intertextuelles Spiel mit dem biblischen Doppelpsalm 41/42 {nach der Septuaginta; im hebräischen Text 42/43}“.

Die Frage, wie aber nun die Verse 27-28a konkret ausgelegt werden sollen, und schon ihre Interpunktion und Übersetzung, ist nach Thyen (T562) sehr umstritten. Die „meisten Kommentatoren“ versehen die beiden Wendungen kai ti eipō und patēr, sōson me ek tēs hōras tautēs mit Fragezeichen und begreifen sie „als rhetorische Fragen“ wie ja auch die Lutherübersetzung: „Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde?“ Bauer [162] spricht sogar Thyen zufolge

von einem nur „hypothetischen Gebet“ Jesu: „Die von Jesus gesprochenen Worte nämlich sind kein wirkliches Gebet, wie die alsbald erfolgende Verwerfung des Gedankens und das ou di‘ eme {nicht um meinetwillen} 30 erweisen. So wenig wie die himmlische Antwort, hat die Frage für ihn selbst Bedeutung. Es gilt von ihr dasselbe wie von 11,41.42“.

Ausführlich geht Thyen weiter auf Bultmann (ebenda) ein. Diesem zufolge

soll erst der ,Evangelist‘ die in seiner vermeintlichen ,Quelle‘ gnostischer Offenbarungsreden noch als ernsthaftes Gebet des angefochtenen Offenbarers gemeinte Bitte: patēr, sōson me ek tēs hōras tautēs {Vater, befreie mich aus dieser Stunde} (vgl. Mk 14,35), „durch die Einfügung von alla dia touto ktl. {aber darum} zur Frage“ gemacht und dadurch den Mythos „entscheidend korrigiert“ haben. Weil nämlich der gnostische Offenbarer „des göttlichen Zuspruchs zu Überwindung seiner Angst“ ja gar nicht bedürfe, seien in der Quelle sōson me {befreie mich} und doxason {verherrliche} noch „gleichbedeutend“ gewesen: „Indem der Gesandte aus dem Erdendasein befreit wird, wird zugleich der Vater, der ihn befreit, verherrlicht“. Dadurch, daß der Evangelist seiner Vorlage jedoch die Wendung alla dia touto ktl. {aber darum usw.} eingefügt und dadurch die Bitte sōson me ek tēs hōras tautēs {Rette mich aus dieser Stunde?} zur Frage gemacht habe – wobei Bultmann das nach dieser „Selbstfrage“ stehende alla „wie klassisch <897>“ mit: Nein! übersetzt -, werde im Gegensatz zum Mythos bei Johannes der Vater nun dadurch verherrlicht, daß „der Sohn das Erdendasein in seiner ganzen Tiefe auf sich“ nehme.

Vehement wendet sich Thyen gegen die Auslegung von Becker, <898> der „schon Jesu Betrübnis und seine Tränen am Grabe des Lazarus als Ausdruck seines Zornes über den Unglauben Marias und der Umstehenden gedeutet hatte“ und nun im gleichen Sinne auch das „nyn hē psychē mou tetaraktai {jetzt ist meine Seele erschüttert} von V. 27 begreifen“ will:

Weil „der joh Christus … Angst“ überhaupt nicht haben könne, paraphrasiert Becker die Szene, die „auf eine veränderte Einstellung der Leser zum traditionellen Gethsemane“ ziele, folgendermaßen: „Soll Jesus nun etwa seine Todesängste äußern? Nein, er ist zornig über ein traditionelles Mißverständnis! Man erwartet von ihm, er werde sprechen: Vater, rette mich aus dieser Stunde. Aber solche Erwartung widerspricht dem Heilssinn der Sendung Jesu; dazu ist er nicht in diese Stunde gekommen“.

Dagegen wendet Thyen zu Recht ein (T562f.):

Aber erzählt unsere Szene im Einklang mit dem synoptischen Gethsemane nicht gerade von der Überwindung der ängstenden Welt und ihres archōn {Fürsten}? Spricht Jesus als der Logos, der Fleisch geworden ist, nicht aus seiner eigenen Erfahrung der Angst, wenn er seine Jünger am Ende seines langen Abschieds mit diesen Worten ermutigt: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ (nenikēka: 16,33). So wenig wie Jesu Gebet in der Lazaruserzählung (11,41ff) eine bloße volksmissionarische Veranstaltung ist, so wenig ist es dieses Gebet. Natürlich will der Erzähler damit auch seinen Zuhörern/Lesern etwas sagen, aber eben das sagt er durch das Sagen Jesu.

Grundsätzlich widerspricht Thyen der Einfügung der beiden Fragezeichen in den Mittelteil von Johannes 12,27 und folgt damit Xavier Léon-Dufour, <899>

der die beiden strittigen V. 27 u. 28 mit guten Gründen so paraphrasiert: „Jetzt ist meine Seele erschüttert, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. ‚Vater, versichere mir das Heil von dieser Stunde an! Aber ja, dazu bin ich bis zu dieser Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!‘ Da kommt eine Stimme vom Himmel: ‚Und ich habe verherrlicht und werde noch verherrlichen.‘“

Thyen selbst (T557) hatte dementsprechend die Worte sōson me ek tēs hōras tautēs {rette oder befreie mich aus dieser Stunde} so wiedergegeben: „mache du mich auch in dieser Stunde des Heils gewiß“. Warum er meint, das ek hier mit „in“ statt mit „aus“ dieser Stunde übersetzen zu können, wird er später begründen. Spannend finde ich seine Erwägungen über „den spezifischen Gebrauch des Lexems sōzō {retten, befreien} in unserem Evangelium“. Léon-Dufour bestreitet nämlich

die übliche und allzu selbstverständliche Identifikation der johanneischen Bitte: pater, sōson me ek tēs hōras tautēs {wörtlich: rette mich aus dieser Stunde}, mit dem Satz aus Mk 14,35, wo es heißt: kai prosēucheto hina ei dynaton estin parelthē ap‘ autou hē hōra {und betete, dass, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorüberginge}.

Eine Interpretation von sōzein in diesem Sinne einer Befreiung „aus“ seiner Stunde ist bei Johannes nach Léon-Dufour und Thyen aus folgenden Gründen nicht möglich:

Gegenüber 16 Vorkommen des Verbums sōzō bei Matthäus, 15 bei Markus und 17 bei Lukas, erscheint es bei Johannes nur sechsmal. Während das Verb bei den Synptikern ein breites Bedeutungsspektrum hat, ist es bei Johannes mit einer – freilich nur scheinbaren! – Ausnahme stets streng auf die eschatologische Errettung und Erlösung der Welt bezogen. Eingeführt wird das Lexem in 3,17 mit dem Satz, daß Gott seinen Sohn nicht in die Welt gesandt habe, die Welt zu verurteilen: all‘ hina sōthē ho kosmos di‘ autou {sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde}. Entsprechend bekennen dann in 4,42 die Samaritaner: oidamen hoti houtos estin alēthōs ho sōtēr tou kosmou {wir haben erkannt, dass du wahrhaftig der Retter der Welt bist}. In 5,34 geht es bei den Worten hina hymeis sōthēte {damit ihr gerettet werdet} ebenso wie in 10,9 gleichfalls um die eschatologische Rettung und Erlösung. Es folgt dann unser strittiges Gebet 12,27 und endlich schließt 12,47 den Kreis der Vorkommen des Lexems so, wie 3,17 ihn eröffnet hatte: ou gar ēlthon hina krinō ton kosmon all‘ hina sōsō ton kosmon {ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette}. Die einzige Ausnahme dieses strikt begrenzten Sprachgebrauchs scheint 11,12 zu sein, wo die Jünger Jesus auf seine Mitteilung, daß Lazarus eingeschlafen sei, mit der volkstümlichen Weisheit antworten: ei kekoimētai sōthēsetai {wenn er schläft, wird es besser mit ihm, wörtlich: wird er gerettet werden}. Das ist zwar subjektiv eines der viel erörterten Mißverständnisse, zugleich aber – wie auch sonst bei Johannes gelegentlich (s. u. zu 20,11ff) – insofern ein produktives Mißverständnis, als die Jünger damit unwissend die Wahrheit über die eschatologische Rettung des Lazarus aussprechen.

Dem ist sicher zuzustimmen, obwohl Thyen – wie ich oben bereits zu Bultmann bemerkt habe – die Rettung des Lazarus und der Welt leider im Sinne einer jenseitsweltlichen Seelenrettung begreift und nicht als endzeitliche Befreiung Israels im Rahmen einer Überwindung der auf der Welt lastenden Weltordnung.

Dass „nach 12,23-26 … Jesus mit den Worten sōson me {rette mich} nicht um sein physisches Überleben beten kann“, ist offensichtlich. Daher darf Thyen zufolge

auch die Präposition ek {aus} nicht im Sinne von Mk 14,35 verstanden werden …, als bitte Jesus hier darum, daß die Stunde oder der „Kelch“ an ihm vorübergehen möge. ek ist hier vielmehr im Sinne der Wendungen ek nyktos (bei Nacht) oder ex hēmeras (im Laufe des Tages) zu verstehen. Denn es will ja beachtet sein, daß Jesus bereits in V. 23f erklärt hatte, daß die Stunde, da der Sohn des Menschen verherrlicht wird, jetzt angebrochen ist, und daß seine Gegenwart fortan unter ihrer Bestimmung steht (dafür steht hier das Perfekt elēlythen he hōra {die Stunde ist gekommen}). lm Unterschied dazu spielt das Gebet Jesu in Gethsemane (Mk 14,32ff parr.) noch vor dem Eintritt dieser Stunde und ist gleichsam Jesu innere Bereitung darauf.

Trotz all seiner zutreffenden Überlegungen zum Gebrauch des Wortes sozein ist es in meinen Augen aber nicht ausgeschlossen, dass Johannes im Spiel mit Markus 14,35 und mit den Psalmen 42/43 doch in fragender Form die Möglichkeit anspricht, um die Errettung oder Befreiung seiner Person aus der Stunde der Erhöhung ans Kreuz zu bitten, die nun für ihn angebrochen ist, selbst wenn er diese Option sogleich verwirft.

Alles in allem erinnert Johannes nach Thyen (T564) mit voller Absicht an „die synoptische Gethsemane-Erzählung“, und

daß er auch um Jesu Gebet weiß, Gott möge doch den bitteren Kelch des Todes an ihm vorübergehen lassen (Mk 14,36), zeigt die dramatische Zurechtweisung des Petrus, der meint, die Auslieferung seines Herrn an die Sünder mit dem Schwert verhindern zu können… (Joh 18,11). Doch auch wenn endlich selbst Jesu Bitte: pater, doxason sou to onoma (V 28) trotz ihres genuin johanneischen Kolorits ihre präzise Entsprechung in seinem synoptischen Gebet hat: „Doch nicht was ich will, sondern was du willst!“ (Mk 14,36), darf dieses intertextuelle Spiel nicht dazu verführen, den Prätext zum heimlichen Maßstab der Auslegung des neuen Textes zu machen. Wie es Jesu „Speise ist, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat, und sein Werk zu vollenden“ (4,34), so ist die Bitte: „Vater, verherrliche deinen Namen!“ das letzte Ziel seines Weges (s. u. zu 17,6).

Was die nach Vers 28b aus dem Himmel erklingende Stimme in zwei verschiedenen Verbformen von doxazein aussagt: „Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn abermals verherrlichen!“, wird von den Kommentatoren unterschiedlich ausgelegt. Nach Thyen darf man die verschiedenen Zeiten weder auf die „Prä- und Postexistenz des fleischgewordenen“ Wortes beziehen noch „den Aorist edoxasa … auf Jesu gesamten irdischen Weg einschließlich der nun angebrochenen ‚Stunde seiner Erhöhung und Verherrlichung‘“ und das „Futurum kai palin doxasō“ auf „die kommende Zeit …, „da der Vater seinen Namen durch das Wirken des Parakleten verherrlichen wird“, wie es Thüsing <900> annimmt:

Denn das Evangelium ist die Biographie des jüdischen Mannes Jesus, und seine ganze Emphase liegt darauf, dessen Einheit als des ,Sohnes‘ mit seinem himmlischen Vater zu erweisen. Darum ist das betonte nyn unserer Passage als Gipfelpunkt dieses Weges Jesu anzusehen. Der Aorist muß also das Wirken des Vaters durch den Sohn von der Hochzeit in Kana an (2,11) bis zur Auferweckung des Lazarus (11,40) zusammenfassen …, während das Futurum vorausweist auf die eben jetzt anhebende Stunde der „Erhöhung des Sohnes des Menschen an das Kreuz“ (12,32f; …).

Auffällig ist in meinen Augen, dass Thyen zur Auslegung unserer Passage (außer am Rande in der Auseinandersetzung mit Bultmann) mit keinem Wort auf die inhaltliche Bedeutung des Wortes doxazein eingeht.

Die Himmelsstimme interpretiert Thyen weiterhin vor dem Hintergrund der synoptischen Verklärungsgeschichte:

Wie „eine Stimme aus der Wolke“ über dem verklärten Jesus erklärt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, den sollt ihr hören!“ (Mk 9,7), so ist es auch hier der angerufene Vater selbst, der dem Sohn antwortet und damit vor der Welt als Zeuge für ihn eintritt.

Im Gegensatz zur „bath qol (Tochter der Stimme) …, die sich in zahllosen rabbinischen Erzählungen vernehmen läßt“, aber „eben nicht die Stimme Gottes selbst, sondern nur deren ‚Tochter‘ ist, von der die Rabbinen wissen“ <901> und „die nur bestätigt, was Gott selbst in der Schrift durch seine Knechte und Propheten gesagt hat“, gilt hier, was Jesus in 8,18 gesagt hatte: „egō eimi ho martyrōn peri emautou, kai martyrei peri emautou ho pempsas me patēr {Ich bin‘s, der von sich selbst zeugt; und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir}“.

Indem in Vers 29 „jetzt unvermittelt zum erstenmal wieder die Volksmenge genannt“ wird, von der zuletzt in 17f. die Rede gewesen war, muss man sich „die Menge also seit dem königlichen Empfang, den sie Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem bereitet hat, als Zeugen des Geschehens denken.“ Damit ist deutlich, dass jedenfalls nicht die Griechen nun die Rolle des Publikums Jesu übernommen haben.

Die „Deutungen der Himmelsstimme“ durch die Leute sollen Thyen zufolge „ausdrücken, daß es sich bei ihr nicht um eine bloße Audition Jesu, sondern um ein sinnlich wahrnehmbares ,Zeichen vom Himmel‘ gehandelt habe.“ Gleichwohl „hören [sie] die Stimme, begreifen aber ihre Bedeutung nicht. Einige glauben, es habe gedonnert (vgl. Ps 29,3; LXX: 28,3), andere vermuten, da habe ein Engel mit Jesus geredet (vgl. Gen 21,17; 22,11; 1Kön 13,18; Lk 22,43).“

Ton Veerkamp <902> bezieht wie Wengst den Anfang von 12,27 auf Psalm 6,4:

„Jetzt ist meine Seele erschüttert.“ … Ähnliche Sätze finden wir in den Psalmen zuhauf; das Subjekt ist oft mein Herz oder Gebein. Der Reichtum an hebräischen Verben, die eine starke Emotion ausdrücken, stellt die griechische Sprache vor Probleme: Das eine Verb tarassein dient dazu, mehr als vierzig verschiedene hebräische Verben zu übersetzen. Es deckt dann Emotionalbereiche von der Beunruhigung bis zum totalen psychischen Zusammenbruch ab.

Und ähnlich wie Thyen sieht Veerkamp Jesu Gefühlsbewegung in einem Zusammenhang mit dem, was ihn am Grab des Lazarus umgetrieben hat:

Diese Erschütterung ist für Jeschua nicht neu. Die Trauer Marias und der Judäer erschüttert Jeschua, 11,33. Wenn er auf den unmittelbar bevorstehenden Verrat des Judas Iskariot zu sprechen kommt, wird er ebenfalls erschüttert sein, 13,21. Jeschua weiß, was auf ihn zukommt: Verrat und Tod. Ausdrücklich mahnt er die Schüler, sich von dieser heftigen Emotion nicht überwältigen zu lassen: „Euer Herz sei nicht erschüttert“, 14,1 und 14,27.

Auch was die Synoptiker von Jesus im Garten Gethsemane erzählt haben, bezieht Veerkamp in seine Auslegung unserer Passage ein, wobei er das Gebet um die Befreiung aus dieser entscheidenden Stunde als durchaus ernstzunehmende Auseinandersetzung mit einer auch den johanneischen Jesus anfechtenden Versuchung begreift:

Die vier Verse 12,27-31 nehmen bei Johannes die Stelle ein, die die Szene in Gethsemane bei den Synoptikern einnimmt. Alle, die die Sache des Messias ernst nahmen, wussten, dass die messianische Existenz eine Belastung mit sich bringt, die kaum zu ertragen ist. Die Versuchung, sich aus der Verantwortung zu stehlen, ist groß: „Was soll ich sagen: befreie mich – hoschiˁeni – aus dieser Stunde?“ Der populäre Jubel hoschiaˁ-na wird hier zum verzweifelten Gebet hoschiˁeni.

Weiter konzentriert sich Veerkamp auf die Bedeutung der „Ehre des NAMENS“ in Vers 28 und interpretiert sie vor dem Hintergrund von Psalm 115:

„Gerade deswegen bin ich in diese Stunde gekommen“, sagt Jeschua. Weswegen fragen wir? Wegen der Ehre des NAMENS. Die Ehre Gottes ist das lebende Israel. Jeschua hatte Martha am Grabe gesagt: „Wenn du vertraust, wirst du die Ehre Gottes sehen.“ Jeschua betet hier: „VATER, gib deinem Namen die Ehre!“ Hier ist an Psalm 115 zu denken:

Nicht uns, DU, nicht uns, nein, Deinem Namen gib die Ehre,
deiner Solidarität wegen, deiner Treue wegen.
Warum sollen die Völker sprechen:
„Wo ist denn ihr Gott?“
Unser Gott ist im Himmel,
Alles, was seinem Gefallen entspricht, das tut Er … (Verse 1-3)

Dieser Psalm besingt die Einmaligkeit des Gottes Israels, mokiert sich über die Nichtigkeit der Götter der Völker:

Ihre Holzklötze mit Silber und Gold, Machwerke von Menschenhänden.
Einen Mund haben sie und sprechen nicht,
Augen haben sie und sehen nicht … (Verse 4-5)

Das Lied endet mit den stolzen Zeilen:

Nicht die Toten preisen Dich, nicht, die absteigen in die Stummheit.
Nein, wir, wir segnen Dich, von jetzt an bis in Weltzeit. (Verse 17-18)

Die Menschen, die die Worte „gib deinem Namen die Ehre“ hören, kennen das Lied, das dritte Lied des großen Hallel des Paschafestes, auswendig. Gerade in einer Stunde, wo es um Leben und Tod geht, muss dieses Lied erklingen. Die Aufforderung Israels und des Messias war: „Gib deinem Namen die Ehre.“ Die Antwort ist: „Ich habe geehrt (am Grab des Lazarus), und ich werde weiter ehren (am Grab Jeschuas).“ Jeschua nimmt den bevorstehenden Tod an, deutet ihn aber als „Erhöhung“.

Auf diese Weise deutet Johannes die Kreuzigung Jesu als eine „Erhöhung“, die zur Überwindung der Weltordnung führen und damit das Leben der kommenden Weltzeit für Israel inmitten der Völker anbrechen lassen soll.

Die vom Himmel redende Stimme deutet Veerkamp im Zusammenhang mit einer zentralen Stelle der Tora, 5. Mose 4,11-12:

Die Menge hört zwar den Laut, aber nicht die Stimme. Wir müssen Deuteronomium 4,11f. mithören:

Im kamt näher, standet unter dem Berg,
dem Berg brennend vor Feuer bis ans Herz des Himmels,
Finsternis, Wolken, Gewitterdunkel (phōnē megalē, „große Stimme“, fügt die LXX hinzu),
Und der NAME redete mit euch mitten aus dem Feuer,
Eine Stimme von Worten hörtet ihr,
Gestalt habt ihr keineswegs gesehen,
Nur Stimme (sulathi qol).

Die Antwort auf Jeschuas Aufschrei geschah als „Stimme vom Himmel“. In Israel ist der Gott immer „nur Stimme“, aber eben immer „redende Stimme“ (qol devarim, phōnē rhēmatōn). Die Menge unterscheidet sich vom Volk am Fuße des Berges Horeb. Sie hört etwas, aber keine redende Stimme, und wenn, dann eine Stimme von irgendeinem himmlischen Boten.

Johannes 12,30-33: Gericht über diesen kosmos und ihren Führer und Jesu Sammlung aller durch seine Erhöhung ans Kreuz

12,30 Jesus antwortete und sprach:
Diese Stimme ist nicht um meinetwillen geschehen,
sondern um euretwillen.
12,31 Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt;
jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen werden.
12,32 Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde,
so will ich alle zu mir ziehen.
12,33 Das sagte er aber, um anzuzeigen,
welchen Todes er sterben würde.

[15. September 2022] Obwohl die Volksmenge die Worte der Himmelsstimme nicht verstanden hat, stellt Jesus in Vers 30 nach Klaus Wengst (W376) – wie er auch

in 11,42 ‚um der Leute willen‘ gehandelt hat, … nun fest, dass nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen die himmlische Stimme erging. Noch genauer müsste man wohl sagen, dass die Stimme vor allem und „zugleich den Lesern (gilt)“. <903> Ihnen wird in den folgenden Versen ein wesentlicher Aspekt der nun gekommenen Stunde erschlossen.

Diesen Aspekt macht Jesus in Vers 31 mit den Worten deutlich:

„Jetzt ist das Gericht über die Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden.“ Dass sich als Konsequenz des als Erweis der Liebe Gottes verstandenen Todes Jesu Gericht, Scheidung, vollzieht, war schon in 3,18-21 ausgeführt worden. Das wiederholt hier der erste Satz in äußerster Knappheit.

Sehr interessant ist nun, wie Wengst den zweiten Satz interpretiert, der „im Bild des Hinauswurfs“ von (W377) „der Entmachtung des ‚Herrschers dieser Welt‘“ spricht. Er versteht ihn vor dem Hintergrund der Vorstellungen vom Teufel in der Offenbarung des Johannes:

Nach Apk 12,9 wird der mit mehreren Namen benannte Teufel vom Himmel auf die Erde geworfen. Damit – gedacht ist auch dort an Tod und Auferstehung Jesu – ist seine Macht grundsätzlich gebrochen. Aber auf der Erde führt er in Gestalt des „Tieres“ (13,1f.), das das römische Reich symbolisiert, sein im Grunde schon verlorenes letztes Gefecht, das aber gleichwohl sehr real und schmerzhaft erfahren wird. Der Seher Johannes setzt so die von ihm als dämonisch wahrgenommene Macht Roms ins Bild, bestreitet ihr damit zugleich die Macht und sagt ihr den Kampf an.

Seltsam finde ich es in diesem Zusammenhang, dass Wengst in seiner Auslegung von Johannes 8,44 mit keinem Wort einen Bezug der Vorstellung vom diabolos {Teufel, Widersacher} auf das römische Reich erwogen hat.

Weiter vergleicht Wengst den johanneischen Hinauswurf des Weltherrschers mit einer vom Evangelisten Lukas erwähnten Vorstellung:

Nach Lk 10,18 sah Jesus „den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“. Das bedeutet auch hier nicht, dass damit alles Dämonische beseitigt wäre, wohl aber, dass nun ein Kampf gegen es aufgenommen werden kann, der Verheißung hat. Ist es demgegenüber das Besondere beim Evangelisten Johannes, dass er hier vom schon erfolgten definitiven Gericht und der völligen Entmachtung des Weltherrschers spricht? So beschreibt Blank dieses Gericht über die Welt als „ein Strafgericht, das End- und Vernichtungsgericht, durch das ,diese Welt‘, der alte Äon, wirklich zu bestehen aufhört und an sein Ende kommt“; es sei „vor allem das Gericht an ihrem Herrscher, das heißt dessen Absetzung sowie die Vernichtung seiner Herrschaft“. <904>

Ein solches Urteil wäre in Wengsts Augen jedoch „ein illusionäres Vorbeisehen an der immer noch anders erfahrenen Wirklichkeit der Welt“ und bei Johannes kaum „wahrscheinlich angesichts dessen, dass er die bedrängenden Erfahrungen, die er und die Seinen machen, in die Darstellung der Geschichte Jesu mit hineinnimmt“. Da Johannes „trotz des ‚Jetzt‘ das Verb des zweiten Satzes im Futur formuliert: ‚wird hinausgeworfen werden‘“, was (Anm. 730) Blank [314] „bezeichnenderweise präsentisch übersetzt“, bleibt Wengst zufolge (W377) auch bei Johannes eine „Spannung“ als „Ausdruck des Kampfgeschehens“ bestehen, „in das die Gemeinde in der Welt gestellt ist.“

Schließlich hebt Wengst nochmals hervor, wie „unwahrscheinlich“ es ist,

dass Johannes bei der Bezeichnung „Herrscher der Welt“ nur an den Teufel gedacht habe – und nicht auch an den, der in Rom tatsächlich die Macht über die Welt beanspruchte und dessen Repräsentanten überall im Imperium begegneten. Die lateinischen Übersetzungen bieten für „Herrscher“ in Joh 12,31 princeps. Die Bezeichnung des römischen Kaisers als princeps konnte im Griechischen mit árchon wiedergegeben werden … Wie sollten die das Evangelium Lesenden und Hörenden in der Anfangszeit seiner Rezeption diese Dimension nicht wahrnehmen?

Diese sehr richtige Beobachtung erwähnt Wengst aber leider nur am Rande. Offenbar kann er es sich nicht vorstellen, in der Überwindung der Todesmächte des real existierenden römischen Imperiums das zentrale Ziel des vom befreienden NAMEN gesandten Messias Jesus zu sehen. Nur so ist auch erklärbar, dass er seine jetzt angestellten Überlegungen nicht schon zur Interpretation von 8,44 herangezogen hat.

In der Auslegung von Vers 33 bestätigt sich dann, dass Wengst das Gericht über den Herrscher dieser Welt nicht als politische Überwindung der Weltordnung betrachtet, deren versklavende Macht bisher die Sammlung und Befreiung ganz Israels zum Leben der kommenden Weltzeit verhindert hat (W377f.):

Nachdem die Rede Jesu so die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft aussagte, ist ihr Abschluss als Verheißung formuliert: „Aber wenn ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen.“ Der einleitende Bedingungssatz nimmt auf, was schon in V. 23 mit „verherrlichen“ als Inhalt der gekommenen Stunde angegeben war: Jesu Erhöhung. Sie ist die positive Entsprechung zur gerade erwähnten Entmachtung des Weltherrschers. Wie im vorangehenden Abschnitt über den Einzug Jesu in Jerusalem begonnen, wird er in der Passionsgeschichte immer deutlicher als König beschrieben werden – aber in höchst paradoxer Weise. Denn seine Erhöhung ist zugleich die ans Kreuz. … Jesus verheißt, als Erhöhter alle zu sich zu ziehen. „Alle“ – das bringt gewiss keinen imperialen Anspruch zum Ausdruck; als am Kreuz Erhöhter ist Jesus keinesfalls wie „der Herrscher der Welt“. „Alle“ – das ist „alles“, was ihm der Vater gibt (6,37-39; vgl. 10,29), das sind diejenigen, die durch das „Ziehen“ des Vaters zu ihm kommen (6,44). Das ist die erstaunliche Wirkung und Folge dieser Erhöhung, dass die Verkündigung des gekreuzigten Jesus, dass das Evangelium sich als „attraktiv“, als anziehend erweisen wird.

Wengsts Aussage, dass Jesus als „am Kreuz Erhöhter“ keinen „imperialen Anspruch“ erhebt und „keinesfalls wie ‚der Herrscher der Welt‘“ ist, trifft zwar insofern das Richtige, als er nicht angetreten ist, um die herrschende Weltordnung mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen. Daraus zieht Wengst jedoch den falschen Schluss, dass im Ziehen derjenigen, die der Vater dem Sohn gibt, überhaupt kein konkretes politisches Ziel ausgedrückt werde, sondern stattdessen die spirituell-religiöse Konsequenz der Attraktivität der „Verkündigung des gekreuzigten Jesus“ für Menschen aus allen Völkern, die an Jesus glauben werden. Würde aber ernstgenommen, dass der johanneische Jesus hier von der Überwindung der römischen Weltordnung spricht, dann könnte auch in den Blick kommen, dass mit dieser Überwindung zugleich die Sammlung aller derjenigen aus Israel einhergeht, die vom VATER in die Gemeinde des Messias Jesus gezogen werden und in deren Befreiung zum Leben der kommenden Weltzeit die Ehre des Gottes Israels besteht.

Die „kommentierende Bemerkung“ des Johannes in Vers 33: „Das aber sagte er, um anzuzeigen, durch welchen Tod er sterben sollte“, macht Wengst zufolge „seiner Leser- und Hörerschaft deutlich, dass das Erhöhtwerden Jesu durch die Kreuzigung erfolgt.“

Nach Hartwig Thyen (T525) war es wichtig, dass die Himmelsstimme nicht nur von Jesus, sondern auch als reales Ereignis von der Volksmenge wahrgenommen wurde, was Jesus mit seiner Antwort in Vers 30 bestätigt:

Denn nur vor solchem Hintergrund kann Jesus ihnen dann auch erklären, diese Stimme sei nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen erklungen. Daß dabei die Worte der Stimme ihm selbst galten, bestreitet er so wenig, wie er von der Menge eine Antwort auf eine Rede verlangt, die sie gar nicht verstanden hat. Er sagt den Leuten vielmehr, dieses von ihnen ja selbst wahrgenommene Erklingen der Himmelsstimme sei keine Privatangelegenheit zwischen ihm und seinem Vater, sondern es betreffe sie selbst unmittelbar, weil sich seine ganze Sendung zur Erlösung der Welt jetzt vollende… Denn „da die Anwesenden Jesu Gebet zum Vater gehört haben, mußten sie in der himmlischen Stimme, auch wenn sie ihren Wortlaut nicht verstanden, die göttliche Antwort erkennen. Das setzt auch Jesu Wort an sie voraus“. <905>

Thyen setzt also voraus, „daß hier eine göttliche Epiphanie {Erscheinung, Offenbarung} geschah, die alle wahrgenommen haben“, denn sonst käme man wie Barrett <906>

in die Verlegenheit, erklären zu müssen, es sei doch „schwer verständlich, wie man von einer Stimme sagen konnte, sie sei gekommen um der Menschen willen, die sie dann nicht verstanden und nicht einmal wußten, wer sprach“.

Auf dieser Basis kann Thyen zufolge „Jesus das Erklingen der Stimme der Menge“ auf folgende Weise deuten (Vers 31): „Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt, jetzt wird der Fürst dieser Welt seiner Macht beraubt“, wie Thyen den Ausdruck ekblēthēsetai exo {wörtlich: wird hinausgestoßen nach draußen} wiedergibt. Dadurch, dass das „zweifache nyn {jetzt} in V. 31 … das nyn von V. 27 wieder auf[nimmt]“, wird nach Thyen „die Stunde der krisis {des Gerichts}, die mit der Entmächtigung seines archōn {Herrschers} über den Kosmos ergeht, mit der Stunde“ synchronisiert, „da der Vater durch die Verherrlichung des Sohnes des Menschen (V. 23) seinen Namen verherrlichen will.“ Über die Frage, wer mit diesem Herrscher der Welt gemeint ist, stellt Thyen hier keine Erwägungen an.

Stattdessen geht er ausführlich auf das Verb hypsoun {erhöhen} ein, das in Vers 32 nach „3,14 und 8,28 … jetzt zum dritten Mal wieder“ aufgenommen wird (T525f.):

Doch als dessen Objekt nennt Jesus hier, wie das emphatische kagō {und ich} zeigt, anstelle des kryptischen ,der Sohn des Menschen‘ unverschlüsselt sich selbst als denjenigen, der ,erhöht‘ werden soll. Für die zuhörende Menge besteht die durch V. 32 gegebene neue Information also darin, daß Jesus sich selbst jetzt unzweideutig mit jenem „Sohn des Menschen“ identifiziert. Zugleich kündigt er an, daß er als der Erhöhte alle zu sich ziehen werde. Durch den diesen Worten Jesu unmittelbar folgenden Kommentar des Erzählers: „Das aber sagte er, um anzuzeigen, was für eine Art von Tod er erleiden sollte“, wird der Leser an 3,14 und an die biblische Erzählung von der Erhöhung der ehernen Schlange mittels eines in der Wüste aufgerichteten Pfahles erinnert. Auf diese Weise wird ihm gesagt, daß es bei diesem hypsōthēnai {Erhöhtwerden} nicht schon um Jesu anabainein pros ton patera {Hinaufsteigen zum Vater} (20,17) handelt, sondern um sein Sterben am Kreuz von Golgatha. Dementsprechend können dann aber auch Jesu Worte: pantas helkysō pros emauton {ich werde alle zu mir ziehen}, nicht schon die Sammlung der Seinen in den „himmlischen Wohnungen“ (14,2f) verheißen, sondern sie müssen primär auf die Nachfolge auf seinem Kreuzesweg verweisen. Damit nehmen sie wieder auf, was Jesus schon in den V. 25f gesagt hatte, daß nämlich jeder, der sein Leben liebt, es verlieren, und allein, wer es ‚geringachtet‘, es bewahren und vom Vater ,geehrt‘ werden wird.

Auch abgesehen von verschiedenen Voraussetzungen Thyens, die ich nicht teile, dass etwa die „Sammlung der Seinen“ Jesu gemäß Johannes 14,2f. und auch Jesu Aufsteigen zum Vater sich ganz selbstverständlich auf den jenseitsweltlichen Himmel bezieht, macht eine solche Auslegung in meinen Augen wenig Sinn. Die Nachfolge Jesu auf seinem Kreuzesweg setzt eine bewusste Entscheidung auf Grund des Vertrauens zu ihm voraus; wie kann Jesus eine solche Entscheidung bei allen Angeredeten für die Stunde seiner Kreuzigung voraussetzen – zumal er doch nach 18,8 sogar seine Schüler ausdrücklich nicht in sein unmittelbar bevorstehendes Schicksal mit hineinziehen will? Außerdem scheint die Aussage des Zu-sich-Ziehens Aller durch Jesu Erhöhung von der Erde genau der Hinausstoßung des Weltherrschers zu entsprechen – in meinen Augen ist damit die Sammlung ganz Israels gemeint, die in dem Augenblick möglich wird, in dem durch Jesu Tod am Kreuz die versklavende Weltordnung bloßgestellt ist und ihren Machtanspruch über die Welt verliert.

In diesem Sinne begreift Ton Veerkamp <907> die Verse Johannes 12,30-33:

Gleichwohl geschieht die Stimme wegen der Menge. Jeschua ist jetzt die Stimme: „Jetzt ist das Gerichtsverfahren (krisis) über diese Weltordnung.“ Das Wort jetzt ruft den Ausdruck und das ist jetzt aus dem Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen (4,23) und aus der Rede nach der Heilung des Gelähmten (5,25) auf. Jeschua wird das seinen Schülern noch einmal sagen: jetzt wird der bar enosch, der MENSCH, geehrt werden, 15,31. Die Erhöhung des Messias geschieht jetzt, die Abschaffung dieser Weltordnung geschieht ebenfalls jetzt.

Erneut weist Veerkamp darauf hin, dass das Gericht, um das es hier geht, vor dem Hintergrund von Daniel 7 verstanden werden muss:

Die Bedeutung des Wortes krisis ist festgelegt durch die Quelle, aus der das Wort bei Johannes stammt, Daniel 7. Dort wird ein Gerichtsverfahren durchgeführt. Im Laufe dieses Verfahrens wird ein politisches Monstrum entmachtet, und dessen Macht, ja alle kommende Macht, wird einer Gestalt wie einem Menschen (bar enosch) übergeben. Das geschieht, so Jeschua, jetzt.

Für Veerkamp ist eindeutig klar, wer der Angeklagte in diesem Gerichtsverfahren ist, der „Führer der Weltordnung“, wie er archōn tou kosmou wiedergibt, nämlich der Kaiser des römischen Imperiums. Nach seiner Anm. 391 zur Übersetzung von Johannes 12,31 ist sicher mit dem Wort archōn „an der vorliegenden Stelle dieser Imperator gemeint.“ Und gerade „weil das Wort ‚Führer‘ in Deutschland eine finstere Färbung hat, bietet es sich hier an“:

Angeklagt ist „diese Weltordnung“ und, als pars pro toto, „der Führer dieser Weltordnung“ oder, wenn man will, „das Prinzip dieser Weltordnung (archōn ton kosmou toutou)“, der Kaiser Roms. Dieser Führer bzw. dieses Prinzip wird „hinausgeworfen“, das heißt: wird ausgeschlossen, spielt keine Rolle mehr. Das Urteil in diesem Gerichtsverfahren lautet: diese Weltordnung hat ausgespielt. Das ist der negative Aspekt dieses Urteils.

Anders als Wengst und sehr viel anders als Thyen interpretiert Veerkamp den Vers 32 als die politische Sammlung der Kinder Gottes im Sinne vor allem ganz Israels, die als Folge der Überwindung der römischen Weltordnung möglich wird:

Der positive Aspekt lautet: „Wenn ich von der Erde erhöht werde, werde ich alle zu mir selbst ziehen.“ „Alle“ heißt „nicht nur die Nation, sondern alle auseinandergejagten Kinder Gottes“, 11,52, und vielleicht Leute wie jene Griechen, wenn sie die Bedingungen der Schülerschaft erfüllen. Das ganze Gerichtsverfahren, Anklage und Urteil, geschieht, „wenn ich von der Erde erhöht werde“. Diese Erhöhung aber ist das Zeichen seines Todes. Was aber bedeutet Erhöhung und jetzt?

Um diese beiden Fragen wird es in den folgenden Versen gehen. Zuvor sei noch darauf hingewiesen, dass Veerkamp in Anm. 393 zu seiner Übersetzung von Johannes 12,33 aus dem Jahr 2015 einen Gedanken zu dem Wort sēmainein hinzufügt, das in der Lutherbibel mit „anzeigen“ wiedergegeben wird, wobei aber sein Bezug auf das im Johannesevangelium so bedeutsame Wort sēmeion {Zeichen} außer Acht bleibt:

Johannes erklärt den Tod Jeschuas, des Erhöhten, zum sēmeion, „Zeichen“, zum endgültigen Zeichen, das Jeschua mit seinem Tod setzt. Dieser Tod ist die Befreiung. Aufgabe einer Auslegung dieses Textes ist, die politische Tragweite dieser Auffassung des Todes des Messias deutlich zu machen.

Johannes 12,34-36: Der erhöhte Menschensohn und das Licht in der Finsternis

12,34 Da antwortete ihm das Volk:
Wir haben aus dem Gesetz gehört,
dass der Christus in Ewigkeit bleibt;
wieso sagst du dann:
Der Menschensohn muss erhöht werden?
Wer ist dieser Menschensohn?
12,35 Da sprach Jesus zu ihnen:
Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch.
Wandelt, solange ihr das Licht habt,
dass euch die Finsternis nicht überfalle.
Wer in der Finsternis wandelt,
der weiß nicht, wo er hingeht.
12,36 Glaubt an das Licht, solange ihr‘s habt,
auf dass ihr des Lichtes Kinder werdet.
Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.

[16. September 2022] In Vers 34 zeigt sich nach Klaus Wengst (W378), dass „die in der Erzählung als anwesend vorgestellten und schon in V. 29 eingeführten Leute verstanden“ haben, was Jesus „im Blick auf sie der Erklärung für notwendig hält“:

Denn bezogen auf das gerade angezeigte Verständnis von „erhöhen“ wenden sie ein: „Wir haben aus der Tora gehört, dass der Gesalbte für immer bleibt. Wieso sagst du, dass der Menschensohn erhöht werden muss? Wer ist dieser Menschensohn?“ Die Leute haben also verstanden, dass sich das Erhöhtwerden Jesu auf seine Kreuzigung bezieht. Sie haben auch verstanden, dass die Rede vom Erhöhtwerden eine Variante der Rede vom Verherrlichtwerden ist. Denn wo Jesus im Vorangehenden vom Erhöhtwerden gesprochen hatte, wurde der Menschensohn nicht erwähnt, und wo das der Fall war, sprach er vom Verherrlichtwerden (V. 23). Und schließlich gebrauchen die Leute die Bezeichnungen „Gesalbter“ und „Menschensohn“ als gleichsinnig. Das Faktum, dass Jesus gestorben, gar am Kreuz hingerichtet worden ist, dient hier als Einwand gegen die für ihn beanspruchte Messianität.

Ist es nicht ein wenig gewagt, anzunehmen, dass die Volksmenge, die die Stimme vom Himmel nicht verstanden hat, aber dennoch die Zusammenhänge zwischen der Ehrung des Menschensohns und seiner Erhöhung begriffen haben soll, die zudem in der paradoxen Erhöhung an das Kreuz der Römer besteht? Vom Kreuz war gegenüber der Volksmenge ja ausdrücklich nirgends die Rede gewesen. Wenn der Evangelist tatsächlich von einem so tiefen Verstehen ausgeht, dann traut er der Volksmenge vielleicht ein Wissen zu, das dem Wissen der Juden über den angeblich gekreuzigten und auferstandenen Jesus entsprechen mag, die der johanneischen Gemeinde am Ende des ersten Jahrhunderts zurückhaltend oder ablehnend gegenüberstehen.

Wie dem auch sei, gegen die Messianität Jesu spricht der Volksmenge zufolge „der mit der Tora begründete Satz, ‚dass der Gesalbte für immer bleibt‘.“ Dabei dürfte nomos, „Tora“, hier als „Bezeichnung der ganzen Schrift“ zu verstehen sein:

Eine sehr nahe Entsprechung bietet die Septuaginta in Ps 88,37 (in der Zählung der hebräischen Bibel: Ps 89): „Sein (Davids) Nachkomme wird für immer bleiben.“ … Wie die Annahme, jemand sei der Messias, durch dessen Tod als widerlegt gilt, zeigt sehr deutlich eine Tradition <908> über Gen 49,18, „dass unser Vater Jakob ihn (Simson) sah und von ihm meinte, er sei der König Messias. Als er aber sah, dass er starb, sprach er: Auch dieser starb. Auf Deine Hilfe, Ewiger, setze ich meine Hoffnung (Gen 49,18)“.

Daher meint Wengst mit Blank: <909>

„Man muß sehen, daß die jüdische Auffassung sowohl von der Schrift wie von der Tradition her ihre guten Gründe hat.“ So ist auch die Frage: „Wer ist dieser Menschensohn?“ nicht wie in 9,36 als die Frage nach der konkreten Person „zu verstehen“. Sie „bedeutet vielmehr: […] Was ist das für ein Menschensohn, von dem hier die Rede ist? Denn diesen Menschensohn kennen wir aus unserer Überlieferung nicht!“

Damit bringt Johannes (W378f.) in

seiner Darstellung der Geschichte Jesu … unter den Einwänden, die gegen die Messianität Jesu sprechen, als letzten den Hinweis auf dessen Kreuzestod. Es ist, wie schon 6,62 andeutete, der gewichtigste. Dabei geht es nicht um die Frage einer vermeintlichen „Messiasdogmatik“, ob der Messias auch in Niedrigkeit begegnen könne. Mit dem „Bleiben des Gesalbten“ geht es um die Gegenwart des messianischen Reiches, die offenkundig nicht gegeben ist.

Damit stellt Wengst immerhin die Frage, die auch Ton Veerkamp umtreibt, wie ein gekreuzigter Messias das messianische Königreich oder das Leben der kommenden Weltzeit, wie Johannes es nennt, anbrechen lassen kann.

Nach Wengst (W379) ist Jesu Antwort in den Versen 35-36a genau von diesem Einwand her zu verstehen:

Sie akzeptiert den Einwand, soweit er die Tatsachen betrifft: Jesus ist am Kreuz gestorben; das messianische Reich ist nicht da. Die Möglichkeit, dass Finsternis über Menschen hereinbricht und sie nicht wissen, wohin sie gehen, ist nicht beseitigt. Und doch ist Entscheidendes geschehen; Jesus ist trotz aller Finsternis und gegen sie „das Licht“, nicht als eine „jederzeit und überall vorhandene und verfügbare Größe“ [Blank 324]. Als Licht werden ihn vielmehr die Glaubenden wahrnehmen, um – davon erhellt und so zu „Kindern des Lichts“ geworden – Orientierung zu haben für den Weg.

Damit scheint die Erwartung der kommenden Weltzeit auf die lange Bank geschoben zu sein; was Jesus als Hoffnung anbietet, ist er selbst als „das Licht“ in Gestalt der „Orientierung“, die er denjenigen gibt, die an ihn glauben.

Um das auszudrücken, werden „schon vorher im Evangelium angeführte Motive“ aufgenommen:

In 7,33 sagte Jesus seinen Gesprächspartnern, dass er noch kurze Zeit unter ihnen sei. Das sagt er auch hier, wobei er aber – wie schon an einer Reihe anderer Stellen – von sich als „dem Licht“ spricht. Bei dieser „kurzen Zeit“ ist zunächst gewiss an die nur noch kurze Anwesenheit des irdischen Jesus bis zu seinem Tod gedacht. Aber dieses Motiv begegnet auch in den Abschiedsreden an die Schüler wieder, denen er seine neue Gegenwart im Geist verheißt. Die wird nicht so sein, dass Jesus bleibend für sie zuhanden und greifbar wäre. Die nur noch kurze Anwesenheit des irdischen Jesus wird zum Gleichnis ihrer Erfahrung, dass Jesu messianische Gegenwart als den Weg erhellendes und Orientierung gebendes Licht je und je im Glauben erkannt und ergriffen sein will.

Diese Ausführungen von Wengst könnten auch im Sinne von Veerkamp verstanden und weitergeführt werden: Gerade als der abwesende Messias, der als der messianische Superheld von seinen Schülern Abschied genommen hat, ist Jesus das Licht des kosmos, den er in seinem Kreuzestod bloßgestellt und überwunden hat. Und indem er die Inspiration vom NAMEN her seinen Schülerinnen und Schülern übergibt, können sie messianisch – liebend – solidarisch – befreiend wirken und den Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens tätig erwarten.

Wengst vergleicht diese johanneische Sicht „des Messianischen“ mit einer rabbinischen Tradition <910>über den Messias unter den Armen vor den Toren Roms“:

„Rabbi Jehoschua ben Levi traf Elija, der am Eingang der Höhle des Rabbi Schim‘on ben Jochaj stand. Er sprach zu ihm: ,Werde ich in die kommende Welt kommen?‘ Er sprach zu ihm: ,Wenn es dieser Herr will.‘ […] Er sprach zu ihm: ,Wann kommt der Gesalbte?‘ Er sprach zu ihm: ,Geh, frag ihn selbst!‘ ,Und wo sitzt er?‘ ,Am Eingang der Stadt (= Rom).‘ ‚Und was ist sein Zeichen?‘ ,Er sitzt zwischen den Armen, die an Krankheiten leiden, und sie alle lösen und verbinden auf einmal. Er löst ein Stück und verbindet ein Stück; er sagt: Vielleicht werde ich verlangt; dass ich mich dann nicht lang aufhalte!‘ Er ging zu ihm, sprach zu ihm: ,Friede sei mit dir, mein Lehrer und mein Meister!‘ Er sprach zu ihm: ,Friede sei mit dir, Sohn Levis!‘ Er sprach zu ihm: ,Wann kommt der Herr?‘ Er sprach zu ihm: ,Heute.‘ Er ging zu Elija zurück. Er sprach zu ihm: ,Was hat er dir gesagt?‘ Er sprach zu ihm: ,Friede sei mit dir, Sohn Levis!‘ Er sprach zu ihm: ,Er hat dir und deinem Vater die kommende Welt versprochen.‘ Er sprach zu ihm: ,Tatsächlich hat er mich belogen; denn er sprach: Heute werde ich kommen, aber er ist nicht gekommen.‘ Er sprach zu ihm: ,So hat er zu dir gesprochen (Ps 95,7): Heute, wenn ihr auf seine Stimme hört‘.“

Indem Johannes die Szene in Vers 36b mit den Worten (W379f.) abschließt: „Das redete Jesus, ging weg und verbarg sich vor ihnen“, und

das der letzte öffentliche Auftritt Jesu war, ist damit für die gerade im Gespräch mit Jesus vorgestellten Leute schon das Ende der „kurzen Zeit“ gekommen. „Viele von den Juden“ werden Jesus erst wieder sehen, wenn er am Kreuz hängt (19,20). Die Notiz enthält aber noch einen anderen Aspekt. „Die Stunde“ ist zwar schon gekommen, aber der unmittelbare Zugriff auf Jesus erfolgt noch nicht, da dieser sich noch einmal verbirgt. So gewinnt der Evangelist Zeit und Raum, den Abschied Jesu von seinen Schülern ausführlich zu gestalten.

Hartwig Thyen (T526) findet den in Vers 34 von der Volksmenge vorgebrachten Einwand, „im Gegensatz zu seiner Rede von seiner Erhöhung wüßten sie aber doch ‚aus dem Gesetz‘, daß der Messias für immer bleiben werde“, überraschend, da „vom Messias (christos) in der gesamten Passage … bisher nicht die Rede war“:

Er erweist jedenfalls, daß die Leute, die sich hier um Jesus geschart haben, erfüllt sein müssen von messianischer Hoffnung und darum wohl zu denen gehörten, die Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem zuvor mit der Rezitation von Ps 118 als den messianischen basileus tou Israēl {König von Israel} begrüßt hatten.

Nachdem auch Thyen ihren „Verweis auf die Tora“ als Bezugnahme auf „die ganze jüdische Bibel“ und hier insbesondere auf Psalm 88,37 gedeutet hat, verblüffen ihn auch die „dieser Berufung auf die Schrift“ folgenden Fragen, wie Jesus

denn (im Gegensatz zum Gesetz) behaupten könne, „der Sohn des Menschen müsse erhöht werden“, und wer dieser „Sohn des Menschen“ denn überhaupt sei… Einmal nämlich hatte Jesus wohl damals zu Nikodemus, nicht aber jetzt zu ihnen gesagt, daß der Sohn des Menschen erhöht werden müsse“ (hypsōthēnai dei: 3,14). Dagegen hatten sie nur gehört, daß die Stunde gekommen sei, daß der Sohn des Menschen erhöht werde (V. 23). Für den Leser mag das eine willkommene Erinnerung an die Nikodemus-Szene sein, woher kommt aber der Volksmenge das Wissen um dieses Müssen? Zum anderen müssen die Leute ganz richtig begriffen haben, daß ,ewig bleiben‘ und ,erhöht werden‘ einander wechselseitig ausschließen. Dabei werden sie freilich schwerlich an Jesu Kreuzigung gedacht haben als vielmehr an irgendeine Art von Entrückung Jesu, denn den Erzählerkommentar und den Ausgang der Geschichte Jesu kennen ja erst die Leser des Evangeliums.

Anders als Wengst stellt also Thyen sehr penible Fragen, ob die Volksmenge überhaupt in der Lage gewesen sein könnte, Jesu Äußerungen sowohl über die Notwendigkeit als auch über die Art und Weise der Erhöhung des Menschensohns zu begreifen. Eine dritte Frage bezieht sich auf seine bereits vielfach geäußerten Bedenken, die Vorstellung vom „Sohn des Menschen“ als einen Hoheitstitel Jesu zu verstehen und diesen gar mit dem Menschensohn von Daniel 7 gleichzusetzen (T566f.):

Und zum Dritten endlich scheint diesen Zeitgenossen Jesu – im Gegensatz zu dem, was die modernen Kritiker über den Menschensohn zu wissen meinen – die Identität von Messias und Menschensohn keineswegs geläufig oder gar selbstverständlich zu sein. Denn wenn sie fragen: „Wer ist denn überhaupt dieser Sohn des Menschen?“, wollen sie ja nicht über irgendeinen ,Hoheitstitel‘ aufgeklärt werden. Vielmehr setzt ihre Frage, ebenso wie schon zuvor diejenige des Blindgeborenen in 9,35, doch voraus, daß der, nach dessen Identität sie fragen, ein Mensch unter den Menschen im Sinne der hebräischen Wendung ben ˀadam sein muß.

Dabei bleibt mir nach wie vor unverständlich, wie Thyen den Bezug zu Daniel 7,13 beharrlich leugnen kann, denn dort ist zwar nicht vom hebräischen ben ˀadam, aber doch klar und deutlich vom aramäischen bar ˀenosch {Menschensohn, einer wie ein Mensch} die Rede, und diese Vorstellung haben bereits die Synoptiker vielfach auf Jesus als den Messias bezogen. Thyen versucht seine Auffassung mit einem Zitat von Burkett <911> zu untermauern (T567):

„Die Frage der Menge zeigt, dass ‚der Sohn des Menschen‘ keine geläufige apokalyptische oder messianische Bezeichnung ist. Das Volk ist verwundert über diesen Titel. In seiner Antwort befriedigt Jesus zwar nicht ihre Neugier auf die Bezeichnung selbst, aber er erklärt bis zu einem gewissen Grad die Identität des Menschensohns, indem er darauf hinweist, dass der Menschensohn das Licht ist“.

Aber auch diese Argumentation ist nicht überzeugend, zumal Burkett sogar selber einräumt, dass Jesus in seiner Antwort den Menschensohntitel selbst gar nicht erklärt. Wenn es in Vers 34 am Schluss wörtlich heißt: tis estin houtos ho hyios tou anthrōpou? {wer ist dieser der Sohn des Menschen?}, dann muss damit nicht eine Unwissenheit über den Menschensohn von Daniel 7 ausgesagt sein, sondern es kann auch, wie Wengst unter Bezug auf Blank meinte, die Frage gestellt sein, wer in dieser zweifelhaften Weise, wie sie Jesus beschreibt, als der Menschensohn auftritt.

Da in den Versen 35-36a wie „schon in Joh 3,13-21 und in der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9) … nun auch hier das Prädikat ,der Sohn des Menschen‘ eng mit dem Lexem phōs {Licht} verknüpft“ ist, meint Thyen „Jesu Rede von ,dem Licht‘, das nur noch eine kleine Weile unter ihnen sein wird, … geradezu als die Antwort auf die Frage der Menge“ verstehen zu können,

wer dieser ,Sohn des Menschen‘ denn eigentlich sei: Er ist das Licht des ersten Schöpfungstages. Nicht nur Gottes erstes Wort bei der Schöpfung: „Es werde Licht“, sondern auch Gottes erste Tat der Schöpfung: „Und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis“ (Gen 1,4: diechōrisen ho theos ktl.), ist in dem Fleisch geworden, der nun als ,der Sohn des Menschen‘ erhöht werden muß. Wie alle Werke Gottes am Tage geschehen und ehe die Nacht einbricht, da niemand wirken kann, so muß auch der Sohn des Menschen als das Licht der Welt wirken, solange es Tag ist (9,4f).

In diesem Zusammenhang weist Thyen darauf hin, dass „Jesu Aufforderung an die um ihn Versammelten: ‚Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überwältige‘“ zum einen mit dem Wort katalambanein das Wort für die Nicht-Überwältigung der Finsternis aufgreift, das bereits in Johannes 1,5 verwendet wurde, außerdem spricht sie

in der Sprache des Psalters vom Wandel im Licht: ‚Du hast meine Seele aus dem Tode errettet und meine Füße vor dem Sturz bewahrt, damit ich vor dir wandele im Licht des Lebens‘ (ˀor hachajim – LXX: en phōti zōntōn: Ps 56,14). Geradezu zur Selbstprädikation {Selbstbezeichnung} Jesu wird das Lexem phōs, wenn Jesus endlich fordert: hōs to phōs echete, pisteuete eis to phōs, hina hyioi phōtos genēsthe {Solange euch das Licht scheint, glaubt an das Licht, damit ihr zu Söhnen des Lichtes werdet}. Mit diesen Worten geht Jesus weg und verbirgt sich vor ihnen.

Nach Ton Veerkamp <912> bleiben alle von ihm „konsultierten Auslegungen“ eine Antwort schuldig auf die von ihm am Ende des letzten Abschnitts zu den Versen 31 und 32 aufgeworfene Frage, was die „Erhöhung“ des Menschensohnes konkret bedeuten soll und vor allem, dass „jetzt“ das Gericht über den kosmos geschieht und Jesus alle zu sich zieht. Er hat auch eine Erklärung für die Verweigerung dieser Antwort:

Sie sind christliche Auslegungen, sie sehen hier kein Problem, weil die Unsterblichkeit der Seele und die ewige Herrlichkeit der Ausweg aus diesem Dilemma seien. Unsere Frage ist für sie keine Frage, und aus dieser Gewissheit legen sie das Evangelium des Johannes aus. Nur Calvin <913> zeigt, dass er zumindest diese Frage kennt:

Darum verkündet Christus, der Fürst der Welt müsse vertrieben werden; denn von hier stammt die Verwirrung und Entstellung, weil, solange Satan herrscht, auch die Ungerechtigkeit regiert. Wenn also Satan vertrieben ist, wird die Welt von ihrem Abfall unter die Herrschaft Gottes zurückgerufen. Wenn einer fragt, wie Satan denn bei Christi Tode gestürzt sein könne, der ja unaufhörlich seinen Kampf gegen Gott fortsetze, so antworte ich, diese Vertreibung beziehe sich nicht auf irgendeine begrenzte Zeit, sondern es zeige sich hier jene einzigartige Wirkung von Christi Tod, die täglich in Erscheinung tritt.

Täglich tritt aber die Macht des „Satans“ bzw. „die Regierung der Ungerechtigkeit“ in Erscheinung. Auch Calvin hat keine Antwort, zumindest keine, die für uns befriedigend wäre. Wir verstehen also nicht, was real gemeint sein könnte.

Auch Wengst hatte das Problem gesehen, dass mit Jesu Tod und Auferstehung das messianische Reich keineswegs angebrochen ist, und sich zu seiner Lösung nicht einfach auf das ewige Leben im Himmel bezogen, sondern auf die Orientierung, die Menschen, die auf Jesus vertrauen, durch ihn als das Licht auf ihrem Weg erfahren können. Aber ob das bereits in der Version der Wengstschen Auslegung erkennbar war, die Veerkamp vorgelegen hat, kann ich nicht sagen.

Veerkamp selbst versucht folgende Antworten auf die von ihm gestellten Fragen:

Vielleicht kann man es so sagen: Wenn wir uns mit unserer ganzen Seele der Sache des Messias verschrieben haben, hört die Weltordnung auf, unser unentrinnbares Schicksal zu sein. Wir fangen an, anders zu leben. Das ist ein Triumph des Messias.

Aber wenn „der Satan seinen Kampf gegen Gott unaufhörlich fortsetzt“, dann fragen wir: Wann endlich hört die Welt auf, Ort des „Menschenmörders von Anfang an“ zu sein, wann endlich? Aufgabe der Theologie ist es, diese Frage zumindest offenzuhalten, wenn sie sie nicht schon beantworten kann.

Johannes trägt dem Rechnung, indem er unsere – und wohl auch seine – Bedenken durch die Menge formulieren lässt: „Wir haben aus der Tora gehört, dass der Messias bis in die kommende Weltzeit bleibt.“ Das ist eine traditionelle Vorstellung: der Messias sei die definitive Lösung aller Probleme. Jeschua rede von einem bar enosch, vom MENSCHEN, der erhoben werden müsse. Wer sei aber dieser bar enosch? Auf deutsch gesagt: „Wir sehen keine Änderung, also was soll jener erhobene, sprich gekreuzigte MENSCH?“

Damit setzt Veerkamp wie Wengst voraus, dass die mit Jesus diskutierende Volksmenge zumindest etwas davon ahnt, welche Vorstellung Jesus mit der Erhöhung des Menschensohns verbindet. Wenn der Messias stirbt, bevor sein Reich angebrochen ist, wie soll es dann anbrechen? Wenn der Menschensohn von Daniel 7 gekreuzigt wird, bevor er Gericht halten und seine Herrschaft antreten kann, wie kann er dann von der Überwindung des Führers dieser Weltordnung und von der Sammlung Israels zum Leben der kommenden Weltzeit reden?

Sehr behutsam und zurückhaltend, doch zugleich sowohl mit klarem Blick für die Realitäten dieser Welt als auch für die vom Evangelium ausgedrückte Hoffnung legt Veerkamp die Reaktion Jesu auf die berechtigte Frage der Volksmenge aus, die er in den Versen 35-36a gibt:

Auf diese Frage kommt keine direkte Antwort, sondern eine Wiederholung dessen, was im Johannesevangelium vom ersten Kapitel an gesagt wurde. Uns scheint, als ob Johannes sagen – oder besser: suggerieren – wollte, so etwas wie einen Messias als eine definitive Lösung all unserer Probleme gibt es nicht. Genau dieses Licht ist bloß „eine kurze Zeit bei euch. Geht euren Gang, solange ihr das Licht habt, damit die Finsternis euch nicht überwältigt.“ Die Finsternis ist jenes Imperium des Todes. Wer mit einer messianischen Perspektive lebt, über den hat das Reich keine endgültige Macht: „Solange ihr das Licht habt, vertraut dem Licht, damit ihr wie Licht werdet (zu Söhnen des Lichts werdet).“ Leider ist „das Licht der Welt“ ermordet worden. Die Relativität des Messias relativiert alles, was sich für das Absolute hält – allen voran den Kaiser Roms: das ist die Botschaft.

Ist eine solche Perspektive aber überzeugend genug, um tragfähig zu sein für einen dauerhaften Lebenswandel im Licht – in der Zuversicht, dass die Weltordnung längst überwunden ist und die kommende Weltzeit tätig erwartet werden kann? Veerkamps weitere Ausführungen klingen ziemlich skeptisch, geben aber dennoch diese Hoffnung nicht auf:

Die Realität ist doch wohl eine andere. Wenn aber das Reich ziemlich gefestigt, ziemlich definitiv zu sein scheint, dann scheint die Finsternis uns überwältigt zu haben. Offenbar haben das die Schüler nicht verstanden. Deswegen muss Johannes das Problem noch einmal und dann noch deutlicher behandeln. Das geschieht im Gespräch zwischen Jeschua und den Schülern, die die eigentlichen Fragen stellen dürfen – Thomas, Philippus, Judas Nicht-Iskariot (Johannes 14) – und vor allem im großen Stück: „Wenn der Anwalt kommt, den ich euch senden werde“ (15,26-16,15) und in der Rede über die „kurze Zeit“ (16,16-24).

Zur „Verborgenheit“, in die sich Jesus als der Messias unmittelbar nach seinen letzten Worten an die Volksmenge zurückzieht (Vers 36b), schreibt Veerkamp mahnende und ermutigende Worte vor allem uns Christen ins Stammbuch:

Einstweilen hat sich der Messias in die Verborgenheit zurückgezogen. Für jenes Israel, das die Menge der Judäer repräsentiert, bleibt er verborgen. Auch unsere christlichen Osterfeste werden diese Verborgenheit nicht aufheben. Die Verborgenheit ist endgültig. Nicht nur für die Weltordnung und für die Judäer, sondern auch für die messianische Gemeinde. Der Messias wird sich verabschieden. Was bleibt, ist die Inspiration, die von ihm ausgehen wird. Ob das unsere Fragen beantwortet, darüber muss jede neue Generation neu nachdenken. Die jetzt folgenden Verse sollten wir auch als Worte verstehen, die sich auf die Christen beziehen.

Das klingt alles andere als triumphalistisch, sehr wenig osterfreudig. Und doch ist eine Hoffnung ausgesprochen, die traditionell mit dem deutschen Wort „Geist“ und von Veerkamp mit „Inspiration“ bezeichnet wird – womit er das hebräische ruach und das griechische pneuma wiedergibt und die Bewegung meint, in die der befreiende NAME des Gottes Israels durch den Sturmwind seines Lebensatems uns versetzen kann.

Johannes 12,37-41: Jesaja weiß, warum „sie“ nicht auf „ihn“ vertrauen, dessen Ehre er sah

12,37 Und obwohl er solche Zeichen vor ihren Augen getan hatte,
glaubten sie doch nicht an ihn,
12,38 auf dass erfüllt werde der Spruch des Propheten Jesaja,
den er sagte (Jesaja 53,1):
„Herr, wer glaubt unserm Predigen?
Und wem ist der Arm des Herrn offenbart?“
12,39 Darum konnten sie nicht glauben,
denn Jesaja sagte wiederum (Jesaja 6,9-10):
12,40 „Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt,
dass sie mit den Augen nicht sehen
noch mit dem Herzen verstehen und sich bekehren
und ich ihnen helfe.“
12,41 Das sagte Jesaja,
weil er seine Herrlichkeit sah und von ihm redete.

[17. September 2022] Den letzten Abschnitt von Johannes 12 (Verse 37-50) betrachtet Klaus Wengst (W380) als einen

doppelten Abschluss des öffentlichen Wirkens Jesu und damit des ersten Teils des Evangeliums. Durch die Bemerkung am Beginn von V. 44, dass das Folgende Jesus spreche – sonst gibt es hier keinerlei szenische Angaben – ist es deutlich in zwei Abschnitte geteilt. Der erste besteht aus einer Reflexion des Evangelisten (V. 37-43). Er bedenkt den Umstand, dass das bis hierhin geschilderte Wirken Jesu im Wesentlichen keinen Glauben fand. Der zweite Abschnitt (V. 44-50) bietet eine Rede Jesu, die in der Erzählung keinen Ort und kein Gegenüber hat. Gleichsam aus der Verborgenheit heraus, in die Jesus sich nach V. 36 begeben hat, wendet er sich direkt an die Leser- und Hörerschaft des Evangeliums und fasst für sie sein Wirken als ganz und gar im Auftrag Gottes geschehend zusammen.

Der erste Abschnitt beginnt (W381) mit der Feststellung: „Obwohl er doch so viele Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn.“ Dass davon so pauschal die Rede ist, obwohl „im Evangelium bisher auch davon zu reden war, dass Menschen auf das Wirken Jesu glaubend reagierten“, bestätigt einerseits, „was schon der Prolog anklingen ließ: ‚In das Seine kam er, aber die Seinen nahmen ihn nicht an‘ (1,11)“, ist aus der Sicht des Johannes aber

gewiss auch von der Erfahrung der eigenen Zeit bestimmt, dass die große Mehrheit des jüdischen Volkes die Verkündigung von Jesus als dem erhöhten Gekreuzigten nicht akzeptierte, sondern ablehnte. Das ist für ihn ein bedrängendes Problem, das die eigene Position verunsichern kann und – wie an 6,60-66 deutlich wurde – zur Abwanderung von der eigenen Gemeinschaft führte. Dieses Problem verlangt daher Klärung. Johannes versucht sie, indem er es unternimmt, Erklärungen für den Unglauben zu geben.

Nachdem Johannes „in 5,44 ein menschliches Verhalten genannt“ hatte, „das es unmöglich macht zu glauben“, und in 10,26 und 8,43.47 diese Unfähigkeit „in einer anderen Zugehörigkeit begründet“ hatte, versucht er jetzt „die Situation von der Schrift her zu verstehen“. In einem „Wort des Propheten Jesaja“ entdeckt er (Vers 38)

in seiner Bibel die Erfahrung der eigenen Zeit wieder. Das in solchen Zusammenhängen gebrauchte hebräische Wort hat vor allem die Bedeutung „aufrichten“. Das Schriftwort wird geradezu in Szene gesetzt. Damit ist es nicht abgetan, sondern für weitere Ausführungen offen; es ist in der Lage, sie aus sich heraus zu setzen.

Mit den Worten „Ewiger, wer hat unserer Botschaft geglaubt? Und der Arm des Ewigen – wem ist er enthüllt worden?“ zitiert Johannes wörtlich Jesaja 53,1 (W382) den Text „der Septuaginta, der dem hebräischen Text bis in die Wortstellung hinein entspricht, allerdings über ihn hinaus die Anrede am Beginn hat.“ Bei Jesaja bezieht sich die Aussage auf „den leidenden und verachteten Knecht (Jes 52,13-53,12)“, Johannes bezieht sie auf die Verborgenheit der Macht Jesu:

Die Entsprechung zeigt sich gerade auch im zweiten Teil des Zitats. „Der Arm des Ewigen“ ist Symbol seiner Macht. Sie ist im schlimmen Schicksal des Knechtes verborgen. Sie ist verborgen in der Ohnmacht des gekreuzigten Jesus. Die gerade erwähnten vielen Zeichen, so so eindrucksvoll sie auch waren, haben als solche immer nur auf ihn selbst hingewiesen. Er aber endet am Kreuz.

Ein weiteres Jesaja-Zitat hebt Johannes in Vers 39 mit der besonders betonten Einführung hervor:

„Deswegen konnten sie nicht glauben, da wiederum Jesaja sprach.“ Hier kann nicht daran vorbeigesehen werden, dass er die erfahrene Nicht-Akzeptanz Jesu vom Handeln Gottes her begründen will.

Diesem Ziel entsprechend „gestaltet er auch das Zitat aus Jes 6,10“ in seinem Vers 40 in folgender Weise um:

Im Hauptsatz bietet er das Zitat so: „Blind gemacht hat er ihre Augen und ihr Herz verhärtet.“ Gegenüber dem Bibeltext lässt er die Aussage über die Ohren weg und die Reihenfolge der Aussagen über Herz und Augen kehrt er um. Vor allem aber bietet er die Verben in der dritten Person Singular aktiv. Der hebräische Text hat Imperative, sodass das entsprechende Tun als Auftrag an den Propheten erscheint. Die Septuaginta formuliert an der ersten Stelle im Passiv, womit Gott als logisches Subjekt angezeigt wird; sonst steht die dritte Person Plural aktiv. Bei Johannes ist also Gott grammatisches und tatsächliches Subjekt; er hat hier gehandelt.

Daraus folgt im Nebensatz (W383),

dass „sie nicht mit den Augen sehen und dem Herzen verstehen und sich bekehren“. Für Johannes weisen die Taten Jesu als Zeichen darauf hin, dass er von Gott gesandt ist, dass Gottes Macht gerade auch in der Ohnmacht des Kreuzes Jesu wirkt. Dass die große Mehrheit seiner Landsleute das nicht so sehen und verstehend wahrnehmen kann, vermag er sich letztlich nur so zu erklären, dass das von Gott selbst so gewollt und bewirkt worden ist. Das findet er in Jes 6,10.

An diesem Punkt verlässt Wengst den deutschen Wortlaut des Textes, wie er etwa aus der Lutherübersetzung hervorgeht, dass nämlich auch der Schlussteil „dass … ich ihnen helfe“ in die Reihe der zuvor verneinten Verben gehört. Er sieht hier einen abrupten Übergang zu einer hoffnungsvollen Aussage Gottes:

Aber mit dem Schluss dieses Textes lässt er es nicht das letzte Wort Gottes sein. Der jetzt erfolgende Wechsel des grammatischen Subjekts markiert den Übergang zur Verheißung heilvoller Zuwendung: „Aber ich werde sie heilen.“

Zur Begründung weist Wengst zunächst darauf hin,

dass Johannes hier – abweichend vom hebräischen Text – genau mit der Septuaginta übereinstimmt. Die Form seines Zitates hier ist somit ein Hinweis darauf, dass er sowohl mit dem hebräischen als auch dem griechischen Text der Schrift umgehen konnte und wohl auch die aramäische Übertragung kannte und in der Bildung des Zitates sein Verständnis desselben zum Ausdruck brachte.

Auffällig ist im Text der Septuaginta, dem „Johannes folgt“, dass die ersten drei Verben des Nebensatzes „in der dritten Person Plural“ und „im Konjunktiv Aorist“ stehen, während das letzte Verb die „erste Person Singular im Futur“ aufweist. Nun ist es nach Wengst zwar grammatikalisch möglich, dass auch dieses Futur „eine weitere Folge“ bezeichnet, wie „in der Regel auch Joh 12,40 verstanden“ wird. Dann gehört die „Aussage ‚und ich werde sie heilen‘ … noch in den Nebensatz und … [ist] als verneint zu gelten. Sie kann aber auch als selbständiger Satz gelesen werden.“ Dann

ist der Übergang zum Futur, vor allem in Verbindung mit dem vom hebräischen Text her überhaupt nicht motivierten Wechsel in die erste Person Singular, ein Hinweis darauf, dass diese Aussage von den vorangehenden abgesetzt und nicht negativ verstanden werden soll.

Das Hauptargument, auf das sich Wengst berufen kann, ist jedoch, dass auch in „der jüdisch-rabbinischen Tradition … der Schluss von Jes 6,10 ganz selbstverständlich positiv verstanden“ wird, wofür er eine Reihe von Stellen anführt. Schließlich hat diese Interpretation auch „Anhalt am hebräischen Text“, und zwar darin,

dass die beiden letzten Aussagen über Umkehr und Heilung in einer anderen Aktionsform stehen. Sie können als zum Vorhergehenden gehörig, aber auch als eigener Satz gelesen werden. Johannes folgt auch darin dem Septuagintatext, dass er die Aussage von der Umkehr mit den vorangehenden verbindet.

Indem Wengst (W384) daran erinnert, dass der „Schluss von Jes 6,10 … in der rabbinischen Auslegung und im Targum, auch in Mk 4,12, als ‚Erlassenwerden‘, als Sündenvergebung verstanden“ wird, fordert er uns Christen zur Wahrnehmung auf,

dass es dieses „Heilen“ in der Geschichte des Judentums als lebendige Erfahrung bis heute gibt. Dementsprechend ist die hier gemachte Aussage des Johannes, letztlich habe Gott selbst die Nichtakzeptanz Jesu durch das Judentum bewirkt, positiv in der Wahrnahme dessen aufzunehmen, dass Gott mit seinem Volk einen anderen Weg weitergegangen ist als den mit Jesus.

Aus diesem Grund ist Wengst zufolge (Anm. 752)

auch die geläufige Redeweise vom „Unglauben der Juden“ – verfehlt. Sie tut so, als gäbe es Glauben nur als Glauben an Jesus, als wäre dieser nicht – wie gleich V. 44 deutlich machen wird – nur relevant als Glaube an Gott und als wäre die Geschichte des Judentums nicht voll von Zeugnissen des Vertrauens auf Gott.

Was meint Johannes nun mit seinem Rückblick „auf das gerade gebrachte Zitat“ in Vers 41: „Das sprach Jesaja, weil er seine Herrlichkeit sah. Über ihn redete er“? Wengst zufolge (W384) ist diese Aussage vom „Kontext des Zitates“ her zu verstehen:

Es steht am Ende des Abschnitts, in dem Jesaja von seiner Berufung zum Propheten innerhalb einer Vision berichtet. Nach dem hebräischen Text heißt es Jes 6,1: „Da sah ich den Ewigen auf einem Thron sitzen, hoch und erhaben“, und Jes 6,5: „Den König, den Ewigen, mächtig über Heere, haben meine Augen gesehen.“ Der Targum formuliert an diesen Stellen charakteristisch anders, er vermeidet die Aussagen von einem direkten Sehen Gottes. Gegenstand des Sehens ist „die Herrlichkeit des Ewigen“ (V. 1) bzw. „die Herrlichkeit des Einwohnens (sch‘chináh) des Königs der Welt, des Ewigen, mächtig über Heere“ (V. 5). Ganz entsprechend heißt es in Joh 12,41, dass Jesaja „seine Herrlichkeit sah“. Er sah sie und wurde mit einer Botschaft beauftragt, die Nichtsehen und Nichtverstehen bewirkte – und das auch sollte. So entdeckt Johannes bei Jesaja wieder, was er in seiner eigenen Zeit erfährt. Er hatte in 1,14 im Blick auf Jesus als das Fleisch gewordene Wort bezeugt: „Und wir schauten seine Herrlichkeit.“ In dieser Perspektive erzählt er die Geschichte Jesu. Aber „sie glaubten nicht an ihn“. Von daher nimmt er Jesaja wahr und überblendet sozusagen seine eigene Sicht Jesu, in dem er Gott in seiner Gegenwart (sch‘chináh) erblickt, mit dem Schauen Jesajas, der die Herrlichkeit der Gottesgegenwart (sch‘chináh) sah. So redete Jesaja zugleich auch „über ihn“, nämlich Jesus.

Ausdrücklich merkt Wengst an (Anm. 750), dass „der biblische Kontext“ in dieser Weise „aufzunehmen und zu beachten“ ist, statt – wie etwa Schnackenburg <914> – „vom Schauen des ‚präexistenten Christus‘ zu reden“. Indem Johannes (W384) „Gottes Herrlichkeit gerade im gekreuzigten Jesus“ erblickt, nimmt er auch Jesajas Aussage (52,13) über den „geschundenen Gottesknecht“ auf, „er werde ‚hoch erhöht und sehr erhaben‘ sein“.

Hartwig Thyen (T568) sieht die „beiden letzten Passagen“ des Kapitels Johannes 12 als Abschluss des „vierten und zentralen Akt[es] seiner dramatischen Historie Jesu“, der ihm zufolge in 8,12 mit Jesu Worten „lch bin das Licht der Welt“ eröffnet worden war und „mit dem erneuten Erklingen der Stimme Jesu aus seiner in V. 36 genannten Verborgenheit… (12,44-50)“ beendet wird. Dabei wird sich der „Epilog des Erzählers (12,37-43)… als intertextuelles Spiel mit Mk 4,10ff parr. erweisen“. In diesem Zusammenhang wiederholt Thyen seine Ablehnung des von den meisten Exegeten zwischen den Kapiteln 12 und 13 gesehenen tiefen Einschnitts im Evangelium:

Es ist zwar richtig, daß diese beiden Abschnitte nicht nur auf das in Joh 12 Gesagte, sondern das gesamte öffentliche Wirken Jesu seit 1,19ff zurückblicken. Und richtig ist auch, daß auf Joh 12 als der fünfte Akt der Erzählung mit den Kapiteln 13-17 nun das esoterische Intermezzo des langen Abschieds Jesu von seinen Jüngern folgt. Doch das berechtigt nicht dazu, die eigentliche Zäsur des Evangeliums zwischen den Kapiteln 12 und 13 zu sehen und Joh 1-12 mit Bultmann als die „Offenbarung vor der Welt“ von Joh 13-21 als der „Offenbarung vor der Gemeinde“ zu unterscheiden. Denn die Kapitel 13-17 sind eben tatsächlich nur ein Intermezzo und für die Jünger wie für die Leser nur eine Atempause, ehe Gottes in der Person Jesu ausgetragener Rechtstreit mit dieser Welt dann in den Kapiteln 18-21 seine Klimax und seinen Triumph erreicht.

Die Zeichen Jesu, auf die in Vers 37 mit der Wendung: tosauta sēmeia {nach Thyen: „derart viele Zeichen“ und nicht „so viele Zeichen} hingewiesen wird, sind nach Thyen als die „bisher erzählten Zeichen“ zu begreifen,

die Jesus „vor den Juden“ (emprosthen autōn) getan hat, und nicht {als jene} vielen Zeichen, die er „vor seinen Jüngern“ tat, und die „nicht geschrieben sind in diesem Buch“ (20,30f). … Wie einst durch seinen Knecht Mose in Ägypten, so wirkt Gott selbst diese Zeichen jetzt durch seinen Sohn, um den Menschen seine doxa {Herrlichkeit} zu offenbaren und sie zum Glauben zu führen. … Nirgends wird ein bloßer Zeichenglaube beklagt, sondern das Rätsel ist, warum die Ioudaioi {Juden} für die Sprache der Zeichen taub sind…

Unter Hinweis auf 5. Mose 29,1-3 meint Thyen (T569), dass die Juden „es aus ihrer Geschichte und aus ihren ,Schriften‘ doch besser wissen müßten“. Auf jeden Fall erzählt „Johannes die Geschichte der Zeichen, die Jesus wirkt, vor dem Hintergrund der großen und rettenden Zeichen …, die Gott beim Auszug aus Ägypten und während der vierzig Jahre der Wüstenwanderung Israels getan hat.“ Das führt ihn in Vers 38 zu seinem Rückgriff auf den Propheten Jesaja, denn

wie Mose erklärt, daß es JHWH selbst ist, der die Verstockung nicht von ihren Herzen genommen, und die Blindheit ihrer Augen, sowie die Taubheit ihrer Ohren „bis auf diesen Tag“ nicht beseitigt hat, so sieht unser Erzähler nun in dem Unglauben der Ioudaioi das Jesajawort erfüllt: „Herr, wer glaubt denn unserer Predigt (akoē), und wem ist denn der Arm des Herrn (ho brachiōn kyriou) offenbar geworden?“ (Jes 53,1). Diese rhetorische Frage, die das vierte Lied vom Gottesknecht eröffnet, erfordert die negative Antwort: ,Kein einziger!“ In ihr bilden Gottes Wort und seine Wundertat einen synonymen parallelismus membrorum. Keines von dessen beiden Gliedern darf dem anderen unter- oder übergeordnet werden. Und ebenso steht es auch mit dem Verhältnis der Worte Jesu zu seinen Zeichen, zu seinem ,Werk‘ und zu seiner Person.

Mit dem Zitat von Jesaja 53,1 erinnert der Evangelist an „das ganze Lied vom ,leidenden Gottesknecht‘ …, der ‚durchbohrt wurde um unserer Sünden willen und um unserer Missetaten willen zerschlagen wurde‘ (Jes 53,4…).“ Und auch „die Begründung für das mit Jes 53,1 benannte Faktum des Unglaubens Israels“ entnimmt Johannes dem Buch Jesaja, nämlich der Stelle 6,10:

Anders als zuvor Jes 53,1 zitiert er diesen Vers jedoch nicht mehr im Wortlaut der LXX. Vielmehr spielt er jetzt sehr viel freier mit dem Jesajatext, möglicherweise mit dem Blick auch auf dessen hebräische Fassung … Und wie die unmittelbare Fortsetzung zeigt, ruft er mit diesem Vers auch hier wieder zugleich die gesamte Erzählung von der Berufung Jesajas (Jes 6) in Erinnerung. Ja, mehr noch: Weil nämlich Jes 6,9 bereits im Hintergrund von Jesu Gerichtsrede stand, mit der er am Ende der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen (9,39-41) die Pharisäer als die wahren Blinden verurteilt hatte, weil sie sich als Sehende wähnten, dient diese Wiederaufnahme von Jes 6 ebenso der Verküpfung mit jener Szene wie der Herstellung der Kohärenz des Evangeliums …

Dass Johannes hier Jesaja, „der gut acht Jahrhunderte vor Jesus als Gottes Prophet in Israel aufgetreten war“, als den „autorisierten Zeugen der Geschichte Jesu“ aufruft und insbesondere dafür (T570),

daß diejenigen, vor denen Jesus so große Zeichen getan hatte, gar nicht an ihn glauben konnten (ouk ēdynato pisteuein), weil ,er‘ (Gott?) ihre Augen geblendet hatte (tetyphlōken autōn tous ophthalmous), hat der Auslegung, zumal seit dem Aufkommen und der Herrschaft der historischen Kritik, erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Als die wohl deterministischste Aussage des gesamten Evangeliums stellt unsere Passage ihre Ausleger zugeich vor die (dogmatische) Frage, wie und ob denn ein ,Unglaube‘ als dessen Urheber Gott selbst genannt wird, der durch die Verstockung der Herzen und die Blendung der Augen Umkehr und Heilung unmöglich gemacht hat, noch als ,Schuld‘ begriffen und als ,Sünde‘ zugerechnet werden kann (vgl. 9,41).

In diesem Zusammenhang zitiert Thyen folgende Bemerkung von „Hoskyns <915> zu den V. 37-41“:

„Die Passage liest sich daher wie die brutalstmögliche Behauptung einer puren Prädestinationslehre“. Dem fügt er jedoch sogleich hinzu, das sei aber beileibe nicht die Intention des Autors. Denn den habe das Problem der Relation von göttlichem Willen und menschlicher Freiheit an keiner Stelle ernsthaft beschäftigt. Darum müsse man entschlossen der Versuchung widerstehen, unsere johanneische Passage im Licht der späteren Debatten um die Prädestination zu lesen. Auch wenn sie diese Debatten rezeptionsgeschichtlich fraglos gespeist haben möge, gäbe es jedoch keinerlei Grund dafür, Joh 12,37-41 bereits als Reflex solcher Debatten zu begreifen.

Unter Bezug auf Becker <916> meint Thyen, dass bei Johannes „der sich in Gericht und Gnade äußernde göttliche Wille die menschliche Freiheit und Verantwortung keineswegs“ ausschließt:

Man darf aber das Vorherbestimmtsein zum Unglauben nicht über die erzählten Juden und ihr erkennbares Verhalten hinaus auf das jüdische Volk insgesamt ausdehnen, wie das Becker zu tun scheint, wenn er 12,37ff die „düsteren Worte zur Verwerfung Israels“ nennt [481] und erklärt: „Das neuzeitliche Problem einer Schuldzumessung nur bei Eigenverantwortung“ dürfe man in die Texte nicht eintragen [478]. Denn daß JHWH Schuld nur dem Schuldigen zurechnet, ist keine neuzeitliche Erfindung, sondern seit Ez 18 wohlgehütetes biblisches Erbe … Und dementsprechend dienen die Streitgespräche Jesu mit den jeweils erzählten Juden ja gerade dazu, sie konkreter Schuld und adikia {Unrecht} zu überführen. Sowohl für das Ja als auch für das Nein zu Gottes Gnadenangebot gilt da mutatis mutandis der paradoxe paulinische Satz: „Schaffet mit Furcht und Zittern, daß ihr gerettet werdet, denn Gott ist es, der beides in euch wirkt, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,12f).

Wenn Josef Blank <917> „quasi zur ,Entlastung‘ Gottes – anstelle Gottes unter Berufung auf Joh 8,44 den Teufel als das Subjekt der Verben tetyphlōken und epōrōsen {blenden und verstocken} einsetzen“ will, entfernt er sich Thyen zufolge

nicht nur völlig vom Text Jesajas, an den doch der Verstockungsauftrag von Gott her erging, sondern so macht er den Teufel zugleich zu einem Gegengott und trägt in unser Evangelium damit einen ihm fremden Dualismus ein …

Demgegenüber erwägt Thyen (T571), da Jesaja „nach V. 41 in der zitierten Äußerung über Jesus gesprochen hat (elalēsen peri autou), … mit Lieu <918> ernsthaft …, ob das in den Verben tetyphlōken und epōrōsen implizierte Subjekt nicht eher Jesus selbst ist“, denn: „Es ist Jesus, der die Zeichen getan hat (37), Jesus, der höchstwahrscheinlich der ‚Herr‘ des Zitats aus Jes 53,1 ist (38) und Jesus, dessen Herrlichkeit Jesaja sah“.

Weiter stellt Thyen den Rückgriff des Johannes auf Jesaja 6,9-10 in den Zusammenhang der Versuche

in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte …, das rätselhafte Phänomen des Unglaubens gerade Israels zu erklären. So legt Markus Jesus als die Spitze seiner Antwort auf die Frage seiner Jünger nach der Bedeutung der „Bildworte“ des Gleichnisses vom Sämann die Worte aus Jes 6,9f in den Mund (Mk 4,11f innerhalb von 4,3-20). Seit Wredes Monographie über das Messiasgeheimnis im Markusevangelium <919> wird Mk 4,10-12 nahezu unisono als die „Parabeltheorie“ des Markus bezeichnet und als eines der Elemente von dessen Messiasgeheimnis-Theorie betrachtet. lm Gegensatz zu Jesu ausdrücklicher Proklamation, daß man ein Licht nicht unter den Scheffel oder unter das Bett, sondern auf einen Leuchter stellen solle, damit alles Geheime offenbar werde (Mk 4,21ff), soll Jesus selbst nach Wrede und allen, die ihm darin bis heute folgen, in Gleichnissen geredet haben, um „die draußen“ zu verstocken, damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde.

Gegen Wrede und seine Nachfolger geht Thyen jedoch davon aus, dass Markus 4,12 nicht von einer Absicht Jesu ausgeht, die Umkehr dieser Menschen zu verhindern. Die Wörter hina {damit} und mēpote {damit nicht} in diesem Vers sollen also nicht Jesu Ziel, sondern den Ist-Zustand der Menschen beschreiben. Daher gibt er den Sinn von Markus 4,10-12 mit Lampe <920> folgendermaßen wieder:

„Euch ist das Geheimnis des Gottesreiches gegeben, ihr seid – im Bilde gesprochen – ertragreicher Acker; denen draußen aber muß in Bildern (die noch leichter verständlich sind als ein Klartext) gesagt werden, daß sie zwar hören, aber nichts verstehen, daß sie wie ein unfruchtbarer Acker sind … Wenn sie das erkannt haben, werden sie vielleicht umkehren und Vergebung erlangen“ [ebd. 149]. Also gerade nicht um seine Hörer zu verstocken, sondern „in der hoffnungsvollen Erwartung, daß sie umkehren und Vergebung erlangen“ möchten, redet Jesus zu ihnen in Parabeln [ebd. 143]. Matthäus hat Markus also ganz richtig verstanden, wenn er dessen mißverständliches hina {damit} durch ein konsekutives hoti {dass} ersetzt und danach Jes 6,9f im Wortlaut der LXX zitiert (Mt 13,13-15).

Obwohl auch ich Wredes Theorie ablehne, kommt mir Lampes Auslegung noch fragwürdiger vor, zumal sie etwas voraussetzt, was im Markusevangelium gar nicht gegeben ist, nämlich dass die Jünger in Jesu Augen so viel verständiger sind als die Außenstehenden. Andreas Bedenbender <921> stellt dazu fest [122]:

Das Unverständnis gegenüber Jesus gehört zu den beständigsten und am stärksten ausgeprägten Eigenschaften der markinischen Jünger, und es hebt sie überdies von allen anderen Aktanten des Textes ab: Wie das Volk nirgends als unverständig bezeichnet wird, so auch nicht die Gruppe der Feinde Jesu. Die Dämonen kennen Jesus ohnehin besser, als sie sollten, und in 12,12 wird selbst dem Hohen Rat bescheinigt, die Stoßrichtung einer parabolē Jesu ganz richtig erkannt zu haben.

Wenn man das einmal erkannt hat, ist eine andere Möglichkeit denkbar, die Verse Markus 4,11-12 zu interpretieren, dass sie nämlich „in ihrer Gesamtheit ironisch gemeint“ sind:

Die Ironie Jesu richtet sich dabei gegen die Überzeugung der Jünger (oder ihrer geistlichen Nachfahren eine Generation später), sie seien gegenüber verblendeten oder sonstwie unverständigen Außenstehenden privilegiert, weil ihnen in der Tat das „Geheimnis des Gottesreiches“ gegeben sei.

Von daher ergibt sich für Markus 4,10-13 folgende Übersetzung [127], in der die eingefügten betonten Fragezeichen entscheidend sinnstiftende Bedeutung haben und in der Bedenbender parabolē mit „Rätselgleichnis“ wiedergibt, um beide mit diesem Begriff „verbundenen Aspekte – den des Unverständnisses und den der Belehrung – zu ihrem Recht kommen“ zu lassen:

10 Als er aber allein war, fragten ihn die um ihn samt den Zwölfen
nach den Rätselgleichnissen.
11 Da sagte er zu ihnen:
Euch ist das Geheimnis des Gottesreiches gegeben?!;
Jenen aber, die draußen sind, geschieht alles in Rätselgleichnissen,
12 damit „sehend sie sehen und nicht schauen,
und hörend sie hören und nicht verstehen,
damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde“?!
13 Und er sagte zu ihnen: Ihr versteht nicht (einmal) dieses Rätselgleichnis;
wie wollt ihr da alle Rätselgleichnisse begreifen?

Aber zurück zu Thyen (T571), der den johanneischen Rückgriff auf Jesaja nun auch noch mit Lukas und Paulus vergleicht. Bei Lukas stellt er eine größere sachliche „Nähe zu Johannes“ als bei den anderen Synoptikern fest, indem dieser „seinen erzählten Paulus am Ende seines Weges den Juden Roms erklären“ lässt (T571f.):

„Treffend hat der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesagt: … Ihr werdet hören und nicht verstehen, sehen werdet ihr, und doch nicht einsehen. Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt (epachynthē wie Jes 6,10 in der LXX), ihre Ohren sind schwer(hörig) und ihre Augen verschließen sie, so daß sie mit ihren Augen nicht sehen, noch mit ihren Ohren hören … und sich bekehren, daß ich sie heile. Darum sei euch kundgetan, daß das Heil Gottes nun zu den Heiden gebracht wird. Die werden ihm Glauben schenken (akousontai)“ (Act 28,25-28). Jahrzehnte zuvor hatte der historische Paulus schon gefragt: „Was denn nun? Nun, was Israel erstrebte, das hat es nicht erlangt. Allein der auserwählte Teil (Israels) hat es erreicht. Die übrigen aber wurden verstockt (epōrōthēsan), wie geschrieben steht: ,Gott gab ihnen den Geist der Betäubung, Augen, um damit nicht zu sehen, und Ohren, um damit nicht zu hören, bis auf diesen heutigen Tag‘ (Dtn 29,3; vgl. Jes 6,9 u. 29,10). Und David spricht: ,Ihr Tisch soll ihnen zur Schlinge werden, zur Falle, zum Fallholz (skandalon) und zur Vergeltung (antapodoma). Ihre Augen sollen verfinstert werden und ihren Rücken sollst du für immer beugen“ (Ps 68,23f)“ (Röm 11,7-10).

Thyen sieht allerdings (T572) „nicht den geringsten Grund“ für die Behauptung, zu der manche Exegeten neigen,

daß Johannes im Gegensatz zu Paulus mit diesem Resümee seines Erzählers die Juden definitiv aus der Heilsgeschichte habe ausschließen wollen, und daß er anstelle des „alten Bundes“ Gottes mit seinem Volk Israel einen „neuen Bund“ mit einem neuen Gottesvolk aus den Heiden oder aus Juden und Heiden im Auge habe… Wie Gott sein Volk immer schon durch Gericht und Gnade dem Ziel seiner Verheißung entgegengeführt hat, so bleibt es auch für Johannes dabei, daß das Heil von den Juden kommt. Und wie das für Paulus gilt, so muß doch wohl auch für Johannes im Blick auf Israels Ungehorsam und Verstockung ebenso wie für Gottes Heilsversprechen an sein Volk, Jesu Wort gelten: kai ou dynatai lythēnai hē graphē {die Schrift kann doch nicht außer Kraft gesetzt werden} (Joh 10,35).

Um diese seine Überzeugung zu stützen, lässt Thyen ein weiteres Mal „Marquardts Christologie“ <922> als einen seiner eigenen „‚Prätexte‘ ausdrücklich zu Wort kommen“ (T572f.):

„Wie Israel der Predigt des Propheten (Jesaja) nicht geglaubt hat, so auch nicht Jesus; es bleibt sich treu in seiner Augenblendung und in seinem Herzensunverstand, den Jesaja Israel gar nicht als Schuld vorwerfen konnte, weil er sie als zielgerichtete Fügung Gottes erkannte – Jesaja meinte wohl: hin zum Gericht… Aber sowenig die biblischen Überlieferer der Jesaja-Tradition in Gottes Zorn und Gericht sein letztes Wort an Israel sehen konnten und der Unheilsverkündigung des Propheten auch Heilsverkündigung folgen ließen, sowenig Johannes. Er deutet die Prophetenworte über Israels Verblendung jüdisch, wenn er nun 12,41 fortfährt: ,Dies hat Jesaja gesagt, weil er seine (d. h. Jesu) Herrlichkeit sah, und von ihm hat er geredet‘. Im Johannes-Evangelium ist die doxa, Herrlichkeit, Jesu die unanschauliche Herrlichkeit des Gekreuzigten, die nur ein Glaubender an Jesus wahrnehmen kann; Jesus wird von Gott verherrlicht in der Stunde seines Todes (12,23); Tod und todüberwindendes Leben sind in dieser ,Stunde‘ zu untrennbar einem geworden, hier gibt es eigentlich kein zeitliches Nacheinander von Tod und Auferweckung mehr. Erwählung bezeugt auch noch die Stunde des Gerichts. So hat Jesaja seinen schrecklichen Auftrag, Israel durch das Wort Gottes zu verblenden, verstanden. Er hat die ,Herrlichkeit‘ Gottes über dem Gericht keine Sekunde geleugnet; von da aus erscheint es dem Johannes logisch, daß Jesaja peri autou, von Jesus geredet hat, denn in Jesu Geschichte gehört wie in der prophetisch verstandenen Israel-Geschichte unheilbare und zum Tode führende Verblendung zusammen mit der Herrlichkeit des rettenden Erbarmens Gottes, der Erwählung und des Dienstes“ …

Der „Satz, Jesaja habe Jesu Herrlichkeit gesehen“, darf nach Thyen (T573)

nicht auf die Berufungsvision von Jes 6 beschränkt werden, als habe der Prophet da nur die doxa {Herrlichkeit} eines logos asarkos {noch nicht Fleisch gewordenen Wortes} geschaut. Denn von Jesus und seiner Herrlichkeit redet Jesaja doch vor allem in den Liedern vom Gottesknecht. In ihnen ist das egō eimi {ICH BIN} dessen zu Hause, der Eines ist mit dem Vater. In Jes 52,13 heißt es ganz ausdrücklich: idou synēsei ho pais hypsōthēsetai kai doxasthēsetai sphodra ktl. {Siehe, meinem Knecht wird‘s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein}.

Alles in allem wird Jesaja Thyen zufolge (T574) „von Johannes nicht als jener historische Prophet im Jerusalem des achten vorchristlichen Jahrhunderts in Anspruch genommen, sondern als der Sprecher des Schrift gewordenen und damit zeitenthobenen Wortes Gottes.“ Unter Rückgriff auf Takashi Onuki <923> schreibt Thyen daher:

Und wie im Jesajabuch als Ganzem das in Jes 6 ausgesagte Gericht über Israel und seine Verstockung eine geschichtliche Phase darstellen und keinesfalls das letzte Wort Gottes in dieser Sache sind, so sind auch in unserem Evangelium das in unserer Passage ausgesagte „vor- und überindividuelle Gerichtet-Sein der Welt und die Sünde aller und eines jeden Menschen in ihr … geschichtlich (und darum) nicht unveränderlich… In diesem Sinne ist die pragmatische Funktion des johanneischen Dualismus und ,Determinismus‘ genauso dialektisch zu verstehen wie die des Johannesevangeliums im ganzen“.

Daraus folgt nach Thyen, dass „unsere Passage keinesfalls so verstanden werden“ darf, „als werde hier das definitive Verdammungsurteil über ,die Juden‘ als Ungläubige ausgesprochen“. Dass aus der „,Welt‘, für die die Jünger … zur Verantwortung gerufen sind, ausgerechnet Gottes Eigentumsvolk Isarael ausgeschlossen sein sollte, ist doch schlechterdings undenkbar.“

Ton Veerkamp <924> sieht in den Versen Johannes 12,37-43 „ein bitteres Resümee“. Der Evangelist beginnt in Vers 37 mit der Feststellung, das Jesus trotz seiner Zeichen kein Vertrauen fand, und deutet sie in Vers 38 mit den Anfangszeilen von Jesaja 53:

„Obwohl er solche Zeichen vor ihnen getan hatte, vertrauten sie ihm nicht.“ An das Stichwort „vertrauen“ schließt sich ein Wort aus dem Buch Jesaja als Erfüllungszitat an. Die ersten Zeilen des Liedes Jesaja 53 rufen bei allen Hörenden sofort das ganze Lied auf:

Wer konnte vertrauen, was uns zu Gehör kam,
der Arm des NAMENS, wem wurde er offenbar?
Wie ein Schössling war er, wie ein Wurzelspross aus der Erde,
keine Gestalt, kein Glanz, dass wir seiner ansichtig wären,
kein Ansehen, dass wir seiner begehrten.
Verachtet war er, nicht der Rede wert,
Mann der Qual, als Kranker erkannt,
sein Gesicht muss er vor uns verstecken,
verächtlich, bei uns ohne Beachtung.
Und dennoch: unsere Krankheiten trug er,
unsere Qualen schleppte er mit sich,
durchbohrt wegen unserer Auflehnung,
geschlagen wegen unserer Verbrechen.
Auf ihn kam Züchtigung, damit wir befriedet werden,
durch seine Geißelwunden werden wir geheilt…

Jesaja 53 zeigt die Verachtung seiner Landsleute für einen uns Unbekannten, einen Menschen, der sie im babylonischen Exil an ihre Herkunft und an ihre Zukunft erinnerte. Das ist auch das Schicksal des Messias Jeschua, nichts Ungewöhnliches für einen Propheten in Israel. Der Text endet in einer tiefen Depression. Hier geht nichts mehr, sagt Johannes. Wie konnte das geschehen?

Die Ursache für die Ablehnung des Messias durch die Mehrheit seines Volkes, zu dem er gesandt ist, deutet Johannes in den Versen 39-41. Dieses Mal nimmt er beim selben Propheten die Verse 6,9-10 zur Grundlage seiner mahnenden Worte:

Wiederum Jesaja. Wir zitieren zunächst die hebräische Fassung und dann die ziemlich freie Fassung von Johannes. Jesaja hatte eine Vision, wo er den NAMEN sah. Seine Lippen wurden gereinigt mit glühender Kohle, damit er zum Volk wirklich nur das sagen kann, was zu sagen ist. Die göttliche Stimme ruft: „Wen kann ich senden, wer wird für uns gehen?“ Jesaja antwortet: „Hier bin ich. Sende mich!“ Dann folgt:

Er sprach: „Geh und sage zu diesem Volk:
‚Hört, ja hört nur, verstehen sollt ihr nicht,
seht, ja seht nur, erkennen sollt ihr nicht.‘
Mache das Herz dieses Volkes fett,
mache seine Ohren schwerhörig,
mache seine Augen verschmiert,
es würde sonst mit seinen Augen sehen,
mit seinen Ohren hören,
mit seinem Herzen verstehen,
dass es umkehren könnte und
Er heilen würde …!“

Johannes übersetzt die letzten Zeilen von Jesaja 6,9-10 so:

Er blendete ihnen die Augen,
machte ihr Herz hart wie Stein,
damit sie nicht sehen mit den Augen,
und nicht verstehen mit dem Herzen,
dass sie etwa umkehren würden,
und ich sie heilen würde …

Hier hat Johannes relativ frei zitiert. Seine Gemeinde weiß aber, wie der Text weitergeht, 6,11f.:

Ich sagte: „Bis wie lang, mein Herr?“
Er sagte:
„Bis die Städte vernichtet sind, keine Bewohner mehr,
Häuser, kein Mensch mehr,
der Boden vernichtet, Ödland …“

Die Verwüstungen des Jahres 70, sagt Johannes, sind die Folge der blinden Augen, der tauben Ohren, des verfetteten Herzens. Heute sei es nicht anders als damals. Auch heute hätten die Judäer mit ihren Augen sehen, mit ihren Ohren hören und mit ihren Herzen verstehen können, dass alles schief gehen muss, es sei denn, sie würden umkehren zum Messias. Dann würden sie geheilt werden, und das Land wäre nie verwüstet worden.

Veerkamp deutet also den Schluss von Jesaja 6,10 bzw. Johannes 12,40 nicht wie Wengst im Sinne einer hoffnungsvollen Verheißung künftiger Heilung, um den Text erträglicher zu machen, sondern er nimmt den gesamten Zusammenhang ernst als den von Trauer und Erschütterung geprägten Blick des Johannes auf die Folgen der Ablehnung des Messias Jesus, die sich seiner Auffassung nach in der Katastrophe des Judäischen Krieges und der andauernden Versklavung unter die Herrschaft Roms ausgewirkt hat.

Johannes kann wie Jesaja keine andere Erklärung für diese erschütternde Realität finden, als diese auf den Gott Israels selbst zurückzuführen. Nach Veerkamp bezieht sich das Wort doxa in Vers 41 auf dessen „Ehre“, die doch eigentlich auf das Leben Israels ausgerichtet ist:

„Das sagte Jesaja“, schreibt Johannes, „weil er seine Ehre gesehen und über ihn geredet hat.“ Die Frage ist, wer damit gemeint ist. „Die Ehre sehen“ bezieht sich auf die Vision Jesajas, die in Jesaja 6,1ff. beschrieben ist: „Erfüllt ist die Erde von SEINER Ehre“. Genau dieser Gott hat das Herz dieses Volkes fett, die Ohren schwerhörig gemacht, die Augen verklebt.

Veerkamp versucht, diese unerträgliche Vorstellung eines Gottes, der sein Volk zum Leben befreien will und dennoch selber die Ablehnung seiner Bemühungen provoziert, mit einem Blick auf die Geschichte vom Auszug aus Ägypten verständlicher zu machen:

Wenn ein Volk in einem Zustand politischer Verblendung verkehrt, ist jeder Appell an die Vernunft nicht nur vergeblich, sondern führt zu einer zunehmenden Verhärtung. Die Erzählung über die Verhandlungen Mosches und Aarons mit Pharao hat nichts als Verstockung zur Folge: „ICH werde sein Herz verstockt machen“, Exodus 4,21. Die Konfrontation des Sklavenhalters mit den Forderungen der Freiheit bestätigt notwendig seine Haltung, sonst müsste er aufhören, Sklavenhalter und Pharao zu sein. Die Folge ist, dass die Gewalt das letzte Wort hat: „ICH bringe deinen Sohn, deinen Erstgeborenen, um“, 4,23.

Ähnliches ist nach Johannes geschehen, als die politische Führung Judäas und zelotische Aufständische durch ihr verfehltes Verhalten die verheerenden Folgen des Judäischen Krieges heraufbeschworen haben. Allerdings hat jetzt die Gewalt nicht die Erstgeborenen Roms getroffen, sondern umgekehrt Israel, den Erstgeborenen Gottes (2. Mose 3,22). Mit keinem Wort geht Veerkamp an dieser Stelle auf den Tod Jesu am Kreuz ein, der ihm zufolge ja den erstgeborenen Sohn Gottes, also Isaaks bzw. Israels, verkörpert. In welcher Weise dieser Tod, also der Abschied des Messias, angesichts des hier von Johannes gezogenen niederschmetternden Fazits des Wirkens Jesu eine Hoffnung eröffnen kann, wird erst in den folgenden Kapiteln des Evangeliums ausführlich thematisiert.

Johannes 12,42-43: Das Bekenntnis zu Jesus wegen menschlicher Ehre verweigern

12,42 Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn;
aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht,
um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden.
12,43 Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott.

[18. September 2022] Nach Klaus Wengst (W385) tritt in Vers 42 wieder einmal „deutlich her­vor“, dass Johannes „bei dem Rückblick auf das Wirken Jesu seine eigene Zeit mit im Blick“ hat,

wenn er gegenüber der pauschalen Aussage, dass „sie nicht an ihn glaubten“, von doch vorhandenem Glauben spricht, und zwar gerade da, wo er gar nicht zu erwarten gewesen wäre. Es handelt sich aber um einen Glauben, der nicht wirklich zum Zuge kommt: „Gleichwohl waren doch auch viele von den Ratsherren zum Glauben an ihn gekommen, aber wegen der Pharisäer bekannten sie das nicht, damit sie nicht von der synagogalen Gemeinschaft ferngehalten würden.“

Eine solche Rede „von ‚den Pharisäern‘“ wäre für die Zeit Jesu noch nicht vorstellbar, da ihnen „Macht zu einem Handeln zugeschrieben“ wird, „vor dem sich sogar besser- und hochgestellte Personen in führender Stellung fürchten.“ Aber die

Gruppe, für die Johannes schreibt, hatte offenbar Sympathisanten in der Führungsschicht, die aber aus Furcht vor den Folgen ein offenes Bekenntnis unterließen und sich lieber bedeckt hielten. Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die die distanzierenden Maßnahmen mit sich brachten, war das verständlich; hatten doch gerade Bessergestellte etwas zu verlieren. So sind sie gefragt, wo sie ihre Priorität setzen: bei der Erhaltung ihres Status oder bei der Solidarität mit der bedrängten Gemeinde.

Nach Vers 43 begründet Johannes „ihr nur heimliches Sympathisantentum damit, dass ‚sie die Ehre der Menschen mehr liebten als die Ehre Gottes‘“:

Das Lieben der Ehre der Menschen ist hiernach das bewusste Mitmachen oder auch stille Mitprofitieren auf Seiten der Stärkeren, es ist die Verweigerung der praktischen Solidarität mit den Ohnmächtigen, einer Solidarität, die auch zum Risiko für den eigenen Status werden kann. Aber um solche Solidarität geht es offenbar der Ehre Gottes, die er im Kreuz Jesu gesucht hat.

Indem Wengst die Ehre Gottes gegenüber der Ehre der Menschen im Sinne sozialer Verantwortung interpretiert, sind Berührungspunkte zu der Art und Weise zu erkennen, in der Veerkamp die Ehre des Gottes Israels als unbedingte Verpflichtung versteht, seinem Volk Befreiung und Gerechtigkeit im Leben der kommenden Weltzeit widerfahren zu lassen.

Hartwig Thyen (T575) sieht in der in den Versen 42-43 vermerkten „Notiz, daß auf Jesu Wirken hin, wie es der Erzähler in unserer Passage resümiert, viele Juden, selbst von den archontes {Oberen}, an Jesus glaubten, ihren Glauben aber nicht öffentlich zu bekennen wagten, damit sie nicht zu aposynagōgoi {aus der Synagoge Ausgeschlossenen} würden“, eine Bestätigung seiner Auffassung, dass in den vorangegangenen Versen

von einem unabänderlichen Determinismus überhaupt nicht die Rede sein kann. Der Abschnitt ist vielmehr geschrieben, um die Mutlosen (auch und gerade unter den Lesern!) zum Bekenntnis zu ermutigen und ihnen klarzumachen, was die Verweigerung des Bekenntnisses bedeutet, nämlich das Ansehen vor den Menschen höher zu achten als den Ruhm, den Gott verleiht.

Die nur bei Johannes erscheinende Vokabel aposynagōgos bestimmt Thyen erneut als „eine ad-hoc-Bildung unseres Evangelisten …, mit der er Erfahrungen resümiert, wie sie Mk 13,9f; in Mt 10,17ff; Lk 21,12f u.ö. beschrieben“ und auch dort „mit dem Aufruf zum Festhalten am Bekenntnis“ verbunden werden. Dabei wird es sich (T576)

um die Erfahrung einzelner Christen handeln, die hier zur Sprache kommt. Denn von einem bereits im ersten Jahrhundert komplett aus der Synagoge ausgeschlossenen Verband judenchristlicher Gemeinden wissen wir nichts und angesichts der bis ins dritte Jahrhundert andauernden christlich-jüdischen Kommunikation, ist ein derartiger Vorgang auch höchst unwahrscheinlich.

Ganz abwegig ist es aber Thyen zufolge, Johannes 12, 37-50 mit Blank <925> so zu lesen,

als werde hier eine spezielle „Krisis Israels“ beschrieben, in die das Gottesvolk „durch die Geschichte Jesu von Nazareth gebracht“ worden sei, und diese Krisis dann als ein „Zeichen und Musterbeispiel für die Krisis überhaupt“ deuten: „Hier liegt der Punkt, wo die Krisis Israels übergeht in die Krisis des Kosmos. Dieser Übergang ist vor allem durch zwei wichtige Faktoren bedingt: 1. Durch Jesu Erhöhung und Verherrlichung und die dadurch eingeleitete Verkündigung. Der ,Jesus praedicans, moriens et resurgensclarificatus {predigend, sterbend und auferstehend-verklärt} wird zum Jesus praedicatus {gepredigt}‘. Das ist der erste wichtige Vorgang, der im Johannesevangelium seinen abschließenden Höhepunkt erreicht. 2. Diese Verkündigung wendet sich nicht mehr allein an die Juden, sondern auch an die Heiden, an den gesamten Kosmos. Zur Zeit, als Johannes schreibt, ist der Weg zu den Heiden längst entschieden und die endgültige Trennung von der Synagoge erfolgt. Diese Herkunft der ,salus ex Iudaeis‘ {Heil von den Juden} und die Hinwendung zu den ,Heiden‘ der späthellenistischen Welt kommt in der johanneischen Form des einen Evangeliums Christi zum Ausdruck …“.

Das ist Thyen zufolge schon deswegen falsch, weil hier von „einem speziellen Gericht über Israel … gar nicht die Rede“ ist:

Es geht vielmehr um das Gericht über diese Welt und ihren archōn {Herrscher} (V. 31). Und in dem nyn {jetzt} dieses Verses sind Jesu Erhöhung und Verherrlichung bereits impliziert. Sicher ist mit der Rede von „der Herkunft der salus ex Iudaeis“ im Sinne unseres Evangeliums auch zu wenig gesagt. Und so gewiß das Wort von den „anderen Schafen, die nicht aus dieser Aula stammen“ (10,16) und der Kommentar des Erzählers zur Kaiaphas-Prophetie, daß Jesus nicht allein für sein Volk Israel sterben müsse, sondern auch dazu, daß er die zerstreuten Gotteskinder zu einer Gemeinde zusammenführe (11,51f), für die späteren Leser bereits die nachösterliche Mission auch unter den Heiden implizieren mag, so wird diese bei Johannes doch gerade nirgendwo eigens thematisiert, wie denn bei ihm auch kaum zufällig Jesu Wort an seine Jünger fehlt, daß man sie um seines Namens willen vor Könige und Statthalter führen werde (Mk 13,9f parr.).

Mit diesen Worten kommt Thyen der Auffassung Veerkamps sehr nahe, der die Auffassung vertritt, dass Johannes sich ganz auf die Sammlung und Befreiung ganz Israels konzentriert und einer generellen Völkermission sehr zurückhaltend gegenübersteht.

Ton Veerkamp <926> bezieht wie Wengst die Aussagen der Verse 42-43 auf die Zeit, in der Johannes sein Evangelium schrieb:

„Gleichwohl haben viele aus der Führung vertraut“, 12,42, schließt Johannes. Die öffentliche Bekundung dieses Vertrauens hätte sie aber um die Menschenehre gebracht, um die es ihnen letztlich doch ginge und nicht um die Ehre Gottes. Wir wissen nicht, ob es tatsächlich „viele aus der Führung“ waren, die dem Messias vertrauten. Aber der Preis wäre der Ausschluss aus der Synagoge gewesen. Es ging nicht nur um reine Menschenehre, die auf dem Spiel stand. Die Synagoge bedeutete unter römischen Verhältnissen einen gewissen Schutz vor lebensgefährlichen Verwicklungen. Wir werden auf den Ausschluss aus der Synagoge und seine Folgen bei der Besprechung von 16,2 zurückkommen.

Johannes 12,44-50: Jesu Zusammenfassung seiner Lehre aus der Verborgenheit

12,44 Jesus aber rief:
Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich,
sondern an den, der mich gesandt hat.
12,45 Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat.
12,46 Ich bin als Licht in die Welt gekommen,
auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.
12,47 Und wer meine Worte hört und bewahrt sie nicht,
den richte ich nicht;
denn ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte,
sondern dass ich die Welt rette.
12,48 Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an,
der hat schon seinen Richter:
Das Wort, das ich geredet habe,
das wird ihn richten am Jüngsten Tage.
12,49 Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet,
sondern der Vater, der mich gesandt hat,
der hat mir ein Gebot gegeben,
was ich tun und reden soll.
12,50 Und ich weiß: Sein Gebot ist das ewige Leben.
Darum: Was ich rede, das rede ich so,
wie es mir der Vater gesagt hat.

[19. September 2022] In den Versen 12,44-50 (W385) stellt Jesus Klaus Wengst zufolge

„ganz am Ende des ersten Teils … [n]och einmal … heraus, dass er nichts ist als Beauftragter dessen, der ihn gesandt hat, dass er nur ausführt, was ihm geboten ist. So gilt positiv: Wer sich auf ihn einlässt, lässt sich damit im Grunde nicht auf ihn, sondern auf Gott selbst ein und hat so die Gewissheit, sich nicht im Finstern aufzuhalten (V. 44-46). Negativ kündigt er denen an, die ihn nicht akzeptieren, dass sie sein Wort, da es Gottes Wort ist, als sie richtendes erfahren werden (V. 47f.). Beides bekundet er damit, dass er nicht von sich aus redet, sondern wie es ihm geboten ist (V. 49f.).

Dabei hat Jesu Rede (W386), die in Vers 44 mit den Worten eingeleitet wird: „Jesus rief und sprach“, nach Wengst „innerhalb der Erzählung keinen Ort und kein Gegenüber. Jesus hatte sich ja zurückgezogen und vor der Öffentlichkeit verborgen.“ Sie bietet „gleichsam eine außerordentlich konzentrierte Zusammenfassung des bisherigen Redens Jesu“ für die Leserschaft des Johannesevangeliums.

Als erstes stellt Jesus nochmals genauestens fest,

auf wen sich der Glaube an ihn, das Vertrauen auf ihn, dessen Fehlen bzw. mangelndes Bekennen der Evangelist im vorigen Abschnitt konstatiert hat, letztlich und tatsächlich bezieht: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich geschickt hat.“ Es geht nicht um einen isolierten Glauben an Jesus, um eine für sich stehende „Christologie“, sondern um die Wahrnahme des in Jesus präsenten Gottes. Wenn exklusiv zu reden ist, dann nur so, dass sich der auf Jesus blickende Glaube ausschließlich an Gott selbst festmacht, den er hier als wirkend erkennt. Wer an Jesus glaubt, glaubt nicht an ihn, sondern an Gott.

Dabei (Anm. 757) betont Wengst gegen Theobald <927> nachdrücklich, dass der Text hier

keineswegs … Gott „über seinen Boten“ im Sinne „einer exklusiven Bindung an den Sohn“ [definiert]. Vielmehr ist der Jesus Sendende als der in der jüdischen Bibel bezeugte Gott vorausgesetzt. Nicht erst Jesus ist sein „Offenbarer“ (vgl. besonders zu 8,19).

Außerdem (W386) ist entscheidend wichtig, dass der „Bote … nicht identisch [ist] mit dem, der ihn sendet“:

Die Unterschiedenheit zwischen dem Boten und dem, der ihn sendet, die Unterschiedenheit zwischen Gott und Jesus lässt sich schlaglichtartig daran verdeutlichen, dass seine Aussage schlechterdings nicht umkehrbar ist. Jesus könnte nicht sagen: „Wer an den glaubt, der mich gesandt hat, glaubt nicht an den, der mich gesandt hat, sondern an mich.“ Damit wird hier dieselbe Differenz sichtbar, die schon in 1,1 zwischen Gott und „dem Wort“ gemacht wurde. Darauf ist zurückzukommen, wenn Johannes den negativen Fall der Nichtakzeptanz Jesu erörtert. Hier kommt es ihm darauf an, positiv herauszustellen, dass auf Gott selbst sein Vertrauen setzt, wer sich auf Jesus einlässt.

Mit den Worten (Vers 45): „Und wer mich sieht, sieht den, der mich geschickt hat“, wird (W387) „eine ‚Sicht‘ Jesu“ beschrieben, die sich anschließend (Vers 46) im Bild des Lichts fortsetzt und

die in ihm das Wirken Gottes erkennt. Das klang schon in 6,36-40 an; und das wird im Blick auf die Passion in 14,7-11 noch einmal intensiv aufgenommen werden. Anschließend greift Johannes mit der Lichtmetaphorik ein schon mehrfach gebrachtes Motiv auf: „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, sodass alle, die an mich glauben, nicht in der Finsternis bleiben.“ Wer an Jesus glaubt und damit auf Gott sein Vertrauen setzt, hat seine „Bleibe“ nicht im Finstern, „wohnt“ nicht im Dunkeln, sondern gewinnt Orientierung für sein Leben.

In den folgenden Versen 47-48

setzt Jesus zweimal den negativen Fall, dass er nicht akzeptiert wird, dass seine Worte zwar gehört, aber nicht bewahrt werden, dass er verworfen wird und seine Worte nicht angenommen werden. Hier scheint wieder die nachösterliche Situation auf, in der Jesus allein in seinen Worten begegnet. Werden sie nicht akzeptiert, wird damit auch er abgewiesen.

Dabei „verneint er“ einerseits, „dass er in diesem Fall selbst richtet“, indem er wie in 3,17 sagt: „Denn ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette“, aber wie

dort in 3,18-21 doch auch vom Richten zu reden war, das gleichsam „mit linker Hand“ erfolgt, so geschieht es hier: Die Jesus und seine Worte nicht akzeptieren, haben schon ihren Richter. Als der wird – „die Worte“ zusammenfassend – „das Wort“ benannt. Wer sich „dem Wort“ gegenüber verschließt, schließt sich selbst von dem aus, was es zusagt. Nach 6,63 sind Jesu Worte „Leben“. Insofern ist, wie 3,18 formuliert, „wer nicht glaubt, schon gerichtet“, ist das Wort „Kriterium“, ist das Gericht „die Kehrseite der eigenen Entscheidung“. <928>

Indem Jesus von diesem Wort sagt, dass es „richten wird am letzten Tag“, werden Jesu Aussagen nach Wengst (W387f.) zur

dringliche[n] Mahnung an die lesende und hörende Gemeinde …, das im Evangelium enthaltene Wort Jesu als Wort Gottes aufmerksam zu hören, es bereitwillig anzunehmen, es zu bewahren und zu bewähren. Aber darf man diese Aussagen sozusagen dogmatisch lesen? Muss man aus ihnen schließen, dass sich generell „am Ja oder Nein“ zu Jesus „die Entscheidung des Endgerichts bemessen (wird), zur Teilnahme am Heil der Endzeit oder zum ewigen Verderben“? <929> Von einer solchen Sicht her stellt Wilckens – schon bei der Auslegung von V. 43 – zwei exklusive Ansprüche gegeneinander: „Es ist die Einheit Jesu mit Gott, die dem christlichen Gottesglauben die gleiche Exklusivität, Radikalität und Ganzheitlichkeit gibt, wie sie dem Glauben der Juden an den einen- einzigen Gott eigen sind. Eben dies ist der letzte und eigentliche Grund der Ablehnung und Bekämpfung des christlichen Glaubens vonseiten der pharisäischen Synagoge – damals wie im Grunde noch heute.“ So spricht er von einem „(unvermeidlichen) Streit um die Wahrheit des einen Gottes“, einem „‚Bruderstreit‘, den wir miteinander zu führen haben“. Er erkennt eindeutig christliche Schuld in der Geschichte, meint aber: „Aus dieser Schuld darf aber nicht gefolgert werden, daß Christen es daraufhin zu unterlassen hätten, Juden zum Glauben an Jesus, den einen Sohn des einzig-einen Gottes, immer neu einzuladen.“ Dann aber hilft es nichts, von einem „Ur-Wissen“ zu reden, „daß es hier und dort der selbe eine-einzige Gott ist“, und eine „Ur-Achtung voreinander“ zu fordern. Solange Christen Juden in ihrer Gottesbeziehung für defizitär halten und sich also genötigt sehen, sie zum Glauben an Jesus „immer neu einzuladen“, werden diese von Achtung nichts verspüren.

Wengst stellt uns Christen die Frage, ob „der johanneische Text in dieser Weise rezipiert werden“ muss, und beantwortet sie mit einem klaren Nein, denn die „Ignorierung Jesu seitens des Judentums darf nicht als Ignorierung Gottes verstanden werden.“ Wenn „die in V. 44 beobachtete Differenz zwischen dem Boten und dem, der ihn gesandt hat, zwischen Gott und Jesus“, ernst genommen wird, dann ist die

Ignorierung Jesu seitens des Judentums … keine pauschale Ignorierung Gottes, sondern Ignorierung eines bestimmten Auftrags, der sich in seinem geschichtlichen Effekt als Dienst an der Völkerwelt herausgestellt hat. Wie das Judentum diesen Auftrag wahrnimmt und welche Sicht Jesu es damit gewinnt, hängt davon ab, wie die Kirche als „messianische Verkörperung“ (sóma christoú) sich dem Judentum gegenüber verhält, wie sie ihm in ihrem Verhalten Jesus begegnen lässt.

An dieser Stelle kommt wieder einmal klar und deutlich die Wengstsche „Lösung“ des johanneischen Exklusivismus zum Ausdruck: Er betont, dass in Jesus nach Johannes kein anderer als der Gott Israels gegenwärtig ist und dass seine Verkündigung dazu beigetragen hat, den Glauben an den Gott Israels in die Völkerwelt hinauszutragen. Dagegen könnten Vertreter einer christlich-exklusivistischen Haltung wie Wilckens ins Feld führen, dass Johannes Jesus auf jeden Fall auch und zu allererst als Messias der Juden verkündigt und dass auch sie daher nur durch den Glauben an Jesus gerettet werden können.

Auf beiden Seiten dieser innerchristlichen Auseinandersetzung kommt nicht in den Blick, was Ton Veerkamp als die Voraussetzung schon für den paulinischen und erst Recht den Messianismus der Evangelien erkennt: Das Projekt der Verwirklichung der Tora als einer Staatsverfassung, die getrennt von den Völkern Freiheit und Recht in einem Gelobten Land garantiert, ist seit der weltweiten Versklavung Israels unter die römische Weltordnung gescheitert, undurchführbar. Aber durch den Tod des Messias Jesus am römischen Kreuz sind die Todesmächte dieser Weltordnung endgültig bloßgestellt und abgetan in ihrer scheinbar unumstößlichen Macht, so dass seine Anhänger, inspiriert durch den befreienden NAMEN des Gottes Israels in ihrer Praxis der agapē als einer solidarischen Liebe den Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens für Israel inmitten der Völker tätig erwarten können. Dabei hoffen Paulus und noch Lukas auf den Erfolg der Völkermission, um auch Israel am Ende zur Umkehr zu bewegen, Matthäus meint sogar, eine durch Jesus verschärft ausgelegt Tora den Völkern nahebringen zu können. Johannes allerdings lässt die Völker weitgehend außer Acht und hält daran fest, dass sich in der messianischen Gemeinde ein Rest vor allem ganz Israels vertrauensvoll um den Messias Jesus versammelt.

Zurück zu Wengst: Er beschränkt seine Auslegung der letzten Verse 49-50 des Kapitels 12 auf die folgenden knappen Worte:

Am Schluss seiner Rede begründet Jesus die vorangehenden Ausführungen darin, dass in seinem Reden Gott selbst spricht, „das Wort“, das gerade seine Worte zusammenfasste, also Wort Gottes ist. Das geschieht durchgängig mit Motiven, die schon vorher im Evangelium begegneten.

Hartwig Thyen (T577) stellt das Erklingen von Jesu Stimme „aus der Verborgenheit, in die sich Jesus nach 12,36 zurückgezogen hatte“, in einen Zusammenhang mit der „Stimme des Geistes“, die „schon in Joh 3,13-21 aus dem Munde Jesu“ erklang und der Stimme des „Bräutigams“, deren Klang „in 3,31-36 … dessen Freund, Johannes (den Täufer), mit tiefer Freude erfüllte“.

Indem Jesus in 12,44-50 „ausnahmslos alle Motive der Passage 8,12-19 wiederaufnimmt“, erweist sich nach Thyen endgültig, dass er „diesen zentralen Akt unseres Evangeliums (8,12-12,50)“ zu Recht so eingegrenzt hatte. Dabei handelt es sich um die folgenden „neun Motive, … die schon im Prolog eingeführt worden waren“:

(1) von Licht und Finsternis, (2) von der Gabe ewigen Lebens, (3) von Jesu Zeugnis und Zeugesein, (4) von Nachfolge und Glauben, (5) vom Unglauben, (6) von Richten und Gericht, (7) von Jesu Gesandtsein vom Vater, (8) von Jesus als Concreator des Vaters und (9) von seinem Einssein mit dem Vater…

Mir erscheint die Übereinstimmung der Motive in diesen beiden Passagen allerdings nicht so klar gegeben zu sein, zumal viele dieser Motive auch an anderen Stellen auftauchen und das achte Motiv von Jesus als dem Mitschöpfer des Vaters weder dort noch hier zu entdecken ist. Der von Thyen angenommene exakt symmetrische Aufbau des Johannesevangeliums mit seinen sieben Akten, deren vierter auch noch genau in der Mitte das gesamte Evangelium in zwei Hälften teilen soll, ist also wohl doch nicht vom Evangelisten gewollt, sondern lediglich eine exegetische Konstruktion.

Dennoch widerspricht Thyen zu Recht mit einem treffenden Zitat von Dodd <930> allen Versuchen, für diese „so unvermittelt aus dem Verborgenen erklingende Rede Jesu“ (T578) „einen passenderen Ort innerhalb des Evangeliums auszumachen“:

„Doch scheint an dieser Stelle etwas nötig zu sein, um die ganze Reihe von Reden zusammenzufassen, und dieses Resümee wesentlicher Punkte aus den Reden, in einer Sprache, die ihre Sprache wiedergibt, ohne sich zu wiederholen, erreicht dies auf wirksame Weise“.

Im einzelnen sieht Thyen in Jesu „Doppelspruch: ‚Wer an mich glaubt, der glaubt gar nicht an mich, sondern (er glaubt) vielmehr an den, der mich gesandt hat. Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat‘, … fraglos ein Spiel mit den entsprechenden synoptischen Texten“, die Peder Borgen <931> „zusammengestellt und analysiert“ hat, „nämlich (1) Mt 10,40 / Lk 10,16; Mk 9,37 / Lk 9,48 und Joh 13,20 sowie (2) Lk 10,16; Joh 5,23; 8,19; 12,44f; 14,7.9; 15,23“. Die „unter (1) genannten Logien“, die „traditionsgeschichtlich primär sein dürften“, sprechen nach Borgen „von einer doppelten Sendung und bekleiden die von Jesus gesandten Jünger mit der Autorität des vom Vater gesandten Sohnes als ihres Senders“. Dann wäre, so Thyen, unser „mit Joh 13,20 eng verwandter Doppelspruch von 12,44f … eine um der christologischen Pointe der Passage willen … um das Thema der Jüngeraussendung gekürzte Variante jener Texte“.

Zum „Thema des Erscheinens des Senders in dem von ihm Gesandten“ widerspricht Thyen allerdings Autoren wie Borgen und Bühner, <932> „denen nun auch Becker weithin folgt, wenn er in seinem Kommentar immer wieder von der Johanneischen ,Gesandtenchristologie‘ spricht“, insofern diese (T578f.)

die johanneische Christologie weitgehend aus ihrer vermeintlichen Genese erklären [wollen], nämlich aus dem (späten und sicher nachjohanneischen) rabbinischen Gesandteninstitut. Damit aber neigen sie dazu, die johanneische Christologie in reinen Funktionalismus und Subordinatianismus aufzulösen.

Gegen eine solche Christologie, als deren Vertreter sicher auch Wengst und Veerkamp angesehen werden können, hatte Thyen bereits in seiner Auslegung von Johannes 1,14 und Johannes 5,45-47 Fischers Versuch ins Feld geführt (T579),

anstelle einer zweifachen Substantialität bzw. zweier differenter Kategorien von Eigenschaften Gottheit und Menschheit Jesu als die Aspekte zweier von einander zu unterscheidender Erkenntnisweisen zu begreifen. Einen ähnlichen Weg sucht Joest <933> zu beschreiten, wenn er nach dem Durchgang durch die klassische Christologie erklärt: „Wir versuchen, das Zugleich der Gegenwart Gottes in Jesus und seines menschlichen Gegenüber(s) zu Gott nicht substantial als ontische Doppelbeschaffenheit seiner Person in sich selbst, sondern relational als das Miteinander zweier Beziehungen zu verstehen, die Jesus auf seinem Erdenweg von der Krippe bis zum Kreuz zukamen einmal in seinem eigenen Verhältnis zu Gott, und andererseits in dem Verhältnis, das Gott selbst in ihm zu uns eingegangen ist“.

Diese Beschreibung kommt mir durchaus kompatibel vor mit meinem Versuch, Jesus als die Verkörperung des befreienden NAMENS des Gottes Israels zu begreifen, oder auch mit der Wengstschen Auffassung. Bei Thyen habe ich immer noch den Eindruck, dass er letzten Endes Jesus doch eine Art Wesenseinheit mit Gott zuschreiben will, ohne allerdings das Kind bei diesem Namen zu nennen. Ob es einen Weg gibt, die Beziehung Jesu zu Gott weder im Sinne einer Identität noch im Sinne einer bloßen Funktion zu beschreiben, bleibt in meinen Augen offen. Thyen fährt, nachdem er Joest zitiert hat, mit folgenden Worten fort:

Solches Hören auf die einfache Sprache der biblischen Texte verlangt freilich einen „doppelten Verzicht“, den Verzicht nämlich sowohl auf das absolute ,Objekt‘ als auch auf das absolute ,Subjekt‘. Denn das ist der Preis, „der für das Eintreten in die Modalität einer radikal nicht spekulativen und vorphilosophischen Sprache zu zahlen ist“. <934> Weil ein Satz wie der: „Jesus ist der Sohn Gottes“, seit den Tagen Descartes nur noch entweder als Identitäts– oder aber als bloßes Funktionsurteil verstanden werden kann, deren ersteres ebenso unbefriedigend ist wie das letztere, sehen wir in den genannten Beiträgen Fischers und Joests notwendige Hinweise auf einen Weg zwischen diesen die Sache der Christologie verschlingenden Extremen.

Daraus folgt für Thyen einerseits, „daß V. 44f im Licht von 10,30 gesehen werden müssen“; es ist also

die Einheit Jesu mit dem Vater, ihr wechselseitiges Ineinander-Sein, die ihn sagen läßt, wer an ihn glaube, der glaube gar nicht an ihn, sondern vielmehr an den Vater, der ihn gesandt habe, und wer ihn sehe, der sehe den Vater. … Das darf freilich nicht so verstanden werden, als ob Jesus – wie der lukanische Paulus auf dem Areopag vor den Griechen Athens – in unserem Evangelium als der Zeuge eines bis dato ,unbekannten Gottes‘ aufträte. Es ist vielmehr stets der bekannte Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der für den unbekannten Jesus, den jüdischen Mann aus dem unbedeutenden Nazaret, als Zeuge eintritt.

Allerdings ist nach Thyen dieser „bekannte Gott“ schon „seinem erwählten Volk lsrael … Gott immer schon allein durch weltliche Vermittlungen nahe gewesen“, und (T579f.)

die Geschichte seiner großen Taten und Wunder [muss] jeder Generation aufs Neue erzählt werden. In diesem Sinn hatte Jesus in Joh 9,5 erklärt: „Jedesmal, wenn ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ und entsprechend will auch unser Satz: „Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat“, verstanden sein. Da sind nicht zwei Objekte des Glaubens oder Sehens, sondern Gott selbst ,ereignet‘ (Ratschow <935>) seine rettende Gegenwart eben jetzt in Jesus.

Immer noch bleibt offen, ob diese Sichtweise der Wengstschen Präsenz Gottes in Jesus oder der Verkörperung des NAMENS in Jesus in Jesus entsprechen könnte.

Die (T580) „folgenden, kunstvoll gebauten V. 46-50“ stellen nach Thyen eine Auslegung der Verse 44f. dar. Zunächst wird „die bleibende Gegenwart des Auferstandenen bei den Seinen zur Sprache gebracht“, indem Jesus „das Lichtwort von 8,12“ variiert: „Als das Licht bin ich in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt (pas ho pisteuōn eis eme), nicht in der Finsternis bleibe.“

Die beiden einander vollkommen parallelen Verse 47 und 48 drücken Thyen zufolge aus,

daß es nicht auf bloßes Hören, sondern auf das Bewahren und Bewähren des Gehörten ankommt, und daß dieses Hören nicht auf die weiter gehende Überlieferung des Gehörten und einen entsprechenden ,richtigen Glauben‘ beschränkt werden kann, sondern in einer bleibende Relation zu dessen Sprecher stellt: Seine Worte nicht anzunehmen heißt, ihn selbst abzuweisen (vgl. Lk 10,16). Das Beispiel des Petrus, der als der Repräsentant der Zwölf erklärt und bekannt hatte: „Herr, du hast Worte des ewigen Lebens …“ (6,68f), der aber diese Worte gleichwohl nicht bewahren konnte, sondern aus Angst zu einem athetōn {Verächter} Jesu geworden war (18,15ff), und den erst sein auferstandener Herr von seinem tiefen Fall zu heilen vermochte (21,15ff), mag die Problematik der abstrakten Rede von ,Glaubensentscheidung‘ und ,präsentischer Eschatologie‘ anzeigen.

Dabei zeigt schon die „poetische Struktur des Doppelverses“, dass die Erwähnung des Gerichts am Jüngsten Tage in Vers 48c nicht „im Blick auf die vermeintlich rein präsentische Eschatologie des Evangelisten“ gestrichen werden darf.

Dass „Jesus jetzt seinen logos {Wort} … quasi personalisiert und ihn als den endzeitlichen Richter benennt“, erinnert nach Thyen nicht nur an Johannes 1,1, sondern auch an das Gericht durch Mose in 5,45 und an 5. Mose 1,16f.; 17,2ff.; 19,18, wo „die Tora jeweils als Richterin benannt“ wird. Daher neigt Thyen dazu (T581), „von einem intertextuellen Spiel mit diesem Text des Deuteronomiums zu sprechen.“

Die beiden letzten ebenfalls „kunstvoll strukturierten Verse“ des Kapitels 12 variieren Thyen zufolge nochmals „die Themen der Einheit Jesu mit seinem himmlischen Vater und des ewigen Lebens“:

Das einleitende hoti {denn} zeigt, daß der erzählte Jesus das zuvor Gesagte jetzt begründet. Und zwar nennt er damit nicht nur den Grund für die richterliche Rolle seines logos {Wortes} und die Dialektik von Gnade und Gericht, sondern durch die zentrale Aussage, daß die ihm aufgetragene entolē {Gebot} des Vaters das ewige Leben sei, begründet er zumal seine Erklärung, daß er nicht gekommen sei, die Welt zu verurteilen, sondern sie zu retten (V. 47), und konkretisiert dieses: hina sōsō ton kosmon {damit ich die Welt rette} jetzt dadurch, daß er der Welt auf Weisung seines Vaters das ewige Leben bringt.

Ton Veerkamp <936> sieht die „letzten sieben Verse des zweiten großen Teiles“ des Johannesevangeliums als eine „Zusammenfassung der Lehre des Messias“:

Alle entscheidenden Worte des Evangeliums tauchen hier auf: vertrauen, senden, betrachten, Licht, Weltordnung, richten, Tag der Entscheidung, Gebot, Leben der kommenden Weltzeit. Insofern sind diese Verse ein Pendant zum großen Prolog, Johannes 1,1-18. Wir machen einige Bemerkungen.

Wir hören Jeschua sagen, dass er nicht gekommen ist, die Welt zu verurteilen, sondern die Welt zu befreien. Wir hörten es bereits im Gespräch mit Nikodemus 3,17. Freilich heißt es 5,30: „So wie ich höre, werde ich richten, und mein Gericht ist wahrhaft.“ Johannes rechnet wie die Peruschim {Pharisäer} und die meisten Judäer mit einer finalen Rechtsprechung, 5,27-29.

Das Wort athetein in Vers 48 übersetzt Veerkamp aber nicht wie Wengst mit „verwerfen“ oder wie Thyen mit „verachten“, sondern er wählt das schärfere Wort „verraten“ und bringt es mit einer Stelle im Prophetenbuch Jesaja in Verbindung:

Aber das Urteil ist bereits gesprochen: Wenn jemand den Messias verrät, ist er bereits verurteilt. Es geht um Verrat an ihrer eigenen Sache, und Johannes ruft die Assoziation mit einem Wort Jesajas auf, wo Verrat gerade zu einer Obsession wird: „Weh mir! Verräterische verraten, Verrat verraten Verräterische“ fünfmal die Wurzel bagad, verraten (griechisch athetein) in Jesaja 24,16. Den Messias verraten bedeutet, die (gesprochenen) Worte des Messias nicht anzunehmen.

In seiner Anm. 400 zur Übersetzung von Johannes 12,48 aus dem Jahr 2015 ergänzt Veerkamp, dass die Septuaginta

vor der fünffachen Wiederholung der Wurzel bagad in Jesaja 24,16 kapituliert [hat], sie umschreibt ˀoi li bogdim bagadu uveged bogdim bagadu („Weh mir! Verräterische verraten, Verrat verraten Verräterische“) mit ouai tois athetousin, hoi athetountes ton nomon, „weh den Verrätern, die die Tora verraten.“ Der Sinn ist klar: Es geht um mehr als Verachtung, es geht um den Verrat am Wort Gottes (die LXX interpretiert daher: „Verrat an der Tora“) – ein Verrat, der eine Katastrophe zur Folge hat (Jesaja 24,16-33).

Mit seinem „vorletzten Satz“ in Vers 49 hat Jesus

alles gesagt, was zu sagen war: „Der mich geschickt hat, der VATER, gebot mir, was ich zu sagen und was ich zu reden habe.“ Das Gebot des Gottes Israels ist das Leben der kommenden Weltzeit. Etwas anderes hat Jeschua nicht zu sagen, kurzum: „Was ich also rede? So wie der VATER es mir gesagt hat, so rede ich.“

Abschließend zieht Ton Veerkamp sein eigenes Fazit zum zweiten Teil des Johannesevangeliums, dem er die Überschrift „Der verborgene Messias“ gegeben hatte. Diese Schrift ist für ihn keine triumphale Verkündigung Jesu als des Sohnes Gottes, vielmehr muss sie sich mit einer großen Skepsis gegenüber dem Konzept des Messianismus auseinandersetzen. Mithin stellt Veerkamp fest, dass sich Jesus und damit auch

die messianische Gemeinde in die Verborgenheit zurück[zieht]. Was Jeschua im verbleibenden Teil des Textes zu sagen hat, findet im Verborgenen statt. Die Passion findet zwar in der Öffentlichkeit statt, aber was dort passiert, ist ihr verborgen. Mitten in der Vorbereitung auf das Paschafest bricht die Auseinandersetzung Jeschuas und der messianischen Gemeinde mit der judäischen Öffentlichkeit ab.

In keinem anderen Text der messianischen Schriften („Neues Testament“) wird das, was die Menschen mit der Vorstellung Messias verbindet, so problematisiert wie im Johannesevangelium. Es zeigt sich, dass die Bedenken gegen diese Art von Messianismus auch unter den Messianisten selber existierten, unter denen, „die Jeschua vertraut hatten“, 8,31, und unter seinen Schülern, 6,60. Und die Vorbehalte, die Johannes den Judäern in den Mund legt, sind Vorbehalte, die er in ihnen und in sich selbst unterdrücken muss. Sogar im engeren Führungskreis gibt es nicht nur Verräter, sondern auch Getreue, die von der Sache nichts begriffen hatten. Die Krise hat längst den Kreis der Getreuen erfasst, 14,9: „So lange Zeit bin ich mit euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?“

Kein anderer messianischer Text kennt einen Messias, der sich so absolut verabschiedet. Das zeigt der nächste Abschnitt.

Da sowohl Wengst und Thyen als auch Veerkamp an dieser Stelle einen tiefen Einschnitt im Johannesevangelium wahrnehmen, wenn sie diesen auch in unterschiedlicher Weise einordnen, beende ich an dieser Stelle den zweiten Teil meines Johannes-Blogs und setze ihn im Johannes-Blog, Teil 3, mit der Auslegung der Kapitel 13 bis 21 fort.

Anmerkungen

<431> Zweiter Teil: Der verborgene Messias, 5,1-12,50 (Veerkamp 2006, 95).

<432> Alle folgenden Veerkamp-Zitate dieses Abschnitts in: Ein Fest. Das Leben der kommenden Weltzeit, 5,1-47, Abs. 1-4 (Veerkamp 2006, 95-96).

<433> Wengst zitiert Dorit Felsch, Die Feste im Johannesevangelium. Jüdische Tradition und christologische Deutung, Tübingen 2011. Seitenzahlen dieses Abschnitts in eckigen Klammern […] beziehen sich auf dieses Buch.

<434> Das Werk und der Schabbat, 5,1-18, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 96).

<435> Die Lähmung, 5,1-9a, Abs. 1 und 3 (Veerkamp 2015, 41, und Veerkamp 2006, 96), sowie Anm. 184 zur Übersetzung von Johannes 5,2 (Veerkamp 2015, 40).

<436> Dazu verweist Wengst (Anm. 229) auf Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 180 Anm. 7, und Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 120f.

<437> Wengst zitiert Shir HaShirim 2,13 und verweist auf Rabba Bamidbar Rabba 19,24 (Midrasch Rabba über die fünf Bücher der Tora und die fünf Megillot. midrasch rabbah, 2 Bde., Nachdruck Jerusalem o. J. [Romm, Wilna 1887], 17c bzw. 81d).

<438> Die Lähmung, 5,1-9a, Abs. 3-7 (Veerkamp 2006, 96-97).

<439> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 15.

<440> Gottesdienst zur Einführung von Krankenhauspfarrer Helmut Schütz am Mittwoch, den 10. Mai 1989 um 16.00 Uhr in der Kapelle der Landesnervenklinik Alzey: „Willst du gesund werden?“

<441> Wengst zitiert „bTaan 9a“, also den Traktat Taˁanit 9a im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<442> Abgesehen davon ist ohnehin zu fragen, ob die Interpretation biblischer Wundererzählungen im Sinne der Herstellung ganzheitlichen Lebens nicht fehlgeleitete „Ganzheitszwänge“ fördert, auf Grund derer Menschen das Bruchstückhafte ihrer eigenen Existenz nicht zu ertragen vermögen – insbesondere dann, wenn es darum geht, mit so genannter „Behinderung“ umzugehen, sei es bei anderen Menschen oder auch am eigenen Leibe. Vgl. dazu den Abschnitt Ein Seitenblick auf die Integration von Menschen mit Behinderung in meiner Studienarbeit Geschichten teilen im multireligiösen Kindergarten. Das Stichwort „Ganzheitszwänge“ stammt aus dem Aufsatz von Fulbert Steffensky, Hat Hiob eine Nachricht? Die Vernunft und die Unvernunft des Leidens. In: Annebelle, Pithan, Gottfried Adam, Roland Kollmann (Hrsg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Gütersloh 2002, 123.

<443> Die Lähmung, 5,1-9a, Abs. 7-9 (Veerkamp 2006, 97-98).

<444> In seiner Anm. 190 weist er unter Bezug auf die 1. Auflage des Johanneskommentars von Wengst (Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10 (ThKNT), Stuttgart 2000, 184) nicht nur darauf hin, dass dieser den Bezug auf 5. Mose 2,14 als „ein das Unheil wendendes Handeln Gottes“ deutet, sondern auch darauf, dass Wengst

zu Recht die Deutung des Antisemiten Emmanuel Hirsch zurück[weist], wonach es sich hier um eine Erkrankung des Judentums handeln sollte. Aber man kann die 38 Jahre sehr wohl als Zustand eines politisch gelähmten Israel in der Zeit nach 70 u.Z. deuten, ohne antijüdisch zu argumentieren.

<445> Wengst zitiert Mischna Schabbat 7,2: schischah sidrej mischnah, hg. v. Ch. Albeck, Bde. 1-6, Jerusalem u. Tel Aviv 1952-1958 (Nachdruck 1988).

<446> Wengst verweist auf P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. II (der Titel fehlt in seinem Literaturverzeichnis, daher hier nur abgekürzt wiedergegeben):

„Bei aller Peinlichkeit, das Hinaustragen eines Gegenstandes aus einem Bereich in einen andren am Sabbat zu verhüten, fand man doch auch wieder Mittel u. Wege, die festgelegten Bestimmungen in legaler Weise zu umgehen“ (II 457; vgl. den ganzen Zusammenhang 454-461).

<447> Der Schabbat, 5,9b-18, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 98-99).

<448> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 182.

<449> Wengst zitiert „bShab 55a.b“, also den Traktat Shabbat 55a.b im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<450> Thyen bezieht sich auf Odil Hannes Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Uberlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT Bd. 23, Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins, Neukirchen-Vluyn 1967. Das Buch ist in seinem Literaturverzeichnis allerdings nicht aufgeführt.

<451> Der Schabbat, 5,9b-18, Abs. 4-5 (Veerkamp 2006, 99).

<452> Wengst zitiert Shemot Rabba 30,9 (Wilna 53c.d): Midrasch Rabba über die fünf Bücher der Tora und die fünf Megillot. midrasch rabbah, 2 Bde., Nachdruck Jerusalem o. J. (Romm, Wilna 1887).

<453> Thyen zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, Ges. Ausg. 9, Zürich 1976, 275.

<454> Thyen zitiert ihn folgendermaßen: Euseb, Praep. Ev XIII 9ff; Übersetzung: Walter, Fragmente 277, führt dazu aber keine Quelle im Literaturverzeichnis an.

<455> Der Schabbat, 5,9b-18, Abs. 6-8 (Veerkamp 2006, 99-100).

<456> Der Schabbat, 5,9b-18, Abs. 8 (Veerkamp 2006, 100).

<457> Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gütersloh 2007, 156, zum Buch „Er rief“ 24,16.

<458> Thyen zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, Ges. Ausg. 9, Zürich 1976, 272f. Zum eben genannten Buchtitel vgl. Anthony R. Harvey, Jesus on Trial, London 1976.

<459> Wengst zitiert Jörg Frey, ‚Die Juden‘ im Johannesevangelium und die Frage nach der ‚Trennung der Wege‘ zwischen der johanneischen Gemeinde und der Synagoge, in: Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften, Tübingen 2013, 348, Anm. 43.

<460> Thyen zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998. Seitenzahlen dieses Abschnitts in eckigen Klammern verweisen auf Zitate aus diesem Buch.

<461> Thyen zitiert Kikuo Matsunaga, The ‚Theos‘ Christology as the Ultimate Confession in the Fourth Gospel, AJBI 7 (1981) 125.

<462> Das Gleichnis von Vater und Sohn, 5,19-21, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 100).

<463> Das Gleichnis von Vater und Sohn, 5,19-21, Abs. 4 (Veerkamp 2006, 100-101) und Deutung des Gleichnisses: „Und das ist jetzt“, 5,22-30, Abs. 2-5 (Veerkamp 2006, 101).

<464> So zitiert Wengst Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, Stuttgart, 3. Auflage 1960, 1. Auflage 1930, 149.

<465> So zitiert Wengst Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 192 (Hervorhebung von Wengst).

<466> Wengst zitiert das äthiopische Henochbuch nach S. Uhlig, JSHRZ V 6, Gütersloh 1984. Nach Michael A. Knibb, The Ethiopic Book of Enoch. 2. Introduction, Translation and Commentary, Oxford, 1978, ist „die Summe des Gerichts“ wörtliche Übersetzung. Er selbst gibt die Wendung mit „the whole judgement“ wieder: Enoch z. St.

<467> Wengst zitiert Thomas von Aquins Kommentar zum Johannesevangelium, Teil 1, Göttingen 2011, Nr. 766.

<468> So zitiert Wengst Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 192 (Hervorhebung von Wengst).

<469> Marianne Meye Thompson, The God of the Gospel of John, Grand Rapids u. a. 2001. Die folgenden Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf dieses Buch.

<470> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 41f.

<471> Thyen zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannes-Evangeliums. Übers. M. Trebesius u. H. C. Petersen, 130 (= J. Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Bd. 14), Neukirchen-Vluyn 1964, 96).

<472> Thyen zitiert L. van Hartingsveld, Die Eschatologie des Johannesevangeliums, 1962, allerdings ohne den Titel in seinem Literaturverzeichnis anzugeben. Die folgenden Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf dieses Buch.

<473> Deutung des Gleichnisses: „Und das ist jetzt“, 5,22-30, Abs. 6-7 (Veerkamp 2006, 101-102).

<474> Dazu verweist Thyen exemplarisch auf Siegfried Schulz, Untersuchungen zur Menschensohn-Christologie im Johannesevangelium, Göttingen 1957, 109ff.

<475> Thyen zitiert Delbert Burkett, The Son of Man in the Gospel of John, JSNT, Sheffield 1991. Seitenzahlen dieses Abschnitts in eckigen Klammern […] beziehen sich auf dieses Buch.

<476> Deutung des Gleichnisses: „Und das ist jetzt“, 5,22-30, Abs. 1 und 9-13 (Veerkamp 2015, 45, und (Veerkamp 2006, 102-103).

<477> Hier widerspreche ich Veerkamp insofern, als auch Paulus das Gericht nach den Werken durchaus nicht außer Kraft gesetzt sieht: 2. Korinther 5,10!

<478> Anm. 198 zur Übersetzung von Johannes 5,30 (Veerkamp 2015, 44).

<479> Thyen zitiert Anthony R. Harvey, Jesus on Trial, London 1976, 16 (oben von mir ins Deutsche übersetzt):

„The speeches of the parties to such a dispute were very different from what would have been expected, say, in a western court. There was no attempt to build up a case bit by bit, accumulating evidence by stages and giving the whole presentation a logical cogency of its own. Rather it was a matter of each party stating his case again and again in such a way as to dispel the doubts of his listeners. The object was not so much to present a case which could not be demolished as to present oneself as a person who deserved to be believed; and the most effectiv way of achieving this was often to say the same thing over and over again, with only small variations of detail, and with repeated insistence upon one‘s own credentials …“.

<480> Thyen zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Sonderband Göttingen 1990, 279.

<481> Das Zeugnis, 5,31-37a, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 103).

<482> Wengst zitiert „MekhJ Jitro (Amalek) 2“ nach: Mechilta d‘Rabbi Ismael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 200.

<483> Thyen zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, Ges. Ausg. 9, Zürich 1976, 291f.

<484> Thyen zitiert F. Neugebauer, Miszelle zu Joh 5,35, ZNW 52 (1962), 130ff.

<485> Das Zeugnis, 5,31-37a, Abs. 3-6 (Veerkamp 2006, 103-104).

<486> Wengst zitiert „bAS 3a“, also den Traktat ˁAvoda Zara 3a im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<487> Ich zitiere aus dem „Traktat Awoda sara 3a“ nach: Der Babylonische Talmud. Ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, München 1963, 122f.

<488> Thyen zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, Ges. Ausg. 9, Zürich 1976, 293.

<489> Thyen zitiert Robert Henry Lightfoot, St. John‘s Gospel, London 1956, 7. Auflage Oxford, London und New York 1972 (ed. by C. F. Evans), 147 (oben von mir ins Deutsche übersetzt):

„all life, in and from the beginning onwards, when rightly understood, has born witness, as the activity of the Father, to the Lord“.

<490> Thyen zitiert Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/1, Gütersloh, 3. Auflage 1991, 304ff.

<491> Das Zeugnis, 5,31-37a, Abs. 7 (Veerkamp 2006, 104).

<492> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 200 und 201.

<493> Thyen zitiert Barnabas Lindars, The Gospel of John, NCBC, London 1972, 229.

<494> Thyen zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 123.

<495> Die Schriften, 5,37b-47, Abs. 2-5 (Veerkamp 2006, 104-105).

<496> Thyen zitiert Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968, 74.

<497> Dazu verweist Thyen auf Bertolt Klappert, „Mose hat von mir geschrieben“. In: E. Blum u.a. (Hgg.), Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, FS R. Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 1990, 626ff.

<498> Die Schriften, 5,37b-47, Abs. 6-7 (Veerkamp 2006, 105).

<499> Die Schriften, 5,37b-47, Abs. 8-9 (Veerkamp 2006, 105-106).

<500> Thyen zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, Ges. Ausg. 9, Zürich 1976, 295f.

<501> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 202.

<502> Das zeigt sich Wengst zufolge (Anm. 288) „am deutlichsten in der ab 7,39 oft begegnenden, auf die Kreuzigung bezogenen Redeweise vom ‚Verherrlichen‘ (doxázein) Jesu.“

<503> Wengst zitiert Shemot Rabba 47,9: Midrasch Rabba über die fünf Bücher der Tora und die fünf Megillot. midrasch rabbah, 2 Bde., Nachdruck Jerusalem o.J. (Romm, Wilna 1887), 77d.

<504> Thyen zitiert Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen, 3. Auflage 1933, 91.

<505> Thyen zitiert Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd 2, München & Gütersloh, 1992, 298f.

<506> Für das erstere „dieser beiden Extreme“ steht in Thyens Augen Bertolt Klappert, „Mose hat von mir geschrieben“. In: E. Blum u.a. (Hgg.), Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, FS R. Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 1990. Bei Dieter Sänger, ‚Von mir hat er geschrieben‘ (Joh 5,46), KD 41 (1995), 636ff. (T331), „gerät das Verhältnis des Zeugen Mose zu Jesus, dem von ihm Bezeugten, … zu einem nahezu völligen Gegensatz“.

<507> Thyen zitiert Johannes Fischer, Wahrer Gott und wahrer Mensch, NZSystTh 37 (1995), 118f.

<508> Die Schriften, 5,37b-47, Abs. 10 (Veerkamp 2006, 106).

<509> Alle weiteren Veerkamp-Zitate dieses Abschnitts im Scholion 5: Christozentrismus und Enterbung des Judentums, Abs. 1-10 (Veerkamp 2006, 106-108).

<510> Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013; vgl. meine Zusammenfassung dieses Werkes: Ton Veerkamp: „Die Welt anders“.

<511> In der Nähe des Pascha. Der Ernährer Israels, 6,1-7,1, Abs. 1-5 (Veerkamp 2006, 108-109).

<512> Das macht Veerkamp (Anm. 212) beispielhaft an Jean Paul Sartre deutlich:

Ein moderner Erzähler führt uns vor, wie die Logik von Zeit und Ort das Sein bestimmt und nicht in messbare Abschnitte zerlegt. Jean-Paul Sartre tut das im zweiten Teil seines Romans Les chemins de la liberté, Le sursis. Hier wird in einem schwindelerregenden Durcheinander der Orte und der Personen die Zeit zum einzigen Verbindungselement zwischen den Personen, die in der letzten Septemberwoche des Jahres 1938, als die Westmächte auf der Konferenz von München Hitler die freie Hand in der Tschechoslowakei ließen, ihre Lebensläufe in den Schatten des kommenden Krieges verschwinden sahen. Ein „moderner“ Leser muss mit abrupten Übergängen umgehen können; er könnte sonst keinen Roman des 20. und 21. Jh. lesen.

<513> Thyen zitiert G. A. Phillips, ‚This ist a Hard Saying. Who Can be Listener to it?‘ Creating a Reader in John 6, Semeia 26 (1983), 23-56.

<514> Wengst verweist (Anm. 296) auf Gerd Theissen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, Freiburg (Schweiz) u. Göttingen 1989, 248f.

<515> Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013. Die Seitenzahlen dieses Abschnitts in eckigen Klammern beziehen sich auf Zitate aus diesem Buch. Jeweilige Anmerkungen aus diesem Buch wurden unverändert übernommen.

<516> [Anm. 3]:

Vgl. z.B. Ps 18,16 par. 2 Sam 22,16. Zu beachten ist dabei der jeweils übernächste Vers: Die bedrohliche Flut entspricht den Feinden des Beters – eine Gedankenverbindung, die sich ebenfalls in Ps 69,15f.; 124 findet.

<517> [Anm. 4]:

Vgl. Ps 105,9 LXX (= Ps 106,9 MT).

<518> [Anm. 5]:

Vgl. Ps 2,1: „Was toben die Heiden …?“ im Gegenüber zu der im 6. Vers des gleichen Psalms zu findenden Zusage Gottes: „Ich aber habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berg Zion.“

<519> [Anm. 6]:

Die symbolische Verbindung Roms mit dem feindlichen Meer geht nicht erst auf den Jüdischen Krieg zurück. Schon in einem Text des 1. Jh. v.Chr., dem Nahumpescher (Nahumkommentar) aus Qumran, wird das Meer mit Rom identifiziert. Denn daß Gott das Meer schilt und austrocknen läßt (Nah 1,4), veranlaßt den Ausleger zu der knappen Erläuterung: „Das Meer sind die Kittim [d.h. die Römer]“ (4Q169 [4QpNah], Frg. 1-2, Kol. 2, Zeile 3). Vgl. auch 4 Esra 11,2; 12,8: Das „vierte Tier“, das aus dem Meer aufsteigt, wird zum (römischen) „Adler“.

<520> Einstimmung: Nahe war Pascha, das Fest der Judäer, 6,1-4, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 109).

<521> Thyen zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 116.

<522> Thyen zitiert Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen, 3. Auflage 1933, 91.

<523> Einstimmung: Nahe war Pascha, das Fest der Judäer, 6,1-4, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 109-110).

<524> Thyen zitiert Wilhelm Wilkens, Die Entstehungsgeschichte des vierten Evangeliums, Zürich 1958, 9ff.

<525> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 2-8 (Veerkamp 2006, 110-111).

<526> Thyen zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 124.

<527> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 9-10 (Veerkamp 2006, 111-112).

<528> Das Zeichen der Ernährung Israels. Ein Missverständnis, 6,5-15, Abs. 11-15 (Veerkamp 2006, 112).

<529> Wengst zitiert Shemot Rabba 25,6: Midrasch Rabba über die fünf Bücher der Tora und die fünf Megillot. midrasch rabbah, 2 Bde., Nachdruck Jerusalem o.J. (Romm, Wilna 1887), 46b.

<530> lCH WERDE DASEIN, 6,16-25, Abs. 2-8 (Veerkamp 2006, 113-114).

<531> Thyen zitiert Peder Borgen, The Unity ot the Discourse in John 6, ZNW 50 (1959), 271, mit den Worten: „very confused“ und „apparent obscurity“, die ich oben ins Deutsche übersetzt habe.

<532> lCH WERDE DASEIN, 6,16-25, Abs. 9 (Veerkamp 2006, 114).

<533> Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013. Die folgenden Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf Zitate aus diesem Buch.

<534> Vgl. dazu die von Bedenbender, ebenda, 413ff., in seinem Kapitel 14 unter dem Titel „‚Am Ort und im Schatten des Todes‘. Die neutestamentlichen Ortsangaben Kapernaum, Bethsaida und Chorazin als poetische Verweise auf das Römische Reich“ erörterten Verfluchungen unter anderem von Kapernaum in Matthäus 11,23-24 und Lukas 10,15.

<535> Wengst zitiert Bereschit Rabba 70,5 nach b‘reschit rabbah, hg. v. J. Theodor u. Ch. Albeck, 3 Bde., korrigierte Neuausgabe Jerusalem 1965, 2. Auflage 1996 (Berlin 1912-1936), 802f.

<536> Das Werk, das Gott verlangt, 6,26-29, Abs. 1-2 (Veerkamp 2006, 114-115).

<537> Thyen bezieht sich auf Delbert Burkett, The Son of Man in the Gospel of John, JSNT, Sheffield 1991, 127ff., und zitiert ihn mit den oben von mir übersetzten Worten, 135:

„,the Word‘ and ,the Son of the Man‘ are understood to refer to the same preexistent individual who has become incarnate as Jesus“.

<538> Thyen zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 100.

<539> Damit bezieht sich Thyen auf Ragnar Leivestad, Der apokalyptische Menschen ein theologisches Phantom, ASTI 6 (1967/68).

<540> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 48 und 51.

<541> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1a, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 354.

<542> Das Werk, das Gott verlangt, 6,26-29, Abs. 7-10 (Veerkamp 2006, 115-116).

<543> Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 2-4 (Veerkamp 2006, 116).

<544> Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 1 und 5-10 (Veerkamp 2015, 53, und Veerkamp 2006, 116-117).

<545> Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 11 (Veerkamp 2006, 117).

<546> Dazu verweist Thyen auf Paul Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: P. Ricoeur und E. Jüngel, Metapher, München 1974, 24-45, und auf Hartwig Thyen, Ich bin das Licht der Welt, JAC 35 (1992), 19-46.

<547> Thyen bezieht sich auf Eduard Schweizer, Ego eimi. Die religionsgeschichtliche Herkunft und theologische Bedeutung der johanneischen Bildreden, FRLANT 38, Gütersloh, 2. Aufl. 1965.

<548> Wengst zitiert Bruce J. Malina und Richard L. Rohrbaugh, Social-Science Commentary on the Gospel of John, Minneapolis 1998, 133.

<549> Thyen zitiert Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes, Stuttgart 4. Auflage 1975, 111, und Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HTHK IV, 2. Bd, Freiburg, Basel u. Wien 1971, 72.

<550> Thyen zitiert Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift II (hg. von H. Diem & W. Rest), München (dtv) 1976, 639f.

<551> Kein Hunger mehr, kein Durst mehr. Der entscheidende Tag, 6,30-40, Abs. 12-23 (Veerkamp 2006, 117-119).

<552> Wengst bezieht sich auf Mechilta d‘Rabbi Ismael Beschallach (Wajassa) 5 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 171, und auf Siphre ad Deuteronomium § 317 in: sifrej al sefer d‘varim, hg. v. L. Finkelstein u. H. S. Horovitz, Nachdruck New York 1969 (Berlin 1939), 359.

<553> Wengst (Anm. 328) zitiert Jürgen Becker, Das Evangelium des Johannes, ÖTBK 4/1, Gütersloh, 3. Auflage 1991, 257.

<554> Thyen zitiert Judith M. Lieu, Temple and Synagogue in John, NTS 45 (1999), 65, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„Recognition of the scriptural paradigm demands that the Jews who oppose Jesus in this chapter belong to the scriptural context rather than to the narrative context: their ,murmuring‘ (gongyzō) in Vv. 41-3 is determined by the ,murmuring‘ of the Israelites in the wilderness in Exod 16,2, a murmuring which led to the gift of manna, the leitmotiv of John 6. The seriousness of this is unmistakable. In V. 49 Jesus declares, ,Your fathers ate manna in the wilderness and they died‘; the reference is not to the death that comes to all mortals but recalls Numbers 14, where God decrees, ,of all of your number …who have murmured against me, not one shall come into the land … your dead bodies shall fall in this wilderess‘ (Num 14,29f.32). Murmuring led not only to manna but also to death“.

Auf weitere Stellen in diesem Buch werde ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern verweisen.

<555> Was Thyen auf Grund des fehlenden Artikels über das Lehren Jesu in „der“ Synagoge von Kapernaum oder in „synagogaler Versammlung“ der Volksmenge am Galiläischen Meer ausführt, bespreche ich erst im Zusammenhang der Auslegung von Johannes 6,59.

<556> Thyen verweist auf Roland Bergmeier, Studien zum religionsgeschichtlichen Ort des prädestinatianischen Dualismus in der johanneischen Theologie, Diss. 2 Bde, Heidelberg 1973 (Masch.), und auf die in seinem Literaturverzeichnis allerdings nicht aufgeführte Studie von Otfried Hofius, Erwählung und Bewahrung. Zur Auslegung von Joh 6,37, in: O. Hofius & H.-Chr. Kammler, Johannesstudien, WUNT 88, Tübingen 1996, 81-86.

<557> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 172.

<558> Thyen zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HTHK IV, 2. Bd, Freiburg, Basel u. Wien 1971, 330f., in seinem Exkurs II („Selbstentscheidung und -verantwortung, Prädestination und Verstockung“).

<559> Thyen zitiert Wilfried Joest, Dogmatik II, Der Weg Gottes mit dem Menschen, UTB 1413, Göttingen 1986, 673.

<560> Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 2-9 (Veerkamp 2006, 119-120).

<561> Mit den letzten Worten zitiert Thyen Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 104.

<562> Thyen zitiert W. H. Cadmann, The Open Heaven, edited by G. B. Caird, Oxford 1969, 95f., mit den oben von mir übersetzten Worten:

„But from all this follows an obvious conclusion. If only Jesus has seen the Father, and only through Him is it subsequently possible for others to see the Father, then the word ,see‘ must mean the same in each case. That is to say, Jesus‘ ability to see the Father must be as much a consequence of the Incarnation as the ability He communicates to others. There can be no reference to the seeing of God by the pre-incarnate Logos“.

<563> Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 1 und 10-12 (Veerkamp 2015, 55, und Veerkamp 2006, 120-121).

<564> Darauf verweist Veerkamp in seiner Anm. 229 zur Übersetzung von Johannes 6,45 (Veerkamp 2015, 54).

<565> Thyen zitiert John Dominic Crossan, It is Written: A Structural Analysis of John 6, Semeia 26 (1983), 26, mit den von mir oben ins Deutsche übersetzten Worten:

„as used in John 6, it does not seem possible that the ,last day‘ could refer specifically to an cosmic eschaton, else the believer would have to be ,dead‘ for the period before its advent“.

<566> Thyen zitiert Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd 2, München & Gütersloh, 1992, 287.

<567> Thyen zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Sonderband Göttingen 1990, 308f.

<568> Thyen zitiert Leon Morris, The Gospel According to John, NLC, London, 2. Aufl. 1974 mit folgenden oben von mir ins Deutsche übersetzen Worten. Das erste Zitat steht auf S. 376:

„On Calvary Christ gave Himself ,for the life of the world‘, but in the sacrament His gift is to the communicants there present, not to the world“.

Die beiden im nächsten Absatz zitierten Stellen stammen von S. 373f.:

„pointing to the single act of the incarnation“ und „once-for-all action of receiving Christ“.

<569> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 81f.

<570> Wengst zitiert Jan Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen, Stuttgart 2014, 1-23.

<571> Vgl. dazu meine Auseinandersetzung mit Esther Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden: Brill 2011, in der Buchbesprechung: Jesu Fleisch kauen – wie beim Gott Dionysos?

<572> Murren. Brot des Lebens, Fleischessen, 6,41-51, Abs. 13-14 (Veerkamp 2006, 121).

<573> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 89.

<574> Wengst zitiert Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, Stuttgart, 3. Auflage 1960, 1. Auflage 1930, 179.

<575> Wengst zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen 1990, 310.

<576> Thyen zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannes-Evangeliums. Übers. M. Trebesius u. H. C. Petersen, 171.

<577> Thyen zitiert Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes, Stuttgart 4. Auflage 1975, 178.

<578> Thyen zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums, Ges. Ausg. 9, Zürich 1976, 313f.

<579> Damit bezieht sich Thyen auf W. H. Cadmann, The Open Heaven, edited by G. B. Caird, Oxford 1969, 88.

<580> Thyen zitiert Hugo Odeberg, The Fourth Gospel, Amsterdam 1974 (= Uppsala 1929), 239, mit den oben von mir ins Deutsche übersetzen Worten:

„The transition to the conception of the consumption of the flesh and blood of the Son of Man is quite natural. Since the Son of Man is the Celestial Bread, He himself must really be ,eaten‘ – nota bene: in the world of the spirit -, i. e. He must enter into and be assimilated with the spiritual organism of the believer; it is quite in keeping with the strong realistic emphasis of the discourse on the birth from above, if this eating of the spiritual bread is put realistically as eating the flesh and drinking the blood of the Son of Man, i. e. in order to impress strongly that the acquisition of the heavenly bread, the ,imperishable food‘, was no mere allegory. But with this understanding of the meaning of the discourse it is obvious, that no part of the discourse, – still less the whole of it – can primarily refer to the sacrament of the Eucharist. In fact, one who understands the words of the eating and drinking of the flesh and blood to refer to the bread and wine of the Eucharist takes exactly the mistaken view of which Nicodemus in ch 3 and the ‚Jews‘ here are made the exponents, viz. that J‘s realistic expressions refer to objects of the terrestrial world instead of to objects of the celestial world“.

<581> Thyen zitiert Edwin Clement Hoskyns (ed. by F. N. Davey), The Fourth Gospel, London, 2. Aufl. 1947, 284f., mit den oben von mir ins Deutsche übersetzen Worten:

„The importance assigned by the Evangelist in this very chapter to the work of Moses, to the history underlying the concrete existence of the Galilean crowd, to the bread and fish that had been given to them, to the actions of Jesus as well as to his words, to His death, and to the flesh and blood, not of the Son of God, but of the Son of man (V. 53); his general insistence in the Prologue to his gospel upon the creation of the world by the word of God (1,3) … and upon the flesh of Jesus as the ground and occasion and place of Christian, apostolic apprehension of truth and the glory of God (1,14) – all this, and indeed much more, makes it quite impossible to suppose that at the conclusion if the discourse he should have denied everything he had said and fallen back upon an almost intolerable ultimate dualism and into a quite intolerable pessimism concerning the World in Which men live and move and have their being“. Zugleich gilt aber: „The visible World, including the flesh of Jesus the Son of man, including also his audible words, is trivial and unimportant, if it is regarded as existing by and in itself and if its goal and purpose is attained by what it makes or shall make of itself (6,18f.30f)“.

<582> Der Streit unter den Judäern, 6,52-59, Abs. 2-8 (Veerkamp 2006, 122-123).

<583> Scholion 6: Zur klerikal-sakramentalen Deutung der Brotrede, vor allem 6,52-59, Abs. 6-7 (Veerkamp 2006, 126).

<584> Dazu verweist Ton Veerkamp auf seinen Aufsatz: Der mystifizierte Messias – das mystifizierte Abendmahl. Abendmahltexte der messianischen Schriften, in: Texte und Kontexte 25 (1985), 16-42.

<585> Einstimmung: Nahe war Pascha, das Fest der Judäer, 6,1-4, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 109).

<586> Thyen zitiert Robert Henry Lightfoot, St. John‘s Gospel, London 1956, 7. Auflage Oxford, London und New York 1972 (ed. by C. F. Evans), 169 mit den oben von mir ins Deutsche übersetzten Worten:

True, it involves for Him and for them ,the scandal of the cross‘; but it is also the path of his exaltation, of his return to the glory of the father, and of His resultant work, only made possible by the cross, in and for them through the lifegiving presence of the Holy Spirit“.

<587> Die Veerkamp-Zitate dieses Abschnitts finden sich in: Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 1-3 (Veerkamp 2015, 57, und Veerkamp 2006, 123) sowie in Anm. 237 zur Übersetzung von Johannes 6,60 und Anm. 238 zur Übersetzung von Johannes 6,61 (Veerkamp 2015, 56).

<588> Wengst zitiert Shemot Rabba 48,4: Midrasch Rabba über die fünf Bücher der Tora und die fünf Megillot. midrasch rabbah, 2 Bde., Nachdruck Jerusalem o.J. (Romm, Wilna 1887), 78b.

<589> Thyen zitiert Eduard Schweizer, Art. sarx ktl.: ThWNT VII (1964), 140f.

<590> Thyen zitiert W. H. Cadmann, The Open Heaven, edited by G. B. Caird, Oxford 1969, 92, mit den oben von mir ins Deutsche übersetzten Worten:

„that for undiscerning Jews (v. 52) and for shocked disciples (v. 60), not responsive to the Spirit active in the words of Jesus, not drawn to Him by the Father, as they have just shown themselves to be, even his physical existence is not the life-imparting miracle that it should be“.

<591> Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 4-9 (Veerkamp 2006, 123-124).

<592> Eine böse Rede, 6,60-66, Abs. 10-11 (Veerkamp 2006, 124).

<593> Worte der kommenden Weltzeit, 6,67-7,1, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 124-125).

<594> Worte der kommenden Weltzeit, 6,67-7,1, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 125).

<595> Thyen bezieht sich auf E. A. Wyller, In Salomo‘s Porch: A Henological Analysis of the Architectonic of the Fourth Gospel, STL 42 (1988), 151-167, und Gunnar Østenstad, The Structure of the Fourth Gospel: Can it be Defined Objectively?, STL 45 (1991), 33-55.

<596> Sukkot, das Laubhüttenfest. Der große Streit, 7,2-10,21, Abs. 1-5 (Veerkamp 2006, 127).

<597> Worte der kommenden Weltzeit, 6,67-7,1, Abs. 3 (Veerkamp 2006, 125).

<598> Wengst zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1-8), hg. v. W. Fürst, Zürich 1976, 337.

<599> Allerdings schließt Wengst nicht aus, dass eine von Raymond E. Brown, The Gospel according to John I, Oxford u. a. 1993, 308, hervorgehobene „metaphorische Dimension anklingt, auf die der Begründungssatz in V. 8 verweist…: ‚Zu diesem Fest wird er nicht hinaufgehen (V. 8), d. h. hinaufgehen zum Vater‘.“

<600> Thyen zitiert Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen, 3. Auflage 1933, 108.

<601> Aufstieg nach Jerusalem, 7,1-10, Abs. 2-15 (Veerkamp 2006, 128-130).

<602> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 130-131).

<603> Wengst zitiert „bSot 22a“, also den Traktat Soṭa 22a im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<604> Wengst zitiert Bemidbar Rabba 14,2: Midrasch Rabba über die fünf Bücher der Tora und die fünf Megillot. midrasch rabbah, 2 Bde., Nachdruck Jerusalem o.J. (Romm, Wilna 1887), 57d.e.

<605> Dazu verweist Wengst auf Jan-Adolf Bühner, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium. Die kultur- und religionsgeschichtlichen Grundlagen der johanneischen Sendungschristologie sowie ihre traditionsgeschichtliche Entwicklung, Tübingen 1977.

<606> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 4-8 (Veerkamp 2006, 131-132).

<607> Diese Zahlenangabe irritiert mich ein wenig, da das Verb zētein hier im Johannesevangelium bereits zum 12. und 13. Mal auftaucht und auch weiterhin eine große Rolle spielen wird. Allein im Kapitel 7 kam das Wort allerdings tatsächlich bisher 3mal vor: In Vers 1 „suchten“ die Judäer, Jesus zu töten, nach Vers 4 „sucht“ in den Augen der Brüder Jesu jeder, öffentlich bekannt zu werden, und in Vers 11 „suchen“ die Judäer Jesus auf dem Fest.

<608> Wengst zitiert Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, Stuttgart, 3. Auflage 1960, 1. Auflage 1930, 193f.

<609> Wengst zitiert Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen, 3. Aufl. 1933, 111.

<610> Wengst zitiert zu Rabbi Elieser die Tosefta Schabbat 15,16: tosefta, hg. v. M. S. Zuckermandel, mit taschlum tosefta v. S. Lieberman, Neuausgabe Jerusalem 1970, 134, und zu Rabbi Elasar „bJom 85b“, also den Traktat Joma 85b im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<611> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 9-13 (Veerkamp 2006, 132-133).

<612> Mit „ihr geifert“ oder „ihr giftet mich an“ übersetzt Veerkamp, Anm. 258 zur Übersetzung von Johannes 7,23 (Veerkamp 2015, 60), den griechischen Ausdruck emoi cholate, der von cholē, „Galle“, abzuleiten ist: „Cholan bedeutet ‚vergällen‘. Das Wort kommt bei Johannes nur einmal vor. ‚Erzürnen‘ wäre zu schwach.“

<613> Wengst zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1-8), hg. v. W. Fürst, Zürich 1976, 344.

<614> Wengst zitiert Emanuel Hirsch, Das vierte Evangelium in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt, Tübingen 1936, 199.

<615> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 88.

<616> Thyen zitiert J. Duncan M. Derrett, archontes, archai: A Wider Background to the Passion Narratives, Filologia Neotestamentica 2 (1989), 173-185.

<617> Dazu verweist Thyen auf (H. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 2, München, 3. Auflage 1961, 489.

<618> Thyen zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 161f.

<619> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 14-15 (Veerkamp 2006, 133).

<620> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 231.

<621> Wengst zitiert die Stelle Mechilta d‘Rabbi Ismael Beschallach (Schira) 8 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 144, auf die Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, Stuttgart, 3. Auflage 1960, 1. Auflage 1930, 197, aufmerksam macht.

<622> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 16-17 (Veerkamp 2006, 133).

<623> Wengst zitiert Siphre ad Deuteronomium § 305 in: sifrej al sefer d‘varim, hg. v. L. Finkelstein u. H. S. Horovitz, Nachdruck New York 1969 (Berlin 1939), 326f. In dieser Quelle macht Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, Stuttgart, 3. Auflage 1960, 1. Auflage 1930, 198, auf „das Wortpaar ‚suchen und nicht finden‘“ aufmerksam.

<624> Wengst zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1-8), hg. v. W. Fürst, Zürich 1976, 346.

<625> Thyen zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 132.

<626> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 18-19 (Veerkamp 2006, 134).

<627> Dazu verweist Wengst auf Mischna Sukka 4,1: schischah sidrej mischnah, hg. v. Ch. Albeck, Bde. 1-6, Jerusalem u. Tel Aviv 1952-1958 (Nachdruck 1988). Das nachfolgende Zitat zum „Haus des Wasserschöpfens“ stammt aus dem Jerusalemer Talmud zum Sukkot-Fest 5,1: talmud jeruschalmi, Nachdruck Jerusalem 1969 (Krotoschin 1866), 55a.

<628> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 230.

<629> So zitiert Thyen Felix Porsch, Pneuma und Wort, FthSt 16, Frankfurt 1974, 55.

<630> Thyen zitiert Günter Reim, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, SNTS MS 22, Cambridge 1974, 56ff. Vgl. dazu die Homepage von Günter Reim.

<631> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 525 und 229, Anm. 2.

<632> Thyen zitiert Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd 2, München & Gütersloh, 1992, 304f.

<633> Dazu beruft sich Thyen auf R. Alan Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, Philadelphia 1983, 39.

<634> Thyen zitiert Wilhelm Thüsing, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA 26, 1/2, Münster, 2. Aufl. 1970, 163.

<635> Anm. 264 zur Übersetzung von Johannes 7,37f. (Veerkamp 2015, 62); alle weiteren Veerkamp-Zitate dieses Abschnitts in: Vom Messias, 7,11-52, Abs. 20-24 (Veerkamp 2006, 134-135).

<636> Veerkamp zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannesevangeliums [1553], übersetzt v. Martin Trebesius und Hand Christian Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 201.

<637> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 218, Anm. 2.

<638> Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013, 310f.

<639> Thyen zitiert Wolfgang J. Bittner, Jesu Zeichen im Johannesevangelium, WUNT 40, Tübingen 1987, 57ff.

<640> Thyen bezieht sich auf Wayne A. Meeks, The Prophet-King. Moses Traditions and the Johannine Christology, NT.S 15, Leiden 1967.

<641> Dazu beruft sich Thyen auf Charles Harold Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1953, 8. Aufl. 1968, 90, sowie (H. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1, München, 3. Auflage 1961, 76 und 83.

<642> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 25-28 (Veerkamp 2006, 135).

<643> Wengst zitiert Pierre Lenhardt und Peter von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva. Texte und Interpretationen zum rabbinischen Judentum und Neuen Testament, Berlin 1987, 85f.

<644> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 28-29 (Veerkamp 2006, 135-136).

<645> Dazu verweist Thyen auf Sukka 27b, zitiert von (H. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 2, München, 3. Auflage 1961, 519.

<646> Thyen zitiert Marinus de Jonge, Stranger from Heaven and Son of God. Jesus Christ and the Christians in Johannine Perspective, Missoula, Mont. 1977, 57ff.

<647> Vom Messias, 7,11-52, Abs. 30-3e1 (Veerkamp 2006, 136).

<648> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 235. Später folgen weitere Seitenzahlen in eckigen Klammern, die sich auf dieses Buch beziehen (auch von Thyen zitiert).

<649> Wengst zitiert Hans von Campenhausen, Zur Perikope von der Ehebrecherin (Joh 7,53-8,11), ZNW 68, 1977, 172. Später folgen weitere Seitenzahlen in eckigen Klammern, die sich auf dieses Buch beziehen (auch von Thyen zitiert).

<650> Wengst zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 139.

<651> Thyen bezieht sich auf seinen Beitrag Jesus und die Ehebrecherin (Joh 7,53-8,11) in: Axel von Dobbeler (Hrsg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments: Festschrift für Klaus Berger zum 60. Geburtstag, Tübingen 2000, 433-446 (das Buch fehlt allerdings in seinem Literaturverzeichnis). Die Seitenzahlen aus diesem Aufsatz leite ich mit dem Kürzel FB (für Festschrift Berger) ein.

<652> So zitiert Thyen Ulrich Becker, Jesus und die Ehebrecherin. Untersuchungen zur Text- und Überlieferungsgeschichte von Joh 7,53-8,11 (BZNW 28), Berlin 1963, 43ff. Später folgt eine weitere Seitenzahl in eckigen Klammern, die sich auf dieses Buch bezieht.

<653> [Intermezzo: Eine Probe aufs Exempel, 7,53-8,11], Abs. 2-13 (Veerkamp 2006, 136-138).

<654> Veerkamp zitiert Andreas Bedenbender, Der Sündlose unter euch werfe als erster auf sie einen Stein (Joh 8,7), in: Texte & Kontexte 58 (1993), 21-48.

<655> Wengst zitiert Midrasch Tehilim 56,4: midrasch tehilim, hg. v. S. Buber, Nachdruck Jerusalem 1977 (Wilna 1891), 148b.

<656> Das Licht der Welt 8,12-30, Abs. 1-4 (Veerkamp 2006, 138-139).

<657> Wengst zitiert Jörg Augenstein, „Euer Gesetz“ – Ein Pronomen und die johanneische Haltung zum Gesetz, ZNW 88, 1997, 312 und 313.

<658> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 128f.

<659> Wengst zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1-8), hg. v. W. Fürst, Zürich 1976, 365f.

<660> Wengst zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 142.

<661> Wengst zitiert Adolf Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt, Stuttgart, 3. Auflage 1960, 1. Auflage 1930, 207.

<662> Wengst zitiert Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-12, RNT, Regensburg 2009, 573 (weitere Seitenzahlen in diesem Abschnitt, die auf dieses Buch verweisen, erscheinen in eckigen Klammern).

<663> Der prominenteste Vertreter dieser Auffassung war J. Louis Martyn in seinem Buch: History and Theology in the Fourth Gospel (Louisville: Westminster John Knox Press, 2003). Ich habe sie unter dem Titel Martyns Theorie im Überblick knapp zusammengefasst.

<664> Adele Reinhartz, Cast Out of the Covenant: Jews and Anti-Judaism in the Gospel of John (Lanham: Lexington Books-Fortress Academic, 2018). Meine kritische Besprechung dieses Buches trägt den Titel: Befreiung für ganz Israel durch den Messias Jesus.

<665> Wo ist dein VATER, 8,12-20, Abs. 2-7 (Veerkamp 2006, 139-140).

<666> Vgl. dazu den Abschnitt „1.5. Die Peripetie: Die Schriftkundigen, die Witwe und der Tempel (Mk 12,38-13,2)“ in Andreas Bedenbender, Der gescheiterte Messias, Leipzig 2019, 75ff.

<667> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 250.

<668> Wengst zitiert Bereshit Rabba 14,3: Midrasch Echa Rabbati. midrasch echah rabbah, hg. v. S. Buber, Nachdruck Hildesheim 1967 (Wilna 1899), 34c-d, und Shemot Rabba 12,3: Midrash Shemot Rabbah (I-XIV). midrasch schemot rabbah (paraschot 1-14), hg. v. A. Shinan, Jerusalem u. Tel Aviv 1984, 247.

<669> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 142.

<670> Thyen bezieht sich auf Delbert Burkett, The Son of Man in the Gospel of John, JSNT, Sheffield 1991, 150f., und zitiert zum Schluss seine oben von mir übersetzten Worte, 151f.:

„As long as the Word is with them, they have the opportunity to hear what God is saying. When Jesus leaves, however, they will seek the Word in vain, without knowing that what they are looking for is Jesus“.

<671> Thyen zitiert Astrid Schlüter, Die Selbstauslegung des Wortes. Selbstreferenz und Fremdreferenzen in der Textwelt des Johannesevangeliums. Dissertation, Heidelberg 1996 (Maschine), 52.

<672> „Ich tue das in SEINEN Augen Gerade, immer!“, 8,21-30, Abs. 2-12 (Veerkamp 2006, 141-142).

<673> Thyen zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Sonderband Göttingen 1990, 347.

<674> Thyen zitiert Delbert Burkett, The Son of Man in the Gospel of John, JSNT, Sheffield 1991, 154, mit seinen oben von mir am Anfang und Ende des Absatzes übersetzten Worten:

„He states that he is, just what he speaks“.

„The phrase ,at the beginning‘ would normally be followed by a Verb in the past tense. However, the presence of the divine name ,I Am‘ in the context may alter the normal use of tense, as in 8,58: ,Before Abraham came to be, I Am‘“.

<675> Thyen zitiert Wilhelm Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 1913, 170. In seinem Literaturverzeichnis taucht das Buch allerdings nicht auf.

<676> Thyen beruft sich auf W. H. Cadmann, The Open Heaven, edited by G. B. Caird, Oxford 1969.

<677> „Ich tue das in SEINEN Augen Gerade, immer!“, 8,21-30, Abs. 13-16 (Veerkamp 2006, 142).

<678> Wengst zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1-8), hg. v. W. Fürst, Zürich 1976, 381.

<679> Thyen zitiert B. C. Lategan, The Truth that Sets Man Free (John 8,31-36), Neotest 2 (1968), 71ff.

<680> Die Treue und die Freiheit, 8,31-36, Abs. 2-13 (Veerkamp 2006, 143-144).

<681> Dazu beruft sich Veerkamp auf Gerhard Jankowski, Friede über Israel. Paulus an die Galater. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte Nr. 47/48 (1990), 63ff.

<682> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 338.

<683> Thyen zitiert Jerome H. Neyrey, Jesus the Judge. Forensic Process in John 8,21-59, Bib 68 (1987), 523, mit den folgenden von mir oben übersetzten Worten:

„I suggest that this latter understanding of Ismael-as-murderer might also be operative in the Johannine argument, for Jesus accuses his hearers of ,seeking to kill him‘ (8,37: see 8,28.40.44 and 59). In fact, this ,seeking‘ of Jesus functions precisely as the proof that the audience is not descended from Abraham through Isaac, but through Ishmael, for they do what Ishmael did, i. e. attempt to kill“.

<684> Der Diabolos ist nicht der Teufel, 8,37-47, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 144-145).

<685> Wengst zitiert Karl Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1-8), hg. v. W. Fürst, Zürich 1976, 384.

<686> Dazu beruft sich Wengst auf die Qumran-Quellen: 4Q 174 [4Q Flor] I 7-9.

<687> Wengst zitiert Origenes, Werke IV, hg. v. Erwin Preuschen, GCS, Berlin 1903; dt.e Übers.: Origenes, Das Evangelium nach Johannes, übers. v. Rolf Gögler, Zürich 1959, XX 13, 103.105.

<688> Die beiden Stellen aus Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ zitiert Wengst nach folgenden Quellen: WA 53, 529,34f.; 530,6-16 (= J. G. WALCH 2. Aufl. 1880-1910, XX (Nachdruck 1986), 1999, und WA 53, 530,35 – 531,7 (= Walch XX, 2000). Beide Texte sind auch im Internetarchiv der Plattform de.wikisource.org nachzulesen.

<689> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941). Die entsprechenden Seitenzahlen habe ich den Zitaten in eckigen Klammern hinzugefügt.

<690> Thyen zitiert Günther Schwarz, hemeis ek porneias ou gegennēmetha (Joh 8,41), Biblische Notizen 14 (1981), 52f.

<691> Thyen zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 149.

<692> Thyen zitiert Günter Reim, Joh 8,44 – Gotteskinder / Teufelskinder. Wie antijudaistisch ist ‚die wohl antijudaistischste Äußerung des NT‘?, NTS 30 (1984), 619-624.

<693> Thyen zitiert E. L. Miller, ‚In the Beginning‘: A Christological Transparency, NTS 45 (1999), 589f. Das von mir oben übersetzte ausführliche Zitat steht auf S. 590:

„He [the devil] was a murderer from the beginning (ap‘ archēs), though here is not a christological but rather a diabolical transparency that is involved. In this statement the phrase ‚from the beginning‘ inevitably calls to mind, as most commentators emphasize, the Devil‘s complicity in the murder of Abel by Cain, or the Devil‘s deceptive … plunging of the human race into mortality, or both. That the prepositional phrase, however, has reference also to the nature of the Devil is suggested by the lines immediately following: ‚…. and [the devil] is alien to the truth, because there is no truth in him. When he speaks a lie, he speaks from his nature, because he is a liar and the father of lies.‘ That these further claims involve primarily an interest in essence rather than in history is evident“.

<694> Der Diabolos ist nicht der Teufel, 8,37-47, Abs. 4-15 (Veerkamp 2006, 145-147).

<695> In einem Telefongespräch konnte ich Ende 2020 mit Ton Veerkamp klären, dass in der Druckversion seiner Auslegung das „nicht“ vor dem Wort „Nicht-Gott“ versehentlich ausgelassen wurde.

Zu seinen Vorstellungen über „Gott“ als die „Grundordnung“ einer Gesellschaft vgl. Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013, insbesondere die Abschnitte Die Struktur der Großen Erzählung und Die Sprache der Großen Erzählung in meiner Zusammenfassung dieses Buches.

Die im nächsten Satz erwähnte politische Auslegung des Buches Hiob findet sich im Kapitel 4: „Der Verlust der Egalität – Mutmaßungen über Ijjob“ in dem Buch: Ton Veerkamp, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in der Schrift, Berlin 1992, 115-229.

<696> Um genau zu sein, ist Jerobeam einer von drei Widersachern, die Gott gegen Salomo erweckt, und das Wort ßatan wird nur im Falle von Hadad (11,14) und Reson (11,23) benutzt.

<697> Der in unmittelbarer Nähe dieser Verse auftauchende Widersacher (1 Johannes 2,18.22) wird antichristos genannt; vom diabolos ist 4mal in 1 Johannes 3,8.10 die Rede.

<698> Thyen zitiert Edwin A. Abbott, Johannine Grammar, London 1906, 2576.

<699> Steine statt Argumente, 8,48-59, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 147).

<700> Wengst zitiert die Tosefta Schabbat 13,5, hg. v. S. Lieberman, seder serajim, Jerusalem, 2. Auflage 1992; seder moˀed, New York 1962; seder naschim (sota, gittin, kidduschin), New York 1973.

<701> Wengst zitiert die Stelle Mechilta d‘Rabbi Ismael Jitro (BaChodesch) 9 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 36. Außerdem verweist er auf Bereschit Rabba 44,21 und 22: b‘reschit rabbah, hg. v. J. Theodor u. Ch. Albeck, 3 Bde., korrigierte Neuausgabe Jerusalem 1965, 2. Auflage 1996 (Berlin 1912-1936), 443-445.

<702> Thyen zitiert Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd 2, München & Gütersloh, 1992, 299f.

<703> Thyen zitiert Frank Kermode, St. John as Poet, JSNT 28 (1986) 3-16. Sein wörtliches Zitat: „common words used in an uncommon way“ im vorigen Satz habe ich oben ins Deutsche übersetzt.

<704> Thyen zitiert Leon Morris, The Gospel According to John, NLC, London, 2. Aufl. 1974, 474, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„John is perhaps hinting that God protected His Son. It is not so much that Jesus by superior cleverness was able to conceal Himself from them“.

<705> Steine statt Argumente, 8,48-59, Abs. 4-13 (Veerkamp 2006, 147-149).

<706> Dazu verweist Veerkamp auf Frans Breukelmans, Bijbelse Theologie I/2. Het eerstlingschap van Israel, Kampen 1992.

<707> Folgendes Zitat aus Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids/Michigan 2003, 167, habe ich oben ins Deutsche übersetzt:

„So far as we can tell from Paul‘s letters, there was never any conflict or complaint from Jerusalem leaders, or from those Jewish Christians who made it their aim to correct features of Pauline Christianity, about the Christ-devotion that was practiced in Pauline congregations. The most natural inference is that the pattern of devotional practices was not very different from that followed in the Judean circles with which Paul had these contacts.“

<708> Wengst verweist auf J. Louis Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel (Louisville: Westminster John Knox Press, 2003). Vgl. meine knappe Zusammenfassung seiner These: Martyns Theorie im Überblick.

<709> Thyen zitiert William David Davies, The Gospel and the Land. Early Christianity and Jewish Territorial Doctrine, Berkeley: University of California Press, 1974, 295, das Buch ist allerdings in seinem Literaturverzeichnis nicht aufgeführt.

<710> Von Blinden und Sehenden, 9,1-41, Abs. 1 (Veerkamp 2006, 149).

<711> Wengst zitiert zur Auslegung von Johannes 9 häufig Tobias Kriener, „Glauben an Jesus“ – ein Verstoß gegen das zweite Gebot? Die johanneische Christologie und der jüdische Vorwurf des Götzendienstes, Neukirchen-Vluyn 2001; ich verweise auf ihn mit Seitenzahlen in eckigen Klammern.

<712> Wengst zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 183, wo er kurz zuvor bemerkt: „Die Schwere der Krankheit wirft nach jüdischer Vergeltungslehre die Frage nach Art und Schwere der zugrundeliegenden Sünde auf.“ Außerdem spricht nach Wengst Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Aufl. 1985 (= 10. Aufl. 1941), 251, von der „Absurdität der jüdischen Anschauung“, und Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 156, behauptet: „Ist doch nach jüdischer Meinung jede (!) Krankheit die Folge einer Sünde“.

<713> Wengst zitiert aus dem Jerusalemer Talmud 9,1 den Traktat Berakhot: talmud jeruschalmi, Nachdruck Jerusalem 1969 (Krotoschin 1866).

<714> Wengst zitiert Midrasch Hiob 24 zu Hiob 4,4 in: Batei Midrashot. batej midraschot, Bd. 2, hg. v. A. J. Wertheimer, Jerusalem, 2. Auflage 1989, 168.

<715> Wengst zitiert Bereschit Rabba 63,6: b‘reschit rabbah, hg. v. J. Theodor u. Ch. Albeck, 3 Bde., korrigierte Neuausgabe Jerusalem 1965, 2. Auflage 1996 (Berlin 1912-1936), 682f.

<716> Thyen zitiert Charles Harold Dodd, Historical Tradition in the Fourth Gospel, Cambridge 1963, 186 und 316ff.

<717> Die Werke Gottes, 9,1-5, Abs. 2-6 (Veerkamp 2006, 149-150).

<718> Wengst zitiert den Traktat Mischna Schabbat 7,2: schischah sidrej mischnah, hg. v. Ch. Albeck, Bde. 1-6, Jerusalem u. Tel Aviv 1952-1958 (Nachdruck 1988).

<719> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 253, Anm. 3.

<720> Thyen zitiert K. Müller, Joh 9,7 und das jüdische Verständnis des Siloh-Spruches, BZ 13 (1969), 251-256, und Günter Reim, Joh 9 -Tradition und zeitgenössische messianische Diskussion, BZ 22 (1978), 245-53 (auf beide Aufsätze wird im Folgenden jeweils noch einmal durch eine Seitenzahl in eckigen Klammern hingewiesen).

<721> Thyen zitiert Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose. Genesis, ATD 2/4, Göttingen, 7. Aufl. 1964, 371f.

<722> Auf einmal sehe ich, 9,6-12, Abs. 2-4 (Veerkamp 2006, 150-151).

<723> Vgl. dazu den Abschnitt 3.4 Ein Seitenblick auf die Integration von Menschen mit Behinderung in meiner Studienarbeit Geschichten teilen im multireligiösen Kindergarten sowie John M. Hulls Open Letter from a Blind Disciple to a Sighted Saviour, der leider im Internet nicht mehr verfügbar ist, und auf den ich mich in meinem Gottesdienst Blinder Jünger Jesu beziehe. Wer sich für diesen Offenen Brief interessiert, kann ihn gerne unter meinen im Impressum angegebenen Kontaktdaten anfordern.

<724> Das Verhör und der Ausschluss, 9,13-34, Abs. 2 (Veerkamp 2006, 151).

<725> Thyen zitiert Margaret Davies, Rhetoric and Reference in the Fourth Gospel, JSNT S 69, Sheffield 1992, 300 (die Autorin ist identisch mit M. Pamment).

<726> Wengst zitiert Siphre ad Deuteronomium § 26 in: sifrej al sefer d‘varim, hg. v. L. Finkelstein u. H. S. Horovitz, Nachdruck New York 1969 (Berlin 1939), 38f.

<727> Thyen zitiert Gail R. O‘Day, The Word Disclosed. John‘s Story and Narrative Preaching, St. Louis 1987, 69, mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„The Pharisees‘ appeal to Mosaic discipleship as part of their opposition to Jesus, therefore, is an act of unfaithfulness to Moses and the torah, not faithfulness, The Pharisees‘ antagonism towards Jesus disinherits them from their Mosaic heritage. The reader of the Fourth Gospel knows that to be a true disciple of Moses, one must be a disciple of Jesus also“.

<728> Das Verhör und der Ausschluss, 9,13-34, Abs. 3-10 (Veerkamp 2006, 151-152).

<729> Thyen zitiert Raymond E. Brown, The Gospel According to John, AncB. 29/A, New York 1996, 375, mit folgenden oben von mir zitierten Worten:

„a frequent setting for the figure of the Son of Man“.

<730> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 256, Anm. 8. Auf ein weiteres Bultmann-Zitat in diesem Abschnitt verweise ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern.

<731> Eure Verirrung bleibt, 9,35-41, Abs. 2-4 (Veerkamp 2006, 152-153).

<732> Wengst zitiert Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig, nach der 5. Auflage 2016, 226.

<733> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 211.

<734> Wengst zitiert den Traktat Bava Meṣiˁa aus dem babylonischen Talmud und die Mischna Avot nach P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 2, 536 (der Titel fehlt in seinem Literaturverzeichnis, daher hier nur abgekürzt wiedergegeben).

<735> Thyen zitiert Gail R. O‘Day, The Word Disclosed. John‘s Story and Narrative Preaching, St. Louis 1987, 69, mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„but it recieves its full significance for the reader only because the reader has experienced the contrast between the Pharisees and the man born blind throughout the telling of the story“.

<736> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 258f. Das Bultmann-Zitat drei Absätze später steht auf Seite 259f.

<737> Eure Verirrung bleibt, 9,35-41, Abs. 5-6 (Veerkamp 2006, 153).

<738> Wengst zitiert C. T. Wilson, Peasant Life in the Holy Land, London 1906, 164f.

<739> Wengst zitiert Udo Schnelle, Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1994-2010. Erster Teil: Die Kommentare als Seismographen der Forschung, ThR 75, 2010, 290f.

<740> Thyen zitiert Klaus Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 39.

<741> Thyen zitiert Karl Bornhäuser, Das Johannesevangelium eine Missionsschrift für Israel, BFChTh II/15, Gütersloh 1928, 58f.

<742> Ein Gleichnis, 10,1-6, Abs. 2-13 (Veerkamp 2006, 153-155).

<743> Anm. 311 zur Übersetzung von Johannes 10,1 (Veerkamp 2015, 80).

<744> Von der Einheit Israels, 10,1-21, Abs. 1 (Veerkamp 2006, 153).153-155).

<745> Wengst zitiert Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 2, 366.

<746> Wengst zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannes-Evangeliums, übers. v. M. Trebesius u. H. C. Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 264.

<747> Thyen bezieht sich auf Robert Kysar, Johannine Metaphor – Meaning and Function: A Literary Cas Study of John 10,1-18. In: R. A. Culpepper & F. F. Segovia (eds.), The Fourth Gospel from a Literal Perspective, Semeia 53 (1991).

<748> Thyen zitiert Joachim Jeremias, Art. poimēn ktl.: ThWNT VI (1959), 494f.

<749> Thyen zitiert Leon L. Morris, The Gospel According to John, NLC, London, 2. Aufl. 1974, 507.

<750> Thyen zitiert Francis J. Moloney, The Gospel of John, Sacra Pagina Series Vol. 4, Collegeville, Minnesota 1998, 302f., mit den oben von mir übersetzten Worten:

„The narrator explicitly identifies the Pharisees with the thieves and robbers in V 6 … This has been dramatically portrayed in 9,1-34. The claims of ,the Jews‘ to be the leaders of God‘s people are false. They are thieves and robbers, purveyors of a messianic hope of their own making. As the response to the man born blind to their interpretation of the Mosaic tradition has shown (cf. 9,24-33), the sheep have not listened to them. This forced him out of their company (v. 34) into belief in the Son of Man and the company of Jesus 35-38)“.

<751> Adrianus Johannes Simonis, Die Hirtenrede im Johannes-Evangelium. Versuch einer Analyse von Johannes 10,1-18 nach Entstehung, Hintergrund und Inhalt, Rom: Päpstliches Bibelinstitut, 1967, 133. Auf ein weiteres Zitat von Simonis verweise ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern.

<752> Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 2-9 (Veerkamp 2006, 155-156).

<753> Wengst zitiert den Midrasch Mechilta d‘Rabbi Ismael Beschallach (Wajehi) 6 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 114.

<754> Wengst zitiert Tobias Kriener, „Glauben an Jesus“ – ein Verstoß gegen das zweite Gebot? Die johanneische Christologie und der jüdische Vorwurf des Götzendienstes, Neukirchen-Vluyn 2001, 136.

<755> Thyen zitiert Joachim Jeremias, Art. poimēn ktl.: ThWNT VI (1959), 495f.

<756> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 290.

<757> Thyen zitiert Emmanuel Lévinas, Gott und die Philosophie. In: B. Kasper (Hg.), Gott nennen – Phänomenologische Zugänge, München 1981, 112f.

<758> Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 10-23 (Veerkamp 2006, 156-159).

<759> Wengst zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannes-Evangeliums, übers. v. M. Trebesius u. H. C. Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 269.

<760> Thyen bezieht sich auf Karl-Martin Fischer, Der johanneische Christus und der gnostische Erlöser: Überlegungen auf Grund von Joh 10, in: K. W. Tröger (Hg.), Gnosis und Neues Testament, Berlin 1973, 245-266.

<761> Thyen bezieht sich auf den Titel eines Aufsatzes von Otfried Hofius, Die Sammlung der Heiden zur Herde Israels (Joh 10,16; 11,51), ZNW 58 (1967), 289-291. Auf ein weiteres Zitat von Hofius weise ich im Folgenden mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern hin.

<762> Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 24 (Veerkamp 2006, 159).

<763> Wengst zitiert den Traktat Mischna Berakhot 9,5: schischah sidrej mischnah, hg. v. Ch. Albeck, Bde. 1-6, Jerusalem u. Tel Aviv 1952-1958 (Nachdruck 1988), und den Traktat Berakhot 61b im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<764> Wengst zitiert die Stelle Mechilta d‘Rabbi Ismael Jitro (BaChodesch) 6 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 227.

<765> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 293.

<766> Die Deutung des Gleichnisses, 10,7-18, Abs. 25-29 (Veerkamp 2006, 159-160).

<767> Anm. 320 zur Übersetzung von Johannes 10,11 (Veerkamp 2015, 82).

<768> In seiner Anm. 324 zur Übersetzung von Johannes 10,17-18 (Veerkamp 2015, 82) ergänzt Veerkamp zu diesem „Spiel mit tithēsthai und labein“, dass es „mit apolyein und phylassein in 12,24 [korresponiert]: Die Seele zugrunde richten, um sie zu bewahren.“

<769> Wengst zitiert Tobias Kriener, „Glauben an Jesus“ – ein Verstoß gegen das zweite Gebot? Die johanneische Christologie und der jüdische Vorwurf des Götzendienstes, Neukirchen-Vluyn 2001, 137.

<770> Thyen zitiert Maurits Sabbe, John 10 and Its Relationship to the Synoptic Gospels, in: derselbe, Studia Neotestamentica. Collected Essays, BETL 98, Leuven 1991, 443-466.

<771> Spaltung, 10,19-21, Abs. 2-3 (Veerkamp 2006, 160).

<772> Der Messias und Gott, 10,22-39, Abs. 2-4 (Veerkamp 2007, 5). Mit diesem Abschnitt beginnt das zweite Heft der originalen Druckversion seiner Auslegung.

<773> Du wirst die Ehre Gottes sehen, 11,1-45, Abs. 1 (Veerkamp 2007, 10).

<774> Wo alles anfing, 10,40-42, Abs. 2-4 (Veerkamp 2007, 10).

<775> Thyen bezieht sich auf E. A. Wyller, In Salomo‘s Porch: A Henological Analysis of the Architectonic of the Fourth Gospel, STL 42 (1988), 151-167, und Gunnar Østenstad, The Structure of the Fourth Gospel: Can it be Defined Objectively?, STL 45 (1991), 33-55.

<776> Thyen zitiert Hartwig Thyen, Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern (Joh 11,1-12,19) als ‚Palimpsest‘ über synoptischen Texten. In: F. van Segbroeck (ed.), The Four Gospels. Festschrift Neyrinck, BeTHL 100, Leuven 1992, Vol. III, 2021-2050.

<777> Thyen zitiert Dorothy Ann Lee, The Symbolic Narratives of the Fourth Gospel, JSNT. SS 95, Sheffield 1994, 191ff.

<778> Sterben für die Nation, 11,46-54, Abs. 16-17 (Veerkamp 2007, 23).

<779> Wengst zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 170, und zur Säulenhalle Salomos P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 2, 625.

<780> Thyen zitiert Maurits Sabbe, John 10 and Its Relationship to the Synoptic Gospels, in: derselbe, Studia Neotestamentica. Collected Essays, BETL 98, Leuven 1991, 78, mit den oben von mir übersetzten Worten (die ebd. 77-81 begründet werden):

„which is undeniably inspired by the Lukan account“.

<781> Der Messias und Gott, 10,22-39, Abs. 5-8 (Veerkamp 2007, 6).

<782> Hans Förster, Bibelübersetzung, Bibelverständnis und Antijudaismus. Ein hermeneutischer Zirkel? In: Deutsches Pfarrerblatt 10/2020, 631-635, hier 635.

<783> Wengst zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen 1990, 381. Auch Thyen wird in diesem Abschnitt Barrett zitieren; darauf werde ich mit Seitenzahlen in eckigen Klammern verweisen.

<784> Wengst zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannes-Evangeliums, übers. v. M. Trebesius u. H. C. Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 279 und 275.

<785> Wengst zitiert den Midrasch Mechilta d‘Rabbi Ismael Beschallach (Wajehi) 4 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 102f.

<786> Wengst zitiert Thomas von Aquins Kommentar zum Johannesevangelium, Teil 1, Göttingen 2011, Nr. 1450.

<787> Wengst zitiert Johannes Beutler, Das Johannesevangelium, Freiburg u. a., 2. Auflage 2016, 317; die Hervorhebungen stammen von ihm.

<788> Thyen zitiert Leon L. Morris, The Gospel According to John, NLC, London, 2. Aufl. 1974, 510.

<789> So zitiert Thyen Theodor Zahn, Das Evangelium nach Johannes, KNT 4, Leipzig, 6. Auflage 1921 (Nachdruck: Wuppertal 1983), 466.

<790> Thyen zitiert Edwin Clement Hoskyns (ed. by F. N. Davey), The Fourth Gospel, London, 2. Aufl. 1947, 389f., mit den oben von mir ins Deutsche übersetzten Worten:

„The background of the Johannine language and thought lies in the earlier tradition of the ministry of Jesus and, as the author carfully points out, in the Old Testament“.

<791> Der Messias und Gott, 10,22-39, Abs. 8-10 (Veerkamp 2007, 6).

<792> Thyen zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 170.

<793> Thyen zitiert Jerome Neyrey, I Said You Are God – Ps 82.6 and John 10, JBL 108/4 (1989), 373, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„Here, as there, a literal interpretation of Jesus‘ words produces the ironical situation that the Jews are formally justified in their objection, yet what they say (when properly understood), is presisely the truth which John wishes to assert“.

In seinem Literaturverzeichnis taucht dieser Titel allerdings nicht auf.

<794> Der Messias und Gott, 10,22-39, Abs. 11-12 (Veerkamp 2007, 6-7).

<795> Wengst zitiert Tobias Kriener, „Glauben an Jesus“ – ein Verstoß gegen das zweite Gebot? Die johanneische Christologie und der jüdische Vorwurf des Götzendienstes, Neukirchen-Vluyn 2001, 144.

<796> Thyen zitiert Sifre zu Dtn nach Jerome Neyrey, I Said You Are God – Ps 82.6 and John 10, JBL 108/4 (1989), 656, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„You stood at Mount Sinai and said: ,All that the Lord hath spoken will we do and obey“ (Ex 24,7), (whereupon) ,I said: Ye are Gods‘ (Ps 82,6); but when you said to the (golden) calf: ,This is thy God, o Israel“ (Ex 32,4), I said to you: ,Nevertheless, ye shall die like men‘ (Ps 82,7)“. All diese und weitere Belege zeigen deutlich, daß die Annahme der Tora und der Gehorsam ihr gegenüber „led to genuine holiness which resulted in deathlessness, hence, Israel could be called god because deathless“.

<797> Der Messias und Gott, 10,22-39, Abs. 13-14 (Veerkamp 2007, 7).

<798> Scholion 7: Gesetzlichkeit, Abs. 1-11 (Veerkamp 2007, 8-10).

<799> Veerkamp zitiert Franz J. Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts. vom Welttheater des Johannesevangeliums bis zu den Hundejahren der Globalisierung, Luzern 2001. Ich beziehe mich im Folgenden auf dieses Buch mit Seitenzahlen in eckigen Klammern.

<800> Der Messias und Gott, 10,22-39, Abs. 15-19 (Veerkamp 2007, 7-8).

<801> Wengst zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen 1990, 386, und Thomas L. Brodie, The Gospel according to John, AncB 29, 1.2, London u. a., 2. Auflage 1971, 380, bezieht sich auf Jörg Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: Jörg Frey, Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften, Tübingen 2013, 517f., und zitiert Ruben Zimmermann, John (the Baptist) as a Character in the Fourth Gospel. The Narrative Strategy of a Witness Disappearing, in: The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts, ed. by Jan van der Watt, R. Alan Culpepper, Udo Schnelle, Tübingen 2016, 115.

<802> Thyen zitiert Edwin Clement Hoskyns (ed. by F. N. Davey), The Fourth Gospel, London, 2. Aufl. 1947, 261, mit den oben von mir ins Deutsche übersetzten Worten:

„There is no polemic against the Baptist implied by the remark that he did not do any sign; the many were probably disciples of his who, in giving their allegiance to Jesus, recognize that John was a true prophet“.

<803> Wo alles anfing, 10,40-42, Abs. 2-4 (Veerkamp 2007, 10).

<804> Wengst zitiert Mechilta d‘Rabbi Ismael Beschallach (Wajassa) 2 in: mechilta d‘Rabbi Jischmael, hg. v. H. S. Horovitz u. I. A. Rabin, Jerusalem, 2. Auflage 1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931), 163.

<805> Thyen beruft sich auf Aileen Guilding, The Fourth Gospel and Jewish Worship, Oxford 1960, 150f.

<806> Thyen zitiert Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie, 3. Bd., WUNT 117, Tübingen 2000, 425.

<807> Lazarus, 11,1-16, Abs. 2-11 (Veerkamp 2007, 11-13).

<808> „Diesen Ausdruck“ verdankt Veerkamp, wie er in Anm. 347 schreibt,

dem niederländischen Professor für Altes Testament Han Renckens. In seinem Buch De godsdienst van Israel, Roermond/Maaseik 1962, 62, schreibt er: „Es ist ein genuin biblisches Verfahren um das, was ein langsames Wachsen gewesen ist, sozusagen zu konzentrieren in einer bestimmten Person in einem bestimmten Zeitpunkt … Abraham ist mehr als eine historische Gestalt, er ist eine biblische Gestalt; das heißt: er ist die exemplarische Gestalt des Volkes Gottes und des gläubigen Menschen aller Zeiten. Kurz: er ist der Vater des Glaubens“. Ähnlich wie Paulus verfährt auch der Koran mit Abraham als chanif, dem „Rechtgeleiteten“, Paradigma aller Muslime.

<809> Er verweist dazu auf die Literaturangabe Johannes Kreyenbühl, Das Evangelium der Wahrheit, 1900/1905, bei Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK), Göttingen 1941, 302. Auf ein weiteres Bultmann-Zitat verweise ich im Folgenden mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern.

<810> Tatsächlich zitiert Thyen hier zwar „Cadburry“, das muss aber ein Versehen sein, da in seinem Literaturverzeichnis Exeget dieses Namens auftaucht und er später auf W. H. Cadman mit genau entsprechender Titelangabe (Lazarus) und Seitenzahl Bezug nimmt. Das oben von mir übersetzte Zitat steht im englischen Original in W. H. Cadman, The Raising of Lazarus (John 10,40-11,53), in: StEv 5 = TU 73, Berlin 1959, 425:

„In that verse (sc. 11,4) however it is a question not of a revealing of His ,glory‘ by Jesus, but of His being ,glorified‘, being given ,glory‘. That is so, but when we find in His ,glory‘ the sense of His union with the Father, andkeep in mind that it is at and because of His dying that He is ,glorified‘, given doxa, is rather to be expected that the verbal form of the term in vs. 4 (doxasthē) will relate to the union between Jesus and those who believe in Him into which His dying draws them according to Johannine teaching (observe, e. g., how the formula used in 10,38; 14,10.11, where Jesus has still to die, is ,the Father is in me and I am in the Father‘, but in 14,20, where His death is contemplated in retrospect, is: ,In that day ye shall know that I am in my Father, and ye in me, and I in you.‘ … It appears then that as the doxa which Jesus already posseses and in his public ministry reveals is his union with the Father, so the doxa which in 11,4 is to be given to Him at the Crucifixion is His union with all who believe in Him. To His gaining of doxa in this sense the illness of Lazarus would be made by Jesus to minister“.

<811> Thyen zitiert Alois Stimpfle, Blinde sehen. Die Eschatologie im traditionsgeschichtlichen Prozeß des Johannesevangeliums, BZNW 57, Berlin 1990, 138.

<812> Lazarus, 11,1-16, Abs. 12-17 (Veerkamp 2007, 13).

<813> Wengst zitiert Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig, nach der 5. Auflage 2016, 247.

<814> Wengst zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 211.

<815> Thyen bezieht sich auf Gérard Rochais, Les récits de résurrection des morts dans le Nouveau Testament, SNTS. MS 40, Cambridge 129-151.

<816> Thyen zitiert Oswald Bayer, Theologie, HsystTh 1, Gütersloh 1994, 478 und 483.

<817> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Offenbarung und Heilsgeschehen, BevTh 7, München 1947; Nachdruck: BevTh 96, München 1985, Herausgeber E. Jüngel, 62.

<818> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 305.

<819> Lazarus, 11,1-16, Abs. 18-23 (Veerkamp 2007, 13-14).

<820> In seiner Anm. 344 zur Übersetzung von Johannes 11,11 (Veerkamp 2015, 88).

<821> Veerkamp zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK), Göttingen 1941, 304.

<822> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 306, „mit Verweis auf das nyn oidamen {nun wissen wir} von 16,30)“.

<823> Thyen zitiert Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie, 3. Bd., WUNT 117, Tübingen 2000, 433.

<824> Martha, 11,17-27, Abs. 2-8 (Veerkamp 2007, 14-15).

<825> Wengst zitiert Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-12, RNT, Regensburg 2009, 735.

<826> Thyen zitiert Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie, 3. Bd., WUNT 117, Tübingen 2000, 450f.

<827> Thyen zitiert Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, Gütersloh, 3. Auflage 1991, 425.

<828> Thyen zitiert Sandra M. Schneiders, Death in the Community of Eternal Life: History, Theology, an Spirituality in John 11, Interpr. 41 (1987), 53, mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„Jesus‘ revelation to Martha, however, is not a presentation of eschatological propositions but a self-disclosure calling for personal response. Faith at this point is not theological assent but personal spiritual transformation“. … Die Autorin unterscheidet ebd. hilfreich zwischen ,Theologie‘ und ,Spiritualität‘ als der Differenz zwischen „reflection on revelation“ und „personal commitment to the one who reveals“ und sieht in Marthas Bekenntnis ihren Eintritt in das ewige Leben: „The scene ends abruptly, not because there is something inadequate in Martha‘s response but because that response has initiated in her a new life which is the horizon of all further experience“. … Darum gilt von dem Versuch, Marthas Glauben … als ‚inadäquat‘ zu erweisen: „this misses the point entirely. Like Peter, who did not fully understand the Bread of Life discourse, Martha believes not in what she understands but in the one who has the words of eternal life (cf. 6,68)“.

<829> Martha, 11,17-27, Abs. 9-14 (Veerkamp 2007, 15-16).

<830> Anm. 353 zur Übersetzung von Johannes 11,27 (Veerkamp 2015, 90-91). Die entsprechende Seite im Papyrus 66 beginnt gleich in der ersten Zeile mit den Worten: „… autō nai kyrie pisteuō · egō pepisteuka hoti sy ei…“.

<831> Wengst zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 309.

<832> So zitiert Thyen Eberhard Fuchs, Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968, 252.

<833> Thyen zitiert Dorothy Ann Lee, The Symbolic Narratives of the Fourth Gospel, JSNT. SS 95, Sheffield 1994, 207, mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„Martha, it would seem, does not yet understand the symbolic meaning of Jesus‘ journey to Judaea“.

<834> Das erste Zitat steht in Anm. 355 zur Übersetzung von Johannes 11,28 (Veerkamp 2015, 90-91), aller weiteren in Maria und die Judäer, 11,28-37, Abs. 2-5 (Veerkamp 2007, 16-17).

<835> Wengst zitiert Theodor Zahn, Das Evangelium des Johannes, KNT 4, Leipzig, 5. und 6. Auflage 1921, 485.

<836> Wengst zitiert Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 179.

<837> Wengst zitiert Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig, nach der 5. Auflage 2016, 250.

<838> Thyen bezieht sich auf Barnabas Lindars, Rebuking the Spirit: A New Analysis of the Lazarus Story of John 11, NTS 38 (1992), 92ff., und zitiert wörtlich (96) folgenden oben von mir übersetzten Ausdruck: „agressive style of behaviour“.

<839> Thyen zitiert Johannes Beutler, Psalm 42/43 im Johannesevangelium, NTS 25 (1978), 43.

<840> Thyen zitiert Mark W. G. Stibbe, A Tomb with a View: John 11, 1-44, NTS 40 (1994), 47, mit folgenden von mir oben zitierten Worten:

„The grief of Martha is one which has room for a growth in resurrection faith. The grief of Mary is a desperate, passionate and forlorn affair. She hurls herself at Jesus‘ feet. Indeed, the pathos of her response is so intense that Jesus himself is said to weep. In portraying Mary in this wild and natural way, the author shows his concern to depict characters not only as stereotypes of faith response (Martha) but in the most realistic way possible (Mary)“.

<841> Thyen zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 228.

<842> Die ersten beiden Zitate stehen in Anm. 356 zur Übersetzung von Johannes 11,33 (Veerkamp 2015, 90-91, und Veerkamp 2005, 66, Anm. 97), alle weiteren in Maria und die Judäer, 11,28-37, Abs. 5-8 (Veerkamp 2007, 17-18).

<843> Veerkamp zitiert Bernhard Weiß, Das Johannesevangelium [KEK] 8. Auflage 1893, 412f.

<844> Wengst zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannes-Evangeliums, übers. v. M. Trebesius u. H. C. Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 293, Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, 20. Auflage 1985 (= 10. Auflage 1941), 310f., und Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 229.

<845> Thyen bezieht sich auf Sandra M. Schneiders, Death in the Community of Eternal Life: History, Theology, an Spirituality in John 11, Interpr. 41 (1987). Die oben von mir übersetzten Worte am Ende des folgenden Abschnitt lauten im Originalzitat, 55f., folgendermaßen:

„the final resurrection of those who die believing. It symbolizes the coincidence of present and future eschatology“.

<846> Mit dem Begriff „Leerstelle“ nimmt Thyen einen Begriff von Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, UTB 636, München, 2. Auflage 1984, auf. Das folgende Zitat aus Wilhelm Wuellner, Putting Life Back into the Lazarus Story and Its Reading: The Narrative Rhetoric of John 11 as the Narration of Faith, Semeia 53 (1991), 120, habe ich oben übersetzt und lautet im Originaltext folgendermaßen:

„We are neither shown, nor told, that (let alone how, or by whom) Lazarus got untied and ,let go‘. We are left completely in the dark about the reactions of the two sisters, or of the disciples, not to speak of the reactions of Lazarus himself. The unfinished task of untying Lazarus becomes the readers task of untying the text … This challenge to readers to untie this text is not only unfinished; due to the rhetoric of the narration of faith, it is an unfinishable task“.

<847> Thyen zitiert Sandra M. Schneiders, Death in the Community of Eternal Life: History, Theology, an Spirituality in John 11, Interpr. 41 (1987), 53f., mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„The resurrection on the ,last day‘ is not a future purely beyond time which would defer life until the eschatological future but a future already filling the believer‘s present with eternal life“.

<848> Macht ihn los und lasst ihn gehen, 11,38-45, Abs. 2-15 (Veerkamp 2007, 18-20). In der ursprünglichen Druckversion von Veerkamps Text ist zu beachten, dass in der 3. Zeile von S. 18 der Beginn des auf S. 11 angekündigte Abschnitts „Macht ihn los und lasst ihn gehen“ versehentlich nicht kenntlich gemacht worden ist.

<849> Dazu verweist Wengst auf „die Angabe der Stellen“ in Klaus Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, Anm. 119 auf S. 222.

<850> Wengst zitiert Ernst Haenchen, Das Johannesevangelium, hg. v. U. Busse, Tübingen 1980, 428.

<851> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 278, und Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 230.

<852> Wengst zitiert Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-12, RNT, Regensburg 2009, 756.

<853> Thyen bezieht sich auf Adele Reinhartz, The Johannine Community and its Jewish Neighbors: A Reappraisal, in: F. F. Segovia (ed.), „What is John?“ Vol. II: Literary and Social Readings of the Fourth Gospel, SBL. SS 7, Atlanta 1998, 111-138.

<854> Thyen zitiert Barnabas Lindars, The Gospel of John, NCBC, London 1972, 404, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„seeing the past in the light of the condition of his own day“.

<855> Thyen zitiert Leon L. Morris, The Gospel According to John, NLC, London, 2. Aufl. 1974, 566.

<856> Thyen zitiert Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, Gütersloh, 3. Auflage 1991, 434.

<857> Sterben für die Nation, 11,46-54, Abs. 2-14 (Veerkamp 2007, 20-22).

<858> Wengst zitiert Origenes, Werke IV, hg. v. Erwin Preuschen, GCS, Berlin 1903; dt.e Übers.: Origenes, Das Evangelium nach Johannes, übers. v. Rolf Gögler, Zürich 1959, XXVIII 23.

<859> Thyen zitiert Aileen Guilding, The Fourth Gospel and Jewish Worship, Oxford 1960, 150.

<860> Sterben für die Nation, 11,46-54, Abs. 14-17 (Veerkamp 2007, 22-23).

<861> Veerkamp zitiert Charles K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes (KEK), Göttingen 1990, 404.

<862> Wengst zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen 1990, 406.

<863> Dritter Teil: Pascha – der Abschied des Messias, 13,1-20,31, Abs. 3 (Veerkamp 2007, 24, bzw. Veerkamp 2015, 103).

<864> Zusammenfassung der Lehre Jeschuas, 12,44-50, Abs. 6 (Veerkamp 2007, 38).

<865> Zweiter Teil: Der verborgene Messias, 5,1-12,50, Abs. 2. Was ich im Folgenden aus diesem Abschnitt zitiere, erscheint nicht in der ursprünglichen Auslegung (Veerkamp 2006, 95), sondern wurde von mir nur in die Neuveröffentlichung auf bibelwelt.de eingefügt.

<866> Dazu verweist Thyen auf eine Reihe von Stellen bei Josephus nach der Edition des griechischen Textes von Benedikt Niese (1890): „Bell. I, 209; III, 401; IV, 99; VII, 150; Ant. I, 95; XII, 20.36; XIII, 243.258.319 u. ö.“; außerdem verweist er auf 2Makk 12,40.

<867> Thyen zitiert Wilhelm Wilkens, Die Entstehungsgeschichte des vierten Evangeliums, Zürich 1958, 123ff.

<868> Ein Begräbnismahl, 11,55-12,11, Abs. 2-4 (Veerkamp 2007, 25).

<869> Wengst zitiert Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, Lateinisch – Deutsch, hg. u. übers. v. R. König (in Zusammenarbeit mit G. Winkler), München 1977, Bücher XIII 2, 15f. und XII 26f. [42-47].

<870> So zitiert Wengst Udo Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig, nach der 5. Auflage 2016, 263; das folgende Zitat entnimmt er Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 292f.

<871> Thyen bezieht sich auf Maurits Sabbe, The Anointing of Jesus in John 12,1-8 and Its Synoptic Parallels, in: F. van Segbroeck a. o. (eds.), The Four Gospels, FS F. Neirynck, BETL 100, Vol. III, 2051-2082.

<872> Thyen zitiert Jörg Augenstein, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, BWANT 134, Stuttgart, Berlin und Köln 1993, 31.

<873> Ein Begräbnismahl, 11,55-12,11, Abs. 5-13 (Veerkamp 2007, 25-26).

<874> Wengst zitiert Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 240.

<875> Wengst zitiert Theodor Zahn, Das Evangelium des Johannes, KNT 4, Leipzig, 5. und 6. Auflage 1921, 504.

<876> Thyen zitiert Klaus Beckmann, Funktion und Gestalt des Judas Iskarioth im Johannesevangelium, BthZ 11 (1994), 188f.

<877> Thyen zitiert Theodor Zahn, Das Evangelium nach Johannes, KNT 4, Leipzig, 6. Auflage 1921 (Nachdruck: Wuppertal 1983), 504, und Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen, 3. Auflage 1933, 159.

<878> Ein Begräbnismahl, 11,55-12,11, Abs. 14-17 (Veerkamp 2007, 27).

<879> Ein Begräbnismahl, 11,55-12,11, Abs. 18 (Veerkamp 2007, 27-28).

<880> So zitiert Wengst Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen 1990, 413. Auf weitere Barrett-Zitate (von Thyen) in diesem Abschnitt werde ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern verweisen.

<881> Thyen zitiert Edwin Clement Hoskyns (ed. by F. N. Davey), The Fourth Gospel, London, 2. Aufl. 1947, 421, mit den oben von mir ins Deutsche übersetzten Worten:

„The Johannine narrative depends upon the Marcan narrative … However, in addition to what is peculiar Johannine, it contains certain approximations to the Lucan and Matthean versions… In the welcome of the crowds, Luke inserts the word King (19,38); and he, like John, also states that the intensity of the welcome was, in part at least, grounded upon the knowledge of the miraculous power of Jesus (Lk 19,37). Matthew, like John, but unlike Mark and Luke, draws out the reference to the prophecy in Zechariah, and to this end records that the ass was accompanied by her foal (Mt 21,2-5)“.

<882> So zitiert Thyen Johann Anselm Steiger, Nathanael – ein Israelit, an dem kein Falsch ist: ThViat NT 9 (1992) 55.

<883> Der messianische König, 12,12-19, Abs. 2-16 (Veerkamp 2007, 28-30).

<884> Veerkamp betrachtet an dieser Stelle das hebräische Wort ssuss, „Pferd“, als „ein Kollektivnomen, das Pferdwesen, und zwar für den Krieg“, daher seine Übersetzung „Kavallerie“.

<885> Thyen zitiert von Barnabas Lindars, The Gospel of John, NCBC, London 1972, 427, die Worte „representatives of the Gentile Church“, und von H. B. Kossen, Who Were the Greeks of John 20,20? In: NT. Supp 24, FS J. N. Sevenster, Leiden 1970, 108, die Worte „representatives of the gentiles“. Weiter zitiert Thyen Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Sonderband Göttingen 1990, 415.

<886> Wengst zitiert Emanuel Hirsch, Das vierte Evangelium in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt, Tübingen 1936, 309.

<887> Wengst zitiert Ernst Käsemann nur mit der Quellenangabe: „Johannes 12,20-26, 254“, vermerkt aber in seinem Literaturverzeichnis nur Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen, 3. Aufl. 1971, so dass unklar bleibt, ob er sich auf dieses oder ein anderes Werk Käsemanns bezieht. Wengst gibt auch nicht an, ob er die Ausrufezeichen in Klammern hinzugefügt hat, was ich vermute.

<888> Wengst bezieht sich auf Jörg Frey, Heiden – Griechen – Gotteskinder, in: Reinhard Feldmeier (Hg.), Die Heiden: Juden, Christen und das Problem des Fremden, Tübingen 1994, 228-268 (die folgenden Seitenzahlen dieses Abschnitts in eckigen Klammern beziehen sich auf Zitate aus diesem Werk).

<889> Er verbarg sich vor ihnen, 12,20-36, Abs. 1 (Veerkamp 2007, 30) und Das Weizenkorn, 12,20-26, Abs. 2-6 (Veerkamp 2007, 31).

<890> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 310.

<891> Wengst zitiert den Traktat Tamid 31b.32a im babylonischen Talmud nach P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1, 587f.

<892> Thyen zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Sonderband Göttingen 1990, 415 (auf ein weiteres Barrett-Zitat in diesem Abschnitt verweise ich durch eine Seitenzahl in eckigen Klammern).

<893> Das Weizenkorn, 12,20-26, Abs. 7-15 (Veerkamp 2007, 31-32).

<894> Wengst zitiert Nicole Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten. Das Verständnis der dóxa im Johannesevangelium, Tübingen 2007, 185.

<895> Wengst zitiert Walter Bauer, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen, 3. Aufl. 1933, 163, der dort auch entsprechende Stellen angibt. Auf eine weitere von Thyen zitierte Stelle in diesem Werk verweise ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern.

<896> Thyen zitiert Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen, nach der 21. Auflage 1986, 327.

<897> Thyen zitiert F. Blass, A. Debrunner und F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen, 14. Aufl. 1976, 448,4.

<898> Thyen zitiert Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, Gütersloh, 3. Auflage 1991, 454.

<899> Thyen zitiert Xavier Léon-Dufour, Père, fais-moi passer sain et sauf à travers cette heure (Jn 12,27), in: H. Baltensweiler & B. Reicke (eds.) Neues Testament und Geschichte. FS O. Cullmann II, Tübingen 1972, und Lecture de l‘évangile selon Jean, Vol. II (Joh 5-12), Paris 1990, 466ff., mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„Maintenant mon âme est troublée et je ne sais que dire. ,Père, assure-moi le salut dès cette heure! Mais oui! c‘est pour cela que je suis venu jusqu‘à cette heure. Père, glorifie ton Nom!‘ Vint alors du ciel une voix: ,Et j‘ai glorifié et je glorifierai encore‘“.

<900> Thyen zitiert Wilhelm Thüsing, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA 26, 1/2, Münster, 2. Aufl. 1970, 193ff.

<901> Dazu verweist Thyen auf (H. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1, München, 3. Auflage 1961, 125ff.

<902> Jetzt ist meine Seele erschüttert, 12,27-33, Abs. 2-14 (Veerkamp 2007, 32-34).

<903> So zitiert Wengst Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 194.

<904> So zitiert Wengst Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 317f. und 319; Hervorhebungen im Original (auf ein weiteres Blank-Zitat in diesem Abschnitt verweise ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern).

<905> So zitiert Thyen Alfred Wikenhauser, Das Evangelium nach Johannes, RNT 4, Regensburg, 2. Aufl. 1957, 234.

<906> Thyen zitiert Charles Kingley Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK, Sonderband Göttingen 1990, 420.

<907> Jetzt ist meine Seele erschüttert, 12,27-33, Abs. 15-18 (Veerkamp 2007, 34).

<908> Wengst zitiert Bereschit Rabba 98,14. b‘reschit rabbah, hg. v. J. Theodor u. Ch. Albeck, 3 Bde., korrigierte Neuausgabe Jerusalem 1965, 2. Auflage 1996 (Berlin 1912-1936), 1265.

<909> Wengst zitiert Josef Blank, Das Evangelium nach Johannes 1b, GSL.NT 4, Düsseldorf 1981, 323 (auf ein weiteres Blank-Zitat in diesem Abschnitt verweise ich mit einer Seitenzahl in eckigen Klammern).

<910> Wengst zitiert „bSan 98a“, also den Traktat Sanhedrin 98a im Babylonischen Talmud: talmud bavli, Bde. 1-20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880-1886).

<911> Thyen zitiert Delbert Burkett, The Son of Man in the Gospel of John, JSNT, Sheffield 1991, 168, mit folgenden oben von mir übersetzten Worten:

„The question raised by the crowd shows that ,the Son of the Man‘ was not a familiar apocalyptic or Messianic designation. The people are puzzled by the title. In his reply, Jesus does not satisfy their curiosity concerning the designation itself, but he does to some degree explain the identity of the Son of the Man by indicating that the Son of the Man is the Light“.

<912> Wer ist dieser bar enosch, MENSCH? 12,34-36, Abs. 2-10 (Veerkamp 2007, 35-36).

<913> Veerkamp zitiert Johannes Calvin, Auslegung des Johannesevangeliums [1553], übersetzt v. Martin Trebesius und Hand Christian Petersen, Neukirchen-Vluyn 1964, 321.

<914> Wengst verweist auf Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2, HthK 4, Freiburg u. a. 1971, 2, 520.

<915> Thyen zitiert Edwin Clement Hoskyns (ed. by F. N. Davey), The Fourth Gospel, London, 2. Aufl. 1947, 429, mit den oben von mir ins Deutsche übersetzten Worten:

„The passage therefore reads like the crudest possible statement of a naked doctrine of predestination“.

<916> Thyen zitiert Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, Gütersloh, 3. Auflage 1991, 478; auf weitere Becker-Zitate in diesem Abschnitt verweise ich mit Seitenzahlen in eckigen Klammern.

<917> Thyen zitiert Josef Blank, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg 1964, 301ff.

<918> Thyen zitiert Judith M. Lieu, Blindness in the Johannine Tradition, NTS 34 (1988), 86, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„It is Jesus who has done the signs (37), Jesus who is most probably the ,Lord‘ of the quotation from Isa 53,1 (38) and Jesus whose glory lsaiah saw“.

<919> William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 1901, 3. Aufl. 1963.

<920> Thyen zitiert Peter Lampe, Die markinische Deutung des Gleichnisses vom Sämann, Mk 4,10-12, ZNW 65 (1974), 140-150; auf dessen Zitate im vorliegenden Abschnitt verweise ich mit Seitenzahlen in eckigen Klammern.

<921> Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013. Auf die Zitate aus diesem Buch verweise ich im Folgenden mit Seitenzahlen in eckigen Klammern.

<922> Thyen zitiert Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd 2, München & Gütersloh, 1992, 299.

<923> Thyen zitiert Takashi Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984, 114.

<924> Fazit, 12,37-43, Abs. 2-13 (Veerkamp 2007, 36-38).

<925> Thyen zitiert Josef Blank, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg 1964, 313.

<926> Fazit, 12,37-43, Abs. 14 (Veerkamp 2007, 36).

<927> Wengst zitiert Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-12, RNT, Regensburg 2009, 837.

<928> So zitiert Wengst Ludger Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 251.

<929> So zitiert Wengst Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 201, und weist dabei darauf hin, dass dieser „das zwar unmittelbar zu Mk 8,38 parr.“ formuliert, „aber Joh 12,48 in Entsprechung dazu“ versteht. Im Folgenden bezieht sich Wengst auf Wilckens‘ Kommentar, 200.

<930> Thyen zitiert Charles Harold Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1953, 8. Aufl. 1968, 382, mit den oben von mir übersetzten Worten:

„Yet something seems to be needed at this point to pull the whole series of discourses together, and this résumé of salient points from the discourses, in language which echoes their language without repetition, does this effectively“.

<931> Thyen zitiert Peder Borgen, The Use of Tradition in John 12,44-50, NTS 26 (1979), 18-35.

<932> Thyen verweist auf Peder Borgen, God‘s Agent in the Fourth Gospel, in: J. Neusner (ed.), Religions in Antiquity, FS E. R. Goodenough, Numen Suppl. 14, Leiden 1968, 137-148, Jan-Adolf Bühner, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium, WUNT II,2, Tübingen 1977, und Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, Gütersloh, 3. Auflage 1991.

<933> Thyen zitiert Wilfried Joest, Dogmatik, Band I: Die Wirklichkeit Gottes, UTB 1336, Göttingen 1984, 233, und verweist zusätzlich auf die Seiten 231ff. Zuvor bezieht sich Thyen auf Johannes Fischer, Wahrer Gott und wahrer Mensch, NZSystTh 37 (1995).

<934> So zitiert Thyen Paul Ricoeur, Gott nennen, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg & München 1981, 58.

<935> Thyen bezieht sich ohne nähere Literaturangabe auf Carl Heinz Ratschow, dessen Werk Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957, er sechs Seiten zuvor anführt.

<936> Zusammenfassung der Lehre Jeschuas, 12,44-50, Abs. 2-8 (Veerkamp 2007, 36-39).

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