Die befreiungstheologische Auslegung des Römerbriefs von Gerhard Jankowski im Gespräch mit dem Evangelisch-Katholischen Kommentar von Michael Wolter.
Gerhard Jankowski rüttelt an der festgefügten Überzeugung des christlichen Mainstreams, der zu Christus bekehrte Paulus habe das Judentum als Religion hinter sich gelassen. In diesem fortlaufenden Blog überprüfe ich seine Auslegung, indem ich sie mit Michael Wolters wissenschaftlichem Kommentar ins Gespräch bringe.

Inhaltsverzeichnis
Hinweise zum Verständnis – auch für wissenschaftliche Laien!
Gerhard Jankowskis biblisch-theologische Lehrer
Martin Luthers Römerbrief-Vorlesung
Karl Barths Römerbriefauslegung, 1. Auflage 1919
Kleijs Kroon, Jacobus Johannes Meuzelaar und Friedrich-Wilhelm Marquardt
Der Verstehenshorizont für den Römerbrief, den Michael Wolter durchblicken lässt
Die anachronistische Verwendung der Begriffe „Christen“ und „christlich“
Der unerläuterte Gebrauch des Begriffs „Heil“
Wer sind „die Römer“, an die Paulus seinen Brief schreibt?
Stellten die in Rom dezentral organisierten Juden eine jüdische Gemeinschaft dar?
„Christen“ in Rom? Oder Anhänger des Messias Jesus als jüdische „Partei“?
Schreibt Paulus den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen?
Das „nichtchristliche Judentum“ als theologisches Gegenüber des Paulus
Der „Jude Paulus“ als konkreter theologischer Gesprächspartner im Römerbrief
Geht es in Römer 14 und 15 nur um inner-heidenchristliche Kontroversen?
Alle Juden in Rom als Hauptadressaten des Römerbriefs
Der Römerbrief als Traktat über das Volk Israel und die anderen Völker
Offene Fragen über eine messianische Gemeinde aus Juden und Gojim in Rom
Was wusste Paulus „über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rom“?
Der kosmos der römischen Weltordnung als ein weltweites Sklavenhaus
Zur Gliederung des Römerbriefs
Der Absender stellt sich vor und grüßt die Adressaten des Römerbriefes (Römer 1,1-7)
Römer 1,1: Paulus – als Sklave des Messias zum Frohbotschafter Gottes berufen
Römer 1,2-4: Das Evangelium vom Messias Jesus als dem Sohn Gottes „in Macht“
Römer 1,5-6: Die „Hörerschaft des Vertrauens“ unter allen Völkern als der Auftrag des Paulus
Römer 1,7: Friedensgruß „an alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom“
Übersetzungsvorschlag für Römer 1,1-7
Paulus wirbt einführend um Aufmerksamkeit für seine Botschaft (Römer 1,8-17)
Römer 1,8: Danksagung für das Vertrauen von „allen“ in Rom, das im ganzen kosmos verkündet wird
Römer 1,9-12: Paulus will nach Rom kommen, um im gegenseitigen Vertrauen mitermutigt zu werden
Römer 1,13-15: Paulus will in Rom „Frucht haben“ und weiß sich „Griechen und Barbaren“ verpflichtet
Römer 1,16: Das Evangelium als Macht Gottes zur Befreiung für Juden und Griechen
Römer 1,17: Gerechtigkeit Gottes – aus Vertrauen auf Vertrauen hin wahr gemacht
Übersetzungsvorschlag für Römer 1,8-17
Drei Teufelskreise von Verfehlungen der Menschen in der Völkerwelt (Römer 1,18-32)
Römer 1,18: Gottes Zorn über alle Abtrünnigkeit und Unbewährtheit der Menschen
Römer 1,19-20: Die Erkennbarkeit Gottes in Taten der Schöpfung und Befreiung
Römer 1,21-23: Schuldhafte Verstrickung der Menschen in eine Religion ohne Gott
Römer 1,26-27: Gottes Strafe der Auslieferung an widernatürliche Leidenschaften der Würdelosigkeit
Römer 1,32: Wer für seine Taten des Todes würdig ist, spendet andern dafür Beifall
Übersetzungsvorschlag für Römer 1,18-32
Auch der Mensch, der über andere urteilt, steht unter dem Gericht Gottes (Römer 2,1-11)
Römer 2,1-3: Ein Mensch, der über andere richtet, verurteilt sich selbst
Römer 2,4-5: Wen Gottes Güte nicht zur Umkehr leitet, häuft sich Zorn an für den Tag des Zorns
Römer 2,6-11: Gott vergilt nach den Werken zuerst der Juden und der Griechen
Übersetzungsvorschlag für Römer 2,1-11
Juden haben durch Tora und Beschneidung nichts vor den Gojim voraus (Römer 2,12 – 3,20)
Römer 2,14-16: Es gibt Gojim, die das in ihr Herz geschriebene Werk der Tora tun
Römer 2,17-24: Wer sich als Jude mit der Tora beruhigt, statt sie zu tun, entehrt Gott
Römer 2,25: Einem Übertreter der Tora wird seine Beschneidung zur Vorhaut
Übersetzungsvorschlag für Römer 2,12 – 3,20
Römer 3,31: Durch Treue bzw. Vertrauen wird die Tora nicht außer Kraft gesetzt
Übersetzungsvorschlag für Römer 3,21-31
Ein Midrasch über die Verheißungen an Abraham (Römer 4,1-25)
Römer 4,1-3: Abrahams Gottvertrauen wurde ihm zur Bewährtheit gerechnet
Römer 4,4-5: Aus Gnade wird das Vertrauen des Frevlers zur Bewährtheit gerechnet
Römer 4,9-10: Abraham war noch unbeschnitten, als ihm sein Vertrauen zur Bewährtheit gerechnet wurde
Römer 4,16a-d: Aus Vertrauen, damit aus Gnade, ist die Verheißung gewiss für alle Kinder Abrahams
Römer 4,16e-17a: Abraham als Vater von uns allen – der Juden und der Völker
Übersetzungsvorschlag für Römer 4,1-25
Römer 5,1: Wahr geworden aus Vertrauen auf Jesus haben wir Frieden auf Gott hin
Übersetzungsvorschlag für Römer 5,1-11
Römer 5,12: Durch einen Menschen kamen Sünde und Tod zu allen Menschen
Römer 5,14c: Was bedeutet es, dass Adam der typos des Zukünftigen ist?
Römer 5,15-17: Unterscheidungen im Blick auf Adam und Christus, auf den Einen und die Vielen
Übersetzungsvorschlag für Römer 5,12-21
Römer 6,1-2: Wer Gnade erfahren hat, ist der Verfehlung gestorben und bleibt nicht in ihr
Römer 6,6-7: Mitgekreuzigt mit dem Messias sind wir wahre Menschen, weg von der Verfehlung
Römer 6,11: Von der Logik des Messias Jesus her seid ihr tot für die Verfehlung und Lebende für Gott
Übersetzungsvorschlag für Römer 6,1-11
Wer von der Verfehlung befreit ist, wird Sklave dessen, was wahr macht (Römer 6,12-23)
Römer 6,14: Wer unter Gnade statt unter Tora ist, den wird Verfehlung nicht beherrschen
Römer 6,23: Verfehlung hat Tod als Lohn, Gott schenkt Leben in die Zeitalter hinein
Übersetzungsvorschlag für Römer 6,12-23
Übersetzungsvorschlag für Römer 7,1-6
Römer 7,7: Tora ist nicht Verfehlung, aber Verfehlung und Begehren kannte ich nur durch die Tora
Römer 7,14: Die Tora inspiriert, aber ich bin ans „Fleisch“ gebunden, verkauft unter die Verfehlung
Übersetzungsvorschlag für Römer 7,7-25
Römer 8,5-8: Wer auf das Fleisch bedacht ist, erlangt Tod statt Leben und Frieden
Übersetzungsvorschlag für Römer 8,1-17
Gewisse Hoffnung auf die Befreiung der stöhnenden Schöpfung durch Gottes Liebe (Römer 8,18-39)
Römer 8,18: Gegenwärtige Leiden sind nichts wert gegenüber zukünftiger Ehre
Römer 8,31-32: Gott ist für uns, hat seinen Sohn ausgeliefert für uns alle
Römer 8,36: Paulus erinnert an den Psalm der Leiden Israels um des Bundes willen
Übersetzungsvorschlag für Römer 8,18-39
Römer 9,4-5: Gott sei gelobt für alles, was Israeliten bleibend durch ihn empfangen haben
Übersetzungsvorschlag für Römer 9,1-5
Römer 9,6: Gottes Wort ist nicht dahingefallen, doch nicht alle aus Israel sind Israel
Römer 9,7-9: Nur Kinder der Verheißung sind Same Abrahams, nicht Kinder nach dem Fleisch
Römer 9,10-13: Von den Söhnen Rebekkas erwählt und liebt Gott den Jüngeren
Römer 9,14-16: Gott ist keineswegs ungerecht in seinem souveränen Erbarmen
Römer 9,17-18: Um seinen NAMEN auf Erden zu proklamieren, erweckt Gott den Pharao und verhärtet ihn
Römer 9,19-21: Darf der Mensch Gott Widerworte geben, das Gebilde dem Bildner, der Ton dem Töpfer?
Römer 9,25-26: „Nicht-mein-Volk“ wird nach Hosea „Mein-Volk“ gerufen werden
Übersetzungsvorschlag für Römer 9,6-29
Römer 9,32c-33: Wer nicht vertraut, kommt zu Fall am Stein des Anstoßens
Römer 10,4: Ziel der Tora ist der Messias zur Bewährtheit für jeden, der vertraut
Römer 10,5: Mose beschreibt Bewährtheit aus der Tora: Wer sie tut, lebt durch sie
Übersetzungsvorschlag für Römer 9,30 – 10,21
↑ Mein Römerbrief-Blog
[31. Oktober 2024] Nachdem ich vom 23. Februar 2022 bis zum 23. Februar 2023 in einem Johannes-Blog Ton Veerkamps befreiungstheologische Auslegung des Johannesevangeliums mit den wissenschaftlichen Kommentaren von Hartwig Thyen und Klaus Wengst ins Gespräch gebracht habe, starte ich am Reformationstag 2024 ein ähnlich umfangreiches Unternehmen, das sich auf den Römerbrief des Paulus bezieht.
Inspiriert von Ton Veerkamp und in enger Zusammenarbeit mit ihm ist nämlich der evangelische Pfarrer Gerhard Jankowski seit vielen Jahren daran interessiert, eine gängige, von antijudaistischen Vorurteilen geprägte Paulus-Auslegung zu überwinden und Paulus als einen jüdischen Messianisten ernst zu nehmen, der als Jude auf den Messias Israels vertraut und sich als von Jesus berufener Völkerapostel für die Versöhnung von Juden und Menschen aus den Völkern in der messianischen Gemeinde als dem „Leib des Messias“ mit seinem ganzen Herzblut einsetzt.
Das wesentliche Anliegen seiner Römerbriefauslegung unter dem Titel „Die große Hoffnung“ <1> macht Jankowski deutlich (J13), indem er sie seinen Enkelkindern widmet:
Ich wünsche ihnen, daß sie das Hoffen lernen, damit sie in der Brutalität der heutigen Gesellschaftsordnung überleben und um der Menschlichkeit willen menschlich bleiben.
Um dem jüdischen Hintergrund des Römerbriefs und damit seiner „Fremdheit“ gerecht zu werden, verzichtet Jankowski auf eine allzu „glatte deutsche Übersetzung“ und greift für „Zitate aus dem Thenakh“ häufig auf die „Verdeutschung von Buber/ Rosenzweig“ zurück oder lehnt sich an sie an. Zugleich stellt er sein Desinteresse am Diskussionsprozess der gängigen theologisch-wissenschaftlichen Kommentare klar:
Außer den Kommentaren von Luther und Barth sowie der Skizze Marquardts in seiner Christologie habe ich so gut wie keine anderen Kommentare zum Römerbrief gelesen. Ich wollte mir diesen Text selbst erarbeiten. Hilfreiche Kommentare waren mir Texte aus den Midraschim der Rabbinen, aus den Mischnajot und dem Talmud. <2>
So verständlich ich Jankowskis Herangehensweise finde, sich den Zugang zur Gedankenwelt des Paulus nicht durch akademische Spitzfindigkeiten und jahrhundertelang tradierte Voreingenommenheiten verstellen zu lassen, ist es im wortwörtlichen Sinne aber doch „frag-würdig“, wenn seine vom Mainstream so stark abweichende Auslegung sich so wenig mit den gängigen Argumenten für eben diesen Mainstream auseinandersetzt.
Umgekehrt ist es für mich noch bedauerlicher, dass fast nirgendwo in der akademischen Theologie auch nur die Spur einer Auseinandersetzung mit biblisch-theologischen Ansätzen zu entdecken ist, die von Pfarrern wie Ton Veerkamp oder Gerhard Jankowski ohne akademische Titel außerhalb des universitären Umfeldes (etwa in der exegetischen Zeitschrift Texte & Kontexte) vertreten werden.
Solche Überlegungen haben mich dazu veranlasst, diesen Römerbrief-Blog zu beginnen, indem ich Jankowskis Auslegung (ein Buch von 335 Seiten) ins Gespräch bringe mit einem der neuesten wissenschaftlichen Römerbrief-Kommentare von Michael Wolter <3>, der in der renommierten Reihe EKK „Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament“ in zwei Bänden erschienen ist (mit insgesamt 1070 Seiten). Die Erfahrung mit meinem Johannes-Blog, als ich ein ganzes Jahr lang nicht die Freude und Neugier verlor, mich mit fast 2000 Seiten verschiedener Kommentierungen des Johannesevangeliums zu beschäftigen, ermutigt mich zu der Annahme, ich könne mich in ähnlicher Weise auch lange Zeit mit kontroversen Römerbrief-Auslegungen auseinandersetzen.
↑ Hinweise zum Verständnis – auch für wissenschaftliche Laien!
[1. November 2024] Auch wenn hier ein wissenschaftlicher Kommentar und eine ebenfalls theologisch anspruchsvolle Auslegung nebeneinandergestellt und miteinander verglichen werden, liegt mir daran, auch für wissenschaftliche Laien so verständlich wie möglich rüberzubringen, was ich selbst verstanden habe – falls mir das nicht gelungen ist, scheuen Sie sich bitte nicht, mich in Kommentaren anzusprechen und nachzufragen!
Wenn in einem Zitat Erläuterungen in geschweiften Klammern {…} oder Verlinkungen mit Wikipedia auftauchen, dann gehören sie nicht zum Original-Zitat, sondern wurden von mir zum besseren Verständnis hinzugefügt. Wörter in griechischer oder hebräischer Schrift gebe ich kursiv mit einer einfachen deutschen Umschrift wieder (auch, wo Jankowski oder Wolter sie anders oder in griechischen Buchstaben zitieren) <4> und ergänze deutsche Übersetzungsmöglichkeiten in geschweiften Klammern.
Auf biblische Bücher verweise ich in meinem eigenen Text mit den Angaben, wie sie in der evangelischen Lutherbibel üblich sind. Für abweichende Bezeichnungen und Abkürzungen, die in den Kommentaren verwendet werden, verweise ich auf die Liste biblischer Bücher in Wikipedia. Stellenangaben mit hochgestelltem „LXX“ verweisen auf die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, die Septuaginta (= „Übersetzung der Fünfzig“ = „LXX“). In der Septuaginta unterscheidet sich die Kapitel- und Versangabe gelegentlich vom hebräischen Text, vor allem viele Psalmen werden in der Septuaginta mit einer um 1 verminderten Zahl bezeichnet (zum Beispiel Psalm 76LXX statt 77 im hebräischen Text). Entsprechend beziehen sich Stellenangaben mit hochgestelltem „MT“ auf den Masoretischen Text der hebräischen Bibel.
Wünschenswert ist, dass am Anfang eines Abschnitts, in dem die Auslegung von Bibelversen besprochen wird, auch eine Übersetzung dieser Verse steht. Zu weit würde es allerdings führen, jedes Mal alle Übersetzungsvorschläge von Jankowski und Wolter aufzuführen. Darum stelle ich – gelb hinterlegt – jedem Abschnitt die Lutherübersetzung von 2017 voran.
Von Jankowski und Wolter übersetzte Bibelzitate markiere ich ebenfalls gelb, aber jeweils umrahmt von der grünen oder blauen Zitathintergrundfarbe dieser Autoren (siehe Anm. 1 und Anm. 3), um auf ihre Urheberschaft der Übersetzung hinzuweisen.
Am Ende jedes von mir besprochenen größeren Abschnitts im Römerbrief folgt ein Übersetzungsvorschlag, den ich aus den Vorlagen von Wolter und Jankowski zusammenstelle. Dabei markiere ich Textschnipsel von Wolter blau und aus den beiden Übersetzungen von Jankowski grün. Die schwarze Farbe zeigt an, wo sich beide einig sind, und in roten Ergänzungen füge ich eigene Übersetzungsvorschläge hinzu, die sich von denen beider Autoren unterscheiden.
Bei alldem geht es mir nicht um möglichst gutes Deutsch, sondern um weitgehende Nähe zum griechischen Text, aber auch um die Aufnahme wesentlicher Impulse von Gerhard Jankowski, die die Verwurzelung des Paulus in den jüdischen heiligen Schriften zum Vorschein bringen. Dass die Anordnung des Textes in kurzen Zeilen fast immer genau dem griechischen Text folgt, mag unser deutsches Sprachgefühl stören, entspricht aber wohl eher der Ursprungssituation biblischer Texte, die zunächst weniger still für sich gelesen, sondern einer Zuhörerschaft vorgelesen wurden.
↑ Gerhard Jankowskis biblisch-theologische Lehrer
[3. November 2024] Der Pfarrer Gerhard Jankowski, der sein ganzes Berufsleben lang im Gemeindedienst aktiv war, kann zwar nicht wie der Universitätstheologe Michael Wolter seinem Römerbriefkommentar eine insgesamt 36 Seiten umfassende Literaturliste voranstellen, aber es gibt einige theologische Lehrer, denen er viel verdankt und auf deren Kommentare zum Römerbrief er eingangs eingeht.
↑ Martin Luthers Römerbriefvorlesung
Bereits auf der ersten Seite seiner Einleitung (J11) erwähnt Jankowski Martin Luthers Römerbriefvorlesung aus den Jahren 1515/1516, mit der das beginnt,
was Spätere die Anfänge reformatorischer Bibelauslegung genannt haben. Die Bibel rückte in das Zentrum theologischen Denkens und Arbeitens. Befreiend hat das damals gewirkt. Ein Gegner der Reformation sagt: „Schneider und Schuster, ja auch Weiber und andere einfältige Idioten … lasen die Bibel gleich einen Brunnen aller Weisheit und mit höchster Begier … Daher maßen sie sich so viel Geschicklichkeit und Erfahrung selber zu, daß sie keine Scheu trugen, nicht allein mit den katholischen Laien, sondern auch mit … Magistern und Doktoren der heiligen Schrift vom Glauben und Evangelium zu disputieren.“ <5>
Von vornherein stellt Jankowski damit klar: Was einfachen Christenmenschen durch Luthers reformatorisches Wirken ermöglicht wurde, sollte auch heutzutage nicht nur der akademischen Theologie vorbehalten bleiben, nämlich sich auf die biblischen Schriften und ihre befreienden Impulse zu besinnen.
In Luthers Römerbriefvorlesung sehen (J35) viele „den Ansatz zu der sogenannten ‚reformatorischen Entdeckung‘ Luthers, der iustificatio impii, der Rechtfertigung des Sünders“, also „daß die iustitia Dei eine passive, also keine Eigenschaft Gottes ist, sondern eine Beziehung zwischen Gott und dem sündigen Menschen ausdrückt, anders gesagt ein Geschenk, das Mensch sich nicht verdienen kann“. Dabei darf man nach Jankowski aber nicht „den Text“ vergessen, „auf den sich Luther bezieht.“ Was er damit meint, kann er vor seiner Auslegung nur andeuten (J35f.):
Luther legt den Römerbrief aus und folgt hier ganz konsequent Paulus. Im ersten Teil des Briefes sind „Sünde“ (hamartia) und „Rechtfertigung“(dikaiosynē) die Hauptstichworte. … Paulus diskutiert das Thema natürlich im Zusammenhang mit der Thora. Seine Frage ist, ob man in dieser Welt unter den herrschenden Bedingungen überhaupt noch die Forderungen der Thora erfüllen kann. Luther hat diese Fragestellung, soweit ich sehe, als einer der ersten wieder aufgegriffen und für seine Zeit neu gestellt. Wie Paulus geht er davon aus, daß der Mensch in dieser Welt nur als Sünder leben kann. Sünde aber ist für Luther keine moralische Kategorie, die allein in Verstößen gegen den geltenden Sittenkodex benennbar ist. Er benennt kritisch und sehr offen die „Sünden“ der Herrschenden seiner Zeit in Kirche und Politik. Daß er dabei anders vorgeht als Paulus, ist nur verständlich. Er hält sich an den lateinischen Text. Und im Lateinischen haben peccatum und iustitia immer auch eine juridische Bedeutung, da beide Begriffe, wie auch lex (Thora), aus dem römischen Rechtswesen entnommen sind. Und dennoch ist das Ringen Luthers erkennbar, die ihm vorliegende Begrifflichkeit im Anschluß an Paulus aus der juridischen Sphäre zu lösen und sie biblisch zu fassen.
Am Beispiel (J38) der Auslegung von Römer 9,17 zeigt Jankowski, wie Luther „auf die Erzählung von der Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens“ zurückgreift, darauf hinweist, „daß die Übersetzer an anderer Stelle andere Worte haben“, den „Unterschied zwischen den griechischen, hebräischen und lateinischen Vokabeln“ beachtet und erst dann zu seiner Übersetzung ins Deutsche und zu seiner Deutung kommt:
Hier haben wir alles zusammen, was zu einer biblischen Theologie gehört: Verweise auf andere Schriftstellen, genaues Bemühen um den Wortsinn in den verschiedenen biblischen Sprachen, schließlich der Versuch einer eigenen Übersetzung und Deutung.
Schließlich bleibt Luthers „biblische Theologie … nicht in der reinen Luft des Hörsaals stecken“ (J39), sondern
sie drängt zur Praxis. Die Schrift gibt keine Antwort auf Fragen, die man an sie stellt. Sie stellt vielmehr Fragen, stellt im wahrsten Sinn des Wortes in Frage. Das Hören auf die Schrift führt zum Tun. „Practice“, das heißt nicht zuletzt, daß hier Theologen ausgebildet werden für ihren Beruf als Prediger der Schrift. … Aus toten Buchstaben wird lebendige Schrift, wird richtunggebende Weisung.
Mit der „Berufung auf die Schrift“ einher geht Luthers „Bruch mit dem überkommenen theologischen System“ (J40), das als „das scholastische Lehrsystem … im Grunde nichts anderes als ein philosophisches System war, das sich besonders auf Aristoteles berief.“ Luther will (J40f.) „gegen die Philosophie anbellen“, er ringt darum (J41),
die Theologie aus der philosophischen Umklammerung und Engführung zu befreien. <6> In der Römerbriefvorlesung finden wir dazu die Anfänge. Aus einer philosophisch gefangenen Theologie wird wieder biblische Theologie.
Zugleich ist sich Jankowski der Kehrseite des lutherischen Aufbruchs bewusst (J11):
Aber was befreiend war, verkrustete wieder. Der Römerbrief wurde zum Fundament der lutherischen Rechtfertigungslehre und einer Lehre vom Staat, in dem sich die Untertanen der Obrigkeit zu fügen hatten. Vor allem aber wurde der Brief zur Begründung der „Freiheit vom (jüdischen) Gesetz“ mißbraucht. Und das wiederum förderte den Antijudaismus in Theologie und Kirche.
↑ Karl Barths Römerbriefauslegung, 1. Auflage 1919
[6. November 2024] Es dauerte (J11) „mehr als 400 Jahre“, bis Karl Barth „mit seinen beiden Auslegungen des Römerbriefes von 1919 und 1922“
die Verkrustungen aufbrach und … einen Angriff gegen die Götzen der akademischen und bürgerlichen Theologie fuhr, sie gehörig ins Wackeln brachte und einige stürzte.
Was Jankowski an Barths Römerbriefauslegung am Herzen liegt (J42), skizziert er, indem er „allein der Ausgabe von 1919“ folgt. Definitiv schreibt Barth keinen „herkömmlichen Kommentar“, obwohl die „historisch-kritische Methode der Bibelforschung“ auch für ihn ihr Recht behält. „Im Vordergrund aber steht das biblische Wort, das allein ernst zu nehmen ist, weil es etwas zu sagen hat – in der Vergangenheit und in der Gegenwart.“ Zwar (J43) „bellt“ Barth
nicht wie Luther gegen die Philosophie an, aber er will die Schriftauslegung – wie Theologie überhaupt – nicht eingebunden wissen in Philosophie oder in irgendwelche anderen Systeme, die irgendwelche Wahrheiten vermitteln wollen. Erst recht nicht soll Schriftauslegung beeinflußt sein von den „Erlebnissen, Erfahrungen und Empfindungen“, kurz von dem Bewußtsein, dem großen bürgerlichen Götzen, der zwar die Schrift für sich vereinnahmt, aber nicht auf ihre Wahrheit hören will.
Barth zufolge ist, wie Jankowski notiert, die „Institution Kirche … nicht an der biblischen Wahrheit interessiert“. Stattdessen hat sie „aus ihr Religion gemacht“. Als „Kirche“ in diesem Sinne versteht Barth „auch das Judentum“ und bezieht so die Kritik des Paulus an Juden, die nicht auf Jesus vertrauen, vor allem auf die eigene Kirche <7>:
„Die Kirche hat einen guten Magen (Goethe) – ein unheimlich wahres Wort! Sie bekommt Mose – und verwandelt seine Erbschaft in einen Kodex von Buchstaben, zu dem die Rabbinen ihre Kommentare schreiben. Sie bekommt den Römerbrief – und zerlegt das lebendige Ganze sorgfältig in einzelne tote Stücke, die Wahrheit in Wahrheiten, baut ihn wieder auf als ‚Glaubens- und Sittenlehre‘ und rühmt sich ‚ihres‘ Paulus … Sie … nimmt von allem Notiz, weiß aus allem etwas zu machen für ihre Zwecke, sie weiß in allen Erweisungen Gottes das Religiöse, das Menschliche, das Interessante, die ‚Frömmigkeit‘ zu entdecken und das Göttliche, die Botschaft selbst, das, was gefährlich werden könnte: die Aufforderung zur Buße – liegenzulassen.“
Worauf es Jankowski am meisten ankommt, ist die betrübliche Tatsache (J44), dass mit „der beginnenden bürgerlichen Restauration in Gesellschaft und Kirche seit den fünfziger Jahren … auch die unbequeme Kritik Barths und die unbequeme biblische Wahrheit behutsam wieder eingesargt worden“ ist:
Das Zerlegen des Ganzen in kleinste Stücke wird gerade in der Bibelwissenschaft fast zur Manie. Die Bibel wird zum großen Rezeptbuch für alle möglichen Probleme und Fragen, wobei man sich die Rezepte heraussucht, die gerade passend sind: Bibliodramen, tiefenpsychologische Erklärungen à la Drewermann, die einen menschlichen Zugang zur Bibel erschließen sollen, haben Konjunktur, weil sie interessant sind und Religiosität ermöglichen. Das Fremde der biblischen Botschaft wird zum Besitz, den man handhaben kann. Barth – nichts weiter als ein unglücklicher Zwischenfall der Theologiegeschichte. Anpassung ist gefragt. Und dennoch, was Luther und was Barth einfordern, die Rückbesinnung auf die biblische Wahrheit gegen alle anderen Wahrheiten, ist nicht erledigt. Es ist aller Mühe wert, von beiden belehrt, sich um diese Wahrheit nicht herumzudrücken, sondern sie zum Hören zu bringen, erst recht, wenn man sich mit dem Römerbrief beschäftigen will.
Unter der Überschrift „Wir ‚haben‘ Gott – Gott und die Religion“ bringt Jankowski die grundlegende Kritik von Karl Barth an einer Theologie auf den Punkt, die Jankowski „bürgerlich“ nennt, für die „Religion und Gott … wie selbstverständlich zusammen [gehören] eben wie in anderen Religionen auch.“ Gegen ein so verstandenes religiöses Gott-in-der-Tasche-Haben-Wollen fragt Barth (J45) mit
dem Paulus des Römerbriefes …, wer Gott ist und wie das, was Gott genannt wird, nicht nur in Theologie und Kirche, sondern gerade auch gesellschaftlich funktioniert. …
Die biblische Wahrheit, für Barth eben Gott oder die Sache Gottes, hat es nicht sosehr mit seelischen, moralischen oder religiösen Haltungen des einzelnen Menschen zu tun, sie wirkt direkt ein auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Religion wird demaskiert als ein „Verhältnis“, das auf dem Haben Gottes beruht. Ganz bewußt setzt er hier das Stichwort „haben“ ein, ein überdeutlicher Hinweis auf die „Verhältnisse“ in der bürgerlichen, vom Kapitalismus bestimmten Gesellschaft, in der man alles „haben“ kann, eben auch Gott, wie man ihn gerade braucht, für Barth eine Täuschung und ein Selbstbetrug. Die Manipulierbarkeit Gottes in der Religion steht diametral der biblischen „Sache Gottes“ gegenüber. Aus dem befreienden Gott der Bibel ist ein Gott geworden, der dazu dient, bestehende Verhaltnisse zu stabilisieren, statt sie zu verändern.
Diese Barthsche „Religionskritik“ enthält Jankowski zufolge auch „die Kritik am bürgerlichen Sündenbegriff“. Die einzelnen Menschen (J46)
scheitern … ständig an der ihnen vorgehaltenen Verantwortlichkeit gegenüber einem Sitten- und Moralkodex, der vor allem Sexualität und Eigentumsrecht sanktioniert. Sünde wird dann zu einer rein individualistischen Kategorie, die den einzelnen zwar die Verantwortlichkeit vorgaukelt, aber gleichzeitig auch das Scheitern dieser Verantwortlichkeit ins Bewußtsein ruft. Gegen diesen individualistischen Sündenbegriff wehrt sich Barth vehement [201f.]: „Das Individuum ist nicht das Subjekt, das den Imperativen der Sittlichkeit gehorchen kann … Die ganze Menschheit, die ganze Welt lebt in dieser Vereinzelung und Abgeschnittenheit und Auflösung und Desorganisiertheit.“ Hier geht Barth weit über Luther hinaus und ist dem Paulus des Römerbriefes ganz nahe.
Diejenigen, die Barth „Biblizismus“ und „einen unmodernen Gottesbegriff“ vorwerfen, „der zutiefst der Orthodoxie verhaftet sei“, entziehen nach Jankowski
sich selbst der Mühe, biblische Theologie zu betreiben und mit der Bibel zu fragen, wer Gott ist und was in unserer Gesellschaft als Gott funktioniert.
Was Karl Barth letzten Endes in den biblischen Schriften sucht (J47), sind Antworten „auf die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit“, während Luther „und in seiner Nachfolge fast ausnahmslos alle protestantischen Theologen“ stattdessen „die Frage … nach dem Heil des Individuums“ in den Mittelpunkt ihres Fragens gestellt haben. Dabei betrachtet Barth politische Strömungen nicht blauäugig (J48). Jankowski zufolge
begrüßt [er] – sehr nüchtern – die revolutionären Bewegungen und kritisiert sie gleichzeitig – so ist die Auslegung von Römer 13 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Auseinandersetzung mit Lenins Schrift „Staat und Revolution“, kurz gesagt, er betreibt konsequent eine politische Lektüre der Bibel.
↑ Kleijs Kroon, Jacobus Johannes Meuzelaar und Friedrich-Wilhelm Marquardt
[7. November 2024] Weiter stützt sich Gerhard Jankowski (J49) in seiner Römerbriefauslegung auf einige „niederländische Theologen, die, angeregt durch die Arbeit Miskottes <8>, mit einer neuen Pauluslektüre begannen“. Im Vorwort seiner Auslegung des 2. Korintherbriefs <9> verrät er, dass es sein „väterlicher Freund und Lehrer Kleijs Kroon“ war, der ihn bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die Spur gelenkt hatte, „die Briefe des Paulus von ihrem jüdischen und auch politischen Kontext her auszulegen“. Kleijs Kroon <10> versuchte als
Beauftragter seiner Kirche für das jüdisch-christliche Gespräch…, Paulus nicht als christlichen Theologen, sondern als „jüdisch-messianischen Prediger“ zu verstehen. Was Paulus schreibt, ist für ihn zutiefst verwurzelt im Judentum und seiner Tradition.
Von besonderer Bedeutung für Jankowskis Römerbriefauslegung ist die Monographie „Der Leib des Messias“ des Theologen Jacobus Johannes Meuzelaar <11>, der ebenfalls „Paulus vor allem auf dem Hintergrund der jüdischen Tradition“ versteht (50):
Meuzelaar weist nach, daß die paulinischen Gemeinden keine christlichen Gemeinden waren, sondern messianische Gemeinden, in denen Juden und Nichtjuden zusammenlebten. Hier ist in der Tat der Grundstein zu einer Erneuerung der Paulusinterpretation gelegt worden, auf dem aufgebaut werden kann.
Schließlich stützt sich Jankowski auf „eine Kurzauslegung des Römerbriefes“ durch Friedrich-Wilhelm Marquardt <12>, die er im „1. Band seiner Christologie … auf den Seiten 180-298 unter der Überschrift ‚Jesus zwischen Juden und Griechen‘…, von dem Interesse des ‚Bekenntnisses zu Jesus, dem Juden‘ geleitet“, unternimmt:
Für Marquardt ist der Römerbrief „diejenige neutestamentliche Schrift, in der die Grundstruktur des alttestamentlichen Wirklichkeitsverständnisses nicht nur beiläufig anklingt, sondern zum Thema gemacht worden ist: das differenzierte Verhältnis, das der Gott Israels und der Vater Jesus Christi einerseits zu Juden, anderseits zu Nichtjuden eingegangen ist“. Damit ist das Thema des Paulus – das Volk Israel und die Völker – aufgenommen. Die These Marquardts ist, daß Gott sich Israel erwählt hat und er nur als der Gott Israels auch der Gott der Gojim, der Nichtjuden, wird und nicht umgekehrt. Von dieser Grundvoraussetzung wird der Römerbrief ausgelegt. Marquardt buchstabiert das durch an den zentralen Themen des Römerbriefes: der Gerechtigkeit und dem Bund, dem Gesetz und dem Evangelium. Vor allem die Frage nach der Rechtfertigung und der Gerechtigkeit ist für ihn keine paulinische Erfindung, sondern wurzelt tief in der biblisch-jüdischen Tradition. Wer Paulus auslegen will, kann es nicht abseits von Israel, erst recht nicht gegen Israel tun. Von daher wird auch die Thora als Leben ermöglichende Weisung endlich von einem christlichen Theologen ernst genommen und nicht von vorneherein als „Gesetz“ abgewertet.
Damit sind von Jankowski diejenigen benannt (J12), denen er „kräftig zur Hand gehen“ möchte, um den Römerbrief vom „Götzen“ des „Antijudaismus“ zu befreien, „der immer noch die Auslegung dieses Briefes bestimmt und der auch von Barth nicht ins Wackeln geschweige denn zum Einsturz gebracht wurde“, damit endlich erkannt wird:
Paulus war ein jüdischer Lehrer, der zum messianischen Prediger in der Welt des römischen Imperiums wurde, besessen von der Hoffnung, verfeindete Menschen, und das hieß für ihn Juden und Nichtjuden, miteinander einen zu können in kleinen Gruppen, die das alles beherrschende römische System auszuhöhlen begannen. Der Römerbrief begründet diese Hoffnung.
↑ Der Verstehenshorizont für den Römerbrief, den Michael Wolter durchblicken lässt
[9. November 2024] Nachdem ich Gerhard Jankowskis erkenntnisleitende Interessen an Hand der theologischen Lehrer skizzieren konnte, auf die er sich ausdrücklich beruft, fällt dies bei Michael Wolter schwerer, da Verfasser wissenschaftlicher Kommentare eher darauf bedacht sind, ihren eigenen Standpunkt im Hintergrund zu halten und sich so gewissenhaft und objektiv wie möglich um die Auslegung eines Textes in der Diskussion mit Hunderten anderer Exegeten zu bemühen. Trotzdem weiß natürlich auch Wolter (WIX), dass
die philologische und historische Exegese biblischer Bücher ein hermeneutisches Unternehmen ist und keine Kommentierung denkbar ist, die nicht von der theologischen Identität ihrer jeweiligen Autoren und von den jeweils aktuellen kulturellen und kirchlichen Paradigmen bestimmt wäre und so immer ein Kind ihrer je eigenen Zeit und den in ihr jeweils maßgeblichen theologischen Großwetterlagen und exegetischen Paradigmen bliebe.
Erkennbar ist von vornherein, dass Wolter trotz des gigantischen Umfangs der von ihm verwendeten Literatur die von Jankowski angeführten Werke – ausgenommen Luthers Römerbriefvorlesung und Barths Römerbriefauslegung (zweite Auflage) – nicht berücksichtigt hat. Anscheinend galt nicht nur vor 45 Jahren Meuzelaars Monographie über den Leib des Messias als „abweichende Ansicht“ ohne wissenschaftlichen Wert (siehe oben, Anm. 11), auch heute noch werden Autoren, die Paulus als jüdischen Messianisten einschätzen, nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Einige Stellen in der Einleitung zu Wolters Kommentar lassen den traditionellen Horizont zu Tage treten, vor dem er den Römerbrief auslegt.
↑ Die anachronistische Verwendung der Begriffe „Christen“ und „christlich“
Obwohl Wolter weiß (W31, Anm. 58), dass „es die Begriffe ‚Christen‘ und ‚christlich‘ in paulinischer Zeit noch nicht gab“, greift er von vornherein auf sie zurück, um damit „solche Menschen“ zu bezeichnen,
die der Überzeugung sind, dass Gottes Heil sich in Jesus von Nazareth offenbart hat, oder von denen Paulus sagen würde, dass sie zu Jesus Christus gehören. Paulus sagt zu ihnen meistens hoi pisteuontes („die Glaubenden“; Röm 3,22; 4,11.24; 1Kor 1,21; 14,22; Gal 3,22; 1Thess 1,7; 2,10.13), aber auch hoi tou Christou („die zu Christus gehören“; 1Kor 15,23; Gal 5,24; s. auch Röm 8,9) oder hoi epikaloumenoi to onoma tou kyriou hēmōn Iēsou Christou („die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen“; 1Kor 1,2) oder hoi en Christō („die in Christus“; Röm 8,1). Niemals nennt er sie übrigens ‚die auf Jesus Christus Getauften‘ o.ä.
Auch wenn Wolter die Begriffe „Christen“ und „christlich“ lediglich „als interpretationssprachliche Sammelbezeichnungen“ verwenden will, legen sie nahe, dass Paulus sich als „Christ“ von seiner angestammten Religion des Judentums verabschiedet hat und dass auch Menschen jüdischer Abstammung, die an Jesus glauben, sich nicht mehr als Angehörige der jüdischen, sondern der christlichen Religion begreifen. Dass Michael Wolter selbst von dieser Grundannahme selbstverständlich ausgeht, zeigt eine Bemerkung (W43) über den „Philemonbrief“, den Paulus „an einen Menschen“ geschrieben habe, „den er zum christlichen Glauben bekehrt hat.“
↑ Der unerläuterte Gebrauch des Begriffs „Heil“
Indem Wolter an der eben erwähnten Stelle (W31, Anm. 58) die „Überzeugung“ von „Christen“ auf den Punkt bringt, dass „Gottes Heil sich in Jesus von Nazareth offenbart hat“, lässt er die Bedeutung des Begriffs „Heil“, griechisch sōtēria, völlig offen. Üblicherweise wird mit dem Wort „Heil“ so etwas wie Seelenheil verbunden, also die Errettung von ewiger Verdammnis nach dem Tod im Himmel. Es wird zu klären sein, ob auch Wolter hier unausgesprochen ein solches Heilsverständnis voraussetzt und wie er mit dem Hintergrund des Wortes sōtēria in den hebräischen Schriften umgeht, wo es in der Regel für die Befreiung Israels von den Bedingungen der gegenwärtigen Weltzeit von Gewalt und Unterdrückung steht, die mit dem Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens überwunden sein wird.
↑ Wer sind „die Römer“, an die Paulus seinen Brief schreibt?
[12. November 2024] Entscheidende Unterschiede der Herangehensweisen von Jankowski und Wolter an den Römerbrief ergeben sich schon in ihrer Einleitung vor allem dadurch, wen sie als die Adressaten des Römerbriefs betrachten. Viele andere hier behandelte Fragen lasse ich außer Acht, zum Beispiel, dass der Römerbrief „echt“ ist, von Paulus selbst geschrieben, weil es außer Frage steht, oder welche Teile der beiden Schlusskapitel 15 und 16 in welcher Reihenfolge ursprünglich zum Brief gehörten, weil es der Besprechung dieser Kapitel vorbehalten bleiben kann. Auch die Frage, wo genau Paulus den Brief verfasst hat, ist für das Verständnis des Römerbriefs kaum entscheidend, aber schon eher die Abfassungszeit. Dazu äußert sich Wolter ausführlich und kommt zu den Schluss (W30):
Nimmt man alles zusammen, können wir nicht mehr sagen, als dass der Römerbrief wahrscheinlich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre geschrieben wurde. Eine genauere Festlegung ist nicht möglich. Auch innerhalb des Briefes gibt es keine Anhaltspunkte, die eine präzisere Datierung möglich machen könnten.
Jankowski sieht das ähnlich, indem er auf die Regierungszeiten der römischen Kaiser Claudius (41-54 n.Chr.) und Nero (54-68 n.Chr.) heranzieht (J29):
Allgemein wird davon ausgegangen, daß der Römerbrief in den letzten Jahren des Claudius oder zu Beginn der Herrschaft des Nero geschrieben wurde. Ein genaues Datum ist kaum anzugeben. Das ist auch nicht weiter von Belang. Viel wichtiger ist es, darauf zu achten, unter welchen politischen Bedingungen der Traktat geschrieben wurde. Auf jeden Fall ist zu bedenken, daß er nicht an diesen Bedingungen vorbeigeschrieben wurde. Wie alle in dieser Zeit lebenden Menschen wird auch Paulus die Auswirkungen der Herrschaft zu spüren bekommen haben. Und er wird sie erst recht als Jude wahrgenommen haben, der durch große Teile der Diaspora gereist war und mit den verschiedenen Gruppen über das damals alle jüdischen Menschen bestimmende Problem, nämlich das Verhältnis zwischen dem Volk Israel und den Völkern, diskutiert und nach Lösungen gesucht hatte. Gewiß hatte er als civis Romanus Sonderrechte, aber als Jude, der er ja nach wie vor sein wollte und auch war, gehörte er auf eine andere Seite. Und das wird in allen Teilen des Traktates überdeutlich.
Wie bereits andeutungsweise zu erschließen war, teilt Wolter aber nicht diese von Jankowski als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme, dass Paulus seinen Brief „als Jude“ schreibt, „der er ja nach wie vor sein wollte“. Und damit ergibt sich zugleich ein krasser Gegensatz in der Beantwortung der Frage, an welche Römer Paulus eigentlich seinen Brief adressiert. Schon die Frage, wie man die Adressaten benennen soll, ist kompliziert. Sind es Juden und Menschen aus den Völkern, die auf Jesus vertrauen? Wären diese als Judenchristen und Heidenchristen zu bezeichnen? Könnten alle Juden in Rom angesprochen sein? Oder sogar alle Nichtjuden? Und wie sind diese, griechisch ethnē, „Völker“, zu bezeichnen? Wolter verwendet das uns aus der Lutherbibel vertraute Wort „Heiden“, während Jankowski auf das aus dem Hebräischen übernommene Wort für Menschen fremder Völker zurückgreift: „Gojim“ <13>.
↑ Stellten die in Rom dezentral organisierten Juden eine jüdische Gemeinschaft dar?
Nach Wolter (W31) beginnt die „Geschichte der römischen Christen … mit der Geschichte der römischen Juden, über die wir aber nur sehr wenig wissen.“ Er zitiert (W32) Philo von Alexandrien <14>, der im 1. Jahrhundert schreibt,
„dass der große Stadtteil Roms jenseits des Tibers von Juden eingenommen und bewohnt war; die meisten aber waren römische Bürger, nachdem sie freigelassen worden waren (Rōmaioi de ēsan hoi pleious apeleutherōthentes), denn als Gefangene waren sie nach Italien gebracht und von ihren Besitzern freigelassen worden, ohne dass sie gezwungen wurden, von den väterlichen Sitten Abstand zu nehmen“.
Die von Wolter angeführten „Schätzungen über die Zahl der jüdischen Bewohner Roms“ reichen von 20 bis 60 Tausend, wichtiger ist ihm aber, „dass es in Rom keinen stadtweiten jüdischen Kommunalverband gab, der als Vertretung aller in der Stadt wohnenden Juden agieren konnte“, sondern dass die Juden in einer ganzen Reihe von „einzelnen autonomen Synagogen… als collegia (‚Vereine‘) rechtlich anerkannt“ waren.
Anders als Wolter nennt Jankowski (J19) diese Juden trotz dieser dezentralen Organisation „eine verhältnismäßig starke jüdische Gemeinschaft in der Kapitale Rom“, die in der Lage war, „in Rom etwa ein Dutzend Gebetsstätten oder Synagogen zu errichten“ und (J20) „in einer Art Lobby“ ihren „Einfluß zugunsten der gesamten Judenheit geltend machen“ konnte. Als Grundlage dafür betont Jankowki (J19):
Wahrscheinlich verhielten sich alle diese jüdischen Menschen in Rom mehr oder weniger loyal gegenüber der römischen Herrschaft. Ein Kennzeichen dafür ist, daß eine Synagoge den Namen des Imperators Augustus trägt, andere haben als Patronatsnamen Herodes oder Agrippa, sind also nach jüdischen Königen genannt, die von Rom abhängig waren. Gerade zu Zeiten Herodes des Großen oder des Herodes Agrippa, der übrigens in der Familie des Augustus in Rom zusammen mit dem späteren Imperator Claudius erzogen wurde und aufwuchs, war eine starke und loyale jüdische Gemeinschaft in Rom für die Beziehungen zwischen der römischen Herrschaft und dem Königreich bzw. der Provinz Judäa von großem Nutzen. Aber auch später wird diese Gemeinschaft für die gesamte jüdische Diaspora ein wichtiger Brückenkopf gewesen sein.
Eine wesentliche Rolle spielten dabei nach Jankowski (J20) gewiss auch die ursprünglich nichtjüdischen „Gottesfürchtigen“ und „Proselyten, Hinzugekommene“, die vermutlich „nicht aus den unteren Gesellschaftsschichten kamen, sondern zu den oberen Schichten gehörten“. Zugleich weist Jankowski aber darauf hin, dass
nach wie vor zu dieser Zeit Jerusalem das Zentrum jüdischen Lebens [blieb]. Auch Juden in Rom zahlten die Tempelsteuer, die jedes Jahr durch die Gesandten, die Apostel des Synhedrions in Jerusalem, eingesammelt wurde. Und es waren diese Apostel, die auch die Juden in Rom über die wichtigen Entscheidungen der Lehrer und über die politische Lage in Erez Jissrael {hebr. „Land Israel“} und in der übrigen Diaspora unterrichteten.
↑ „Christen“ in Rom? Oder Anhänger des Messias Jesus als jüdische „Partei“?
Sowohl Michael Wolter als auch Gerhard Jankowski gehen zur Frage (W37), „wie und wann die ersten ‚Christen‘ nach Rom gekommen sind“, zunächst (W38) auf die von dem römischen Schriftsteller Sueton <15> „erwähnten Unruhen unter den römischen Juden“ ein. Aus dem dort genannten (J21f.) „Edikt des Claudius gegen die Juden“ zitiert Sueton allerdings „nur eine Zeile“, nämlich die folgende:
„Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultantis Roma expulit“, er vertrieb die Juden aus Rom, weil sie beständig Unruhen unter dem Anstifter Chrestos machten. Dieser Satz kann bedeuten, daß die messianische Predigt Rom erreicht hatte und unter den Juden Unruhen hervorrief wie überall in der Diaspora auch. Da die römische Verwaltung die messianische Bewegung als eine jüdische Sekte begriff – was sie ja auch war –, kam es zu Maßnahmen gegen die Juden insgesamt.
Die Frage ist nun, wer mit „Chrestos“ gemeint ist, den Sueton als den „Anstifter der Unruhen in Rom“ betrachtet. Nach Jankowski versteht er (J22)
unter dem Titel Christus/Messias eine bestimmte Person. In dieser Annahme liegt er sicher falsch. Er hat aber erkannt, daß die Unruhen in Rom, zu denen es unter Claudius gekommen ist, wohl messianistisch bestimmt waren. Das könnte bedeuten, daß Messianisten aus den Oppositionsgruppen in Judäa auch in Rom agitiert hatten. War das aber der Fall, dann mußte eingegriffen werden. Daß wir den Vermerk bei Sueton so verstehen können, belegt ein Brief des Claudius nach Alexandrien, wo es … ebenfalls zu Unruhen gekommen war. In diesem Schreiben werden die Juden beschuldigt, das Imperium mit einem allgemeinen Übel (nosos) anzustecken. Es war eben zu befürchten, daß das, was in der Provinz Judäa sich zusammenbraute, auf das ganze Imperium übergreifen könnte. Das hatten die hellenistischen Freigelassenen des Claudius, die die Politik des Imperiums gestalteten, erkannt. Und sie griffen durch. In Rom sicherlich nicht so scharf, wie der Vermerk bei Sueton vermuten läßt: Mit Sicherheit sind aus Rom nur die Juden vertrieben worden, die das römische Bürgerrecht nicht hatten…
Auch Wolter geht (W37), weil Sueton mit dem „Adverb assidue“ von fortwährenden Unruhen spricht, davon aus, dass „Chrestus kein römischer Jude war“, der (W38) „in den jüdischen Kultvereinen Tumulte verursachte“, denn einen solchen hätte man mit Sicherheit nicht
über einen längeren Zeitraum hinweg gewähren lassen. … Es ist darum vor allem diese Überlegung, die es wahrscheinlich macht, dass Sueton sich geirrt hat und Chrestus bei ihm für ‚Christus‘ steht und dass Claudius mit seinem Edikt auf einen Konflikt zwischen christlichen und nichtchristlichen Juden um die Messianität Jesu reagiert hat.
Obwohl Wolter hier von einem „Konflikt zwischen christlichen und nichtchristlichen Juden“ spricht, liegt auch in seinen Augen (W37) den Unruhen zum Zeitpunkt des Claudius-Edikts „ein innerjüdischer Streit darüber“ zugrunde, „ob Jesus von Nazareth der Messias (der ‚Christus‘) ist.“ Ausdrücklich betont er (W38), dass nach Suetons Darstellung
die ‚Christen‘ in Rom als Juden wahrgenommen wurden und dass mögliche Konflikte mit den nichtchristlichen Juden – von Außenstehenden zumal – als eine innerjüdische Angelegenheit angesehen werden konnten. Die ersten ‚Christen‘ wären demnach unter Caligula (37-41) oder zu Beginn der Regierungszeit seines Nachfolgers Claudius (41-54) als Juden nach Rom gekommen.
Wie Jankowski geht auch Wolter (W36) davon aus, dass die von Claudius vermutlich im Jahr 49 verfügte „Ausweisung“ der Juden aus Rom keineswegs „alle Juden“ betraf, obwohl (W33) die gegen „Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre des 1. Jahrhunderts“ geschriebene Apostelgeschichte (18,2)
die Anwesenheit des aus Pontus stammenden Juden Aquila und seiner Frau Priscilla in Korinth damit [erklärt], „dass Claudius angeordnet hatte, dass alle Juden sich aus Rom zu entfernen hätten“ (diatetachenai Klaudion chōrizesthai pantas tous Ioudaious apo tēs Rōmēs).
Jankowski wiederum (J21) zieht aus der Erwähnung von Aquila und Priscilla (Apg 18,2-3) den Schluss, dass „Paulus durch die beiden Juden aus Rom über die dortige Lage informiert“ war:
Sie werden ihm erzählt haben, wie die jüdische Gemeinschaft in Rom sich zusammensetzte, was dort gedacht wurde, wer die führenden Persönlichkeiten waren und natürlich, warum Juden aus Rom wegmußten, welchen Inhalt also die „Verfügung“ des Claudius hatte.
Nach Jankowski können wir weiter annehmen, dass Aquila und Priscilla
von Paulus und seiner Predigt gehört und vielleicht in Rom in einer messianischen Ekklesia gelebt hatten. Nicht wohl zuletzt deswegen nahm Paulus in Korinth zu ihnen Kontakt auf und lebte, arbeitete und diskutierte mit ihnen. Und so wußte er etwas über die vielleicht noch kleine messianische Ekklesia {Gemeinde} in Rom und über die Schwierigkeiten, die sie hatte.
Da das Claudius-Edikt sich auf die Ausweisung von Unruhestiftern bezog, kann man nach Jankowski
davon ausgehen, daß auch nach der Abschiebung … die jüdische Gemeinschaft intakt blieb und konservativ dachte. Der messianistischen Agitation für einen Aufstand in Judäa wird sie eher ablehnend gegenübergestanden haben. Und eher verhielt sie sich genauso gegenüber der messianischen Predigt, die wohl auch in Rom bekannt war.
Wolter dagegen setzt voraus (W39), dass es schon sehr bald, nämlich in der „Regierungszeit Neros (54-68)“ bereits „Christen in Rom“ gab, die
für Außenstehende nicht mehr als Juden, sondern als eine von diesen zu unterscheidende eigenständige Gruppe wahrgenommen werden konnten. Christen galten nicht mehr als Juden, und zwar ganz offensichtlich sowohl nicht nur aus eigener und aus jüdischer Perspektive, sondern auch aus der Perspektive der stadtrömischen Behörden. Hierzu wird es sicher nicht von heute auf morgen gekommen sein.
Dieser Einschätzung liegt erstens eine weitere Notiz bei Sueton <16> zugrunde:
„Mit Todesstrafen unterdrückt wurden die Christianer, eine Art von Menschen mit einem neuen und schädlichen Aberglauben“ (afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis novae ac maleficiae).
Außerdem aber „bringt Tacitus die Verfolgung der römischen Christen unmittelbar mit dem Brand Roms im Juli 64 in Verbindung“ <17>:
„Nero machte zu Schuldigen und strafte mit ausgesuchtesten Strafen die wegen ihrer Verbrechen verhassten Leute, die das Volk Chrestianer nannte (vulgus Chrestianos appellabat). Der Stifter dieses Namens, Christus (auctor nominis eius Christus), wurde unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet. Der unheilvolle Aberglaube wurde dadurch für den Augenblick unterdrückt, trat später aber wieder hervor und verbreitete sich nicht bloß in Judäa, wo er entstanden war, sondern auch in Rom, wo alle furchtbaren und verabscheuungswürdigen religiösen Gebräuche, die es in der Welt gibt, sich zusammenfinden und praktiziert werden.“
Obwohl Wolter ausdrücklich davon spricht, dass wir „mit einer längeren Entwicklung zu rechnen“ haben, bis (W40) die „Christen … nicht mehr mit den vor Ort befindlichen Juden verwechselt werden konnten“, setzt die Beschreibung des entsprechenden Vorgangs bereits voraus, was zumindest für Paulus nicht ohne Weiteres zu belegen ist, dass er nämlich auch aus seiner eigenen Perspektive sich selbst und die von ihm betreuten messianischen Gemeinschaften bereits als Nichtjuden betrachtet (W39f.):
Der ursprünglich innerhalb der Synagogen vorgetragene Glaube der christlichen Juden fiel zunächst vor allem bei den sog. Gottesfürchtigen auf fruchtbaren Boden, die es als nichtjüdische Sympathisanten des Judentums im Umfeld der jüdischen Gemeinden in den Städten rund um das Mittelmeer gab. Durch deren Vermittlung fand der christliche Glaube dann weiteren Zugang auch zu Menschen ohne vorgängige Verbindung mit den jüdischen Gemeinden. Sie wurden durch die Taufe in die christliche Gemeinschaft aufgenommen, ohne dass sie dabei gleichzeitig Juden wurden. Dementsprechend gewann das individuelle Ethos der Christen und das Gemeinschaftsethos der christlichen Gemeinden eine Gestalt, die zur Folge hatte, dass sie nicht mehr mit den vor Ort befindlichen Juden verwechselt werden konnten.
Ob die durch die beiden Zitate von Sueton und Tacitus belegte Außensicht der „Christianer“ als einer von den Juden unterschiedenen Gruppe auch dem Selbstverständnis der auf Jesus vertrauenden Juden in der Weise entspricht, dass diese sich selbst nicht mehr als Juden, sondern als Angehörige einer neuen Religion betrachten, erscheint mir zumindest fraglich.
Während Wolter die Lage in Rom bereits zur Zeit des Römerbriefs als ein vollendetes „Ergebnis des christlich-jüdischen Trennungsprozesses“ betrachtet, wird zu klären sein, worauf Jankowski (J23f.) unter Berufung auf Apostelgeschichte 28,22 hinweist, ob es in Rom tatsächlich bereits eine oder mehrere „christliche“ Gemeinden gab, die sich von den jüdischen Synagogen abgespalten hatten, oder ob Paulus noch davon ausging, dass die Mehrheit der Juden in Rom eine jüdische hairesis mit Argwohn betrachtete – also eine „Häresie“ oder „Partei“ oder sektierische Gruppierung, die sich nach wie vor als jüdisch verstand, aber wegen ihres Vertrauens auf den Messias Jesus messianistischer Umtriebe verdächtig war.
↑ Schreibt Paulus den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen?
[16. November 2024] An wen in Rom schreibt Paulus nun seinen Brief? Die Frage ist schwerer zu beantworten, als man denken könnte, denn nach Michael Wolter (W42) „nimmt der Römerbrief eine Sonderstellung“ unter seinen Briefen ein:
Der Brief an die Christen in Rom ist nicht nur der einzige Paulusbrief, bei dem es keinen Mitabsender gibt, sondern auch der einzige Brief, den Paulus nicht an eine von ihm gegründete Gemeinde schreibt oder – wie den Philemonbrief – an einen Menschen, den er zum christlichen Glauben bekehrt hat. Der Römerbrief hat vielmehr Adressaten, die Paulus nicht kennen und die er nicht kennt. Bei den Christen in Rom ist er noch nie gewesen. Paulus schreibt an Menschen, mit denen ihn anders als sonst keine gemeinsame Erfahrung verbindet, an die er sie erinnern könnte.
Daher darf man nach Wolter (W44) nicht „die Frage nach der Situation in Rom zum Ausgangspunkt“ der Interpretation des Römerbriefes machen, sondern allein die Anliegen des Paulus, die sich aus seiner Situation ergeben.
Als „Ausgangspunkt“ für „die konkrete Frage nach Anlass und Anliegen des Römerbriefes“ setzt Wolter voraus, dass sich „Paulus … die römischen Heidenchristen … als Leser vorstellt; diese Ausrichtung des Briefes wird niemals aufgegeben.“ Eine Begründung dafür (W44, Anm. 108), dass „Paulus durchgängig und ausschließlich mit nichtjüdischen Christen als Lesern rechnet“, bleibt Wolter allerdings schuldig. Seiner Ansicht nach geht das
aus Röm 1,5-6.13; 11,13.17-24.28-32; 15,15-16 so offensichtlich hervor, dass es hier nicht noch einmal begründet werden muss… Auf die exegetischen Klimmzüge, die bisweilen unternommen werden, um diesen Sachverhalt in Frage zu stellen, gehe ich darum nicht ein.
Diese Weigerung, sich mit alternativen Auslegungen auseinanderzusetzen und sie stattdessen als „Klimmzüge“ abzuwerten, mutet seltsam an, zumal er weiß, wie er später einräumt (44f.), dass Paulus nach der heutigen „Mehrheitsmeinung“ der Exegeten „den Römerbrief im Blick auf eine gemischte, aus Heidenchristen und Judenchristen zusammengesetzte Leserschaft geschrieben habe“. Zwar werden an den genannten Stellen tatsächlich ethnē, Menschen aus den Völkern angesprochen und die besondere Beauftragung des Paulus mit seiner Sendung zu den Völkern wird vorausgesetzt. Aber das schließt nicht aus, dass er sich an anderen Stellen auch an Juden wendet. Ja, es ist doch geradezu widersinnig anzunehmen, Paulus hätte einen Brief an Menschen in Rom schreiben wollen, die auf Jesus vertrauen, und dabei nur die von Wolter als heidenchristlich benannte Teilmenge dieser Gruppierungen angesprochen, während er die Judenchristen, deren Existenz ihm ja bekannt war, vollkommen ignoriert hätte. Aber genau diesen Widersinn behauptet Wolter ausdrücklich (W40):
Auch unter den römischen Christen, die Paulus in Kap. 16 grüßen lässt, befinden sich Juden. Zu ihnen gehörten sicher Prisca und Aquila (V. 3), Andronikus und Junia (V. 7) sowie Herodion (V. 11), vielleicht auch Maria (V. 6) und Apelles (V. 10). Paulus wusste also von der Existenz christlicher Juden in Rom. Trotzdem schreibt er den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen, d.h. er rechnet nur mit Lesern, die zu den – jüdisch gesprochen – „Völkern“ (vulgo {gemeinhin} ‚Heiden‘; griech. ethnē) gehören (vgl. vor allem 1,5-6.13; 11,13.17-24.28-30-32).
Wie hätte Paulus damit rechnen können, dass nur „nichtjüdische Christen“ seinen Brief lesen? Nur deswegen, weil seine besondere Sendung die Völker betraf? Aber in allen anderen Briefen, in denen Paulus ein gemischtes Publikum voraussetzt, ist ihm doch gerade daran gelegen, bestehende Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden zu überwinden, und nicht nur im 1. Korintherbrief kommen Ioudaioi und Hellēnes, „Juden“ und „Griechen“, in vier Versen gemeinsam vor (1,22.24; 10,32; 12,13), sondern auch im Römerbrief in fünf Versen (1,16; 2,9.10; 3,9; 10,12).
↑ Das „nichtchristliche Judentum“ als theologisches Gegenüber des Paulus
Warum wehrt sich Wolter so sehr dagegen, die römischen „Judenchristen“ als Mit-Adressaten des Römerbriefs anzuerkennen? Weil seines Erachtens (W45) der „historische Sachverhalt, dass es in Rom Judenchristen gab“, nichts mit dem eigentlichen Anliegen zu tun hat, das Paulus im Römerbrief am Herzen liegt, und das ist „der theologische Dialog mit dem Judentum“. Es ist (W44) „das nichtchristliche Judentum“, das „im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit“ steht:
Entweder setzt Paulus sich mit seinem erwählungstheologischen Selbstverständnis auseinander (1,18 – 5,21; 7,1-25; 13,8-10) oder er fragt nach den Gründen und Konsequenzen von Israels Ablehnung des Evangeliums (9-11). Diese Ausrichtung verdichtet sich in 2,17-29, wo Paulus mit Hilfe einer rhetorischen apostrophe einen literarisch konstruierten Ioudaios (V. 17) zum fiktiven Ansprechpartner macht.
Wolter will „beide Orientierungen“, nämlich „die römischen Heidenchristen und das nichtchristliche Judentum … in ihrem Zugleich“ so ernst nehmen, dass er erneut sehr seltsam argumentiert. Denn (W44f.) man darf
die Spannung zwischen ihnen nicht dadurch beseitigen, dass man aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem nichtchristlichen Judentum und seiner Erwählungstheologie, die Paulus innerhalb des Briefes führt, eine in Rom befindliche Gruppe von Judenchristen konstruiert und daraus dann den Rückschluss zieht, dass er den Römerbrief im Blick auf eine gemischte, aus Heidenchristen und Judenchristen zusammengesetzte Leserschaft geschrieben habe (das ist heute die Mehrheitsmeinung) oder sich gar in erster Linie an die römischen Judenchristen wenden wollte.
Seltsam daran ist, dass Wolter keine „in Rom befindliche Gruppe von Judenchristen“ konstruieren will, obwohl er selbst im nächsten Satz ausdrücklich schreibt (W45):
Natürlich gab es in Rom auch jüdische Christen. Das macht schon die Vorgeschichte des Römerbriefes wahrscheinlich, und die Grußliste in Röm 16,3-16 lässt erkennen, dass Paulus dieser Sachverhalt nicht unbekannt war. Beides ändert aber nichts daran, dass er sich in seinem Brief nirgendwo an eine judenchristliche Leserschaft wendet. <18>
Eben das wird aber konkret zu prüfen sein und wäre, wie gesagt, sehr ungewöhnlich, wenn die Existenz möglicher „judenchristlicher Adressaten“ des Römerbriefs definitiv feststeht. Sie muss nicht erst, wie Wolter meint, „mit Hilfe eines methodisch hochproblematischen mirror reading {Spiegellesen} begründet“, also indirekt aus den von Paulus angesprochenen Themen erschlossen werden.
Zwei Gründe führt Wolter dann doch noch gegen „die Annahme einer judenchristlichen Mit- oder gar Hauptadresse des Römerbriefes“ an.
Erstens setzt sich ihm zufolge Paulus vor allem in 1,18 – 3,20 „anders als im Galaterbrief nicht mit einer von Judenchristen vertretenen Position auseinander“, sondern sein „impliziter und z.T. fiktiver Gesprächspartner ist hier vielmehr das nichtchristliche Judentum, das nicht seinen Christus-Glauben teilt.“ Problematisch an diesem Argument ist allerdings, dass Wolter überhaupt schon von einer so klaren Trennung der „Judenchristen“ vom „nichtchristliche[n] Judentum“ ausgeht.
Zweitens spielen in „der Beschreibung des Ölbaums in Röm 11,17-24“ nach Wolter
nur zwei Arten von Zweigen eine Rolle: Zweige, die ausgebrochen wurden (die nichtchristlichen Juden), und Zweige, die eingepfropft wurden (die Heidenchristen). Dass es noch eine dritte Art von Zweigen gibt, nämlich die am Ölbaum verbliebenen (die Judenchristen), lässt Paulus gänzlich unbeachtet.
Für die Kapitel 9 bis 11 trifft es in der Tat zu, dass Paulus mit großer Trauer darüber nachdenkt, warum und wozu eine Mehrheit der Juden nicht zum Vertrauen auf Jesus gefunden hat. Daher sind es in diesem Zusammenhang auch wirklich nicht „die Judenchristen“, die Paulus „gegen heidenchristliche Überheblichkeit in Schutz“ nehmen will, sondern er warnt die Menschen aus den Völkern vor einer Überheblichkeit gegenüber genau den Juden, die Wolter nichtchristlich nennt und die Paulus dennoch nicht für alle Zeiten aufgegeben hat.
Am Ende dieses Gedankengangs gesteht Wolter dann wieder zu, dass „ansonsten doch einmal Judenchristen vorkommen“, aber angeblich „benutzt Paulus“ sie nur, „um darzutun, dass Gottes Verheißung für Israel nicht hinfällig geworden ist (9,6a. 27-29) und er sein Volk durchaus nicht verstoßen hat (11,1-2a).“ Ob Paulus nicht trotzdem auch im Römerbrief Juden anspricht, die begonnen haben, auf Jesus als ihren Messias zu vertrauen, wird im einzelnen zu prüfen sein.
Zusammenfassend schreibt Wolter (W46) „über Anlass und Anliegen des Römerbriefes“, in dem „zahlreiche Themen und theologische Bausteine aus früheren Briefen wiederkehren“ und mit dem er ausschließlich römische Heidenchristen anspricht, dass Paulus (46f.)
zu den römischen Christen, die ihn noch nicht persönlich kennen, eine freundschaftliche Beziehung aufbauen will…, und zu diesem Zweck stellt er seine Theologie den Christen in Rom vor. Er liefert dabei keine Verkündigung des Evangeliums, sondern er bespricht sein Evangelium. Er will seine Adressaten nicht noch zum Christus-Glauben bekehren, denn den teilen sie mit ihm bereits. Sie sollen den Römerbrief darum als einen theologischen Kommentar zu dem von Paulus verkündigten Evangelium lesen.
↑ Der „Jude Paulus“ als konkreter theologischer Gesprächspartner im Römerbrief
Bei alldem ist Wolter sich durchaus bewusst (W49), dass „niemand einen Dialog mit ‚dem Judentum‘ führen“ kann. Daher fragt er nach dem konkreten „Gegenüber, das als Repräsentant dieses Gesprächspartners fungiert“:
Wer ist der implizite Adressat, für den diese Passagen bestimmt sind? Die römischen Heidenchristen können es nicht sein, denn denen wird dieser Dialog lediglich vorgeführt. Weil es außer ihnen aber keine textexternen Adressaten gibt, denen Paulus eine Kopie seines Briefes schicken wollte und von denen er erwartete, dass sie den Brief auch noch lesen, kann dieser Gesprächspartner nirgendwo anders zu finden sein als im Bewusstsein des Autors selbst. Der das Judentum repräsentierende Dialogpartner im Römerbrief ist darum niemand anderer als der Jude Paulus. Von ihm sieht der Apostel Paulus sich genötigt, theologische Rechenschaft über den Weg abzulegen, den er als „Sklave Christi Jesu“ und „Apostel“ gegangen ist, den Gott mit der Verkündigung seines Evangeliums beauftragt hat (Röm 1,1).
Hier wird nun die Schablone sichtbar, mit der Wolter wohl alle Stellen, in denen Paulus sich an konkrete Juden in Rom wenden könnte, die möglicherweise im Zweifel sind, ob sie tatsächlich auf Jesus als den Messias vertrauen können, über denselben vorgefassten Kamm scheren wird. Sie besteht in einem Dialog, den der „Apostel Paulus“ mit sich selbst als dem ehemaligen, zu Christus bekehrten Juden führt, der von seinem Jude-Sein Abschied genommen hat. So gesehen spricht Paulus (W50) in Römer 4,1 nicht etwa konkrete Juden kata sarka, „nach dem Fleisch“, an, sondern lediglich sich selbst in seiner Identifikation „mit seinem impliziten jüdischen Gesprächspartner sowie mit allen anderen nichtchristlichen Juden“.
Weiter kann es nach Wolter nur der Jude Paulus sein (W50f.), der „auf das Gesetz“, also die jüdische Tora, zu sprechen kommt, um „auf die Behauptung“ zu reagieren,
dass es vor Gott keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden gibt. Ihr gegenüber bringt dieser Einwand zur Geltung, dass Juden sich von Heiden doch durch das Gesetz unterschieden, das Gott seinem Volk gegeben hat, damit es seine Sonderstellung jeden Tag aufs Neue erfahren kann. Es handelt sich hierbei um einen Einwand, der selbstverständlich nur von jüdischer Seite aus gegen die postulierte Gleichheit von Juden und Heiden vor Gott vorgebracht werden kann. Weil bei der Abfassung des Römerbriefes aber kein anderer Jude anwesend ist als Paulus selbst, kann dieser Einwand, der auf der Textoberfläche unausgesprochen bleibt, von niemand anderem stammen als von Paulus, dem Juden, der den Apostel Paulus zu einer Diskussion über Israels Erwählung durch das Gesetz nötigt.
Dieses Argument ist insofern nicht schlüssig, als Paulus durchaus für die Situation in Rom annehmen kann, dass es wie in Galatien dort Juden gibt, die zwar auf Jesus vertrauen, aber dennoch Vorbehalte gegenüber Menschen aus den Völkern hegen.
↑ Geht es in Römer 14 und 15 nur um inner-heidenchristliche Kontroversen?
Die in Römer 14,1 – 15,13 angesprochenen Konflikte spielen (W51) „traditionellerweise … die wichtigste Rolle“, um nachzuweisen (W52), dass Paulus auch in Rom „eine Auseinandersetzung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen beschreiben will“ und dass er in diesem Zusammenhang auch Judenchristen anspricht.
Dagegen spricht nach Wolter vor allem, „dass Paulus darauf verzichtet, die Position der Schwachen mit der Tora zu verbinden“, und die „Beschreibung des ‚Schwachen‘ … auf Grund ihrer Allgemeinheit ein Spektrum an Verhaltensweisen“ umgreift, „das weit über die Tora hinausgeht.“ Ich verzichte an dieser Stelle auf eine umfassende Würdigung seiner Argumente und verschiebe sie auf die Exegese der entsprechenden Verse.
Dasselbe gilt für die Passage 15,7-13, die es Wolter zufolge (W53) „sogar wahrscheinlich“ macht, „dass Paulus den Konflikt als eine Auseinandersetzung wahrgenommen wissen will, die sich ausschließlich unter den römischen Heidenchristen abspielte“, obwohl der Messias in 15,8 ausdrücklich als Diener auch der Beschnittenen bezeichnet wird.
Da jedenfalls auch nach Wolter zu vermuten ist, „dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unter den römischen Christen ähnliche Ethoskonflikte geben wird wie anderenorts“, liegt die Frage nahe, ob es in Korinth oder Rom nicht eben doch hauptsächlich um Konflikte zwischen „Juden“ und „Griechen“ ging, die sich im gemeinsamen Vertrauen auf den Messias Jesus verbunden wussten.
Dass Paulus sich nicht konkret „auf Nachrichten“ bezieht, „die er über einen in Rom bestehenden Ethos-Konflikt erhalten hat“, ist richtig. Wolters Frage: „Wer hätte sie ihm auch zukommen lassen sollen?“ ist allerdings durchaus nicht nur rhetorisch zu verstehen, und Gerhard Jankowski beantwortet sie im Blick auf das in Apostelgeschichte 18,1-3 erwähnte Ehepaar Aquila und Priscilla folgendermaßen (J21):
Paulus war über die Situation in Rom bestens unterrichtet. Die beiden aus Rom weggegangenen Juden haben ihm darüber berichtet. Sie werden ihm erzählt haben, wie die jüdische Gemeinschaft in Rom sich zusammensetzte, was dort gedacht wurde, wer die führenden Persönlichkeiten waren und natürlich, warum Juden aus Rom wegmußten, welchen Inhalt also die „Verfügung“ des Claudius hatte.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Wolters Versuch (W55),
die unmittelbare Veranlassung für die Abfassung des Römerbriefes noch etwas präziser zu fixieren. Wir müssen uns dafür nur noch einmal die Empfehlung anschauen, die Paulus in 16,1-2 Phoebe, der Überbringerin des Briefes, mit auf den Weg gibt.
Wenn Phoebe, wie aus Römer 16,2b hervorgeht (W56), „nicht lediglich als Briefbotin nach Rom reist…, sondern weil sie dort „Geschäfte“ (pragmata) zu erledigen hatte“, mag es „erst Phoebes bevorstehende Romreise“ gewesen sein, „die Paulus zum Anlass genommen hat, an die Christen in Rom zu schreiben.“ <19> Falls Phoebe mit der Situation in Rom vertraut war, hätte auch sie Paulus mit grundlegenden Informationen versorgen können.
Überhaupt bin ich gespannt, ob Wolter bei der eingehenden Exegese von Römer 16 eine Erklärung dafür vorweisen wird, dass Paulus in diesem letzten Kapitel sowohl Juden- als auch Heidenchristen, wie er sagen würde, persönlich grüßen lässt, ohne anzunehmen, dass er mit seinem Brief diese auch selber ansprechen will.
↑ Alle Juden in Rom als Hauptadressaten des Römerbriefs
[18. November 2024] Überraschend ist für mich, dass Gerhard Jankowski im Unterschied zu Michael Wolter nicht einfach nur annimmt, wie ich zunächst gedacht hatte, dass Paulus im Römerbrief auch Juden anspricht, die zum Vertrauen auf Jesus gekommen waren. Indem er ernst nimmt, dass Paulus durch Informationsquellen wie Priscilla und Aquila zwar von einzelnen Juden und Menschen aus den Völkern weiß, die im Rom auf Jesus vertrauen, aber (J19) eine „eigenständige messianische Gemeinde neben den anderen jüdischen Gemeinden in Rom … nicht zu kennen“ scheint, geht er davon aus, dass Paulus nicht etwa, wie Wolter meint, seine innere theologische Abrechnung mit einem fiktiven nichtchristlichen Juden in Gestalt des ehemaligen Juden Paulus vor einer Gemeinde von Heidenchristen ausbreitet, sondern in der Tat die Gesamtheit aller Juden in Rom einschließlich der in ihr vorhandenen Gojim und Juden, die auf Jesus vertrauen, ansprechen will (J18):
Wenn er seinen Traktat an alle Geliebten Gottes in Rom, Heilige genannt, schreibt, dann will er, daß dessen Worte von allen jüdischen Menschen in Rom gehört werden. Anders gesagt: Er will, daß seine Meinung in der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Rom bekannt und wohl auch diskutiert wird.
Bedenkt man, dass Paulus, obwohl er sich besonders zu den Völkern gesandt weiß (Galater 1,16), nach der Apostelgeschichte bei der Ankunft in jedem Ort zunächst die Synagoge oder den Versammlungsort der Juden aufsucht (9,20; 13,5,14; 14,1; 16,13; 17,1.10.17; 18,4.19; 19,8), erscheint diese Vorstellung durchaus nachvollziehbar, zumal er die ersten Menschen aus den Völkern, die er anspricht, unter den Gottesfürchtigen in diesen Zusammenkünften findet.
Indirekt bestätigt Wolter diesen Gedankengang, indem er annimmt (W40), dass „das römische Judentum zur Zeit des Römerbriefes … noch im römischen Christentum“ nachwirkt:
Weder in der Adresse des Briefpräskripts noch sonst spricht Paulus die eine christliche ‚Gemeinde‘ (ekklēsia) in Rom an. Das unterscheidet den Römerbrief von allen anderen Briefen. Paulus adressiert den Brief vielmehr an „alle, die in Rom Geliebte Gottes sind, an die berufenen Heiligen“ (1,7a). Erkennbar werden auch einzelne Hausgemeinden (16,5.14.15); eine übergeordnete stadtgemeindliche Organisationsebene gab es bei den römischen Christen aber ganz offensichtlich nicht. Es liegt nahe, hierin ein Erbe der Herkunft der römischen Christenheit aus dem römischen Judentum zu sehen, das sich in dezentralen synagogalen Gemeinschaften organisiert hatte und über keinen stadtweiten Dachverband verfügte. Man kann darum nicht sagen, dass es so etwas wie „die christliche Gemeinde in Rom“ oder gar „die römische Kirche“ <20> gab, die wie die korinthische Gemeinde als holē hē ekklēsia (Röm 16,23) von den Hausgemeinden unterscheidbar gewesen wäre.
Während Wolter aber annimmt, dass Paulus in Römer 1,7 nur heidenchristliche Römer anspricht, bezieht Jankowski (J17f.) die Anrede „Geliebte Gottes, gerufene Heilige“ auf das Volk Israel, mithin alle Juden, die „von Gott geliebt“ und „Heilige“ genannt werden.
Zur Begründung bezieht sich Jankowski (J18) auf einen „Satz des Rabbi Akiba, der zusammenfaßt, was auch schon zur Zeit des Paulus galt“, nämlich:
„Geliebte sind die Israeliten, denn sie sind Kinder (Gottes) genannt worden. Besondere Liebe ist ihnen zur Kenntnis gegeben worden, daß sie Kinder Gottes gerufen werden, denn es heißt: ‚Kinder seid ihr dem Ewigen eurem Gott‘. Geliebte sind die Israeliten, denn gegeben wurde ihnen ein kostbares Gerät. Besondere Liebe ist ihnen zur Kenntnis gegeben worden, daß ihnen ein kostbares Gerät gegeben wurde, durch das die Welt erschaffen wurde, denn es heißt: ‚Denn gute Lehre gebe ich euch, nicht verlaßt meine Thora‘.“ <21>
In Römer 11,28 wird Paulus sogar von den Juden, die nicht auf Jesus vertrauen, die Aussage von 1,7 wiederholen, dass sie agapētoi, „Geliebte“ sind. „Er greift nur auf, was die Lehrer vor ihm sagten.“
Wenn die Parallele „Geliebte Gottes, gerufene Heilige“, wie Jankowski sagt, „dem in den Schriften der Bibel gebräuchlichen Parallelismus membrorum“ entspricht, „in dem das erste Glied im Parallelismus durch das zweite bestärkt, erläutert oder verdeutlicht wird“, sind auch mit den „gerufenen Heiligen … jüdische Menschen“ gemeint. „Denn wie Israel von Gott geliebt ist, so ist es „ˁam qadosch le-JHWH, ein dem Ewigen heiliges Volk“ wie es in Dtn 7,6; 26,19 u.ö. heißt.“ So gesehen kann das Wort klētoi, „Gerufene“, „hier die schlichte Bedeutung genannt haben, so wie jemandes Namen gerufen wird, wenn man ihn nennt.“ <22> Allerdings hätte Jankowski auch darauf verweisen können, dass Israel in 2. Mose 12,16; 2. Mose 23,2.3.4.7.8.21.24.27.35.36.37 und 4. Mose 28,25 als miqraˀ-qodesch, „heilige Versammlung“, ins Griechische mit klētē hagia übersetzt, zusammengerufen wird.
Unmittelbar vor der Adressierung aller Geliebten Gottes und gerufenen Heiligen in Rom spricht Paulus nach Jankowski in 1,5f. von „allen Gojim…, unter denen … auch ihr Gerufene von Jesus Messias“ seid. Das sind die Verse, die nach Wolter eindeutig belegen, dass Paulus ausschließlich genau diese von Jesus berufenen Menschen aus den Völkern anspricht. Jankowski sieht das anders (J19): <23>
Der Traktat ist an die jüdische Gemeinschaft in Rom gerichtet, zu der für Paulus aber auch die von Jesus Messias gerufenen Gojim gehören. Hier ist das Thema der Zugehörigkeit von vertrauenden Nichtjuden aus anderen Völkern zum Volk Israel stichwortartig genannt, das dann den ganzen Traktat beherrschen wird. Paulus, so scheint es, kennt die Verhältnisse der jüdischen Gemeinschaft in Rom nicht. Jedoch nimmt er ganz selbstverständlich an, daß in dieser Gemeinschaft auch Nichtjuden leben, ohne Juden geworden zu sein. Eine eigenständige messianische Gemeinde neben den anderen jüdischen Gemeinden in Rom scheint er nicht zu kennen. Und so schreibt er eben den Traktat an die gesamte jüdische Gemeinschaft zu Rom. Damit der dort diskutiert wird.
↑ Der Römerbrief als Traktat über das Volk Israel und die anderen Völker
Was Wolter (W47) einen „theologischen Kommentar zu dem von Paulus verkündigten Evangelium“ nennt, in dem er seinen Abschied vom nichtchristlichen Judentum vor heidenchristlichen Adressaten ausbreitet, ist auch für Jankowski (J16) kein „gewöhnlicher Brief“, da in ihm „kaum etwas Persönliches“ abgehandelt wird,
wohl aber höchst „theologische“ und sehr theoretisch-abstrakte Abschnitte und Sätze. … Der eher unpersönliche und fast akademische Stil des Schreibens kann natürlich von der Tatsache bestimmt sein, daß Paulus die Gemeinde in Rom nicht gekannt hat und nur sehr vage Informationen über sie hatte. So gerät ihm der Brief zu einem großen Lehrschreiben, nicht in Eile verfaßt, um auf konkrete Fragen zu antworten, sondern wohl konzipiert und gut durchdacht. lm Römerbrief zieht Paulus so etwas wie die Summe seines messianischen Denkens und Handelns, seiner Praxis. Das Schreiben ist eine Abhandlung über das Problem: ˁam Jissrael und die gojim, das Volk Israel und die anderen Völker, und über seine Lösung.
Anders als Wolter meint Jankowski aber nicht, Paulus hätte diese Frage nur mit den zum Vertrauen auf Jesus gelangten Menschen aus den Völkern erörtern wollen, zumal sein Traktat „in der Art“ verfasst ist, „in der damals die Lehrer Israels schrieben.“
So finden sich in dem Traktat eine Fülle von kurzen und längeren Zitaten aus dem Thenakh, dem von uns so genannten Alten Testament. Wie wir noch an den einzelnen Stellen sehen werden, werden sie in der Weise eines Midrasch ausgelegt oder als Beweis für eine These herangezogen. Hier folgt Paulus den hermeneutischen Regeln, die er als Schüler bei seinem Lehrer Gamliel in Jerusalem gelernt hatte.
Dazu verweist Jankowski (J16f.) auf die „sieben Regeln der Schriftauslegung, die Rabbi Hillel zugeschrieben werden“ und von denen Paulus einige „genau befolgt“:
den Schluß vom Leichteren auf das Schwere, den Analogieschluß, die Verallgemeinerung von einer Schriftstelle bzw. von zwei Schriftstellen aus, den Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere und vom Besonderen auf das Allgemeine, den Schluß von einer anderen Schriftstelle aus und den Schluß aus dem Zusammenhang. <24>
Außerdem greift Paulus nach Jankowski (J17) auch „Stücke aus der Diskussion der Lehrer über bestimmte Probleme auf“, wie zum Beispiel „die Lehrstücke über die Proselyten oder über den bösen und den guten Trieb“, die er „nach seinem Verständnis“ auslegt und „zur Disputation“ anbietet. Zwar erfolgte die „schriftliche Fixierung der einzelnen Diskussionen … zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt“, vor allem im Talmud und in den
großen Midraschsammlungen, die z.T. erst Jahrhunderte nach Paulus erarbeitet wurden. Da diese Werke aber auf weitaus früheren mündlichen Diskussionen fußen, ist es durchaus zulässig, sie für die Auslegung paulinischer Texte heranzuziehen und zu benutzen. Sie können aber nur dazu dienen, den jüdischen Kontext zu verstehen, der für den jüdischen Rabbi Paulus wichtig und sicher auch unabdingbar war.
Auf jeden Fall setzt Paulus voraus, dass zumindest ein Großteil seiner Adressaten „die Art seiner Diskussion verstehen können und vor allem sich bestens in der Grundlage jüdischen Denkens und Lebens, der Schrift, auskennen.“ Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass er sich ausdrücklich an reale Juden in Rom wendet und sich nicht nur vor nichtjüdischen Römern mit seinem eigenen früheren jüdischen Ich auseinandersetzt.
↑ Offene Fragen über eine messianische Gemeinde aus Juden und Gojim in Rom
Jankowski (J23) bezieht sich auf das Ende der Apostelgeschichte (28,17-22), um sich über „die Haltung der römischen Juden“ klar zu werden. Dort trifft sich Paulus nach seiner Ankunft in Rom nicht etwa mit Christen, sondern (Vers 17) mit den „Ersten der Juden“, die (Vers 21) über ihn aus Jerusalem nichts Nachteiliges erfahren haben, aber (Vers 22) von ihm informiert werden wollen „über diese Partei“, der „überall widersprochen“ wird. Auch wenn diese „kleine Episode … sicher Konstrukt des Lukas“ ist und etwa vierzig Jahre später die historischen Ereignisse nur ungenau wiedergibt, beschreibt nach Jankowski (J23f.)
der Text ziemlich genau, was über die messianische Bewegung zumindest in der jüdischen Führungsschicht in Rom gedacht wurde. Der schaliach (Apostel) Paulus ist in Rom höchstens dem Namen nach bekannt. Aber weder die höchsten Autoritäten in Judäa/Jerusalem haben vor ihm schriftlich gewarnt, noch haben die Gesandten des Synhedrions, die regelmäßig nach Rom kamen, über Paulus und die messianische Bewegung berichtet oder sie schlecht gemacht. Die messianische Bewegung gilt als eine der vielen Parteien oder sektiererhaften Gruppen, die im damaligen Judentum und erst recht in der sich bildenden Opposition gegen die römische Herrschaft üblich waren. Freilich ist sie nicht überall anerkannt. Sie wird zwar nicht bekämpft, aber sie erfährt da, wo sie auftritt, Widerspruch.
Lukas als Autor der Apostelgeschichte ging also nach Jankowski (J24) gegen Ende des 1. Jahrhunderts davon aus, dass Paulus „und die von ihm vertretene Richtung der messianischen Bewegung“ zur Zeit seiner Ankunft in Rom
bei der jüdischen Führungsschicht in Rom so gut wie nicht bekannt waren. Selbst in Rom wird sie, wenn sie denn schon da Fuß gefaßt hatte, eine kaum zu beachtende Größe gewesen sein. Sie wurde schlicht nicht zu Kenntnis genommen. Entweder war sie nicht auffällig geworden, weil sie in die von Sueton erwähnten messianischen Unruhen nicht oder nur am Rand verwickelt war, oder aber sie war noch in die verschiedenen jüdischen Gemeinden in Rom integriert. Vielleicht sah man sie als die Gruppe an, die sich im wesentlichen aus den sogenannten Sebomenoi zusammensetzte und nicht als eigenständige Gruppierung galt.
Wenn Paulus von „Priscilla und Aquila … nur über die Menschen“ etwas erfuhr, „mit denen sie Kontakt gehabt hatten“, blieben für ihn viele Fragen unbeantwortet (J24f.):
Wer hatte in Rom mit der messianischen Predigt vom Messias Jesus begonnen? Gab es dort schon eine Ekklesia aus Juden und Gojim? War die messianische Bewegung mehr vom „orthodoxen“ Flügel beeinflußt worden, wie ihn etwa Simon Petrus oder Jakobus und die anderen Jerusalemer Brüder <25> vertraten? Was war von der paulinischen Praxis bekannt? Auf welche Widerstände stieß die messianische Bewegung bei den jüdischen Gemeinden? Gab es Bestrebungen, sich vom Judentum zu lösen, oder konvertierten die Gojim, die messianisch dachten und handelten, zum Judentum und ließen sich beschneiden? Schließlich: Gab es Reaktionen der römischen Verwaltung auf die messianische Praxis?
So sieht nach Jankowski die Situation aus (J25), in die hinein Paulus mit seinem Traktat den „Repräsentanten der Juden in Rom die hairesis {Partei}, zu der er sich bekennt“, darzustellen versucht:
Paulus geht so vor, als kennten die Repräsentanten des Judentums in Rom so gut wie nichts von der messianischen Bewegung. Andererseits ermutigt er die in Rom von ihm vermuteten messianisch ausgerichteten Gojim zur engen Gemeinschaft mit den Juden, indem er im zweiten Teil des Traktates sehr massiv das Zuerst der Juden hervorhebt. Er verläßt sich nicht auf ungenaue Informationen über die messianische Bewegung in Rom, sondern stellt seine Sicht dar. Nicht nur die Juden, sondern gerade auch die messianischen Gojim, die Gerufenen des Jesus Messias, wer auch immer sie sein mögen, sollen erfahren, was er denkt. Schließlich hören wir im dritten Teil des Traktates von der Praxis der messianischen Gemeinschaft aus Juden und Gojim. Dieser Teil ist sehr allgemein gehalten. Auch hier wird so gut wie gar nicht auf eine konkrete messianische Ekklesia Bezug genommen – mit einer Ausnahme, nämlich der bekannten Stelle über das Verhältnis zum „Staat“ im 13. Kapitel des Traktates. Wer an eine Gemeinschaft schreibt, die in der Kapitale des Imperium Romanum lebt, kann dieses Problem nicht außer acht lassen.
↑ Was wusste Paulus „über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rom“?
[19. November 2024] Gerhard Jankowski schließt es aus (J26), dass für Paulus „der gesellschaftliche Kontext seiner Adressaten in diesem eher theoretisch-abstrakten ‚Lehrschreiben‘ völlig unbeachtet bleiben“ konnte. Er findet „in dem Brief zumindest Andeutungen, daß Paulus über die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in Rom ziemlich gut informiert gewesen sein muß“, unter anderem die eben genannten „berühmten Sätze über den Staat in Kapitel 13“ und „in Kapitel 1 die Äußerungen über das gesellschaftliche Leben der Nichtjuden“, die „auch als eine plakatartige Schilderung der Zustände in Rom während des Prinzipats des Caligula und des Claudius“ gelesen werden können: <26>
Caligula folgte nicht der autoritär-gemäßigten Herrschaft seiner Vorgänger Augustus und Tiberius… Er war der absolute Herrscher, dessen Willkür und Despotismus keine Schranken kannten. Erpressungen der römischen Nobilität, um an Geld zu kommen, Anklagen wegen Majestätsbeleidigung, die das Spitzel- und Denunziantenunwesen förderten, waren an der Tagesordnung. Die Ausschweifungen der Hofclique bis hin zum Exzess waren Stadtgespräch. Mißliebige Mitglieder der kaiserlichen Familie wurden ermordet oder in den Tod getrieben. Gerüchte über inzestuöses Verhalten des Prinzeps wurden dadurch genährt, daß er seine Schwester heiraten wollte, wie es vorderasiatische Herrscher auch getan hatten.
All das und vor allem auch die Tatsache (J27), dass dieser römische Herrscher sich in Rom „als Staatsgott einen Tempel errichten und weihen“ ließ und dass seine „Statuen … im ganzen Imperium verehrt werden“ mussten, wird
in den jüdischen Gemeinden diskutiert worden sein. Es war, gemessen an der Thora, für sie abscheulich. Erst recht für Juden, die in Rom lebten und die Auswüchse dieser despotischen Herrschaft erlebten, war hier eine Bestätigung gegeben, daß die nichtjüdische Welt nichts als verderbt war. Sie konnten sicher dem zustimmen, was Paulus in Röm 1 als nichtjüdische Praxis auflistete. Sie hatten es tagtäglich in der Zeit des Caligula hautnah erlebt und erlebten es auch in der Zeit des Claudius, der Zeit, in der Paulus den Traktat nach Rom sandte.
Dennoch muss anerkannt werden, dass die „Herrschaft des Claudius … im Gegensatz zu der des Caligula alles andere als despotisch“ war. <27> Er „versuchte den Prinzipat so zu gestalten, wie er ihn unter Augustus erlebt hatte“, gab durch „seine Freigelassenen“, die „fast alle griechischer Abstammung“ waren, „der Verwaltung eine neue Ordnung“ und war (J28) „seiner Politik gegenüber den Juden … zunächst von seinem jüdischen Freund Herodes Agrippa beeinflußt, der mit ihm am Hof des Augustus aufgewachsen war“ und dem er „Judäa und Samaria als Königreich“ anvertraute. „Es mag sein“, so urteilt Jankowski,
daß gerade diese eher bürokratische als absolutistische und erst recht nicht despotische Herrschaft des Claudius und seiner Freigelassenen sowie deren Politik gegenüber den Juden Paulus dazu gebracht hat, die Macht dieser Herrschaftsform so nüchtern zu betrachten, wie er es in Röm 13 tut.
Da nach allgemeiner Annahme (J29) „der Römerbrief in den letzten Jahren des Claudius oder zu Beginn der Herrschaft des Nero geschrieben wurde“, wird „das bei der Auslegung zu berücksichtigen“ sein, zumal dasselbe (J28) auch noch für die Herrschaft des Nero ab 54 n.Chr. gilt, die „in den ersten Jahren eher bürokratisch als despotisch ausgerichtet“ war, so lange er bis zur Ermordung seines „Gardepräfekt[en] Burrus“ noch unter dem Einfluss des Philosophen Seneca stand.
↑ Der kosmos der römischen Weltordnung als ein weltweites Sklavenhaus
Wie sind nach Jankowski (J29) „die Bedingungen“ einzuschätzen, „unter denen die apostolischen Schriften (die Evangelien und die paulinischen Briefe) entstanden sind“? Zunächst einmal hält er es für notwendig, sie überhaupt zu berücksichtigen. Zum Beispiel hätte
Paulus seine Reisen im östlichen Teil des Imperiums kaum oder nur mühselig … unternehmen können, wenn es nicht das ausgezeichnete römische Wegenetz gegeben hätte. Nur gilt es wohl auch zu bedenken, daß dieses Wegenetz vor allem deswegen angelegt und ausgebaut wurde, um die Legionen schneller bewegen zu können. Die militärische Sicherung der eroberten Gebiete hatte da allemal den Vorrang vor der Bequemlichkeit der Reisenden.
Worin sich (J29f.) die „neue Ordnung der Welt“ auszeichnete, die sich mit „dem Prinzipat … des Augustus“ im Römischen Imperium durchsetzte, hat in beispielloser Weise der römische Dichter Vergil (70-19 v. Chr.) in seiner Aeneis (VI, 847ff.) dargestellt (J30, Anm. 14):
„Andere mögen weicher fauchende Erze schmieden
ich glaub‘s in der Tat – mögen lebende Gestalten bilden aus Marmor
werden Prozesse besser führen, den Lauf des Himmels
mit dem Stift beschreiben und die aufgehenden Gestirne benennen:
Du, Römer, denk daran, die Völker mit Gewalt zu regieren
das werden deine Künste sein – im Frieden Ordnung aufzurichten,
die Unterworfenen zu schonen und die Übermütigen völlig zu besiegen.“ <28>
So bringt Vergil auf den Punkt (J30), dass das imperium Romanum dazu bestimmt ist,
die Völker unter ihrer (militärischen) Oberhoheit zu lenken, eine Friedensordnung zu schaffen, zu der es gehört, die unterworfenen Völker zu schonen und die aufständischen endgültig zu besiegen. Besser und knapper kann man eine Staatsideologie nicht formulieren. Rom ordnet die Welt, den mundus, griechisch kosmos. Garant dieser Weltordnung ist der Prinzeps aufgrund des ihm übertragenen, besser: von ihm okkupierten, imperiums, der obersten Gewalt.
Die Begriffe imperium und imperator lassen keinen Zweifel daran (J31), dass auf diese Weise der „im militärischen Bereich geltende Grundsatz von Befehl und Gehorsam … zur Grundlage für die Ordnung der Welt“ wird:
Den unterworfenen Völkern wird bis auf die Finanzverwaltung und die Militärpolitik durchaus eine eigene Verwaltung zugestanden, solange sie sich der Ordnung fügen. Das gilt auch für ethnische Minderheiten in den großen Städten. Aufstände und Angriffe von außen auf diese Ordnung werden brutal unterdrückt. Getreu der von Vergil formulierten Ideologie überläßt man die Wissenschaft, das Handwerk und die Künste, vor allem die Architektur, den Unterworfenen: Es sind meistens Sklaven, besonders aus dem hellenisierten Osten des Imperiums, die als Lehrer, Forscher, Architekten und Handwerker für die Herrschenden gearbeitet und ohne Frage Überragendes geleistet haben. Handwerk, Landwirtschaft und die gesamte Ökonomie konnten überhaupt nur aufgrund der Massen an Sklaven funktionieren.
Gegen „diese Weltordnung“, die „auf den ersten Blick eine großartige Leistung“ darstellt, nämlich „eine Welt, in der es einen Herrscher, eine Sprache, eine Kultur und eine wie auch immer geartete religiöse Grundhaltung gab“, begehrten nur wenige auf, und zwar (J32) waren es
vor allem die Menschen in Judäa, die das taten. Auf der einen Seite hatten sie ihre befreienden Traditionen nicht aufgegeben, zum anderen hatten sie schon einmal erfahren, was eine einheitliche Weltordnung, die ihren Vorfahren aufgezwungen wurde, für das Leben eines Volkes bedeutete. So erlebten sie die römische Weltordnung als ein Sklavenhaus im Weltmaßstab, als ein „kosmisches“ Sklavenhaus. Sie wollten unter dieser Ordnung nicht leben, weil sie unter ihr ihre befreiende Tradition nicht leben konnten. Damit war der Konflikt mit der römischen Ordnung programmiert.
Zur besonderen Zuspitzung der Römerbrief-Auslegung von Gerhard Jankowski gehört es, dass ihm zufolge „auch Paulus diesen Konflikt gesehen“ hat und „zu der Überzeugung gekommen“ ist,
daß man unter den Bedingungen der römischen Weltordnung die befreienden Überlieferungen in seinem Volk nicht leben konnte, auch wenn man es wollte und sich an die Weisung (die Thora) hielt, die einem den Weg zur Befreiung aufzeigte. Ohne hier schon der Auslegung vorgreifen zu wollen, meine ich, daß Paulus davon überzeugt war, daß wahrhaftiges, befreites Menschsein, wie es die Thora fordert und verheißt, unter den herrschenden Verhältnissen seiner Zeit unmöglich zu praktizieren war. Was er sah, war, daß man unter diesen Verhältnissen das Ziel nur verfehlen, in seiner Sprache, daß man nichts als nur „Sünder“ sein konnte. Und deshalb setzte er sich gerade auch im Römerbrief mit diesen Verhältnissen auseinander. Folglich hat jeder, der sich an eine Auslegung des Römerbriefes wagt, die Pflicht, die Bedingungen der römischen Weltordnung wenigstens skizzenhaft aufzuzeigen und sie zu hinterfragen.
↑ Zur Gliederung des Römerbriefs
[24. November 2024] Wie wirken sich die unterschiedlichen Herangehensweisen an den Römerbrief und die völlig gegensätzliche Einschätzung seiner Adressaten auf die Art und Weise aus, wie Wolter und Jankowski seine Kommentierung gliedern?
Gerhard Jankowski unterteilt den Römerbrief in vier große Hauptteile, die er „Kapitel“ nennt und in seinem Inhaltsverzeichnis (J5-8) folgendermaßen überschreibt:
1 Anwalt der Nichtjuden: Israel und die Gojim (Römer 1-8)
2 Anwalt der Juden: Die Gojim und Israel (Römer 9-11)
3 Ermutigungen zur gemeinsamen Praxis (Römer 12,1-15,13)
4 Der Schluß des Briefes (Römer 15,14-16,27)
Diese Gliederung ergibt sich klar aus seiner Annahme, dass Paulus zunächst einmal im 1. Kapitel alle Juden in Rom anspricht und ihnen gegenüber dafür plädiert, dass Menschen aus den Völkern durch das Vertrauen auf den Messias Jesus zum Gottesvolk hinzukommen. Dem entspricht umgekehrt im 2. Kapitel, dass sich Paulus gegenüber den Letzteren für die bleibende Erwählung des Volkes Israel stark macht. In einem 3. Kapitel schließlich spricht Paulus alle Juden und Gojim, die auf Jesus vertrauen, gemeinsam an, um sie zum gemeinsamen Tun zu ermutigen.
Das 4. Kapitel gehört nicht mehr zum eigentlichen Traktat des Römerbriefs, sondern enthält Elemente eines üblichen Briefschlusses wie Grüße und Empfehlungen. Demgegenüber behandelt Jankowski den Eingang des Briefes ab Römer 1,1 praktisch bereits als Auftakt zum ersten Teil des Traktats.
Nach Michael Wolter (W69) beginnt der Römerbrief „mit den üblichen brieftypischen Formelementen, dem Präscript (1,1-7) und einem für die paulinischen Briefe charakteristischen Proömium (1,8-17)“, das „die Leser des Briefes auf die Lektüre vorbereiten“ soll, „damit sie dem Folgenden aufmerksam, wohlwollend und interessiert folgen“. Danach folgt „das Briefcorpus, das von 1,18 bis 15,13 geht“, mit vier Hauptteilen, denen er gemäß den Inhaltsverzeichnissen der beiden Teile seines Kommentars (WXI-XIII und MIX-XI) folgende Überschriften gibt:
1 Gottes Heil durch Jesus Christus für alle Menschen aufgrund des Glaubens (1,18 – 5,21)
1.1 Juden und Heiden – alle sind sie unter der Sünde (1,18 – 3,20)
1.2 Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes durch Jesus Christus (3,21 – 5,21)
2 Das neue Leben der von der Herrschaft der Sünde Befreiten (6,1 – 8,39)
3 Was ist mit Israel? (9,1 – 11,36)
4 Was Christen tun und lassen sollen (12,1 – 15,13)
Der Akzent im 1. Hauptteil liegt für Wolter darauf (W69), „die jüdische Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden einzuebnen“ und darzustellen, „inwiefern das Heil Gottes allen, die an Jesus Christus glauben (3,22.26), zugänglich ist.“ Gegenüber einer Mehrheit der „Kommentatoren und Interpreten des Römerbriefes“, die das anders sieht, gehört ihm zufolge das gesamte Kapitel 5 zu diesem Hauptteil (W71), weil die „zwei Abschnitte“ 1.1 und 1.2
nicht nur … antithetisch aufeinander bezogen sind (1,18 – 3,20: Unheil; 3,21 – 5,21: Heil), sondern … weil Paulus bei der Beschreibung der menschlichen Unheilssituation in 1,18 – 3,20 bereits von Anfang an gewusst hat, dass die Rettung aus ihr so aussehen wird, wie er sie dann ab 3,21 darstellt. Aus diesem Grunde wirkt 1,18 – 3,20 wie eine Einlage, die den Zusammenhang von 1,16-17 und 3,21-26 (jeweils „Gerechtigkeit Gottes“ und „Glaube“) unterbricht.
Hier lässt Wolter erkennen, dass auch für ihn im Grunde die einführenden Worte des Paulus im „Proömium“ bereits zum Inhalt des 1. Hauptteils hinzugehören.
Der 2. Hauptteil enthält dann
so etwas wie die Anthropologie des Christenmenschen, indem er das Wesen von dessen Existenz in der Gegenwart in Abgrenzung von seiner vorchristlichen Vergangenheit und im Blick auf seine Zukunft beschreibt.
Da Paulus am Ende des zweiten Hauptteils auf „die Christen … Eigenschaften und Merkmale“ überträgt, „die nach dem Zeugnis des Alten Testaments das Gottesvolk Israel auszeichnen“, nimmt sich Paulus im 3. Hauptteil „auch die Frage vor…, was denn nun mit denjenigen Angehörigen des Volkes Israels ist, die nicht zum christlichen Glauben gefunden haben“.
Abschließend (W72) folgt ein 4. Hauptteil mit einem „ganz anderen Charakter“, in dem Paulus „den römischen Christen Ratschläge für ihr Verhalten auf bestimmten Handlungsfeldern und in bestimmten ethischen Situationen übermittelt.“ Bezeichnend für seine Annahme, dass Paulus den Brief an die römischen Heidenchristen adressiert, ist seine Bemerkung über den Schluss dieses Hauptteils:
Dieser Briefteil nimmt in 15,7-13 ein Ende, das nicht nur den in 14,1 begonnenen Abschnitt abschließt …, sondern auch das gesamte Briefcorpus: Durch ihren Christusglauben „verherrlichen“ die Heiden Gott als Gott … und überwinden damit die Grundsünde der nichtjüdischen Völker, die nach 1,21 in der Weigerung bestand, Gott die ihm geschuldete „Herrlichkeit“ zu geben …
Am Ende des Römerbriefes entspricht nach Wolter dem „Präskript und den Proömium am Briefanfang … zunächst der zweiteilige Epilog (15,14-21.22-33), in dem er „noch einmal … seinen apostolischen Auftrag“ erläutert und „seine Reisepläne offen“ legt, bevor er mit einer „Liste von Grußaufträgen und Grußbestellungen“ sowie einem „Gnadenwunsch“ den Brief beschließt.
↑ Der Absender stellt sich vor und grüßt die Adressaten des Römerbriefes (Römer 1,1-7)
[26. November 2024] Die ersten sieben Verse des Römerbriefes stellen nach Wolter (W76) das „Präskript“ dar, das in einer außerordentlich langen „Selbstvorstellung“ des Paulus (Verse 1-6), „der Nennung der Adressaten“ (Vers 7a-c) und „dem Gruß“ (Vers 7d) besteht.
Dass sich Paulus so ausführlich vorstellen muss, hat nach Jankowski (J53) den einfachen Grund, dass er
in Rom so gut wie gar nicht bekannt war und … die, an die er schreibt, ebensowenig kennt. Man hat vielleicht gehört, daß er zu einer jüdischen Sekte gehören soll, der in der ganzen Diaspora widersprochen wird. Also hat er sich vorzustellen, und zwar so, daß das Schreiben nicht gleich nach den ersten Worten schon beiseite gelegt wird.
Am spannendsten wird für mich die Frage sein, auf welche Weise hier Paulus ganz konkret seine Adressaten ins Auge fasst, nachdem wir in den Einleitungen der beiden Kommentare von Wolter und Jankowski gesehen haben, wie gegensätzlich sie diese Frage beantworten.
↑ Römer 1,1: Paulus – als Sklave des Messias zum Frohbotschafter Gottes berufen
1,1 Paulus, ein Knecht Christi Jesu,
berufen zum Apostel,
ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes…
[26. November 2024] Wer ist Paulus? Diese Frage beantwortet er (W79) „mit Hilfe von drei parallelen Näherbestimmungen“, Wolter übersetzt sie wörtlich so (W73):
Sklave Christi Jesu,
berufener Apostel,
ausgesondert zum Evangelium Gottes…
Mit dem Wort doulos, „Sklave“, greift Paulus nach Wolter (W79) den „Sprachgebrauch der Septuaginta“, also der griechischen Übersetzung der jüdischen heiligen Schriften auf. So werden in ihr „die Mittler zwischen Gott und seinem Volk“ bezeichnet (W80), „die Gott in den Dienst nimmt, um durch sie an seinem Volk zu handeln.“ Allerdings nennt Paulus sich nicht einen Sklaven Gottes, sondern „Christi Jesu“, er will „nichts anderes“ sein „als das Werkzeug“ dieses Herrn, von dem Wolter selbstverständlich voraussetzt, dass sich ihm „auch die Adressaten seines Briefes zugehörig wissen.“
Jankowski (J52) übersetzt doulos Christou Iēsou mit „Sklave des Messias Jesus“. Die uns ungewohnte Wortstellung „Christi Jesu“ könnte verdeutlichen, dass das Wort Christus für Paulus keineswegs lediglich ein zweiter Name oder gar Nachname Jesu ist, wie er uns in der Abfolge Jesus Christus allzu geläufig über die Lippen geht. Und es könnte sein, dass es in Rom zwar bereits eine Anzahl von Menschen gab, Juden wie Nichtjuden, die Vertrauen zu Jesus als dem Messias Israels gefasst hatten, dass aber unter den Juden ganz im Allgemeinen und ihrem gottesfürchtigen Umfeld noch wenig Konkretes über diese Parteigänger Jesu bekannt war.
Nach Jankowski (J53) gab es im 1. Jahrhundert
viele, die über den Messias nachdachten und sich in den Dienst der messianischen Sache gestellt hatten. Einige hatten den Messias auch in anderen Männern erkannt. Das war nichts Neues. Es war an der Zeit, messianisch gesinnt zu sein. Die in Rom sollen gleich zu Beginn des Schreibens wissen, daß sie es mit einem zu tun haben, der sich sklavisch der messianischen Sache verschrieben hat, mit anderen Worten voll und ganz im Dienst der Befreiung steht, die vom Messias erwartet wird und die schon jetzt programmatisch mit einem Namen benannt ist: Jesus, hebräisch Jeschuah, übersetzt: er befreit.
Dass Wolter solche Überlegungen über einen befreiungstheologischen Zusammenhang des Römerbriefes nicht einmal erwägenswert findet, bestätigt er (W80, Anm. 16) durch seinen knappen Hinweis auf „die präzise Kritik von J.MG. Barclay <29> am Programm des sog. ‚empire criticism‘“, also einer implizit im Neuen Testament enthaltenen Kritik am Römischen Imperium, und seine brüske Zurückweisung haltloser Spekulationen, Paulus wolle sich mit der Selbstvorstellung als doulos Christou Iēsou politisch vom Umfeld der Kaiserfamilie abgrenzen, „deren Mitglieder sich Caesaris servus nannten“. <30>
Dass Paulus sich zu einem besonderen Dienst berufen (klētos) und ausgesondert (aphorismenos) weiß, gehört für Wolter (W80) wie in Galater 1,15 und Apostelgeschichte 12,2 zusammen.
Um die Bedeutung des Wortes apostolos zu erschließen, genügt ihm zufolge (W80f.) „der allgemeine Sprachgebrauch“, den er folgendermaßen skizziert:
Das Nomen apostolos ist von apostellein abgeleitet und bezeichnet zunächst ganz allgemein eine Person oder eine Gruppe, die „gesandt“ sind, oder besser: die als „Gesandte“ eine andere Person oder eine andere Instanz (wie z.B. eine Stadt oder ein Volk) repräsentieren. Zu einem apostolos gehört darum immer jemand, der ihn „gesandt“ hat. Diese Bedeutung hat das Wort in der gesamten Umwelt des frühen Christentums… In diesem Sinne können auch die alttestamentlichen Propheten als „Apostel“ gelten… Als Subjekt dieser Sendung gilt immer Gott.
Demgegenüber lehnt Wolter (W81) es als „nicht tragfähig“ ab (Anm. 21), den Begriff apostolos „aus dem jüdischen schaliach-Institut“ {hebr. schaliach = „Gesandter“} herzuleiten, vor allem weil „diese Einrichtung erst in rabbinischer Zeit belegt ist.“
Jankowski dagegen (J53) bettet seine Ausführungen zum Stichwort „Gesandter, apostolos“, in Betrachtungen zu den „schelechim, apostoloi“, ein, die „der Große Rat, der Sanhedrin, in Jerusalem“ aussandte, um „den jüdischen Gemeinden in der Diaspora“ seine „Entscheidungen über die Festtagszeiten, über den Dienst der Priester, über Lehre und Ordnung des Lebens“ mitzuteilen. Apostelgeschichte 9,1-2 lässt erkennen, dass Paulus, bevor er sich durch den Messias Jesus berufen wusste, „wahrscheinlich auch solch ein Gesandter gewesen“ ist, „berufen vom Großen Rat in Jerusalem und in dessen Auftrag unterwegs.“ Den Römerbrief lässt er jedoch als „ein Gesandter ohne offiziellen Geschäftsauftrag“ überbringen, seine einzige „Legitimation … wird sein Schreiben sein“, in dem er genau darlegen wird, in wessen Autorität er auftritt.
Nach Wolter (W81) verweisen alle drei Begriffe
klētos, apostolos und aphōrismenos {berufen, gesandt und ausgesondert} … auf ein und dasselbe Geschehen: auf die Offenbarung des Auferstandenen und Erhöhten, die Gott Paulus vor Damaskus hat zuteil werden lassen.
Wozu Paulus ausgesondert wurde, beschreibt er mit den Worten: eis euangelion theou (W73), „zum Evangelium Gottes“.
Auch bei dem Wort euangelion setzt Wolter (W83) „die allgemeine Verwendung von euangelion im Sinne von ‚gute Nachricht‘ oder ‚Frohbotschaft‘ als Grundlage für die paulinische Verwendung voraus“, die „aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition herzuleiten ist“, und hält es schon darum für „unhaltbar“, eine Anknüpfung an seinen „Gebrauch in der hellenistischen Herrscherverehrung“ vorauszusetzen, „weil die Zahl der einschlägigen Belege im Verhältnis zum sonstigen Sprachgebrauch viel zu gering ist.“
Zur näheren Charakterisierung dieses euangelion als „Evangelium Gottes“ betont Wolter (W84), dass es mit dem an anderen Stellen von Paulus erwähnten „Evangelium Christi“ identisch ist:
Das paulinische Evangelium ist immer nur insofern „Evangelium Christi“, als es vom Heilshandeln Gottes an Jesus Christus spricht, und es ist immer nur insofern „Evangelium Gottes“, als es die Erschließung von Gottes Heil durch Jesus Christus verkündet. Das „Evangelium Gottes“ gibt es für Paulus nur als „Evangelium Christi“, und das „Evangelium Christi“ ist nur darum Evangelium, weil es das „Evangelium Gottes“ ist. Ein ‚Evangelium‘, das nicht „Evangelium Gottes“ und „Evangelium Christi“ wäre, kann es nicht geben, weil es in diesem Fall kein Evangelium ist.
Interessant ist noch die Frage, warum die Lutherbibel in ihrer Übersetzung zwei Worte ergänzt, die nicht im griechischen Text zu finden sind: „… ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes…“. Sie trägt damit ausdrücklich in den Text ein, was nach Wolter (W82) unausgesprochen schon in ihm gemeint ist. Paulus ist nicht nur ausgesondert für „den Inhalt seiner Botschaft“, sondern für „die Tätigkeit der Verkündigung des Evangeliums“. Indem das „Evangelium Gottes“ mit der „Evangeliumsverkündigung“ gleichzusetzen ist, kommt nach Wolter
ein für die paulinische Theologie zentraler Gedanke zum Ausdruck: dass das von Paulus verkündete Evangelium nicht nur über das Heilsgeschehen informiert, sondern dass es selbst Heil mit sich bringt. ‚Evangelium Gottes‘ ist nicht nur das Verkündigte, sondern auch die Verkündigung. Diesen Gedanken wird Paulus in Röm 1,16-17 wieder aufgreifen.
Jankowski (J53) mahnt zunächst einmal zur Zurückhaltung im Zusammenhang mit dem Begriff „die Gute Botschaft Gottes, euangelion tou theou“ als dem „Geschäftsauftrag“, mit dem Paulus als Gesandter und Ausgesonderter betraut wurde:
Wir sagen Evangelium und haben dabei sehr geprägte Vorstellungen im Kopf, was ein Evangelium ist. Die müssen wir zunächst außer acht lassen. Für Paulus ist die Gute Botschaft durch die Künder in den Schriften voraus angekündigt worden. Sie ist also nicht seine Erfindung, sondern kommt aus der Tradition Israels und ist dort nachzulesen.
Damit macht uns Jankowski neugierig auf die Art und Weise, in der Paulus weiter vom Evangelium Gottes reden wird.
↑ Römer 1,2-4: Das Evangelium vom Messias Jesus als dem Sohn Gottes „in Macht“
[… das Evangelium Gottes,]
1,2 das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift,
1,3 von seinem Sohn,
der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch,
1,4 der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt,
durch die Auferstehung von den Toten
– Jesus Christus, unserm Herrn.
[28. November 2024] Die Verse 2 bis 4 im ersten Römerbriefkapitel sagen nach Gerhard Jankowski (J53), „was Inhalt der Guten Botschaft ist: der Messias.“ Das Wort Christou, das Jankowski (J52/G9) mit „Messias“ wiedergibt, erscheint erst in der letzten Zeile dieser Verse. Vorher (J54) „bekommen die in Rom“ von Paulus zunächst nur
Vertrautes … zu hören… Er benutzt die gebräuchlichen Namen: Sohn Gottes, einer aus dem Samen Davids Fleisch gemäß, also Sohn Davids. Wie es üblich war, umschreibt er das, was mit dem Messias gemeint ist. Er sagt zunächst nicht, wer der Messias ist.
Wenn Paulus in Vers 2 auf das Zeugnis der Propheten zurückgreift, ist nach Jankowski (Anm. 1) zu bedenken, dass zu „den prophetischen Schriften … neben den Schriften der großen und kleinen Propheten auch die beiden Samuel- und Königsbücher zu rechnen“ sind, in denen (J54) ursprünglich „der König Israels“ als „der Erwünschte und Erhoffte, der Gesalbte, maschiach/Messias“, beschrieben wird:
Seine Salbung ist eine Beauftragung: Er hat nach dem Willen Gottes dafür zu sorgen, daß das Volk in Gerechtigkeit und Frieden leben kann und so zum Paradigma für eine befreite Völkerwelt wird. Er ist und bleibt der durch und durch irdische Mandatar Gottes. Er ist kein Herrscher. Die Gewichtigkeit des Mandats und die Beauftragung des Mandatsträgers wird dadurch unterstrichen, daß der Gesalbte der Sohn Gottes genannt wird. David, der erste wirkliche König Israels, gilt als der Prototyp des von Gott beauftragten Gesalbten. Mißbrauchen die späteren Könige Israels ihren Auftrag, richtet sich die Hoffnung durchgängig auf einen Gesalbten, der aus dem Geschlecht Davids kommt und den Auftrag endlich vollgültig erfüllen wird. Sohn Davids, ben David, wird dann zu einem Synonym für den Messias.
Was mit dem Evangelium Gottes in den prophetischen Schriften konkret gemeint ist, kommt nach Jankowski am klarsten in Jesaja 52,7-8 zum Ausdruck, wo „der Auftrag des Messias … als Gute Botschaft“ bezeichnet wird, hebräisch mevasser tov und griechisch euangelion. Und deren Inhalt wird folgendermaßen zusammengefasst: „Friede (schalom), Befreiung (jeschuˁa), Königsherrschaft Gottes (malkhut elohim).“ Es ist sicher dieser Hintergrund, der Jankowski dazu veranlasst hat, in seiner späteren Übersetzung (G9 und öfter) das Wort euangelion durchgehend mit „befreiende Botschaft“ wiederzugeben.
Dann aber hebt Paulus (J54) doch einen Menschen hervor, der in einzigartiger Weise „der bestimmte, horistheis, Sohn Gottes“ ist, und zwar „in Kraft, en dynamei“. Jankowski erkennt hier „[a]nsatzweise“ schon, was spätere Rabbinen in den Midraschim <31> ausführten:
Noch vor der Erschaffung der Welt wurde von Gott der Name des Messias vollmächtig definiert, festgesetzt, bestimmt. Er gehört von Anfang an zum Befreiungsplan Gottes. Was sein soll, war schon immer mitbedacht, von Gott so gewollt, dem Geist seiner Heiligung entsprechend, der am Anfang über den Wassern schwebte.
Und was von Anfang an galt, kommt (J55) jetzt zum „Ziel“, denn es „heißt, daß in den Tagen des Messias die Toten auferstehen werden, Zeichen der endgültigen Befreiung, Beginn der erneuerten Schöpfung.“ Es ist dieser im Volk Israel erwartete Messias, den Paulus jetzt mit Namen nennt: „Jesus, Jeschuah: er befreit“. In diesem konkreten Namen vollzieht sich die „Aktualisierung des NAMENS <32>, des befreienden Programms des Gottes Israels“,
weil Paulus mit anderen davon überzeugt war, daß der gekreuzigte Jeschuah aus den Toten auferstanden war. Für ihn und die anderen kommt damit zum Ziel, was vor allem Beginn bedacht wurde: eine erneuerte Schöpfung mit einer endlich befreiten Menschheit.
Auch nach Michael Wolter (W85) stellt Paulus mit Vers 2 „sein Evangelium in die Kontinuität der Geschichte Israels hinein“, und zwar indem er „seine Verkündigung als ein Geschehen“ charakterisiert,
mit dem Gott die Verheißungen erfüllt, die er seinem Volk einstmals gegeben hat. … In keinem anderen Brief bemüht Paulus sich derart intensiv darum, die Einbettung seiner Christusverkündigung in die Geschichte Gottes mit Israel so deutlich herauszuarbeiten wie im Römerbrief.
Im Gegensatz zu Jankowski will Wolter jedoch das „Evangelium Gottes“ nicht von den „heiligen Schriften“ Israels her interpretieren, sondern er geht von vornherein davon aus, dass durch das „Evangelium Gottes“ umgekehrt diese Schriften selbst
in einem neuen Licht erscheinen, denn Paulus schreibt ihnen in diesem Vers eine geschichtliche Referenz zu, die es vorher in ihnen noch nicht zu entdecken gab: dass sie als Gottes Verheißung ihre Erfüllung sowohl in dem Geschehen finden, von dem das Evangelium spricht, als auch in der paulinischen Verkündigung des Evangeliums selbst.
Die beiden Teilverse 3b und 4a haben nach Wolter (W86) in ihrem Zusammenhang „eine alttestamentliche Grundlage in der Nathanweissagung 2Sam 7,12-14“, die wahrscheinlich bereits in einer „Tradition, auf die Paulus hier zurückgreift, … auf Jesu Auferstehung“ übertragen worden ist.
Das liegt auch darum nahe, weil der Prophet nach der Septuaginta-Fassung von 2Sam 7,12 ankündigt, dass Gott Davids „Samen erwecken wird“ (anastēsō to sperma sou).
Die Gegenüberstellung (W75) von „nach dem Fleisch“ und „nach dem Geist der Heiligkeit“ in den Versen 3 und 4 kennzeichnet nach Wolter (W86f.)
zwei unterschiedliche Aspekte oder Betrachtungsweisen oder auch Wirklichkeiten. … kata sarka {nach dem Fleisch} bezeichnet demnach die menschlicher Wahrnehmung zugängliche menschliche Wirklichkeit Jesu. … Demgegenüber steht kata pneuma hagiōsynēs {nach dem Geist der Heiligkeit} für die vom Geist bestimmte Wahrnehmung, die die Wirklichkeit des Gottesverhältnisses Jesu zu erkennen vermag …
Dass Paulus (W87) „in V. 4b ‚unser Herr‘ sagt und damit die Gesamtheit aller Christen jenseits der Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern in den Blick nimmt“, spricht Wolter zufolge <33>
gegen die Annahme, dass Paulus mit der Betonung der davidischen Abstammung Jesu (V. 3b) dessen „Bedeutung für die Juden“ hervorheben wolle und darum die erste Zeile „vom Messias Israels“ sprechen lasse, während er in V. 4b Jesu „österliche lnthronisation … zum Kyrios … in bezug zur Heidenwelt“ in den Vordergrund stelle. … Man sollte nicht trennen, was Paulus gerade verbinden will.
Stattdessen verfolgt Paulus (W88)
mit dem Hinweis auf Jesu Herkunft „aus der Nachkommenschaft Davids“ eine ganz ähnliche Intention wie mit V. 2: Er will kenntlich machen, dass der Inhalt seines Evangeliums in den eschatologischen Heilshoffnungen Israels verwurzelt ist.
Es ist dann „Jesu Auferstehung“, durch die Gott
an Ostern in ungebrochener Kontinuität mit der Erwartung gehandelt [hat], die sich auf 2Sam 7,12-14 gründet, weil es ein Nachkomme Davids war, den er zu seinem Sohn gemacht hat.
Weitreichende Schlüsse zieht Wolter aus den Worten en dynamei in Vers 4, von ihm übersetzt (W75) mit „in Macht“. Sie charakterisieren (W90) den „Sohn Gottes“ näher, indem Paulus mit ihnen „die Hoheitsstellung des Sohnes kenntlich“ macht und „ein Attribut Gottes (vgl. Dtn 3,24; Jos 4,24; 1Chr 29,11; PsLXX 67,35; 76,15; 150,1; Jer 16,21)“ auf ihn überträgt:
Die Übertragung auf den Sohn will anzeigen, dass dessen Auferweckung von den Toten mit einer Erhöhung einherging, die ihn ganz auf die Seite Gottes gestellt hat.
Es bleibt abzuwarten, was genau Wolter damit sagen will. Unterstellt er Paulus, dass bereits dieser wie die späteren christlichen Konzile Jesus mit Gott gleichsetzt? Oder ist Jesus als Messias des Gottes Israels in seinem Wollen und Wirken ganz und gar von dessen befreiendem NAMEN her zu begreifen?
↑ Römer 1,5-6: Die „Hörerschaft des Vertrauens“ unter allen Völkern als der Auftrag des Paulus
1,5 Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt,
den Gehorsam des Glaubens
um seines Namens willen aufzurichten
unter allen Heiden,
1,6 zu denen auch ihr gehört,
die ihr berufen seid von Jesus Christus.
[29. November 2024] Mit Vers 5 kommt Paulus nach Wolter (W91) auf seine Selbstvorstellung als Apostel zurück. Diese Beauftragung erfolgte von Gott durch „die paulinische Christusvision vor Damaskus“, die er bereits in Galater 1,15-16 beschrieben hatte:
Paulus hat „Gnade und Apostelamt“ dadurch empfangen, dass Gott ihm ‚seinen Sohn offenbart hat‘ (hierauf nimmt V. 5a Bezug), ‚damit er ihn unter den Heiden frohbotschaftet (euangelizesthai)‘…
Dabei bedeutet charis, „Gnade“, nichts anderes als genau „den apostolischen Auftrag, den Gott ihm übergeben hat“, denn „‚charis geben‘ bezeichnet stets ein Handeln von oben nach unten: von Gott gegenüber den Menschen oder von Herrschern gegenüber den Untertanen“.
Worauf zielt (W92) die „‚Aussendung‘ (apostolē)“ des Paulus? „Paulus spricht hier vom ‚Gehorsam‘, der im ‚Glauben‘ besteht, bzw. er charakterisiert den Glauben als Gehorsam.“ Ganz ähnlich (W93) hatte Paulus schon in Galater 3,2.5 „von der akoē pisteōs (dem ‚Hören des Glaubens‘)“ gesprochen (von Luther ziemlich frei mit „Predigt vom Glauben“ übersetzt). Damit nimmt
Paulus … das Gottesverhältnis in den Blick, denn der „Gehorsam“, von dem er hier spricht, ist der Gehorsam gegenüber Gott. Er qualifiziert damit den „Glauben“, den seine Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus unter panta ta ethnē {allen Völkern} (V. 5c) finden will, als diejenige Antwort, die Gott schon immer gegenüber seinem eigenen Wort verlangt hat – gerade von Israel, seinem erwählten Volk. Mit dem Ausdruck „Gehorsam des Glaubens“ bezeichnet Paulus darum ganz gezielt die Zustimmung zu seiner Verkündigung und die Annahme des Evangeliums: dass Gott durch Jesus Christus zum Heil aller Menschen gehandelt hat und dass durch niemand anderen als durch Jesus Christus das Heil Gottes erschlossen wird. Es ist eben diese Reaktion, die Zustimmung zu dieser Botschaft, die Gott als den ihm geschuldeten „Gehorsam“ akzeptiert.
Dass es (W95) „niemand anderer als Jesus Christus ist, durch den das Heil Gottes für alle Menschen erschlossen wird“, bestätigt Paulus nach Wolter (W75) auch dadurch, dass der „Gehorsam des Glaubens“ als die Zielsetzung seines apostolischen Auftrags „um seines Namens willen“ anzustreben ist. Mit keinem Wort erinnert Wolter allerdings daran, dass der Name Jesu – nach Jankowski (J55) „Jeschuah: er befreit“ – vom befreienden NAMEN des Gottes Israels her gefüllt werden muss, um das (W95) „Heil Gottes für alle Menschen“ angemessen zu begreifen.
Wen meint Paulus, wenn er seinen Auftrag als ausgerichtet auf Gehorsam des Glaubens en pasin tois ethnesin, „unter allen Völkern“, versteht? Zuzustimmen ist Wolter (W94) darin, dass er dazu „nicht auch die Juden rechnet, sondern lediglich die Gesamtheit der nichtjüdischen Menschen“, üblicherweise „Heiden“ genannt, Juden würden von „Gojim“ sprechen. Tatsächlich hatte Paulus die
Ausrichtung seiner Berufung zum Verkündiger des Evangeliums auf die „Heiden“ … schon in Gal 1,16 hervorgehoben. Er betont sie auch sonst immer wieder als zentralen Bestandteil seines apostolischen Selbstverständnisses (Röm 11,13; 15,16.18; Gal 2,2.7-9; 1Thess 2,16).
Völlig zu Recht geht Wolter auch davon aus (W75), dass Paulus sich mit den an „unter allen Heiden“ anknüpfenden Worten en hois este kai hymeis, „zu denen auch ihr gehört“, an nichtjüdische Menschen wendet, die in Rom zum Vertrauen auf Jesus gefunden haben. Strittig ist zwischen ihm und Jankowski aber die Frage, ob das die einzigen Adressaten des Paulus sind, wie Wolter annimmt (W95):
Selbst wenn es unter den römischen Christen auch Juden gab, spricht Paulus sie immer wieder als Heiden an (vgl. in diesem Sinne vor allem 11,13.25.30f). Diese Mitteilung ist vor allem darum sinnvoll, weil Paulus die Adressaten seines Briefes nicht lediglich darüber informiert, dass sie zu den nichtjüdischen Völkern gehören. Wenn man sie von V. 5 her liest, wird vielmehr deutlich, dass Paulus die intendierten Leser mit Hilfe dieser Worte in seinen apostolischen Zuständigkeitsbereich hineinholen will: Auch sie gehören zu den ethnē, auf die sich nach V. 5a-c sein apostolischer Auftrag bezieht. Mit Hilfe des Relativsatzes will Paulus seinem Brief an die römischen Christen, die ohne ihn zum Christus-Glauben gefunden hatten, so etwas wie eine apostolische Legitimation verleihen.
Wolters Argumentation neigt zu seltsam abwegigen Zügen, wenn er meint, der unsinnigen Vorstellung widersprechen zu müssen, Paulus hätte seine Adressaten über ihre eigene Zugehörigkeit zu den nichtjüdischen Völkern informieren wollen. Wer sollte so etwas annehmen? Abwegig ist aber auch sein Argument, Paulus spreche im Römerbrief überall ausschließlich Heidenchristen an, weil er dies ausdrücklich in 1,6-7.13 und in 11.13.25.30f. tut. Zumindest in 2,17 spricht Paulus ebenso ausdrücklich einen Juden als Juden an, was auf jeden Fall beweist, dass er ebenso zwischen der Anrede an verschiedene Adressaten wechselt, wie er das von ihm verwendete Wir auf verschiedene Personenkreise bezieht, worauf Wolter selbst in der Auslegung der Verse hinweist, mit denen wir uns gerade beschäftigen. Denn (W91) zwischen Römer 1,4 und 1,5 „wechselt … das grammatische Subjekt unvermittelt vom gesamtchristlichen Wir … zum apostolischen Wir“, also von „unserem Herrn“ zu „durch den wir empfangen haben“. Es muss also schon inhaltlich näher begründet werden, warum Paulus angeblich in seinem Brief an die Gemeinde in Rom, die Paulus noch nicht kennt, nur eine ganz bestimmte Gruppe ansprechen soll. Wenn ich Predigthörer anspreche, dann nehme ich doch auch manchmal unterschiedliche Gruppierungen der Gottesdienstgemeinde in den Blick, rede etwa die Konfirmanden persönlich an oder eine Familie, deren Kind getauft werden soll, oder Menschen mit besonderen Erfahrungen wie die Russlanddeutschen oder Flüchtlinge aus dem Iran.
Abgesehen davon scheint Wolter davon auszugehen, dass Paulus seinen Auftrag, unter den Völkern für das Vertrauen auf Jesus zu werben, völlig losgelöst von der jüdischen Gemeinschaft, zu der ja Paulus selbst gehörte, ausgeführt hätte. Dagegen spricht aber, wie bereits gesagt, dass Paulus überall, wo er hinkam, immer zuerst die jüdischen Versammlungsorte aufsuchte und die ersten Menschen aus den Völkern, die er anspricht, unter den Gottesfürchtigen in den Synagogen findet (siehe oben: Alle Juden in Rom als Hauptadressaten des Römerbriefs).
Nach Gerhard Jankowski (J55) hat Paulus vom Messias Jesus her
seinen „Geschäftsauftrag“, sein Apostolat. Worin besteht der? Die Völker zu schulen, daß sie teilhaben können an der Befreiung.
Das ist nun wirklich neu. Ein Gesandter hat das Volk Gottes zu schulen, es zu unterrichten in der Thora. Dazu ist er beauftragt, dazu ist er ausgebildet worden. Die anderen Völker, die Gojim, können nicht in der Thora geschult werden. Sie kennen sie nicht. Wenn sie überhaupt unterrichtet werden können, wenn sie überhaupt teilhaben können an der messianischen Befreiung, dann kann das nur geschehen in der Hörerschaft des Vertrauens.
Im Unterschied zu Wolter geht Jankowski also nicht davon aus, dass Paulus sich bereits vom Judentum verabschiedet hat und den Völkern ein zwar an das Alte Testament anknüpfendes, aber doch sehr verändertes Evangelium zu verkündigen hat, sondern dass Paulus im Auftrag Jesu die Völker in die Verheißungen „der messianischen Befreiung“ an Israel mit hineinnehmen will. Die Worte hypakoē tēs pisteōs, „herkömmlich mit Gehorsam des Glaubens übersetzt“, wie es ja auch Wolter tut, will er daher lieber mit „Hörerschaft des Vertrauens“ wiedergeben. Zwar kann „hypakouein/hypakouē …in der Tat die Bedeutung von gehorchen/Gehorsam haben“. Aber im jüdischen „Lehrhaus“, in dem man in der Thora geschult wird,
geschieht das Lernen vor allem durch das Hören, das Hören auf die Worte der Schrift und der Überlieferung, die durch die Lehrer Israels ausgelegt werden. Im Grunde ist jeder in Israel ein Hörender, beginnt doch das „Glaubensbekenntnis Israels“ mit der Aufforderung schma Jisrael, höre Israel. Das Gehörte ist immer auch die vermittelte Tradition. … Das Hören im Lehrhaus ist immer mit Disziplin verbunden. Von daher bot sich das Nomen hypakoē, das Gehorsam konnotiert, an, um diesen Vorgang des Lernens zu umschreiben.
Wie geht Paulus aber damit um, dass nach „allem, was er aus Rom berichtet bekommen hat, … auch dort Gojim den Ruf des Messias gehört und sich ihm vertrauensvoll zugewendet haben“? Er kann und will sie nicht einfach an der Thora schulen, als wären sie Juden, und hat sich bereits im Galaterbrief vehement dagegen gewandt, die Menschen aus den Völkern zur Beschneidung und zur Befolgung der gesamten Tora zu nötigen. Stattdessen sind sie für ihn einfach (G9) klētoi Iēsou Christou, „gerufen von Jesus, dem Messias“, und nach Jankowski (J55) haben die Gojim
zuerst zu hören, was Befreiung ist, bevor sie vertrauen können. Es ist Aufgabe des messianischen Apostels, sie zu dieser Hörerschaft zu rufen und zu schulen.
↑ Römer 1,7: Friedensgruß „an alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom“
1,7 An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom:
Gnade sei mit euch und Friede
von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!
[30. November 2024] Gerhard Jankowski war schon in seiner Einleitung (siehe oben: Alle Juden in Rom als Hauptadressaten des Römerbriefs) ausführlich darauf eingegangen (J55), dass Paulus sich mit dem Römerbrief zwar auch an Menschen aus den Völkern richtet, die „den Ruf des Messias gehört und sich ihm vertrauensvoll zugewendet haben“, aber doch „vor allem an alle Juden in Rom, die Paulus hier ganz bewußt mit den Ehrennamen Geliebte Gottes und gerufene Heilige anredet“. Hier wiederholt er das nur kurz und fügt ergänzend hinzu (J56):
Er hat sich damit all denen vorgestellt. Es ist eine merkwürdige Vorstellung. Nichts Persönliches ist zu hören. Er stellt sich vor mit dem, was seine Sache ist, seine Aufgabe zur Zeit: die Gojim zur Hörerschaft des Vertrauens zu rufen. Und gleichzeitig kommt in dieser Vorstellung zutage, wie er den Messias versteht. Wie er das formuliert in der ihm eigenen komprimierten, fast formelhaften Art, macht deutlich, daß er in nichts von dem abweicht, was überall vom Messias gedacht wird. Neu ist, daß der Messias, für den er eintritt, kein Unbekannter ist, sondern einen Namen trägt und daß er ein Messias für die Völkerwelt, für die Gojim, ist. Das wird er noch erklären müssen, denn schließlich geht es um den Messias Israels.
Auch Wolter geht davon aus, dass Paulus (W96) „nicht an alle Bewohner Roms“ schreibt, „sondern nur an diejenigen, die er ‚Geliebte Gottes‘ und ‚berufene Heilige‘ nennt“. Aber ihm zufolge meint Paulus damit nur Menschen aus den Völkern, die zum Glauben an Jesus gekommen sind (siehe oben: Schreibt Paulus den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen?). Ich bin gespannt auf Wolters Begründung.
Natürlich weiß Wolter genau wie Jankowski, dass die
drei Adjektive „geliebt“, „berufen“ und „heilig“, mit denen Paulus seine Adressaten hier charakterisiert, … in der alttestamentlich-jüdischen Tradition die Erwählung Israels als Gottesvolk kennzeichnen.
Insbesondere „die Heiligkeit“ gilt „als kennzeichnendes Merkmal Israels“ und ist (W97)
aufs Engste mit seiner Erwählung zu Gottes Eigentumsvolk verbunden … Das Gottesvolk bekommt damit Anteil an einer Eigenschaft, die Gottes Gott-Sein ausmacht. Nach den alttestamentlichen Texten stellt aber nicht die Erfüllung der Tora Israels Heiligkeit her, sondern einzig und allein Gottes Erwählung. Die Erfüllung der Tora dient der Darstellung und Veranschaulichung sowie der Bewahrung dieser Heiligkeit. Durch ein Leben nach der Tora erfährt Israel täglich aufs Neue, dass es sich tatsächlich von den anderen Völkern unterscheidet.
Während Jankowski all dies sehr folgerichtig so deutet, dass Paulus mit den erwähnten Adjektiven agapētoi, klētoi, hagioi eben genau solche geliebten, berufenen und heiligen Menschen aus dem Volk Israel anspricht, die in Rom leben und zu denen der Messias Jesus außerdem Menschen aus den Völkern hinzu berufen hat, setzt Wolter einfach voraus, dass Paulus diese
Gottesvolk-Prädikationen in Röm 1,7a … auf die in Rom lebenden christlichen ‚Heiden‘ (ethnē) überträgt und auf diese Weise zum Ausdruck bringt, dass auch den nichtjüdischen Christenmenschen derselbe Status zukommt wie Israel.
Verwunderlich ist in diesem Satz allerdings die Verwendung des Wörtleins „auch“, denn damit müsste Wolter doch zugleich voraussetzen, dass Israel eben diesen Status nicht verloren hat. Warum sollte Paulus dann aber seinen Brief ausschließlich an Menschen aus den Völkern richten und nicht auch an Juden, die in Rom leben? Kann er wirklich „ein und dieselben Menschen“ aus den Völkern „erst klētoi Iēsou Christou (V. 6) und dann klētoi hagioi“ nennen, ohne damit zu rechnen, dass es auch Juden in Rom gibt, die seine Anrede in Vers 7 auf sich beziehen würden? Schon allein das, was Lukas noch Jahrzehnte später in Apostelgeschichte 28,17ff. schreibt, belegt eindeutig, dass Paulus in einem Brief nach Rom auf keinen Fall die Juden als Adressaten außer Acht gelassen hätte.
Zu den Grüßen, die Paulus nach Rom sendet, äußert sich Jankowski nicht; Wolter (W98) hebt hervor, dass
das Begriffspaar charis kai eirēnē … in keinem einzigen vorpaulinischen Brief begegnet … Paulus wünscht seinen Adressaten, dass ihnen Gott und Jesus Christus als der an Gottes Seite erhöhte Herr die Heilsgüter „Gnade und Friede“ zuteil werden lassen.
Abschließend geht Wolter in seiner Auslegung von Römer 1,1-7 auf die „theologische Spannung“ ein, die in diesen Versen zutage getreten ist und
nach einer intensiven Bearbeitung verlangt: Wie kann es sein, dass die Verheißungen, die Gott seinem Eigentumsvolk Israel hat zuteil werden lassen, in der paulinischen Christusverkündigung unter den Heiden und in deren Christus- Glauben Erfüllung finden? Es wird sich im weiteren Verlauf des Römerbriefes zeigen, dass es eben diese Frage ist, um deren Beantwortung Paulus in seinem Schreiben ringt.
Die Unterschiede zum vorhin skizzierten Umgang Jankowskis mit derselben Fragestellung sind deutlich. Jankowski zufolge (J55) wendet sich Paulus im Römerbrief auf der einen Seite an Menschen aus den Völkern, um ihre Schulung in der „Hörerschaft des Vertrauens“ auf den Messias Jesus weiterzuführen. Auf der anderen Seite aber ist noch erheblich mehr an Schulungsarbeit notwendig, um die Juden in Rom davon zu überzeugen, dass der Messias Jesus eben diese Menschen aus den Völkern in das befreiende Wirken des Gottes Israels mit hineinnimmt.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 1,1-7
1,1 Paulus,
Sklave des Messias Jesus,
gerufener Gesandter,
ausgesondert
für die befreiende Botschaft Gottes,
1,2 die er zuvor verheißen hat
durch seine Propheten
in heiligen Schriften
1,3 von seinem Sohn
– der geworden ist
aus dem Samen Davids
nach dem Fleisch,
1,4 der eingesetzt ist
als Sohn Gottes in Macht
nach der Inspiration der Heiligung
aus der Auferstehung von den Toten –,
Jesus, dem Messias, unserem Herrn.
1,5 Durch ihn haben wir empfangen
Gnade und Gesandtschaft
zur Hörerschaft des Vertrauens
unter allen Gojim
um seines Namens willen,
1,6 unter denen auch ihr seid,
Gerufene von Jesus, dem Messias.
1,7 An alle, die in Rom Geliebte Gottes sind,
gerufene Heilige:
Gnade euch und Friede
von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus, dem Messias.
↑ Paulus wirbt einführend um Aufmerksamkeit für seine Botschaft (Römer 1,8-17)
[1. Dezember 2024] Nach Gerhard Jankowski (J56) will Paulus in den nun folgenden Versen davon „reden, warum er diesen Brief nach Rom schreibt.“ Die Verse 8-15 legt er unter dem Stichwort „Die Verpflichtung“ aus, auf (J59) die Verse 16-17 geht er unter der Überschrift „Die Botschaft“ ein. Zunächst (J57) äußert Paulus seine Dankbarkeit und seinen Wunsch, „nach Rom zu gehen“, außerdem aber (J58f.) spricht er über seine Verpflichtung, die er als Frohbotschafter für die Gojim übernommen hat. Und schließlich stellt er plakativ und ansatzweise die Umrisse der befreienden Botschaft dar, für die er bei den Juden werben und in die er die Nichtjuden einbeziehen will.
Obwohl der Römerbrief nach Michael Wolter weder (W57ff.) ganz genau der Art entspricht, wie üblicherweise zu seiner Zeit Briefe verfasst wurden, noch (W61ff.) als Rede in eine der in der Antike verwendeten Gattungen der Rhetorik eingeordnet werden können, nennt er (W101) den Abschnitt Römer 1,8-17 ein „Proömium“, wie in „der antiken Rhetorik“ der „Einleitungsteil der Rede“ bezeichnet wird.
Dieses „Proömium“ enthält zunächst (W102) in Vers 8 einen „Danksagungsbericht“, dann „beschreibt Paulus seine Verbundenheit mit den römischen Christen (V. 9-15)“, indem er (W103) „Motive der antiken Freundschaftsethik“ aufnimmt und seine „bisherigen Besuchsabsichten“ schildert.
Abschließend lässt Wolter auch die Verse 16-17 „als Bestandteil des Proömiums gelten, weil sie genauso mit einer paulinischen Selbstaussage beginnen (V. 16a) wie alle Sätze ab V. 8.“ (W128):
Mit ihnen knüpft Paulus an seine Ausführungen über das Evangelium und seinen Apostolat im Präskript (V. 1-7) an. Er nimmt aus ihnen die Stichworte „Evangelium“ und „Glaube“ aus V. 1.5 auf und stellt sie in den Vordergrund. Nachdem er in V. 3-4 den Inhalt des Evangeliums identifiziert hat, beschreibt er in V. 16b-17 dessen Eigenart.
↑ Römer 1,8: Danksagung für das Vertrauen von „allen“ in Rom, das im ganzen kosmos verkündet wird
1,8 Zuerst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle,
dass man von eurem Glauben in aller Welt spricht.
[2. Dezember 2024] Fast alle Briefanfänge des Paulus (W102) enthalten einen „Danksagungsbericht“, in dem er „den Empfängern des Briefes“ mitteilt, „dass er Gott dankt“, und zwar um auf „diese Weise die Adressaten der Briefe indirekt [zu] loben“. In Römer 1,8 sind es nach Michael Wolter (W104) „die römischen Christen“, die er „davon in Kenntnis“ setzt, „dass er Gott im Moment des Schreibens dankt, weil man von ihrem Glauben in der ganzen Welt erzählt.“ Wenn dieses Lob Wolter zufolge (W104f.) in diesem Zusammenhang „rhetorisch als captatio benevolentiae fungiert“, also als Umschmeicheln der Angesprochenen, damit sie seinen Brief aufmerksam lesen, klingt dies so, als übertreibe Paulus maßlos (W105), was Wolter zufolge auch die Formulierung „in der ganzen Welt“ bestätigt.
Inhaltlich basiert der „Ausdruck ‚euer Glaube‘ (pistis hymōn…)“ für Wolter auf dem „ganz spezifischen Glaubensverständnis“, das er bereits in der Auslegung von Römer 1,5-6 zum Ausdruck gebracht hatte und hier noch einmal zuspitzt:
Bezeichnete pistis ursprünglich die Annahme des von Paulus verkündigten Evangeliums …, so steht der Begriff hier für das dauerhafte Festhalten an dieser Annahme. „Glaube“ ist damit verstanden als eine Lebensorientierung, die sich auf das Evangelium gründet … Die Besonderheit der Rede von „eurem Glauben“ besteht außerdem darin, dass der Glaube nicht lediglich als „Haltung des Menschen“ gilt…, sondern als Kennzeichen einer Gruppe. Der Glaube leistet damit für die christlichen Gemeinden genau dasselbe wie für das Judentum die Befolgung der Tora: Er stiftet überindividuelle Identität und soziale Kohäsion {Zusammenhalt}.
Gegen Wolters feste Überzeugung, Paulus rede im gesamten Römerbrief ausschließlich Heidenchristen an, möchte ich hier zu bedenken geben, wie unwahrscheinlich es wäre, dass Paulus seinen Dank (W100) peri pantōn hymōn, „euch aller wegen“, eben nicht an alle ausspricht, sondern diejenigen, die Wolter Judenchristen nennt, davon aussparen würde. Interessant ist Wolters Hinweis (W105), dass Paulus mit „dem Ausdruck theos mou … alttestamentliche Redeweise“ übernimmt, „die in der hellenistischen Umwelt unbekannt ist.“ Spricht das nicht zusätzlich dafür, dass Paulus wirklich alle in Rom anspricht, Menschen aus den Völkern und Juden?
Für Gerhard Jankowski (J57) ist es selbstverständlich, dass der Dank des Paulus „für alle, die in Rom sind“, bestimmt ist. Dieser Dank bezieht sich (J56) auf „eure Treue“ bzw. (G9) euer „Vertrauen“, und Jankowski (J57) nimmt besondere Gründe für diesen Dank gerade im Blick auf die dem Paulus, wie Apostelgeschichte 18,2 andeutet, bekannt gewordenen Unruhen in Rom an:
Sollen wir ergänzen: die in Rom geblieben oder wieder da sind? Der Dank hat einen Grund. Die in Rom sind treu geblieben, und das ist durch Boten im ganzen Imperium bekannt geworden. Treu geblieben sind die jüdischen Menschen in Rom und alle, die sich für den messianischen Weg entschieden hatten. Spielt Paulus hier auf das von Sueton erwähnte Edikt des Claudius gegen die stadtrömischen Juden an? Was auch immer zu der Zeit in Rom geschehen ist, ob es zu messianischen Unruhen kam oder zu Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaften und welche Maßnahmen auch von der Regierung des Claudius dagegen ergriffen worden, es ist zumindest unter den anderen jüdischen Gemeinschaften im Imperium bekannt geworden.
Dass Paulus „hier das Wort kosmos“ verwendet, von Jankowski ursprünglich (J56) mit „Weltsystem“ übersetzt, später (G9) mit „Weltordnung“, geschieht nicht zufällig, so dass Jankowski (J57) von diesem Stichwort aus weitere Vermutungen darüber anstellt, was der Anlass für den Römerbrief gewesen sein kann:
Es umschreibt die von den Römern den unterworfenen Völkern aufgezwungene Ordnung ihres Herrschaftssystems. Wo das bedroht wurde, erst recht, wenn das in der Kapitale geschah, mußte eingegriffen werden, auch wenn die Bedrohung für den Bestand der ganzen Ordnung recht unbedeutend gewesen sein mag. Die jüdische Gemeinschaft in Rom hat sich nicht einschüchtern lassen, auch wenn es zu einigen Verhaftungen gekommen sein mag. Sie ist eben treu geblieben in ihrer facettenhaften Zusammensetzung. Treu geblieben sind auch die Nichtjuden, die dem messianischen Ruf gefolgt waren. Wahrscheinlich standen sie unter besonderem Druck, sowohl von seiten der römischen Verwaltung wie von seiten der jüdischen Gemeinden. Vielleicht waren sie es, die den Paulus gebeten hatten, ihnen mit einer Art „Grundsatzpapier“ für die weiteren Diskussionen zu helfen. So mag ihre Bitte der Anlaß für den Brief gewesen sein.
↑ Römer 1,9-12: Paulus will nach Rom kommen, um im gegenseitigen Vertrauen mitermutigt zu werden
1,9 Denn Gott ist mein Zeuge,
dem ich in meinem Geist diene durch das Evangelium von seinem Sohn,
dass ich ohne Unterlass euer gedenke
1,10 und allezeit in meinem Gebet flehe,
ob sich‘s wohl einmal fügen möchte durch Gottes Willen,
dass ich zu euch komme.
1,11 Denn mich verlangt danach, euch zu sehen,
damit ich euch etwas mitteile an geistlicher Gabe,
um euch zu stärken,
1,12 das ist, dass ich zusammen mit euch getröstet werde
durch euren und meinen Glauben, den wir miteinander haben.
In den Versen 9 und 10 (W106) „bringt Paulus … einen Bericht über seine alltägliche Gebetspraxis“, in dem er allerdings anders als in seinen anderen Briefen
nicht von dem Dank [spricht], den er Gott gegenüber ausspricht, wenn er in seinen Gebeten der Adressaten gedenkt; es geht in ihm vielmehr darum, dass er Gott ständig darum bittet, dieser möge ihn einen Weg zu den römischen Christen finden lassen.
Die „Schwurformel“, mit der Paulus „Gott als Zeugen“ für seine Behauptung anruft, veranlasst Wolter zu der Bemerkung (Anm. 33):
Vom Schwurverbot Jesu (Mt 5,34a; s. auch Jak 5,12) hat Paulus entweder nichts gehört, oder er setzt sich ebenso leichtfüßig über es hinweg, wie er das in 1Kor 7,10f und 9,14f mit anderen Weisungen Jesu tut.
Seinen Dienst für Gott (W106) durch „seine Verkündigung des Evangeliums“ drückt Paulus in Vers 9b mit dem Begriff latreuō aus, „der im hellenistischen Judentum … die Gottesverehrung bezeichnet“ und in der Septuaginta zum ersten Mal in 2. Mose 3,12 vorkommt. Und (W107) mit der „Formulierung ‚mein Geist‘“ stellt Paulus Wolter zufolge klar,
dass er Gott bei der Verkündigung des Evangeliums nicht nur äußerlich dient, sondern mit seiner ganzen Person, unter Einsatz seiner Lebenskraft.
Der „Verweis auf den Willen Gottes“ in Vers 10 hat nach Wolter „eine entlastende Funktion“; dass es zu dem Besuch in Rom, den er „für längst überfällig hält“, bisher nicht gekommen ist, hat also „nicht Paulus selbst zu verantworten“. Darum will Wolter auch „das Verb euodoō nicht metaphorisch (‚gelingen, Erfolg haben‘), sondern wörtlich … verstehen“. Das Wort besteht nämlich aus den Teilen eu = „gut“ und hodos = „Weg“, so dass er übersetzt (W100): „dass ich vielleicht einmal durch Gottes Willen auf einen guten Weg geführt werde, zu euch zu kommen.“
In den Versen 11 und 12 erklärt Paulus Wolter zufolge (W107), „warum er Gott beim Beten dauernd mit dem Wunsch in den Ohren liegt, zu den Christen in Rom geführt zu werden.“ Paulus will ihnen weitergeben (W108), „was er selbst als Gnadengabe von Gott empfangen hat“, dadurch soll die „bereits existierende Gemeinschaft … gefestigt werden“.
Wie diese Stärkung erfolgt, präzisiert Paulus mit dem Wort symparakalein {mit-ermutigen], indem nämlich (W108f.) „Apostel und Gemeinde … gemeinsam Ermutigung von Gott“ erfahren. Diese „Gemeinsamkeit“ wird noch weiter betont, indem die Mitermutigung erfolgt (W100) „durch das gegenseitige Vertrauen, von euch und von mir.“
Interessant ist, dass Wolter (W109) das Wort pistis in diesem Fall ausnahmsweise nicht mit „Glauben“ übersetzen will, sondern mit „Vertrauen“, da „Paulus hier von der pistis spricht, die sich auf das jeweilige Gegenüber richtet“. Bezeichnend ist wiederum, dass Wolter Belege „für ein solches Verständnis der paulinischen Formulierung ausschließlich in der außerbiblischen „antiken Literatur“ findet, aus der er auch „die Nähe dieser Redeweise zur antiken Freundschaftsethik“ erschließt:
Gegenseitiges Vertrauen (pistis en allēlois) ist das Kennzeichen von Freundschaft, und eben sie ist es, die Paulus den römischen Christen mit den Worten dieses Verses anbietet.
Wolter scheint derart fixiert zu sein auf seine Gleichsetzung der neutestamentlichen pistis mit einem Glauben, der bestimmte Heilstatsachen als Wahrheit annimmt, dass er die Frage völlig ausblendet, ob nicht für pistis in der gesamten Bibel zunächst einmal die Bedeutung „Vertrauen“ erwogen werden muss, wo sie die Beziehung zu Gott oder zum von Gott gesandten Messias beschreibt.
Gerhard Jankowski geht nur kurz auf die Reisepläne des Paulus in den Versen 9-12 ein (J57):
Er jedenfalls plante, nach Rom zu gehen. Das betont er fast emphatisch. Er möchte die in Rom sehen, sie stärken und stützen, möchte sich mit ihnen zusammen ermutigen lassen durch gegenseitiges Vertrauen, durch ihre und seine Treue.
Allerdings macht er sich anders als Wolter Gedanken darüber, warum Paulus einen solchen Nachdruck auf das gegenseitige Vertrauen legt:
Das Vertrauen ist gefragt in diesen Zeiten, in denen untereinander gestritten wird um den richtigen Weg zur Befreiung und man einander verdächtigt, die falsche Linie zu verfolgen. Auch Paulus ist in den Verdacht geraten, die Sache Israels verraten zu haben, ein Häretiker zu sein, mit dem Feind zu paktieren.
Jankowski setzt also nicht wie Wolter voraus, dass Paulus bereits an eine vorwiegend heidenchristlich geprägte Gemeinde von Christen schreibt, die sich nach in ihrem Abschied vom Judentum noch einmal rückblickend auf das besinnt, was sie im Glauben an Jesus Christus hinter sich gelassen hat. Stattdessen sieht er Paulus als einen Juden, der innerhalb einer von harten Auseinandersetzungen zerrissenen jüdischen Gemeinschaft mit durchaus harten argumentativen Bandagen für seine befreiende Botschaft vom Messias Jesus eintritt. Es ist in seinen Augen kein Verrat an Israel, wenn Menschen aus den Völkern im Vertrauen auf den Messias Jesus in die Gemeinschaft mit Israel hineinberufen werden.
↑ Römer 1,13-15: Paulus will in Rom „Frucht haben“ und weiß sich „Griechen und Barbaren“ verpflichtet
1,13 Ich will euch aber nicht verschweigen, Brüder und Schwestern,
dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen
– wurde aber bisher gehindert –,
damit ich auch unter euch Frucht schaffe
wie unter andern Heiden.
1,14 Griechen und Nichtgriechen,
Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig;
1,15 darum, soviel an mir liegt, bin ich willens,
auch euch in Rom das Evangelium zu predigen.
[3. Dezember 2024] Damit hat Paulus nach Gerhard Jankowski (J56) aber noch nicht deutlich genug gemacht, warum er schon lange unbedingt nach Rom kommen will. Er will tina karpon echein, „ einige Frucht“ haben „sowohl bei euch wie auch bei den übrigen Gojim“. So möchte Paulus (J57)
auch in Rom die Früchte seiner Arbeit einfahren bei den Juden und den Nichtjuden, möchte sehen, daß der messianische Weg möglich ist trotz allem Widerspruch und gegen alle bisherige Erfahrung.
Der „messianische Weg“, das Vertrauen auf den Messias Jesus, besteht für Jankowski also nicht einfach im Glauben an das Heil durch Jesus Christus, das allen Menschen gilt gleich welcher Herkunft, ohne dass an die Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden überwunden wird. Stattdessen wird Heil genau dadurch in Gang gesetzt, indem sich beide im Vertrauen auf den Messias miteinander versöhnen lassen (J57f.):
Die anderen Völker, die Gojim, und das Volk Israel. Das ist das große Problem. Die einen möchten es lösen, indem sie alle zu Juden machen; andere möchten mit Gewalt die Autonomie wenigstens in Erez Jissrael {Land Israel}, das z.Z. als römische Provinz Judäa heißt, erkämpfen; und wieder andere möchten sich am liebsten heraushalten aus allem und einigermaßen in Ruhe leben, ausgestattet mit ein paar Privilegien, mitten unter der Masse der Nichtjuden.
Demgegenüber vertritt Paulus eine Haltung, die Jankowski zufolge (J58) „einigen in den Ohren gellen“ muss, wenn er hier ausdrücklich sagt: „Griechen und Barbaren, Weisen und Unwissenden bin ich verpflichtet.“ Welches gewaltige Projekt Paulus damit anstrebt, wird deutlich, wenn man sich klar macht, worauf er mit diesen Stichworten anspielt:
Griechen und Barbaren, das ist schärfster Gegensatz. Die Griechen, Hellenes, sind die Überlegenen, die Menschen mit Kultur, mit der richtigen Sprache. Sie sind die Herren. Die Barbaren, Barbaroi, sind die Unterlegenen, die Primitiven, minderwertig, kulturlos, geborene Sklaven. Es gilt: Ewiger Krieg besteht zwischen den Barbaren und allen Griechen und wird bestehen. Aufgrund der unveränderlichen Natur … sind sie Feinde. <34> Zu den Barbaren zählten nach dieser Ideologie auch die Juden. Die Römer haben diese rassistische Ideologie bei ihrem Aufstieg zum Herrenvolk voll und ganz übernommen. Jede der alten Familien versuchte in ihrem Stammbaum einen griechischen Stammvater nachzuweisen. Augustus läßt als ersten Staatsbau der imperialen Ära in Rom einen Tempel für den griechischen Gott Apollon errichten. Seine Residenz wird neben diesem Tempel gebaut. Das entspricht vollkommen der Praxis der hellenistischen Herrscher. Und im Laufe der Zeit nimmt die Herrschaft der Kaiser immer mehr Züge hellenistischer Herrschaftsformen an. Rom saugt als Beherrscherin der Völker diese hellenistische Ideologie in sich auf.
Paulus greift mit den Stichworten „Griechen und Barbaren“ wortwörtlich „ein Zitat dieser Ideologie“ auf, und erläutert und vertieft es wie „in einem guten hebräischen Parallelismus membrorum“ mit den folgenden Worten über Weise und Unwissende:
die Griechen sind die Weisen, die Barbaren die Unwissenden. Nun ist dieser Satz aus der Sicht eines Juden gesagt. Und für den sind aus den Erfahrungen seines Volkes heraus sowohl Griechen als auch Barbaren die große Bedrohung, das Problem. Griechen und Barbaren sind die Gojim, inmitten derer Israel seinen Weg gehen muß. Die Schärfe des Gegensatzes Griechen-Barbaren bekommt so aus jüdischer Sicht noch eine Zuspitzung, erst recht, wenn Paulus sagt, daß er denen verpflichtet ist, wörtlich: ihr Schuldner ist.
Wenn Paulus diesen Satz an alle Juden in Rom adressiert, dann ist er eine Provokation. Jankowski spitzt zu, worauf diese hinausläuft (J58f.):
Das ist nach allem, was in Israel gedacht und gelehrt wird, eine Unmöglichkeit. Zwar gibt es die Hoffnung, daß einst die Völker zusammen mit dem Volk Israel zum Zion pilgern werden, um dort den Gott Israels zu loben und Frieden untereinander zu halten. Aber niemand aus Israel wird sich von den Gojim in welcher Weise auch immer in Pflicht nehmen lassen. Und doch genau das tut Paulus. Wir werden gleich hören, warum. Weil er diese Verpflichtung eingegangen ist, oder besser wörtlich: weil er in der Schuld der Gojim steht, ist es sein Wunsch, denen in Rom die Gute Botschaft zu sagen. Er will der mevasser, der Bote mit der Guten Botschaft sein, der in Rom hören läßt: Friede, Befreiung, Herrschaft Gottes, wie es damals der Bote aus Jes 52 hören ließ in Babylon, in der feindlichen Umgebung. Wo, wenn nicht in Rom, der Herrin der Völker, sollte das gesagt und dann auch gelebt werden? Die Verpflichtung, die er da auf sich genommen hat, mag unmöglich scheinen. Sie wird zu erklären sein. Aber vielleicht ist sie die letzte Chance, das Problem zwischen den Gojim und dem Volk Israel zu lösen.
Für Michael Wolter (W110) bedeutet die Verkündigung des Evangeliums durch Paulus etwas ganz anderes, nämlich „wirklich immer die auf die Hinwendung zum Christus-Glauben abzielende Missionspredigt“. Daher kann Paulus mit seiner in den Versen 13b und 15 angekündigten Absicht (W101), dass ich „eine Frucht hervorbringe, bei euch wie bei den übrigen Heiden“ bzw. „auch euch, denen in Rom, das Evangelium zu verkündigen“, schon einmal keinesfalls (W110) „die christliche Gemeinde in Rom meinen“, denn damit
widerspräche er dem in Röm 15,20 formulierten Grundsatz, dass er darauf achte, das Evangelium nur dort zu verkündigen (euangelizesthai wie in Röm 1,15), „wo Christus nicht genannt wurde“.
Entscheidend ist nun für Wolter, wen Paulus ganz genau mit der Formulierung „bei euch wie bei den übrigen Heiden“ meint. Dabei geht er davon aus, dass die Wendung en tois loipois, „bei den übrigen“, grammatikalisch zwingend erfordert, dass es sich auch bei den angeredeten hymin, „euch“, um ethnesin, Menschen aus den Völkern oder „Heiden“ handelt. Allerdings unterscheidet Paulus nicht etwa (W111)
christliche von nichtchristlichen Heiden …, sondern die Heiden in Rom von denen außerhalb Roms, unter denen Paulus bereits Missionserfolge („Frucht“) erzielt hat. Nicht dass die hymeis {ihr} Christen sind, ist darum das Merkmal, das Paulus hier in den Vordergrund stellt, sondern dass sie in Rom leben. en hymin bedeutet nicht ‚unter euch Christen‘, sondern wie hymin in V. 15 ‚bei euch in Rom‘. Paulus spricht hier also nicht von einem Wirken unter den christlichen Gemeinden Roms, sondern von erhofften Missionserfolgen unter den nichtchristlichen Bewohnern Roms – zu denen es aber aus den in V. 13c genannten Gründen nicht gekommen ist.
Fraglich ist aber, wende ich gegen Wolters Argumentation ein, ob Paulus wirklich grammatikalisch immer ganz so exakt formuliert. Ähnlich wie es Paulus bewusst sein musste, dass aus der Sicht der Griechen auch Juden häufig in die Völkerschaften der Barbaren einbezogen wurden, mag er selbst neben den von ihm als den „übrigen“ erwähnten Völkern mit hymin, „euch“, eine bunt gemischte Vielfalt von Juden, Gottesfürchtigen und bereits auf Jesus vertrauenden Gojim anreden. Wenn das so ist, dann kann sich die Absicht des Paulus, hina tina karpon schō, „dass ich einige Frucht habe“, durchaus doch auf ein sowohl – als auch beziehen, nämlich kai en hymin kathōs kai en tois loipois ethnesin – also „sowohl bei euch“ im Umkreis der jüdischen Bevölkerung in Rom „wie auch bei den übrigen Gojim“, und zwar ebenfalls denen in Rom. Die Frohbotschaft, die Paulus denen in Rom bringen will, bezieht ja immer auch die Juden mit ein, in deren Gemeinschaft durch das gemeinsame Vertrauen auf den Messias Jesus auch Menschen aus den Völkern hineinberufen werden, um in der messianischen Gemeinde, dem einen Leib des Messias {hen sōma … en Christō, Römer 12,5; vgl. 1. Korinther 12,27}, zusammengeschlossen zu werden.
Wolter sieht das anders. Auch Römer 1,14 bestätigt in seinen Augen nochmals ganz klar (W112), „dass sein apostolischer Auftrag sich auf die gesamte nichtjüdische Menschheit erstreckt“, wie sie „seit Herodot und Euripides“ eingeteilt wurde:
als Hellēnes galten alle Menschen und Völker, die von griechischer Sprache und Kultur bestimmt sind, als barbaroi alle, denen griechische Sprache und Kultur fremd waren.
Nur auf sie richtet sich nach Wolter (W101) die von Paulus in Vers 15 geäußerte dringende „Bereitwiligkeit“, kai hymin tois en Rōmē euangelizesthai, also „auch euch, denen in Rom, das Evangelium zu verkündigen.“ Denn mit euangelizesthai wird (W113) „bei Paulus immer die Missionsverkündigung und nicht die Unterweisung oder Belehrung von bereits existierenden Gemeinden bezeichnet“, mithin spricht er (W114)
die Adressaten nicht als Angehörige einer christlichen Gemeinde an…, sondern als Bewohner Roms. Das geht aus der Näherbestimmung von hymin {euch} durch tois en Rōmē {denen in Rom} hervor. Zu ergänzen ist ethnesin {Heiden}, und Paulus grenzt sie durch diese Spezifizierung en Rōmē {in Rom} von denjenigen ethnē {Heiden} ab, denen er anderenorts das Evangelium verkündigt hat. Auf der linken Seite des kai {auch} in V. 15 ist darum aus V. 13d tois loipois ethnesin {den übrigen Heiden} zu ergänzen.
Mit dem letzten Satz überträgt Wolter die von ihm vorausgesetzte Gegenüberstellung von römischen und nichtrömischen Heiden aus Vers 13 vollständig auf Vers 15. Aber widerspricht er damit nicht seiner eigenen (siehe oben: Schreibt Paulus den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen?) ausführlich begründeten Annahme (W44), „dass es die römischen Heidenchristen sind, die er [Paulus] sich als Leser vorstellt“? Wie kann Paulus einerseits durchgehend „Heidenchristen“ anreden, die bereits an Jesus Christus glauben, und andererseits zugleich in Römer 1,15 ausschließlich „Heiden“ ansprechen, denen er das Evangelium erst noch verkündigen will? Ist es überhaupt vorstellbar, dass Paulus seinen Brief direkt an ein heidnisches Publikum außerhalb jeglichen jüdischen Umfeldes gerichtet haben sollte?
Wolter scheint zwar den Versuch zu unternehmen, diesen Widerspruch aufzulösen, indem seiner Ansicht nach (W128) „der Römerbrief nicht der Verkündigung des Evangeliums dient, sondern seiner Besprechung“. Das würde bedeuten, dass Paulus zwar bei einem Besuch in Rom das Evangelium unter den bis dahin noch nicht zum Glauben an Christus gekommenen Heiden verkündigen wollte, aber in seinem Brief wendet er sich nur an bereits bekehrte Heidenchristen, um ihr theologisches Wissen über ihren neu erworbenen Glauben zu vertiefen. Dem steht aber entgegen, dass Paulus in Römer 1,15 ausdrücklich seinen Willen äußert, den im Brief angesprochenen Römern selbst das Evangelium zu verkünden.
↑ Römer 1,16: Das Evangelium als Macht Gottes zur Befreiung für Juden und Griechen
1,16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht;
denn es ist eine Kraft Gottes,
die selig macht alle, die glauben,
die Juden zuerst und ebenso die Griechen.
[4. Dezember 2024] Dass sich Paulus des im vorigen Vers erwähnten Evangeliums nicht schämt, hält Wolter (W114) in erster Linie für „eine rhetorische Bekräftigungsformel“. Dabei mag zwar „ein Bewusstsein dafür mit[schwingen], dass der Gegenstand, auf den sich diese Versicherung bezieht, einen Verstoß gegen geltende Normen und Werte beinhaltet“, aber es „handelt … sich sicher nicht um eine konfessorische Aussage, wie häufig mit Verweis auf Mk 8,38 par. Lk 9,26; Lk 12,8f par. Mt 10,32f; 2Tim 1,12 angenommen wird“, denn die „römischen Christen sind schließlich kein Forum, vor dem ein Bekenntnis abzulegen wäre“.
Wenn sich Wolter jedoch irrt und Paulus gar nicht nur an römische Heidenchristen schreibt, sondern ein gemischtes Publikum aus Juden, Gottesfürchtigen und bislang nur vereinzelten auf Jesus als den Messias vertrauenden Menschen im Blick hat, könnte es doch sein, was Jankowski nicht ausschließt (J59), dass Paulus sich gegen Vorwürfe wehrt, „er möge sich als Jude dessen schämen, epaischynesthai, was er lehrte und praktizierte.“
Wahrscheinlicher ist es allerdings für Jankowski, dass Paulus seinen Satz über das Evangelium in Erinnerung an den „Anfang des großen Preisliedes auf die Thora in Ps 119,5ff.“ formuliert, wo das Wort epaischynomai {sich schämen, zuschanden werden} eine wichtige Rolle spielt. Von Jankowski übersetzt, heißt es dort (J59f.)
5 Ach daß gefestet seien meine Wege,
zu hüten deine Gesetze.
6 Dann würde ich nicht zuschanden (Septuaginta [LXX]: epaischynthō),
wann ich blicke auf all deine Gebote.Im Psalm schätzt sich einer glücklich, daß er die Thora hat, sie bewahrt und deswegen nicht zuschanden wird, sich nicht zu schämen braucht vor nichts und niemanden. …
Bei Paulus dagegen: Gute Botschaft und Vertrauen. Die machen nicht zuschanden, ihrer braucht sich niemand zu schämen. Fast könnte man meinen, daß hier ein Gegensatz aufgebaut wird: hier Gute Botschaft und Vertrauen, dort Thora und Lernen der Gebote…
Dass das nur so scheint, darauf wird Jankowski später zurückkommen. Ihm zufolge ist das, was Paulus hier sagen will, letzten Endes nicht ohne den Hintergrund der Thora zu begreifen. Allerdings kann (J61) die Thora
hier nicht im Mittelpunkt stehen, weil Paulus erklärt hatte, daß er von den Griechen und Barbaren, also den Nichtjuden, in Pflicht genommen ist. Für die aber ist die Thora nicht bestimmt, es sei denn, sie würden Juden werden. Das sollen sie nicht. Sie sollen jedoch Anteil haben an der Befreiung, die Israel erfahren hat. Das war für Paulus die große Offenbarung. Und das rief er als Gute Botschaft, als euangelion aus.
Entscheidend für Jankowskis Auslegung dieser Stelle ist der Begriff sōtēria, von ihm mit „Befreiung“ übersetzt, während Wolter (W101) neutral das Wort „Heil“ verwendet, was die Lutherbibel mit der Umschreibung „selig machen“ einseitig verinnerlicht oder gar verjenseitigt. Die Frage, wie die Gute Botschaft des Evangeliums sowohl für Juden als auch für Griechen bestimmt sein kann, beantwortet Jankowski von Psalm 98 her, aus dem in Römer 1,16-17 drei wichtige Stichworte aufgegriffen werden (J62), nämlich „Befreiung, sōtēria, Bewährtheit, dikaiosynē, Treue, pistis“:
2 Zu kennen gab der EWIGE sein Befreien,
den Augen der Gojim
offenbarte er seine Bewährtheit,
3 gedachte seiner Huld, seiner Treue
dem Hause Israel,
es sahen alle Ränder der Erde,
das Befreiertum unseres Gottes.
Während Befreiung, Bewährtheit und Treue sich jedoch im Psalm 98 „allein auf Israel“ beziehen und Israel den „anderen Völkern … als ein Beispiel für gewährte Befreiung“ dient, haben diese dort keinen „Anteil daran“. Das ist bei Paulus anders:
Bei ihm sind die Völker in das Befreiungsgeschehen hineingenommen. Sie stehen nicht am Rande. Deswegen heißt es bei Paulus, daß die Befreiung jedem, panti, gilt: denen, die das zuerst erfahren haben, den Juden, und auch den Nichtjuden, den Griechen. Wie ist das möglich? Noch einmal: es ist nicht möglich über die Thora. Es ist nur möglich durch Vertrauen. Eine Antwort auf die Treue Gottes, die sich in der geschenkten Befreiung und ihrer weiteren Gewährung zeigt, ist das Vertrauen Israels. Im Vertrauen wird die Freiheit angenommen und bewährt. Und das können auch Nichtjuden. Nun ist das Vertrauen nicht allein auf Gott ausgerichtet. Vertrauen hat mit Gemeinschaft zu tun, kann nur im Gegenüber wirklich werden. Das will gelebt werden: Juden können Nichtjuden und umgekehrt vertrauen. Sie stehen sich nicht mehr antagonistisch gegenüber.
„Diese Erkenntnis“ ist es nach Jankowski, die im Evangelium als „der befreienden Botschaft“ öffentlich gemacht wird und die „in der Realität umzusetzen“ ist:
Für Paulus wird das zu einer Machtfrage. Die Gute Botschaft wird zu einer Macht, dynamis, Gottes auf Befreiung hin. Es mag sein, daß in diesen Worten auch Kritik an den Zielen der Widerstandsbewegungen laut wird. Denn die wollten Befreiung auch mit Gewalt erzwingen gegen die Übermacht der römischen Legionen. Der Antagonismus sollte durch die Ausschaltung der Fremdherrschaft erledigt werden. Paulus setzt dagegen auf die Dynamik, die sich aus dem gegenseitigen Vertrauen entwickelt und den Antagonismus auflöst, so daß Freiheit gelebt werden kann. Ob das gelingen kann, muß sich noch erweisen.
Wir sehen also, dass die Unterschiede der Auslegungen von Wolter und Jankowski hauptsächlich darin begründet sind, dass Wolter die gesellschaftlich-politischen Hintergründe von in den biblischen Schriften verwurzelten und von Paulus aufgegriffenen Grundworten wie euangelion oder sōtēria vollkommen ignoriert. Dasselbe gilt für den im folgenden Vers Römer 1,17 zum ersten Mal auftauchenden zentralen Begriff dikaiosynē, von Luther mit „Gerechtigkeit“ übersetzt, der nach Jankowski in den heiligen Schriften ganz eng auf die „Bewährung“ der Israel gewährten „Befreiung“ bezogen ist (J62f.):
Befreiung heißt in Israel zunächst immer Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens. Da aber Ägypten ein Synonym für Unterdrückung ist, die überall geschieht, haben die Befreiten ihre Freiheit zu bewahren und zu bewähren. So ist die Befreiung nicht nur ein einmaliges Geschehen. Sie soll und muß ständig wahr werden. Wahr wird sie, indem die Befreiten sich als wahre Menschen bewähren. Die Befreiung wird verspielt, wenn Menschen verkommen, verludern, wenn sie nicht mehr im rechten Verhältnis zueinander stehen, das Recht beugen. Daß die Befreiung gewährleistet ist, zeigt sich in Gottes Bewährtheit, in seiner Gemeinschaftsgerechtigkeit, wie Marquardt {[181]}übersetzt. Von ihm her ist es möglich, daß unter Menschen gerechte Verhältnisse herrschen. Die Bewährtheit Gottes ist, wenn man so will, die ständige Bestätigung der Befreiung. Sie ist so auch Bestätigung des wahren Menschseins. Bestätigt wird, daß wahre menschliche Verhältnisse möglich sind. Sie werden möglich, wenn sich Menschen als wahr erweisen, das tun, was die gewährte Freiheit nicht gefährdet, also vor allem das Recht durchsetzen. Es gilt, daß die Bewährtheit Gottes zuerst in Israel wirksam wurde und daß Israel zuerst die Aufgabe hatte, die Freiheit zu bewähren. Israel hat darauf vertraut, daß das so ist. Um die Aufgabe wahrzunehmen, wurde ihm die Wegweisung zur Freiheit gegeben, die Thora.
Was Jankowski hier schreibt, stellt den Schlüssel dar für seine Paulus-Auslegung. Das Wort dikaiosynē zielt zwar auf „gerechte Verhältnisse“ unter den Menschen, aber immer so, dass befreite Menschen „sich als wahre Menschen bewähren“. Wir werden sehen, wie sich das auf Jankowskis Interpretation der so genannten paulinischen Rechtfertigungslehre auswirken wird.
[5. Dezember 2024] Interessant ist, dass Wolter in seiner Auslegung von Römer 1,16 zunächst in eine ganz ähnliche Richtung wie Jankowski zu steuern scheint, demzufolge das Evangelium für Paulus im eben skizzierten Sinne „zu einer Macht, dynamis, Gottes auf Befreiung hin“ wird. Dabei geht Wolter davon aus (W115), „dass Paulus hier mit euangelion … nicht lediglich Inhalt und Gegenstand seiner Verkündigung bezeichnet, sondern in metonymischer Weise seine Verkündigung des Evangeliums“, in der sich „Gottes heilschaffendes Handeln“ zeigt:
Das paulinische Evangelium informiert also nicht lediglich über das durch Jesus Christus erschlossene und in ihm zugängliche Heil Gottes, sondern es führt dieses Heil herbei. Aus diesem Grunde kann Paulus vom Evangelium auch sagen, dass es nicht lediglich von Gottes dynamis spricht oder sie bezeugt, sondern dass es eben diese wirksame Heilsmacht Gottes „ist“.
Um die „Identifikation des Evangeliums als dynamis theou“, als diese „Heilsmacht“ zu erklären, greift Paulus nach Wolter
auf eine theologische Kategorie zurück, die ihren Ursprung im Alten Testament hat. dynamis („Macht“, auch „Kraft“) ist hier ein Attribut Gottes, das sein Gott-Sein ausmacht und sich in seinem Handeln manifestiert: „Du bist der Gott, der Wunder tut, bekannt gemacht hast du unter den Völkern deine dynamis“, heißt es in Ps 76,15LXX. <35> Mit diesem Begriff kann aber auch in metonymischer Weise die konkrete (Macht-)Tat bezeichnet werden, die Gott in Ausübung seiner dynamis tut: „Die Rechte des Herrn epoiēsen dynamin {tat eine Machttat}, die Rechte des Herrn hat mich erhöht, … und erzählen werde ich die Werke des Herrn (ta erga kyriou)“ (Ps 117,15b-17LXX).
Auf all diese Machttaten Gottes in den Schriften Israels bezieht sich Wolter allerdings, ohne dabei konkret auf ihre gesellschaftlich-befreiende Wirkung einzugehen. Ihm zufolge (W116) „deutet Paulus“ lediglich sehr allgemein in „diesem Sinne … seine Verkündigung des Evangeliums als ein Geschehen, in dem Gott selbst handelt.“
Weil seine Verkündigung für den Glauben nicht Menschenwort, sondern Gotteswort ist, geht von ihr eine Wirkung aus, wird sie zu einem verbum efficax {wirksamen Wort}. Als Wort Gottes bildet sie nicht lediglich eine Wirklichkeit ab, sondern sie stellt sie her. Das alles vermag das paulinische Evangelium natürlich nur, weil es „Evangelium Gottes … von seinem Sohn …, Jesus Christus, unserem Herrn“ ist. Nur als solches ist die paulinische Verkündigung überhaupt „Evangelium“. Seine Wirkung bleibt exklusiv an diesen Inhalt gebunden.
Auch Wolter sieht nun, dass „das Evangelium“ als „eine dynamis theou … natürlich auch die von Paulus komprehensiv {zusammenfassend} und pauschal als sōtēria umschriebene Wirkung“ hat. Er äußert sich aber sehr zurückhaltend, was die inhaltliche Füllung des Begriffs sōtēria betrifft und meint, man könne „an dieser Stelle“ nicht mehr sagen, „als dass das Evangelium eine Heilsfolge hat“. Zwar ist ihm bewusst (Anm. 89), dass der Begriff „in der Septuaginta (Ex 15,2; 2Sam 10,11; Hiob 13,16; Ps 117,14.21.28; Jes 12,2 als Wiedergabe von hebr. lijschuaˁh“ auftaucht, aber die mit diesem Wort auf die Befreiung Israels bezogene politische Bedeutung greift er nicht auf, ja, er lehnt jede solche Interpretation ohne Begründung sogar ausdrücklich ab:
Weder lässt sich seine Bedeutung an dieser Stelle auf die künftige Errettung aus dem Zorngericht festlegen <36>, noch darf man in ihm eine Abgrenzung vom imperialen Heilsversprechen Roms sehen <37>.
Damit ist klar, dass Wolters Zurückhaltung bei der Deutung von sōtēria nur vorgeschoben war. Erst recht zeigt seine anschließende Auslegung der Worte panti tō pisteuonti, von ihm (W101) mit „für jeden, der glaubt“, übersetzt, dass er sie nicht wie Jankowski mit dem Vertrauen auf die Treue des befreienden Gottes Israels und seinen Messias Jesus in Verbindung bringt, sondern (W116f.) im Sinne des Für-Wahr-Haltens und der Zustimmung zu einer religiösen Botschaft interpretiert, in der es wohl in erster Linie um individuelles Heil für die Seele geht. Denn „die Heilswirkung des Evangeliums“ wird denjenigen „zuteil“, die auf das
Wort der Verkündigung … mit Zustimmung reagieren, die ihm also „glauben“, und an dieser Zustimmung bleibend festhalten… „Glauben“ heißt für Paulus demnach: seine Verkündigung als eine Botschaft hören, die in Gottes Auftrag ausgerichtet wird und die davon spricht, dass das Heil Gottes in Jesus Christus zugänglich ist sowie durch Jesus Christus erschlossen wird und dass denjenigen, die dieser Botschaft Glauben schenken, eben dieses Heil zuteil wird. Für die Menschen, die in dieser Weise auf das paulinische Evangelium reagieren, wirkt es sich als eine „Macht Gottes zum Heil“ aus.
… Dieser Glaube geht zu keinem Zeitpunkt dem Evangelium voraus oder ist gar von ihm unabhängig. Er kann vielmehr immer nur Reaktion auf das Evangelium sein; er ist auf es angewiesen, um überhaupt entstehen zu können.
Weiter stellt Paulus nach Wolter (W117) in diesem Text zwar „den Glauben als hinreichende Bedingung für die Heilswirkung des Evangeliums in den Vordergrund“, zugleich ist unausgesprochen
der Glaube hier aber auch als notwendige Bedingung für die Heilswirkung des Evangeliums präsent: Wer der paulinischen Verkündigung nicht glaubt, hält sie nicht für eine „Macht Gottes zum Heil“, und darum wirkt sie sich für ihn auch nicht als eine solche aus. … Für die, die der paulinischen Verkündigung nicht glauben, wird sie eben nicht zu einer „Macht zum Heil“, weil sie sie nicht als „Evangelium Gottes“ hören.
Hier meldet sich ein christlicher Absolutheitsanspruch zu Wort, demzufolge alle Menschen verloren sind, die nicht auf eine ganz bestimmte Weise an Jesus glauben. Wolter zufolge vertritt Paulus diesen mit einer „besonderen Pointe“, indem er nämlich „das Adjektiv pas {jeder}“ auf folgende Weise verstanden wissen will (W118):
„Jeder“ soll demnach heißen: für „Juden“ wie für „Griechen“ gleichermaßen. Paulus macht seine Leser also darauf aufmerksam, dass der Glaube als hinreichende und notwendige Bedingung für die Teilhabe an der Heilswirkung des Evangeliums den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden theologisch bedeutungslos macht. … Wie Paulus in V. 14 mit „Griechen und Barbaren“ die Menschheit aus griechischer Perspektive in den Blick genommen hat, so nimmt er hier die jüdische Perspektive ein, und unterteilt alle Menschen in Juden und Nichtjuden. … Der Glaube, der das Evangelium als eine „Macht Gottes zum Heil“ wahrnimmt, macht diese Unterscheidung theologisch bedeutungslos, weil natürlich „jeder“ glauben kann und weil „jedem, der glaubt“, das Evangelium zu einer „Macht Gottes zum Heil“ wird – ganz unabhängig davon, ob er Jude ist oder nicht.
Im Klartext heißt das: Jeder Jude, der nicht an Jesus „glaubt“, ist ebenso auf ewig verloren wie jeder andere Mensch, der zu Jesus keinen Zugang findet. Aber ist das tatsächlich die Zuspitzung, die Paulus (W101) mit der „Macht Gottes zum Heil für jeden, der glaubt, für den Juden vor allem und auch für den Griechen“, im Sinn hat? Mit keinem Wort geht Wolter darauf ein (worauf Jankowski besonderen Wert legt), wie sehr Paulus an der Versöhnung von Juden und Griechen in der messianischen Gemeinde interessiert ist.
In der (W118) „Sonderstellung der Juden gegenüber den Nichtjuden“, die Paulus mit dem „Adverb prōton {zuerst, vor allem}“ markiert, kommt nach Wolter weder zum Ausdruck, „dass das Evangelium von Jesus Christus zunächst den Juden und erst nach ihnen den Nichtjuden verkündigt wurde“, noch
dass Paulus hier die Bedingung des Glaubens für die Teilhabe an der Heilswirkung des Evangeliums für die Juden relativiert. Er will vielmehr durch prōton zum Ausdruck bringen, dass Israel aufgrund seiner Geschichte mit Gott, weil Gott es sich als Eigentumsvolk erwählt hat, eine besondere Affinität zu dem Heil aufweist, das aus dem Evangelium von Jesus Christus kommt. Diese Affinität hat ihren Grund darin, dass das Evangelium in der Geschichte Gottes mit Israel verankert ist, was Paulus schon in Röm 1,2.3b dargetan hatte und was er dann später in Kap. 9-11 noch ausführlicher herausarbeiten wird.
Leider interpretiert Wolter die besondere Beziehung Israels zu dem euangelion und der sōtēria, um die es Jesus geht, also lediglich rückblickend im Sinne einer historischen Erinnerung, die zwar zu würdigen, aber letzten Endes für den christlichen Glauben unwesentlich ist, nutzt sie aber nicht als Chance und Impuls, um das Evangelium und das mit ihm verkündigte Heil von den jüdischen Schriften her zu begreifen.
↑ Römer 1,17: Gerechtigkeit Gottes – aus Vertrauen auf Vertrauen hin wahr gemacht
1,17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt,
welche kommt aus Glauben in Glauben;
wie geschrieben steht (Habakuk 2,4):
„Der Gerechte wird aus Glauben leben.“
[6. Dezember 2024] In Römer 1,17 erscheint (W119) der schwierige „Ausdruck ‚Gerechtigkeit Gottes‘“, dem Wolter einen sechsseitigen Exkurs widmet, nachdem er vorausgeschickt hat, dass er erstens die von Paulus „betont ans Ende gestellte Aussage über den Glauben“ zur Begründung dafür, „warum das Evangelium „für jeden, der glaubt“, eine ‚Macht Gottes zum Heil‘ ist“, für entscheidender hält als die „Gerechtigkeit Gottes“ selbst, und dass zweitens hier nicht bestimmten Menschen „etwas offenbart wird, was allen anderen verborgen bleibt“. Vielmehr spricht das Verb apokalyptetai {offenbaren}
hier wie z.B. in Lk 17,30; Röm 8,18 von einem ereignishaften In-Erscheinung-Treten und Wirklich-Werden … Eben dies wird z.T. mit demselben Verb von der Gerechtigkeit Gottes schon in der alttestamentlich-jüdischen Tradition gesagt, wie vor allem aus Ps 98/97,2 hervorgeht: „Kundgetan hat JHWH sein Heil (LXX: sōtērion); vor den Völkern offenbart hat er seine Gerechtigkeit (LXX: apekalysen tēn dikaiosynēn autou)“.
In seinem Exkurs (W120) beginnt Wolter damit, dass Martin Luther, wie dieser selbst rückblickend schreibt, dem Vers Römer 1,17
den Durchbruch zur entscheidenden reformatorischen Einsicht (das sog. ‚Turmerlebnis‘) verdankt. Ursprünglich habe er den Ausdruck ‚Gerechtigkeit Gottes‘ „gehasst“, weil er „nach Brauch und Gewohnheit aller Lehrer ‚Gerechtigkeit‘ philosophisch zu verstehen gelernt“ hätte: „als formale oder aktive Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten bestraft“. Nachdem er jedoch „Tag und Nacht“ über diesen Text „nachgesonnen“ habe, hätte er auf die „Verknüpfung der Worte geachtet, nämlich: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben‘“. Da habe er „begonnen, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, als diejenige, durch die der Gerechte als durch eine Gabe Gottes lebt, nämlich aus Glauben, und dass dieser Satz besage, dass durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird, nämlich die passive, durch die der barmherzige Gott durch Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.“ <38>
So wird in Luthers Theologie (W121) „aus der iustitia activa Gottes … die iustitia passiva des Menschen“, allerdings weist Wolter darauf hin, dass diese „Antithese … bei Luther … schief“ ist, denn nicht nur die strafende Gerechtigkeit Gottes, sondern „auch die vom Menschen ‚passiv‘ empfangene Gerechtigkeit setzt ein ‚aktives‘ Handeln Gottes voraus.“
Weiter geht Wolter auf „eine Kontroverse um das Verständnis des Ausdrucks ‚Gerechtigkeit Gottes‘“ zwischen Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann ein, die vor 60 Jahren ausgefochten wurde. Bultmann verstand ihn „wie Martin Luther als ‚von Gott geschenkte, zugesprochene Gerechtigkeit‘ <39>, d.h. als eine ‚Gabe‘ <40>“, während Paulus nach Käsemann <41> den „Ausdruck ‚Gerechtigkeit Gottes‘“ als „eine ‚feste Formel‘… aus dem Judentum übernommen habe“ und
die Gerechtigkeit Gottes in Röm 1,17; 10.3ff „personifiziert als Macht“ dar[stelle], und der Genitiv charakterisiere „mindestens“ in Röm 3,5.25f als genitivus subjectivus „Gottes eigenes Handeln und Wesen“.
In der griechischen Grammatik liegt aber nach Wolter allen Wörtern, die wie dikaiosynē die Endung -synē haben, ein Adjektiv zugrunde, also bezeichnet das Wort (W122) eine „Eigenschaft Gottes…, nämlich dass Gott dikaios ist“, und „nicht das Handeln Gottes“. Was Käsemann meint, trifft auf ein anderes von Paulus in Römer 4,25 und 5,18 verwendetes Wort zu, nämlich dikaiōsis.
Letztendlich ist nach Wolter als „Grundlage für die paulinische Rede von der Gerechtigkeit Gottes … der Sprachgebrauch des Alten Testaments und des frühen Judentums“ zu betrachten:
Er basiert auf einem Verständnis von Gerechtigkeit, deren Kriterium nicht die Übereinstimmung mit einer gesetzten Norm ist, sondern die Angemessenheit des Verhaltens innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft. <42> Wenn Gott nach Gen 15,6 Abraham dessen Glauben „als Gerechtigkeit anrechnet“, so bescheinigt er ihm damit, dass Abrahams Vertrauen auf die Realisierung der in V. 4-5 ausgesprochenen Verheißung ein Verhalten ist, das dem Verhältnis zwischen den beiden angemessen ist: Abraham hat geglaubt, dass Gott seine Verheißung realisieren kann und wird, weil er Gott ist. ‚Gerechtigkeit‘ wird hierdurch zu einer Eigenschaft Abrahams.
In diesem Sinne kann Abraham gerecht genannt werden, außerdem aber kommt nach Wolter hinzu,
dass ‚Gerechtigkeit‘ nicht nur eine Eigenschaft bezeichnet, sondern auch in metonymischer Weise die Handlungen, die dieser Eigenschaft entsprechen, die aufgrund dieser Eigenschaft getan werden und die diese Eigenschaft zur sichtbaren und erfahrbaren Darstellung bringen. Aus diesem Grunde kann hier im Plural von dikaiosynai („Gerechtigkeitstaten“) gesprochen werden oder auch vom „Tun“ der Gerechtigkeit Gottes …
Wenn aber im Alten Testament oder im frühen Judentum „von Gottes Gerechtigkeit“ als von „heilvollem Handeln zugunsten seines Volkes oder zugunsten des einzelnen Frommen die Rede“ ist und Gott insofern (W123)
Gerechtigkeit ‚tut‘, so manifestiert sich in diesem Handeln seine Gerechtigkeit in einer Weise, dass sie für die Menschen erkennbar und erfahrbar wird. Wenn Gottes Gerechtigkeit Ereignis wird, erweist sich darin immer auch das Gott-Sein Gottes, denn nur Gottes Gerechtigkeit ist diejenige Heilsmacht, die eine heilvolle Wirklichkeit zu schaffen vermag.
Diese „Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes“ als seiner „Eigenschaft“, die sich „in Gottes rettendem Eingreifen zugunsten seines Volkes und der Frommen“ manifestiert, ist nach Wolter aber nur eine von „zwei Linien“, die im „alttestamentlichen und frühjüdischen Sprachgebrauch noch nebeneinander herlaufen“ und die auch Paulus erst im Laufe der Zeit „miteinander verbindet“. Auf der zuerst von Paulus verfolgten Linie leitet Paulus aus 1. Mose 15,6 im Galaterbrief „die Gewissheit ab, dass Gott die Menschen aus Glauben rechtfertigt“; ebenso ist auch in Philipper 3,9b
die Gerechtigkeit Eigenschaft des Menschen, und wie in Gen 15,6 sowie in den Texten des Galaterbriefes eignet Gott sie zu, weil der Mensch glaubt. Als ‚Gerechtigkeit Gottes‘ kommt sie hier aber gerade nicht in den Blick. …
In allen Texten des Römerbriefes verknüpft Paulus diese beiden Linien in der Weise miteinander, dass er die Gerechtigkeit, die Gott den Glaubenden aufgrund ihres Glaubens zuspricht, als Ereignis-Werden von Gottes heilbringender Gerechtigkeit darstellt.
Daraus ergibt sich für Wolter (W124) eine kritische „Abgrenzung“ von Martin Luther und Rudolf Bultmann, die seines Erachtens „nicht bedacht“ haben,
dass die theologischen Konzepte ‚Rechtfertigung aus Glauben‘ und ‚Gerechtigkeit Gottes‘ ursprünglich nicht miteinander verbunden waren. … Dadurch, dass der Glaube das im Evangelium vergegenwärtigte Heilshandeln Gottes als solches wahrnimmt, tritt Gottes Gerechtigkeit gewissermaßen aus ihrer Verborgenheit in Gott heraus und wird unter den Menschen als Heilsmacht wirksam.
Am Ende läuft Wolters Argumentation darauf hinaus (W125), dass „Gott die paulinische Verkündigung“ benutzt,
um seine Gerechtigkeit in Erscheinung treten zu lassen. Dass eine Verkündigung überhaupt zu einer solchen „Macht Gottes zum Heil“ (V. 16b) werden kann – das kann nur der Glaube sagen, der ihr diesen Machtcharakter zuschreibt und für dessen Subjekt (panti tō pisteuonti {für jeden, der glaubt}) sie zu dieser Macht wird. Paulus hat den Ausdruck ek pisteōs eis pistin {aus Glauben zum Glauben} darum mit gutem Grund betont ans Ende des Satzes gestellt, denn in ihm steckt das eigentliche Sachargument, das die Begründung der in V. 16b formulierten Behauptung trägt. Der Glaube fungiert hier als Erkenntnisgrund wie als Sachgrund gleichermaßen für das Ereignis-Werden der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium.
Dabei ist es (W126) in dem Ausdruck ek pisteōs eis pistin {aus Glauben zum Glauben} „nichts anderes als der Glaube ‚jedes Glaubenden, des Juden vor allem und auch des Griechen‘, von dem in V. 17a die Rede ist.“ Und da „mit ek und eis … Ursprung und Ziel oder auch Anfang und Ende bezeichnet“ werden, steht hier im Mittelpunkt
Glaube und nichts als Glaube überall, vom Anfang bis zum Ende. Es ist allein der Glaube, der die Gerechtigkeit Gottes im Evangelium wirksam werden lässt und es zu einer Heil stiftenden Macht Gottes macht.
Abschließend bestätigt Paulus „seine Charakterisierung des Evangeliums“ mit dem Zitat Habakuk 2,4 „aus der Schrift“. Nach Wolter ist es
neben Gen 15,6 der einzige alttestamentliche Text, den man sich so zurechtlegen kann, dass in ihm „Gerechtigkeit“ bzw. „gerecht“-sein durch „Glaube“ zustande kommt.
Tatsächlich steht (W126f.) in „der Hebräischen Bibel … die Formulierung wɘzadiq bɘˀemunatho jichjeh (‚und der Gerechte wird durch seine Treue am Leben bleiben‘)“, was (W127) die Septuaginta – vermutlich aufgrund eines Schreibfehlers im zugrundeliegenden hebräischen Text – folgendermaßen übersetzt: „ho de dikaios ek pisteōs mou zēsetai (‚der Gerechte aber wird aus meiner [sc. Gottes] Treue leben‘)“. Indem Paulus aus der „Septuaginta-Fassung“ das mou [meiner] streicht, fügt er den Vers „in seine theologische Argumentation“ ein: „Nicht mehr Gottes pistis („Treue“) ist es, auf der die dem Gerechten geltende Lebensverheißung basiert, sondern dessen eigene pistis {Glaube}.“
Wolter beschließt seine Auslegung der letzten Zeile von Römer 1,17, indem er sich gegen eine Übersetzung wie in der Lutherbibel wendet: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ In seinen Augen spricht alles für die Alternative (W101): „Der aus Glauben Gerechte wird leben“, wie sie etwa die katholische Einheitsübersetzung hat, denn (W127) „bei Paulus wird ‚der Gerechte‘ ja nicht von selbst, sondern immer nur ‚aus Glauben‘ gerecht.“
Offen bleibt die Frage, ob sich Paulus den Text der Schrift wirklich so zurechtlegt, wie es Wolter voraussetzt, oder ob umgekehrt die Interpretation des Wortes pistis bei Paulus von den jüdischen heiligen Schriften her nicht doch noch weiter gehen muss als bei Wolter.
[7. Dezember 2024] Gerhard Jankowski (J60) beginnt seine Auslegung von Römer 1,17 mit Erwägungen zu den beiden Begriffen dikaiosynē/dikaios. Die übliche Übersetzung „mit Gerechtigkeit und gerecht… hat sehr viel zu tun mit christlicher Theologiegeschichte“. Da die „Sprache der Theologie … sehr früh das Lateinische“ wurde,
übersetzte man dikaiosynē mit iustitia und prägte damit für lange Zeit die Interpretation des Begriffs und damit auch der Theologie. Der lateinische (römische) Rechtsbegriff iustitia wurde maßgebend für die Auslegung.
Erst als Luther, der „damit seine großen Schwierigkeiten gehabt“ hat, durch „gute exegetische Arbeit an unserer Stelle“ zu sehen lernte, „wie das Wort im sogenannten Alten Testament verwendet wird“, kam er
zu der neuen Erkenntnis…, daß dikaiosynē vor allem ein Gemeinschaftsbegriff ist: sie wird dem Menschen geschenkt, so daß er ihr antworten kann. Freilich redet Luther da, wo er lateinisch schreibt, weiter von iustitia. Und in der deutschen Übersetzung behilft er sich mit einer erklärenden Übersetzung: „die Gerechtigkeit, die für (vor) Gott gilt“. Diese Übersetzung hat nun wiederum bis in unsere Zeit besonders die protestantische Theologie geprägt.
Auf der Suche nach einer angemesseneren Übersetzung von dikaiosynē geht Jankowski auf die „hebräischen Grundworte“ zurück, für die dikaiosynē/dikaios der Versuch einer adäquaten Übersetzung sind“, nämlich „zedaqa und zedeq bzw. zaddiq.“ Das Problem war allerdings auch schon im Griechischen, dass dikaiosynē und dikaios, da sie (J60f.) „der griechischen philosophischen Tugendlehre“ entstammten und „die verpflichtende Rechtschaffenheit des einzelnen Menschen gegenüber den Göttern und den Menschen“ umschrieben, den Sinn der hebräischen Grundworte nur annäherungsweise erfassen konnten (J61):
Martin Buber <43> sagt zu unserer Begrifflichkeit: „Chessed, zedeq und ˀemeth, die göttliche Tugenden verherrlichen und dem Menschen, der ‚in den Wegen Gottes‘ gehen soll, zur Nachahmung darstellen, sind alle drei Begriffe der Übereinstimmung, der Zuverlässigkeit … Zedeq ist die weitere und vielfältigere Konzeption: es bedeutet die Zuverlässigkeit eines Handelns einem äußeren oder inneren Sachverhalt gegenüber; einem äußeren gegenüber, indem es ihn zur Geltung bringt, ihm Raum schafft, ihm sein Recht werden läßt; einem inneren, indem es ihn verwirklicht, ihn aus der Seele in die Welt setzt.“
Jankowski geht davon aus, dass bei Paulus auch das Wort dikaiosynē diese Bedeutung trägt. Friedrich-Wilhelm Marquardt schlägt die Übersetzung „(Gemeinschafts-) Gerechtigkeit“ <44> vor. Jankowski selbst will eher Martin Bubers Vorschlägen zur Verdeutschung von zedeq folgen:
Buber übersetzt die hebräische Wurzel mit Worten des deutschen Wortstammes wahr. Er hat u.a. Bewahrheitung, Wahrspruch, Bewährung, bewährt. Die außergewöhnliche Wahl der Worte weist auf die Besonderheit dieses Grundwortes hin. Freilich hat zumindest Bewährung inzwischen einen Bedeutungswandel durchgemacht und ist fast negativ besetzt. … Wir folgen … Buber und übersetzen auch dikaiosynē/dikaios mit (Gottes) Bewährtheit, bewährt. Das Verb dikaioun ist dann entsprechend im Aktiv mit wahr machen, im Passiv mit wahr gemacht werden zu übersetzen.
Vielleicht wegen der hier erwähnten Vorbehalte gegenüber dem Wort „Bewährung“ umschreibt Jankowski im Jahr 2021 (G10) dikaiosynē theou in Römer 1,17 mit „wie Gott wahr macht“, statt wie im Jahr 1999 (J59) mit „Gottes Bewährtheit“ zu übersetzen.
Worauf die Formulierung „wahr machen“ konkret abzielt, hatte ich oben bereits mit einem Zitat von Jankowski verdeutlicht, demzufolge (J63) „Befreiung“ im Volk Israel „nicht nur ein einmaliges Geschehen“ ist, sondern (so viel soll wiederholt werden):
Sie soll und muß ständig wahr werden. Wahr wird sie, indem die Befreiten sich als wahre Menschen bewähren. … Daß die Befreiung gewährleistet ist, zeigt sich in Gottes Bewährtheit, in seiner Gemeinschaftsgerechtigkeit, wie Marquardt übersetzt. Von ihm her ist es möglich, daß unter Menschen gerechte Verhältnisse herrschen. Die Bewährtheit Gottes ist, wenn man so will, die ständige Bestätigung der Befreiung.
Das Neue und Besondere an „der Guten Botschaft“, die Paulus verkündet, ist nun die „Erkenntnis, daß Israel und die anderen Völker, Juden und Nichtjuden, zusammen auf dem Weg zur Freiheit gehen können“. In diesem Evangelium
ist die Bewährtheit Gottes offenbart, besser übersetzt: enthüllt, aus Vertrauen auf Vertrauen hin, sagt Paulus. Was ausschließlich Israel gelebt hat, können die anderen Völker auch leben, indem sie wie Israel vertrauen. Daß die Bewährtheit Gottes nur Israel gelten sollte, war eine Verschleierung. Der Schleier ist aufgehoben, und nun wird offenbar, daß die Bewährtheit, die Bestätigung der Freiheit, der gesamten Menschheit zugute kommt. Die einzige Bedingung dafür ist, daß sie darauf vertraut – mit Israel. Denn es heißt: „Der Bewährte wird aus Vertrauen leben.“
Anders als Wolter geht Jankowski nicht darauf ein, dass Paulus dieses „Zitat aus dem Buch des Propheten Habakuk (2,4)“ um das Possessivpronomen verkürzt. Erinnern wir uns, dass es bei Habakuk (W126f.) im hebräischen Text um „seine“, nämlich des Gerechten „Treue“ geht, während in der Septuaginta von „meiner“, also von Gottes „Treue“ die Rede ist. Die inhaltliche Spannung, die Wolter zwischen diesem Text und dem Zitat des Paulus aufbaut, wird jedoch nahezu gegenstandslos, wenn ernstgenommen wird, dass „Treue“ zu Gott und „Vertrauen“ auf Gott einander ebenso entsprechen, wie beide durch die „Treue“ Gottes sowohl hervorgerufen werden als auch innerhalb der Gemeinschaft des auf Gott Vertrauenden mit Gott auf sie bezogen bleiben.
So wird nach Jankowski (J64) der Prophet Habakuk
dem Paulus zum Zeugen dafür, daß es möglich ist, sich in der gewährten Freiheit zu bewahren. Es ist möglich für Israel, denn Habakuk wendet sich zuerst an Israel, und es ist möglich für die anderen Völker. Sie können mit Israel zusammen leben. Dieses Stichwort ruft das eigentliche Thema auf: das Leben, das sich in Freiheit gegenüber der Unfreiheit bewährt.
Dass Jankowski darauf besteht, die paulinische Verkündigung des Evangeliums als befreiende Botschaft zu deuten und die Gerechtigkeit eines Menschen als die Bewahrung einer gewährten Befreiung bzw. die Bewährung einer Disziplin der Freiheit zu begreifen, würde Wolter möglicherweise als Eintragung moderner gesellschaftskritischer Gedanken in den Text betrachten. Wenn Paulus aber mit seinem Habakuk-Zitat auch dessen Zusammenhang im Prophetenbuch aufruft, der ihm aus seinem Studium der Schriften sicher bekannt war, dann steht ihm nach Jankowski ein politischer Zusammenhang vor Augen, der zur Frage nötigt: „Wie kann gelebt werden in totaler Unterdrückung, bei Völkermord, bei Plünderung und Gewalt?“ Auf solche Zustände geht Habakuk in den Versen 2,5 und 2,8 ein, so von Jankowski übersetzt:
5 Ja, der Tückische nimmts leicht gar;
der giergeschwollne Mann,
der nie innehaltende,
der wie die Gruft zusperrt seine Seele,
und wie der Tod ist er, wird nicht satt:
an sich rafft alle Völker er,
holt heran alle Völker sich …
8 Weil du viele Gojim geplündert hast,
plündert dich nun der Völkerrest aus,
um das Blut der Menschen, die Gewalttat am Land,
der Stadt und allen die darin siedeln …
Diese Worte müssen Paulus an „die herrschenden Verhältnisse“ zu „seinen Zeiten“ erinnert haben, beschreiben sie doch „fast … die Praktiken des römischen Imperiums.“ Auf die Frage, wie man sich unter solchen Bedingungen „bewähren“ kann, antwortet Habakuk: „Nur durch Vertrauen, daß die Bewährtheit Gottes, seine Treue nicht aufhört.“ Und Paulus überträgt das auf die eigene Situation: „Überlebt werden konnte da wirklich nur mit einem fast unverschämten Vertrauen, daß die Freiheit noch nicht verspielt ist.“
Aber nach Jankowski muss es Paulus auch bewusst sein, dass er „die in Rom, an die Paulus schreibt“, die „durch das Habakukzitat an ihre Verhältnisse erinnert wurden“, durch seine Worte zum Widerspruch herausfordert (J65):
Denn wurde hier nicht deutlich, daß die anderen Völker Israel zu vernichten drohten? Lebte man nicht in Rom in der Zentrale der Macht, die sich eine ganze Welt unterworfen hatte? Und die sollten nun mit Israel vertrauen, daß Befreiung möglich ist? Wie war da befreites Leben zu gestalten, wenn die Bedrohung hautnah, Tag für Tag gegenwärtig war? Also ist zu reden vom Leben, wie es nun mal ist. Zunächst vom Leben der Nichtjuden.
Mit diesen Worten leitet Jankowski über zu dem Teil des Römerbriefes, den Wolter (W129) das „Briefcorpus“ nennt, das in 1,18 beginnt und erst in 15,13 endet.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 1,8-17
8 Als erstes danke ich meinem Gott
durch Jesus, den Messias, euer aller wegen,
dass von eurem Vertrauen berichtet wird
in der ganzen Weltordnung.
9 Denn mein Zeuge ist Gott,
dem ich mit meinem Geist diene
in der befreienden Botschaft seines Sohnes,
dass ich unablässig an euch denke
10 und in meinen Gebeten ständig darum bitte,
ob ich wohl endlich einmal
auf einen guten Weg geführt werde,
im Willen Gottes, zu euch zu kommen.
11 Denn ich sehne mich danach, euch zu sehen,
um euch etwas abzugeben
an inspirierter Gnadengabe
damit ihr gestärkt werdet –
12 das heißt: um bei euch mitermutigt zu werden
durch das gegenseitige Vertrauen,
von euch und von mir.
13 Denn ich will nicht, dass ihr nicht wisst, Geschwister,
dass ich mir oftmals vorgenommen habe, zu euch zu kommen,
bis jetzt aber gehindert worden bin,
damit ich einige Frucht habe
sowohl bei euch wie auch bei den übrigen Gojim.
14 Griechen und Barbaren,
Weisen und Unverständigen
bin ich verpflichtet.
15 So ist, was mich betrifft, die Bereitwilligkeit da,
auch euch in Rom die befreiende Botschaft zu sagen.
16 Denn ich schäme mich der befreienden Botschaft nicht.
Denn eine Macht Gottes ist sie zur Befreiung
für jeden, der vertraut,
für den Juden zuerst und auch für den Griechen.
17 Denn Gottes Bewährtheit
wird in ihr enthüllt,
aus Vertrauen auf Vertrauen hin,
wie geschrieben ist:
Der aus Vertrauen Bewährte wird leben.
↑ Drei Teufelskreise von Verfehlungen der Menschen in der Völkerwelt (Römer 1,18-32)
[10. Dezember 2024] Nach Gerhard Jankowski (J65) redet Paulus ab Römer 1,18 zunächst „vom Leben, wie es nun mal ist“, wie es die Propheten Israels getan haben, „schonungslos aufdeckend und gleichzeitig wegweisend“. Dabei beginnt er (J66) mit einer „Kritik der Götter“ der Völkerwelt, und aus dieser „Religionskritik“ folgt „die Kritik der gesellschaftlichen Zustände“, die ein „Leben in Freiheit“ bedrohen, und zwar „nicht nur in Israel…, sondern in der ganzen Menschheit“. Dreimal sagt er (in den Versen 24, 26 und 28) von „der nichtjüdischen Welt“, dass sie „ausgeliefert“ ist,
ho theos paredōken autous {Gott hat sie ausgeliefert}, wie es das Hauptstichwort sagt. Ausgeliefert an das, was sie bestimmt. Sie sind im Grunde sich selbst überlassen und so dem Verfall preisgegeben durch ihre „Religion“, die Religion der Vergötzung, der Moral, der Unvernunft.
Von diesen drei Stichworten her unterteilt Jankowski die Besprechung dieses Abschnitts in die drei Teile „Gott und Religion 1,18-25“, „Moral 1,26-27“ und „Die Pflichten 1,28-31“.
Für Michael Wolter (W130) zieht sich durch den gesamten Abschnitt 1,18 – 3,20 im Römerbrief „der rote Faden“, dass es
keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden [gibt], weil sie „alle unter der Sünde sind“ (3,9) und weil für diese wie für jene gilt: „Es gibt keinen Gerechten, nicht einen“ (3,10).
Dabei sieht er (W129) Römer 1,18 als die Überschrift dieses Abschnitts, in dem „die ausweglose Verfallenheit aller Menschen unter Gottes Zorn“ geschildert wird, „der über Juden wie Heiden gleichermaßen aufgrund ihrer ‚Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit‘ … kommen wird.“
Besonderen Wert legt Wolter darauf (W137), dass es auch in den weiteren Versen 19-31 von Kapitel 1 „um die ‚Menschen‘ von V. 18 und um ihre ‚Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit‘“ geht: „Paulus spricht in dieser Hinsicht also von der Menschheit insgesamt.“ Zugleich ist aber auch ihm zufolge „nicht zu übersehen, dass Paulus die allgemeine Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen am Beispiel des Verhaltens der Heiden aufweisen will.“ Mit „dem Vorwurf der Verehrung der Abbilder von Menschen und Tieren anstelle der Verehrung des einen und wahren Gottes“ verwendet Paulus
ebenso ein im Judentum seiner Zeit verbreitetes antipaganes {antiheidnisches} Stereotyp wie in V. 26-27 mit den als „würdelose Leidenschaften“ charakterisierten Verhaltensweisen. Paulus gibt der Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschheit damit eine Gestalt, in der ganz deutlich die jüdische Wahrnehmung ihrer nichtjüdischen Umwelt erkennbar ist. Kein Jude würde annehmen, dass Paulus hier nicht von Heiden spricht.
Wie Jankowski sieht auch Wolter (W135) im „Zentrum der Darstellung“ in den Versen 21-31 drei Teufelskreise, in denen „immer erst die menschliche Schuld beschrieben wird und dann die Strafe, die Gott ihretwegen über die Menschen verhängt“. Das schuldhafte Handeln der Menschen erscheint in den Versen 21-23, 25 und 28a; die Strafe Gottes in den Versen 24, 26-27 und 28b-31. Dabei wird (W136) im
Laufe der Darstellung … der Aufweis der Schuld immer kürzer, während die Beschreibung der Strafe immer ausführlicher wird. Außerdem ist für die drei Beschreibungen des Zusammenhangs von Schuld und Strafe charakteristisch, dass die Strafe, der Gott die schuldig gewordenen Menschen übergibt, selbst wieder ein schweres Vergehen gegen den Ordnungswillen Gottes ist und damit neue Schuld gebiert und die Menschen in einem unentrinnbaren Kreislauf der Sünde festhält.
Als Parallele für einen solchen Zusammenhang nennt Wolter die Darstellung in der Apostelgeschichte 7,41-42, derzufolge
als Strafe dafür, dass Israels Väter das Goldene Kalb hergestellt und ihm Opfer dargebracht haben (V. 41), über sie verhängt [wird]: „Gott aber wandte sich ab und lieferte sie aus (kai paredōken autous), dem Heer des Himmels zu dienen …“ (V. 42a).
Auch hier im Römerbrief (W137) ist es „immer die Verweigerung der Gott als dem einzigen und wahren Gott geschuldeten Verehrung …, die jeweils als Grundsünde aufgewiesen wird (V. 21-23.25.28a)“ und ursächlich ist „für das Zerbrechen der Ordnung in ihrer eigenen Welt, das sich in den Verfehlungen der Menschen gegen sich selbst manifestiert.“
Eingeleitet wird die Darstellung der genannten drei Teufelskreise durch die Verse 19-20, in denen
die Erkennbarkeit von Gottes Gott-Sein durch seine Werke … eine denkbare Ausrede unmöglich machen [soll]: Kein Mensch soll sagen können, dass er Gott nicht kennt und dass ihn darum der in V. 18 erhobene Vorwurf nicht trifft.
Während Wolter Römer 1,32 als Zusammenfassung des Abschnitts betrachtet, worauf in Römer 2,1 „mit der direkten Anrede an einen fiktiven Gesprächspartner ein deutlicher Neueinsatz markiert“ ist, gehört für Jankowski (J71ff.) der letzte Vers von Kapitel 1 schon zur Thematik, die im 2. Kapitel angeschnitten wird, nämlich der Verantwortlichkeit der jüdischen Welt.
↑ Römer 1,18: Gottes Zorn über alle Abtrünnigkeit und Unbewährtheit der Menschen
1,18 Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart
über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen,
die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten.
[11. Dezember 2024] In den vorigen Versen 1,16-17 war von Gottes Gerechtigkeit bzw. Bewährtheit, dikaiosynē theou, die Rede gewesen, die in der Frohbotschaft, euangelion, offenbart bzw. enthüllt wird. In Vers 1,18 wiederholt Paulus dasselbe Wort apokalyptetai {es wird offenbart, enthüllt}, aber in ganz anderer Weise (W130):
Statt von „Heil“ spricht Paulus jetzt von „Zorn“, und statt von der „Gerechtigkeit Gottes“ ist jetzt von der „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ die Rede.
Michael Wolter schließt sich (Anm. 4) der „Mehrheitsmeinung“ an, dass (W130) „die Konjunktion gar {im Sinne von „denn“} anaphorisch (d.h. begründend) … zu verstehen“ ist, weil Paulus später in den Versen 3,21-23 ebenfalls das Hervortreten von „Gottes Gerechtigkeit“ damit begründet, dass „alle … gesündigt“ haben, ohne „Unterschied“. Schon hier will also (W131)
Paulus … erklären …, warum das Heil für alle Menschen ohne Ausnahme nur aus Glauben kommen kann: weil sie alle ebenso ausnahmslos aufgrund ihres gottlosen Tuns dem Zorn Gottes verfallen sind. Das Begriffspaar „Jude und Grieche“ (V. 16) wird durch „Menschen“ (V. 18) wiederaufgenommen. Hier wie dort hat Paulus also dieselbe Dimension im Blick, und die Rede von den „Menschen“ meint bereits in Röm 1,18 darum ganz prononciert: Juden und Heiden gleichermaßen. Im Mittelpunkt der paulinischen Argumentation steht damit der Gedanke, dass die theologische Unterschiedslosigkeit von Juden und Nichtjuden nicht nur die Folge der Evangeliumsverkündigung ist, sondern auch eine unabhängig von ihr bestehende Gegebenheit.
Das Stichwort „Zorn (orgē)“ umschreibt nach Wolter „hier nicht einen Affekt Gottes, sondern … Gottes Gerichtshandeln“, womit er „einen Sprachgebrauch“ übernimmt,
der unter ‚Zorn‘ immer das sog. Vernichtungsgericht versteht. Es handelt sich bei ihm um ein Vernichtungshandeln Gottes an seinen und seines Volkes Feinden, das unter Anknüpfung an die alten Jahwe-Krieg-Traditionen beschrieben werden kann. Gott selbst kommt (oft mit seinem Engelheer oder mit Feuer) vom Himmel (hier: ap‘ ouranon) auf die Erde herab und vernichtet alles, was ihm und seinem Willen entgegensteht.
Ein solches „Vernichtungsgericht“ wird etwa (Anm. 7) in Sacharja 14 beschrieben.
Von ihm zu unterscheiden ist das sog. forensische Gericht, bei dem Gerechte und Sünder vor dem Thron des Richters erscheinen, der ihnen Heil und Unheil zuweist. Dieser Gerichtstyp, der im Hintergrund von Röm 3,19-20 steht, wird niemals mit dem Begriff „Zorn“ umschrieben.
Nach Wolter (W131f.) meint Paulus in 1,18 also mit der Offenbarung von
„Gottes Zorn“ … über die Sünden aller Menschen…, dass Gott sein endzeitliches Vernichtungsgericht an der sündigen Menschheit vollziehen wird. … Es ist dieser „Zorn“, von dem Paulus in Röm 5,9 sagen wird, dass die Gerechtfertigten aus ihm „gerettet“ werden (s. auch 1Thess 1,10; 5,9).
Was Wolter mit diesen Erläuterungen heraufbeschwört, ist eine Sicht auf den strafenden und nach Rache dürstenden Jahwe-Gott der Juden, die sich landläufig in der Vokabel „alttestamentarisch“ <45> für die jüdische Bibel niederschlägt.
Gerhard Jankowskis Bemerkungen über den Zorn Gottes sind geeignet, ein solch einseitiges und verzerrtes Bild von der „Schrift“ zurechtzurücken, die er (J65, Anm. 9) als den „Thenakh“ versteht, „also die Thora, die Propheten und die übrigen Schriften, wie sie in der hebräischen Bibel überliefert sind“. In den Versen 1,16-17 und 1,18 stellt er anders als Wolter (W130) nicht allgemein Gottes „Heil“ und „Zorn“ gegenüber, sondern er begreift (J65) viel konkreter sōtēria als „Freiheit“, die durch menschliche „Abtrünnigkeit und Unbewährtheit“ zunichte gemacht wird:
Enthüllt ist die Bewährtheit Gottes. Das ist die Vision eines Lebens in Freiheit. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Deswegen: enthüllt ist Gottes Zorn über jede Abtrünnigkeit und Unbewährtheit von Menschen, die die Wahrhaftigkeit in Unbewährtheit niederhalten. Was folgt, ist Religionskritik und gesellschaftliche Analyse; nicht in der modernen Art, sondern prophetische Kritik und Analyse, schonungslos aufdeckend und gleichzeitig wegweisend. So kommt denn auch der Zorn Gottes ins Spiel. Der bricht in der Schrift aus, wenn die Existenz Israels von innen oder außen bedroht ist. Ist sie von innen bedroht, richtet sich der Zorn gegen Israel, ist sie von außen bedroht, richtet er sich gegen die Völker, die Israel vernichten wollen. Gott kann es nicht ertragen, daß die gewährte Freiheit verspielt oder zunichte gemacht wird. Deswegen regt sich sein Zorn, und in letzter Konsequenz muß verschwinden, was Leben in Freiheit zu vernichten droht.
Indem Jankowski die Worte asebeia kai adikia mit „Abtrünnigkeit und Unbewährtheit“ übersetzt, stellt er bewusst die „Unbewährtheit“ der Menschen der „Bewährtheit“ des Gottes Israels gegenüber, während er den ersten Begriff asebeia nicht wie üblich als Gottlosigkeit begreift, da auch der Glaube an andere Götter eine „Abtrünnigkeit“ vom befreienden Gott Israels darstellt. <46>
Nach Wolter (W132) nimmt Paulus mit „der Umschreibung der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit durch das Begriffspaar asebeia kai adikia … einen in seiner Umwelt geläufigen Sprachgebrauch auf.“ In dieser Zusammenstellung können beide Begriffe
- entweder „ohne einen erkennbaren Bedeutungsunterschied nebeneinander“ stehen
- oder es bezeichnet „asebeia Verfehlungen gegen Gott und adikia Verfehlungen gegen die Mitmenschen“,
- es kann aber auch die „eine Verfehlung … als Folge oder Erscheinungsform der jeweils anderen dargestellt werden“
- oder „asebeia gilt als Steigerung von adikia“.
Nach Wolter kommt „jede der drei erstgenannten Möglichkeiten für die Interpretation der paulinischen Darstellung in Frage“, was „vor allem … die jeweils zweistufige Struktur in V. 21-24 / V. 25-27 / V. 28-31 mit der Abfolge von Vergehen gegen das Gott-Sein Gottes und Auslieferung in immer neue ‚Strafschuld‘… erkennen“ lässt.
Abschließend spricht Paulus Wolter zufolge (W133) von „der ‚Unterdrückung‘ der Wahrheit“, alētheia, durch die „Ungerechtigkeit“, adikia, der Menschen. So stellt er dem ungerechten „Tun der Menschen … die Wahrheit Gottes als die von Gott der Welt eingestiftete Ordnung“ gegenüber, „an der sich das Verhalten der Menschen orientieren soll.“ Indem Paulus „das Verhalten der Menschen ‚Ungerechtigkeit‘“ nennt, „weil es der Ordnung und dem Willen Gottes zuwiderläuft“, greift er eine Vorstellung auf, wie sie im 3. Buch Esra 4,37-38 <47> entfaltet wird (W132f.):
„adikoi sind alle Menschenkinder, und adika sind alle ihre Werke …, und in ihnen gibt es keine alētheia, und sie werden durch ihre adikia zugrundegehen; die alētheia aber bleibt und ist mächtig in Ewigkeit, und sie lebt und herrscht bis in die Ewigkeit der Ewigkeit“.
Nach Wolter (W133) ist die „Unterdrückung der Wahrheit“ aber „weder nur eine Verfehlung der Heiden noch wird ihre Konkretion allein in Röm 1,19-32 beschrieben“, denn auch „Juden … ‚unterdrücken‘ sie sie durch die Übertretung des Gesetzes (2,21-23)“, obwohl „für sie Gottes Wahrheit im Gesetz zugänglich ist (2,20)“. Zunächst aber macht Paulus in 1,19-32 deutlich, wie er
sich das bei den Heiden vorgestellt hat…: Was Gottes ‚Wahrheit“ ist, steht in V. 19-20, die „Ungerechtigkeit“, durch die sie „unterdrückt“ wird, beschreibt er in V. 21-32.
↑ Römer 1,19-20: Die Erkennbarkeit Gottes in Taten der Schöpfung und Befreiung
1,19 Denn was man von Gott erkennen kann,
ist unter ihnen offenbar;
denn Gott hat es ihnen offenbart.
1,20 Denn sein unsichtbares Wesen
– das ist seine ewige Kraft und Gottheit –
wird seit der Schöpfung der Welt,
wenn man es wahrnimmt,
ersehen an seinen Werken,
sodass sie keine Entschuldigung haben.
[12. Dezember 2024] In Römer 1,18 hatte Paulus nach Michael Wolter (W138) „von einer ‚Unterdrückung‘ der Wahrheit durch die Menschen“ gesprochen. Damit
setzt er voraus, dass sie sie kennen. Eben dies stellt er in V. 19a fest: Gott ist für alle Menschen erkennbar, und hierin liegt darum ihre Unentschuldbarkeit (V. 20c) begründet.
Dabei geht es in „der Formulierung to gnōston tou theou {das Erkennbare Gottes}“ nicht „nur um eine partielle {nur teilweise} Erkenntnis Gottes“, sondern um die
Erkenntnis Gottes als Gott. Es handelt sich darum wie in Gen 2,9LXX (gnōston kalou kai ponērou [„das Erkennbare des Guten und Bösen“ im Sinne von: ‚was das Gute und Böse erkennbar macht‘]) um … die Erkennbarkeit Gottes.
Wolter übersetzt Vers 19 also (W134) folgendermaßen: „Denn was Gott erkennbar macht, ist unter ihnen offenbar. Gott hat (es) ihnen nämlich offenbart.“ Mit dem zweiten Satz (W138) betont Paulus,
dass die Erkennbarkeit Gottes den Menschen allein durch Gottes Selbstoffenbarung erschlossen wird und nicht eine Möglichkeit ist, die den Menschen unabhängig von ihr zuhanden wäre. Gott ist den Menschen nicht offenbar, sondern er macht sich ihnen offenbar.
Wie er das macht, verdeutlicht Paulus in paradoxer Weise mit den Worten ta ahorata … kathoratai, von Wolter übersetzt (W134) mit: „seine unsichtbaren Eigenschaften werden … gesehen“. Wörtlich bezeichnet ta ahorata einfach das Unsichtbare in der Mehrzahlform, es (W138) „steht für Abstrakta, die Eigenschaften Gottes bezeichnen“, von denen am Ende von Vers 20 zwei genannt werden: „Gottes ewige dynamis {Macht} und seine theiotēs {Göttlichkeit}.“
Aber wie ist es möglich, „dass zum Erkennen Gottes auch das Erkennen seiner Unsichtbarkeit gehört“? Indem die an Gott unsichtbaren Dinge als nooumena gesehen werden, als gedachte Größen (W139): „Man kann die unsichtbaren Eigenschaften Gottes zwar nicht mit den körperlichen Augen sehen, man kann sie aber denken.“ Dazu betont Wolter allerdings nochmals (Anm. 12):
Auch als nooumena können Gottes unsichtbare Eigenschaften einzig und allein durch seine Offenbarung (V. 19) ‚sichtbar‘ werden und nicht aufgrund einer natürlichen Erkenntnis- oder Denkfähigkeit, die in den Menschen vorhanden wäre …
Allerdings steht nach Wolter (W139) dieses „paulinische Konzept des intellektuellen Sehens in platonisch-stoischer Tradition“, derzufolge „Gott zur Welt der unsichtbaren Ideen“ gehört, „die nur gedacht werden können“. <48>
Weiter sind es „Gottes poiēmata“, also Gottes Werke oder Taten, die „dieses ‚Sehen‘ der unsichtbaren, aber denkbaren Eigenschaften Gottes bei Paulus“ ermöglichen. Da dies (W140) „seit der Erschaffung der Welt“ möglich ist, wird in
der Regel … dabei angenommen, dass er mit den poiēmata Gottes Schöpfungswerke meint. Dementsprechend würde Paulus hier im Anschluss an die platonisch-stoische Tradition behaupten, dass die Menschen durch die Betrachtung der natürlichen Welt Gott erkennen, weil sie durch sie eine gedankliche Vorstellung von der dynamis und theiotēs Gottes gewinnen. Was Gott erkennbar macht, ist demnach der gesamten Menschheit zugänglich. Darüber hinaus spricht aber auch einiges dafür, dass Paulus mit den poiēmata nicht nur die Schöpfungswerke im Blick hat, sondern auch Gottes Taten in der Geschichte. Die hellenistisch-jüdische Verwendung dieses Begriffs ist für einen solchen Bezug durchaus offen.
Dazu verweist Wolter (Anm. 19) u. a. auf die Psalmen 63,10LXX und 142,5LXX sowie auf die Stellen im Prediger 7,13; 8,17; 11,5; außerdem will er (W140) die „paulinische Sicht der Dinge … mit Deutungen von Gottes Handeln verknüpfen, wie sie sich z.B. in 1Kön 8,43; Ps 82,19LXX; Jes 43,8-11 finden.“
Wie bereits gesagt, läuft die Offenbarung Gottes in Form seiner Erkennbarkeit durch Gottes Taten am Ende von Vers 20 darauf hinaus, dass niemand entschuldbar ist, der Gott „die Anerkennung seines Gott-Seins verweigert“, weil er sich nicht „auf Unwissenheit berufen“ kann.
Auch Gerhard Jankowski (J67) räumt eine ungewöhnliche „Wortwahl“ zur Umschreibung des Gottes, „wie ihn die Schrift kennt“, in 1,19-20 ein (und nennt dazu in Anm. 10 die Stichworte ahoraton, theiotēs, gnōston und aïdios):
Sie erinnert stark an die gängige philosophische Begrifflichkeit der Zeit. Die Hauptstichworte jedoch entstammen der Schrift oder sind von ihr her geprägt.
Es gilt, daß Gott unsichtbar ist. Das heißt, daß er nicht verfügbar ist. Und doch gibt er sich zu erkennen. Er ist zu ersehen in seinen Taten, poiēmata. Das hat wenig mit einer wie auch immer gearteten „natürlichen“ Gotteserkenntnis zu tun, als wäre Gott aus der Natur zu erkennen. Genau das wäre so etwas wie „natürliche Religion“. Die aber wäre das, was zuallererst zu kritisieren wäre.
In dieser Hinsicht stimmt Jankowski mit Wolters Auslegung überein, betont jedoch in seinen weiteren Ausführungen mehr als Wolter die Zielsetzung von Gottes Taten in der Geschichte, die auf die Befreiung Israels ausgerichtet ist:
poiēmata ist das, was in der Schrift maˁasse heißt. Und das sind die Schöpfungswerke. Das wiederum sind die Erde unter dem Himmel als Wohnplatz für den Menschen, das ist die Schaffung Israels unter den Völkern, das sind SEINE befreienden Taten an diesem Volk. Daran, an den schöpferischen und befreienden Taten in der Geschichte, ist das, was die Schrift „Gott“ nennt, zu erkennen. Und das von der Schöpfung des Weltsystems, ktisis kosmou, an. Denn Schöpfung ist zugleich gute Ordnung in dem ganzen Chaos, in der Verwüstung unter den Menschen auf der Erde. Paulus nennt das die Wahrhaftigkeit, alētheia. Diese Wahrhaftigkeit ist „Gott“.
↑ Römer 1,21-23: Schuldhafte Verstrickung der Menschen in eine Religion ohne Gott
1,21 Denn obwohl sie von Gott wussten,
haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt,
sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken,
und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.
1,22 Die sich für Weise hielten, sind zu Narren geworden
1,23 und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht
mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen
und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere.
[13. Dezember 2024] In Römer 1,21-23 vollzieht Paulus nach Wolter einen ersten Aufweis menschlicher Schuld, der die in Vers 24 erfolgende göttliche Strafe nach sich ziehen wird, indem er die Begründung dafür nennt (W140), „warum die Menschen ‚keine Entschuldigung haben‘“. Hier sagt Paulus sogar (W134): „obwohl sie Gott kennen gelernt haben, haben sie (ihn) nicht als Gott verherrlicht oder (ihm) gedankt“, das heißt (W141), er
setzt die Kenntnis der von Gott offenbarten Erkenntnismittel mit der Kenntnis Gottes selbst gleich. Gott ist durch sein Handeln in Schöpfung und Geschichte erkennbar, und darum kann Paulus von einer Gotteskenntnis der Menschen sprechen.
Damit unterscheidet sich Paulus von einem Text aus dem Buch der Weisheit Salomos (13,1-9), der „häufig als eine Parallele zur paulinischen Darstellung angesehen wird“, in dem aber „von einer ‚Unkenntnis Gottes‘ (theou agnōsia) auf Seiten der Menschen“ die Rede ist, „die zwar alle Werke Gottes vor Augen gehabt, aber trotzdem Gott nicht als ‚den wahrhaft Seienden‘ erkannt hätten (s. auch Eph 4,17f).“
Als das erste schuldhafte Versagen der Menschen nennt Paulus ihr Versäumnis, „Gott die ihm gebührende ‚Verherrlichung‘ und ‚Dankbarkeit‘ zukommen zu lassen“, womit er nach Wolter „Reaktionen in den Blick“ nimmt, „mit denen fromme und gottesfürchtige Menschen in Israels Geschichte regelmäßig auf Gottes Handeln in Schöpfung und Geschichte reagiert haben.“ <49> Besonders nahe steht unserem Text (W142) die Stelle Daniel 5,23, wo „der Vorwurf der verweigerten Verherrlichung bzw. Dankbarkeit wie in Röm 1,21.23 mit dem Vorwurf fehlgeleiteter Gottesverehrung“ einhergeht.
In den Versen 21c.d.22 deuten „die drei passivischen Verbformen“ eine enge Zusammengehörigkeit an; außerdem gehört
die Rede von den dialogismoi {Gedanken} und der asynetos kardia {unverständiges Herz} <50> … mit sophos {weise} und mōrainein {dumm sein} zum semantischen Feld der lntellektualität; emōranthēsan {wurden zu Toren gemacht} und emataiōthēsan {wurde verfinstert} stehen parallel. Auf diese Weise wird die „Gottlosigkeit“ der Menschen (V. 18) nicht auf ihre Bosheit zurückgeführt, sondern als ein kognitives Scheitern dargestellt.
Dass das Herz verfinstert wird, eskotisthē, sieht Wolter (W143) in einem engen „Zusammenhang mit kathoratai {werden gesehen} (V. 20a)“, da
man im Dunkeln nichts sehen kann. … Die beiden Metaphern in Röm 1,20-21 interpretieren sich darum gegenseitig: Erkenntnisorgan für das in V. 20a beschriebene intellektuelle Sehen ist das Herz (V. 21c). Sein asynetos-{unverständig-}Sein lässt es aber im Dunkeln bleiben …, als hätte es seine Augen geschlossen. Es kann darum die Wirklichkeit Gottes nicht sehen.
Nach Wolter erklärt Paulus hier,
warum die Menschen die Wirklichkeit Gottes nicht erkannt haben, obwohl sie Gott kennen. … Nach V. 20a-b haben die Menschen Gottes Wirklichkeit durch seine „Taten“ in Schöpfung und Geschichte zwar wahrgenommen, doch haben sie sie aufgrund der in V. 21b-c beschriebenen intellektuellen Defizite nicht in sachgerechter Weise gedeutet.
Obwohl Wolter darauf hinweist, dass Paulus in gleicher Weise „in Röm 11,8 lsraels Reaktion auf das Evangelium“ erklärt, „indem er auf Jes 6,9-10 zurückgreift“, meint er (W143f.), dass
Paulus … in V. 22 wohl nicht speziell die ‚Griechen‘ im Auge [hat], von denen er in 1Kor 1,22 sagt, dass sie „Weisheit suchen“. Er spricht vielmehr im Rahmen der allgemein-anthropologischen Perspektive, die seine Darstellung seit Röm 1,18 bestimmt, sowie im Sinne von 1Kor 3,19 von der „Weisheit dieser Welt“, die „bei Gott Torheit ist“ (s. auch 1Kor 1,20c; Jes 19,11). Paulus nimmt hier dieselbe Aufspaltung der Begriffe ‚Weisheit‘ und ‚Torheit‘ vor wie in 1Kor 1,18-25: Die Weisheit der Weisen erweist sich im Blick auf Gottes Wirklichkeit als Torheit.
Hochinteressant ist nun, in welchem alttestamentlichen Zusammenhang Wolter den folgenden Vers 23 auslegt und welche Schlüsse er daraus zieht. Seine Übersetzung lautet (W134)
23 So haben sie an die Stelle der Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes
das Abbild des Aussehens eines vergänglichen Menschen
und von Vögeln und Vierbeinern und Kriechtieren gesetzt.
Hier wechselt Paulus Wolter zufolge (W144) nach drei Verben im Passiv
wieder ins Aktiv zurück und knüpft mit kai ēllaxan tēn doxan {so vertauschten sie die Herrlichkeit} grammatisch an ouch … edoxasan ē ēucharistēsan {sie verherrlichten oder dankten nicht} (V. 21a) an und beschreibt nun die Folge des intellektuellen Scheiterns der Menschen. … Man kann die Blickrichtung aber auch umdrehen. Dann wird die Verehrung der Abbildungen von Menschen und Tieren zum Erkenntnisgrund für das in V. 21c-22 beschriebene Versagen.
Als Hintergrund von Römer 1,23 sieht Wolter die griechische Version von Psalm 105,20LXX, in dem die Erzählung vom Goldenen Kalb (2. Mose 32) aufgegriffen wird:
kai ēllaxanto tēn doxan autōn en homoiōmati moschou eschontos chorton („und sie haben an die Stelle ihrer Herrlichkeit [gemeint ist Gott] das Abbild eines Kalbs gesetzt, das Gras frisst“). Er macht aus der doxa als Bezeichnung für Gott in Ps 105,20LXX die doxa Gottes (genitivus possessivus) und weitet den ursprünglichen Israelbezug des Psalm-Textes auf alle Menschen aus.
Zum Verständnis dieser Sätze muss ich nochmals auf die Bedeutung von doxa eingehen. Nach Wolter (Anm. 34) spricht Psalm 105,20 in mit den Worten doxa autōn {ihrer Herrlichkeit} von Gott als „Israels Herrlichkeit“. Ich würde, wie oben erläutert (siehe meine Anm. 49), doxa mit Ehre übersetzen und ergänzen, dass die Ehre des Gottes Israel in einem solchen Maße darin besteht, seinem Volk Freiheit und Recht zu verschaffen, dass Gott sogar gleichgesetzt werden kann mit dieser doxa, dieser Ehre, hebräisch kavod (so der Text in Psalm 106,20). Wo Israel diesen befreienden Gott mit Abbildern von Menschen und Tieren vertauscht, wendet es sich anstelle der von Gottes wegweisender Tora gebotenen Disziplin der Freiheit nicht nur fremden Göttern zu, sondern es lässt sich von eigenen oder fremden Machthabern erneut wie in Ägypten versklaven.
Wolters Schlussfolgerung (W144), dass Paulus „den ursprünglichen Israelbezug des Psalm-Textes auf alle Menschen“ ausweitet, zielt wieder einmal auf den Nachweis, Paulus wolle jeglichen Unterschied zwischen Juden und Völkern einebnen. Aber eben das ist die Frage. Schon der Vorwurf, der dem Volk Israel bei der Anbetung des Goldenen Kalbs gemacht wird, ist ja eben der, dass es den Praktiken der Völker folgt und den befreienden Gott Israels verlässt. Eine Einebnung der Unterschiede zwischen Juden und Völkern ist nach Paulus also nur insofern festzustellen, als auch die Völker in ihrer Verehrung nichtiger Götter sich schuldhaft dem wahren befreienden Gott verweigern, den sie eigentlich kennen könnten.
Letzteres weiß auch Wolter, denn ihm zufolge (W145) verknüpft Paulus mit den Worten
homoiōma eikonos phthartou anthrōpou {das Abbild des Aussehens eines vergänglichen Menschen} usw. … Ps 105,20LXX … mit dem traditionellen jüdischen Vorwurf gegen die Heiden, sie würden „Darstellungen“ (eikona) verehren … eikōn steht hier für die im Bild dargestellte Gestalt des Menschen und der Tiere.
Dabei stellt Paulus „mit Hilfe der antithetischen Opposition aphthartos/phthartos {unvergänglich/vergänglich}“ als „gemeinsames Merkmal, das ‚Mensch‘, ‚Vögel‘, ‚Vierbeiner‘ und ‚Kriechtiere‘ miteinander verbindet und von Gott unterscheidet, … ihre Vergänglichkeit heraus.“
Für Gerhard Jankowski steht grundsätzlich in Frage, wie gewöhnlich von Gott geredet wird. Reicht es, zwischen den Göttern verschiedener Religionen zu unterscheiden und zu behaupten, dass der eigene Gott der wahre, unvergängliche, ewige Gott ist, während andere Religionen eben falsche Götter anbeten? Jankowski schreibt (J67):
Die Frage ist … nicht, was und wie Gott ist. Zu fragen ist, was und wer wie als Gott funktioniert. <51> Das aber ist zu erkennen und zu benennen. Es wurde aber nicht erkannt. Aus „Gott“ wurde Gott, begreifbar, verfügbar für die eigenen Interessen. Aus befreiendem Dienst wurde Religion, Rückversicherung für die eigenen Taten…
Indem also Menschen nicht dem befreienden Gott in die Freiheit folgen, die gewährte Befreiung nicht in gesellschaftlichen Strukturen bewahren, die Armut und Elend entgegenwirken, vergöttern sie Dinge und Menschen, die nicht wirklich „Gott“ sind:
Bilder und Gebilde wurden und werden zu Göttern, kurz: Religion führte gerade nicht in die Freiheit, sondern in die sklavische Abhängigkeit. Menschheit wurde ausgeliefert an das Chaossystem einer Götterwelt, deren Bilder durchaus auch in den jeweiligen Herrschern zu identifizieren sind, die Unterwerfung fordern, sei es im Bild des vergöttlichten Cäsar oder in den Symbolen auf den Standarten der Legionen.
Auf diese Weise interpretiert Jankowski (J66) die „anthropomorphe {menschenähnliche} Rede vom Zorn Gottes“, wie er nach Paulus (Römer 1,18) „vom Himmel über jede Abtrünnigkeit“ der Menschen von dem befreienden Gott Israels enthüllt ist, vor dem Hintergrund einer „Kritik der Götter“ oder „Religionskritik“, die bereits die Propheten Israels im Blick auf die Völkerwelt geübt haben (J65):
Vielfach sind es die Götter der Unfreiheit, Idole der Barbarei der Fremdherrscher, die den Zorn besonders hervorrufen. So heißt es bei Jer 10,10f.:
10 Der EWIGE aber,
ein Gott ist er in Treue,
das ist der lebendige Gott,
der König der Zeiten!
Die Erde erschüttert vor seinem Zorn,
nicht halten seinem Drohen die Gojim stand.
11 Also sagt zu ihnen:
Die Götter,
die Erde und Himmel nicht geschaffen haben,
abgeschafft werden sie von der Erde,
unterhalb dieses Himmels hinweg.
↑ Römer 1,24: Gottes Strafe der Auslieferung der Menschen an ihre Begierden zur Unreinheit und Selbstentehrung
1,24 Darum hat Gott sie in den Begierden ihrer Herzen dahingegeben
in die Unreinheit,
sodass sie ihre Leiber selbst entehren.
[14. Dezember 2024] In Römer 1,24 drückt Paulus Michael Wolter zufolge (W145) „Gottes Strafhandeln“ für das zuvor geschilderte schuldhafte Versagen der Menschen zum ersten Mal mit dem Wort paradidōmi {ausliefern, dahingeben} aus, mit dem gewöhnlich „die Übergabe von Übeltätern an diejenigen Organe der Rechtsinstitutionen bezeichnet“ wird, „die Strafen vollziehen“, wie zum Beispiel in Matthäus 5,25 par.; 18,34; Johannes 19,16 und 1. Korinther 5,5).
Und es sind die menschlichen Begierden, epithymiai, die (W146) im „Herzen“ als dem Inbegriff der „menschlichen Personalität und Intentionalität“ angesiedelt sind und die jeder Mensch „unter Kontrolle zu halten hat“, die aber nun umgekehrt die Herrschaft übernehmen: „Gott gibt die Menschen in die Gewalt ihrer ‚Begierden‘.“
Nicht ganz stimmig ist für mich Wolters folgende Argumentation:
Wenn Paulus als Unheilsfolge der Strafen, die die „Begierden ihrer Herzen“ über die Menschen verhängen, die akatharsia („Unreinheit“) nennt, so geht daraus hervor, dass er hier nicht von der einen epithymia {Begierde} als der Quelle und dem Ursprung aller anderen Sünden spricht, sondern dass er speziell an die unterschiedlichen Gestalten des sexuellen Verlangens denkt. Darum steht hier auch der Plural. Dass es sich in der Tat so verhält, lassen die Konkretisierungen erkennen, die V. 24 durch V. 26-27 erfährt.
Später wird Wolter in seiner Auslegung von Römer 6,12 und 7,7 allerdings doch von der epithymia ausdrücklich sagen (W388), dass sie „nicht nur das sexuelle Begehren“ bezeichnet, sondern (W431) „in der hellenistisch-jüdischen Umwelt des frühen Christentums“ als „die Ursünde schlechthin“ gilt. Insofern ist es doch auch denkbar, dass Paulus am Ende vom Römer 1 lediglich beispielhaft auf sexuelle Ausdrucksformen dieser „Mutter alles Sünden“ zu sprechen kommt.
Außerdem widerspricht Wolter unmittelbar nach den im vorletzten Abschnitt zitierten Sätzen (W146) seiner eigenen eben geäußerten Einschätzung, dass das Stichwort akatharsia hier vor allem auf sexuelle Begierden bezogen sein soll:
Mit der Kategorie der „Unreinheit“ geht Paulus weit über die sexuelle Konnotation von epithymia hinaus. Es ist nämlich der antithetische Dualismus von ‚rein‘ und ‚unrein‘, der das Wirklichkeitsverständnis Israels bestimmt. Was das Gottesvolk von den Völkern unterscheidet, ist seine ‚Reinheit‘, und die hat Israel zu bewahren, denn nur so bleibt es in der Gemeinschaft mit seinem Gott. Die gesamte Existenzorientierung des Gottesvolkes unterliegt darum dem Erwählungsauftrag, „zu unterscheiden zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen, zwischen dem Unreinen und dem Reinen“ (Lev 10,10; s. auch 11,47; Ez 44,23). Hieran knüpft Paulus mit akatharsia an: „Unreinheit“ bezeichnet den Zustand der Heillosigkeit und Gottesferne.
Mit den Begriffen „Heillosigkeit und Gottesferne“, die unter Christen vor allem auf das individuelle Seelenheil bezogen werden, verschiebt Wolter allerdings erheblich den Sinn dessen, worauf sich die Unterscheidung von rein und unrein in den jüdischen heiligen Schriften bezieht. An der einzigen anderen Stelle in der gesamten Bibel, an der die Worte eis akatharsian {zur Unreinheit} in dieser Weise aufeinanderfolgen, nämlich am Ende von Hesekiel 7,20, bezeichnen sie die Folgen eines Strafgerichts Gottes, das (7,8 bzw. 7,5LXX) seinem Zorn entspringt und Israel droht aufgrund (7,19-20) der „Bilder ihrer abscheulichen Götzen“, die sie aus ihrem Reichtum angefertigt haben. Die Verse Hesekiel 7,21-27 stellen die zu erwartende „Unreinheit“ ganz und gar nicht vergeistigt dar, sondern sehr konkret gesellschaftsbezogen unter anderem (Vers 24) als die Entthronung der Gewaltherrscher Israels durch die Übelsten unter den Völkern und die Entheiligung ihrer Heiligtümer.
Dass die Menschen nach Römer 1,24 zur Strafe für ihre Entehrung Gottes (ouch … edoxasan {sie ehrten nicht} in Vers 21) an ihre Begierden zur Unreinheit übergeben werden, zieht Wolter zufolge eine weitere „Schadensfolge“ nach sich, nämlich (W146f.) die „‚Entwürdigung‘ (to atimazesthai) der menschlichen Körper“, die sie en autois {durch sie selbst} vollziehen:
Die Menschen selbst vollziehen an sich die Strafe, die Gott über sie verhängt. Genau dasselbe wird Paulus dann noch einmal in V. 27d sagen. Auf welche Weise die Menschen sich selbst bestrafen, steht dann in V. 26b-27c.
↑ Römer 1,25: Schuldhafte Verkehrung der Wahrheit in Lüge und der Verehrung des Geschöpfs statt dem Schöpfer
1,25 Sie haben Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt
und das Geschöpf verehrt und ihm gedient statt dem Schöpfer,
der gelobt ist in Ewigkeit. Amen.
[15. Dezember 2024] Mit Römer 1,25 beginnt nach Michael Wolter (W147) der „zweite Durchgang“ des von Paulus dargestellten Zusammenhangs menschlicher Schuld und göttlicher Strafe, indem Paulus weiterführt, was er
in V. 21-23 ausführlicher dargestellt hatte. Das wird nicht nur in der Wiederaufnahme von ēllaxan {sie haben an die Stelle gesetzt} (V. 23a) durch das intensivierende metēllaxan {sie haben ersetzt} (V. 25a) deutlich, sondern auch in der Transformation des Gegenübers von ‚unvergänglicher Gott‘ und ‚vergänglicher Mensch, Vögel, Vierbeiner und Kriechtiere‘ (V. 23) in das Gegenüber von „Schöpfer“ und ‚Schöpfung“ (V. 25b).
Das Verbindungswort „kai zu Beginn von V. 25b“ versteht Wolter im Sinne von „und zwar“ oder „indem“, denn mit
den Vorwürfen der Ersetzung von Gottes Wahrheit durch die Lüge (V. 25a) und der kultischen Verehrung der Schöpfung anstelle des Schöpfers (V. 25b) bezeichnet Paulus nicht zwei verschiedene Handlungen, sondern eine einzige. Wer nicht den Schöpfer, sondern das Geschaffene verehrt, substituiert {ersetzt} die Wahrheit Gottes durch die Lüge.
Mit der alētheia theou {Wahrheit Gottes} meint Paulus Wolter zufolge die „Wahrheit, dass Gott Gott ist … oder die Gott als solcher selbst ist“, wozu er (W148) auf „die verbreitete Rede vom theos alēthinos {wahren Gott}: 2Chr 15,3; 3Makk 6,18; Ps 85,15LXX; Jes 65,16; Joh 17,3; 1Thess 1,9)“ verweist. Aber ist tatsächlich „Gott als solcher“ im Blickfeld des Paulus, als ob er wie ein griechischer Philosoph über Gottes Göttlichkeit spekulieren würde? Paulus weiß doch, dass der allein wahre Gott sich mit seinem heiligen NAMEN als der befreiende Gott Israels offenbart, in Taten der Treue, und die von Wolter angeführte Stelle Psalm 85,15LXX belegt das dadurch, dass dort alēthinos als Übersetzung des hebräischen Wortes (Psalm 86,15) ˀemeth {Treue} dient. Auch in Jesaja 65,16 bezieht sich das griechische ton theon ton alēthinon {den wahren Gott} auf das hebräische beˀlohej ˀamen, also auf den Gott der Treue, und diese Treue wird in den folgenden Versen mit Bildern einer Zukunft des Friedens für Israel ausgemalt, in der Ausbeutung, Gewalt und der frühe Tod sogar von Kindern überwunden sein werden.
Zu Vers 25b geht Wolter darauf ein, dass es das Wort sebazomai {huldigen, verehren} „in der griechischen Bibel nur hier“ gibt. <52> Interessant daran ist, dass „das stammverwandte sebastos die griechische Übersetzung von Augustus ist, welche Bezeichnung seit Oktavian alle römischen Caesaren als Ehrentitel trugen (dt.: ‚der Erhabene‘)“ und die auch (Anm. 61) in der Apostelgeschichte 25,21.25 für den Kaiser verwendet wird. Darum nimmt eine Reihe von Exegeten <53> an (W148),
Paulus hätte mit der Wahl gerade dieses Verbs eine polemische Spitze gegen den römischen Herrscherkult in seine Darstellung eingebaut: Weil der Caesar ein Geschöpf Gottes ist, sei auch der Herrscherkult ein Fall von Ersetzung der Wahrheit Gottes durch Lüge. Für diese Vermutung könnte sprechen, dass die Kombination sebazomai kai latreuō {huldigen und dienen} nirgendwo sonst in der antiken Literatur belegt ist. … Das ist durchaus denkbar. Trotzdem kann man aber nicht sagen, dass die paulinische Darstellung speziell auf den römischen Herrscherkult abzielt; sie schließt ihn aber natürlich ein.
Gerhard Jankowski (J67) geht inhaltlich nur indirekt auf den Beginn von Römer 1,25 ein, indem er im Zuge seiner Deutung des gesamten Abschnitts 1,18-25 als einer paulinischen Religionskritik die Folgen einer Ersetzung des Gottes, der sich Israel als der befreiende NAME offenbart hat, durch nichtige Götter beschreibt:
Aus „Gott“ wurde Gott, begreifbar, verfügbar für die eigenen Interessen. Aus befreiendem Dienst wurde Religion, Rückversicherung für die eigenen Taten; die gute Ordnung verkam zum Chaos, die Wahrhaftigkeit wurde zur Lebenslüge, zum Lebensbetrug. Einfache Antworten, absolut gesetzt, traten und treten an die Stelle der Wahrhaftigkeit…
Schon weiter oben hatte ich zitiert, dass nach Jankowski eine solche „Religion“, in der „Bilder und Gebilde … zu Göttern“ werden, „gerade nicht in die Freiheit“ führt, „sondern in die sklavische Abhängigkeit“. Es geht dabei nicht etwa um die Frage, ob man grundsätzlich an unsichtbare Götter glauben kann oder welche der vielen Religionen man als seinen persönlichen Weg zum Heil den Vorzug gibt, sondern um die Frage, ob man dem befreienden Gott Israels und seinem Messias Jesus vertrauen kann oder ob die
Menschheit … ausgeliefert“ bleibt „an das Chaossystem einer Götterwelt, deren Bilder durchaus auch in den jeweiligen Herrschern zu identifizieren sind, die Unterwerfung fordern, sei es im Bild des vergöttlichten Cäsar oder in den Symbolen auf den Standarten der Legionen.
Für Jankowski bildet der Vers 25 einen Abschluss der Gedanken des Paulus zum Thema „Gott und Religion“. Er schließt (J68) wie „aus einem Erschrecken über diese Möglichkeiten von Religion heraus … mit einer berakha, einem Segenswunsch, auf den befreienden Gott.“
Wolter formuliert anders. Er meint (W148), dass diese „unvermittelt nachklappende Eulogie {Segensspruch} in V. 25c vielleicht (W149) der „Sorge“ des Paulus entspringt,
schon durch die bloße Beschreibung einer solchen Gottlosigkeit mit in sie hineingezogen zu werden. Dieser Gefahr will Paulus dadurch vorbauen, dass er sich mit einem Lobpreis Gottes von dem Inhalt seiner Darstellung distanziert.
Damit unterstreicht Wolter auch seine Einschätzung, dass der Segensspruch nicht das Ende eines Abschnitts markiert; vielmehr wird ihm zufolge in den Versen 26-27 ja die göttliche Strafe für die in Vers 25 erwähnte menschliche Schuld geschildert.
↑ Römer 1,26-27: Gottes Strafe der Auslieferung an widernatürliche Leidenschaften der Würdelosigkeit
1,26 Darum hat sie Gott dahingegeben
in schändliche Leidenschaften;
denn bei ihnen haben Frauen
den natürlichen Verkehr vertauscht
mit dem widernatürlichen;
1,27 desgleichen haben auch die Männer
den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen
und sind in Begierde zueinander entbrannt
und haben Männer mit Männern
Schande über sich gebracht
und den Lohn für ihre Verirrung,
wie es ja sein musste,
an sich selbst empfangen.
[16. Dezember 2024] Nach Michael Wolter (W149) beschreibt Paulus in Römer 1,26-27 „die Strafe, die Gott über die Menschen verhängt hat, weil sie nicht den Schöpfer, sondern die Schöpfung verehren (V. 25a-b)“, indem er „konkretisiert …, was er in V. 24 noch allgemein gesagt hatte.“ Dabei bezieht sich die „Überschrift“ in Vers 26a mit autous {sie} „auf die Gesamtheit aller Menschen von V. 18“ zurück, die „in Frauen (V. 26b… und Männer (V. 27a-d) mit ihren jeweiligen pathē atimias {würdelosen Leidenschaften}“ ausdifferenziert wird. Indem Paulus „in beiden Fällen nicht von ‚Frauen‘ und ‚Männern‘“ spricht, „sondern … die substantivierten Adjektive hai thēleiai (‚die Weiblichen‘) und hoi arsenes (‚die Männlichen‘)“ verwendet,
stellt er die biologische Geschlechtsidentität (‚sex‘) in den Vordergrund und lässt die soziale (‚gender‘) zurücktreten. Dieser Sprachgebrauch hat seinen Grund darin, dass Paulus die sexuelle Praxis von Frauen und Männern im Blick auf ihre Entsprechung zur „Natur“ (physis) in den Blick nimmt. Auch wo außerhalb des Neuen Testaments die sexuelle Praxis von Männern und Frauen im Blick auf ihre Übereinstimmung mit oder Abweichung von der „Natur“ verhandelt wird, finden in der Regel diese Adjektive Verwendung.
Es ist (W149f.) „die Sichtweise der platonischen und stoischen Tradition“, die Paulus in der Unterscheidung von „Verhaltensweisen, die als ‚natürlich‘ (physikos) gelten, von solchen …, die er für ‚widernatürlich‘ (para physin) hält, übernimmt“. Auch (W150) dass „Paulus den Geschlechtsverkehr in V. 26b.27a chrēsis (‚Gebrauch‘) nennt“, was „in der gesamten griechischen Bibel“ sonst nicht der Fall ist, „spiegelt“ ein „in der paganen Gräzität {im heidnischen Griechentum}“ verbreitetes
Verständnis von Sexualität, das deren Praxis nicht als eine partnerschaftliche Handlung versteht, sondern als ein Gewaltverhältnis, bei dem ein aktives Subjekt ein passives Objekt sexuell ‚gebraucht‘.
Da in Vers 26 die „epithymiais tōn kardiōn autōn {Begierden ihrer Herzen}“ aus Vers 24a durch die „pathē atimias {würdelosen Leidenschaften}“ und das Wort „atimazesthai {entwürdigt werden}“ aus Vers 24b aufgenommen werden, bestätigt sich für Wolter, dass es jedenfalls jetzt „nicht allgemein um die menschlichen Affekte im Sinne der antiken philosophischen Tradition“ geht“. Vielmehr geht es – zunächst auf die Frauen bezogen – konkret darum (W150f.), dass die
Ersetzung Gottes durch die Götzen … zur Ersetzung {metēllaxan} des „natürlichem Geschlechtsverkehrs durch den „widernatürlichen“ [führt]. Die Strafe entspricht der Schuld. Worin die Ersetzung des „natürlichen“ Verkehrs durch den „widernatürlichen“ besteht, geht aus dem Text aber nicht hervor. Paulus belässt seine Darstellung vielmehr ganz auf der Ebene der popularphilosophischen Deutung. Es bleibt also eine Leerstelle, und von ihr haben viele Interpreten sich eingeladen gefühlt, sie mit ihren eigenen Vorstellungen aufzufüllen. …
Die Vielfalt der möglichen Interpretationen ist … ein Indiz dafür, dass Paulus in V. 26b in der Tat keine bestimmte sexuelle Praxis der Frauen in den Blick nimmt.
Es ist Wolter zufolge also müßig, sich zu fragen, ob Paulus hier (W151) „von lesbischen Beziehungen“ spricht oder etwa von Frauen, die der geforderten passiven Rolle in der patriarchalen Ehe nicht entsprachen.
Mit dem Adverb homoiōs {genauso} in Vers 27a überträgt Paulus „die in V. 26b formulierte Bewertung“ des Verhaltens der Frauen (W152) auf das in Vers 27a-c dargestellte Verhalten der Männer, dass nämlich auch sie „‚den natürlichen Verkehr durch den widernatürlichen ersetzen‘.“ Das männliche Verhalten beschreibt er jedoch nicht so „unbestimmt“ wie bei den Frauen: „Es geht um den sexuellen Verkehr mit anderen Männern.“
Allerdings hat die konkrete Darstellung dieses Verkehrs durch Paulus „mit den Gegebenheiten in seiner nichtjüdischen Umwelt wenig bis gar nichts zu tun“, sondern er „lässt sich von idealtypischer Vereinfachung leiten“:
Weder haben ‚die‘ – d.h. alle – Männer den ‚normalen‘ heterosexuellen Geschlechtsverkehr aufgegeben, noch schlossen heterosexuelle und homosexuelle Beziehungen einander aus. Auch dass Paulus in V. 27b-c die zwischenmännliche sexuelle Praxis als eine Beziehung darstellt, die durch reziproke Egalität {wechselseitige Gleichheit} gekennzeichnet ist (exekausthēsan en tē orexei autōn eis allēlois, arsenes en arsesin {sie sind entbrannt durch ihr Verlangen nacheinander, Männliche mit Männlichen}), entspricht in dieser Pauschalität ebenfalls nicht der Realität, denn wie jede sexuelle Beziehung basierte auch sie auf der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Rolle und bildete dadurch soziale Hierarchien ab. Dass Paulus hier lediglich die Päderastie kritisieren will <54>, kann man darum ausschließen.
Vielmehr gibt Paulus Wolter zufolge (W153)
in diesem Vers ein antipaganes jüdisches Stereotyp wieder. Dem Verbot sexueller Beziehungen zwischen Männern nach Lev 18,22 und 20,13 als Bestandteil jüdischer Identität entsprach als Bestandteil der Konstruktion von nichtjüdischer Alterität {Andersartigkeit}, dass der sexuelle Verkehr von Männern mit Männern als unter den Völkern verbreitet und für sie typisch angesehen wurde. … Es gab aber auch in der nichtjüdischen Umwelt des frühen Christentums Stimmen, die gleichgeschlechtliche Sexualbeziehungen zwischen Männern verurteilten …
Gerhard Jankowski reduziert das, was Paulus in Römer 1,26-27 gegen sexuelle Praktiken der Völkerwelt vorbringt, nicht einfach auf ein „antipaganes jüdisches Stereotyp“ in (W152) „idealtypischer Vereinfachung“. Er betrachtet (J68) diese Verse unter der Überschrift „Moral“, indem er von einer engen Verknüpfung zwischen „Religion und Moral“ ausgeht: „Entweder führt Religion zu rigider Moralität oder zu schrankenlosem Libertinismus, auch und gerade was die Sexualität betrifft.“ Indem Paulus Homosexualität radikal verurteilt, wobei er es nicht einmal „wagt…, hier Mann und Frau zu sagen, er redet von ‚Männchen‘, arsenes, und ‚Weibchen‘, thēleiai“, hat er Praktiken „vor Augen“, die „mit Menschlichkeit nichts mehr zu tun“ haben:
Seine Kritik an der Homosexualität ist von seiner „Religionskritik“ her zu verstehen. Er entlarvt die Religion als Pervertierung der Freiheit. Und ebenso entlarvt er die ihm bekannte Homosexualität als Pervertierung einer befreiten Sexualität. Er hatte gute Gründe für seine Kritik.
Unter diesen Gründen spielt bei Jankowski die von Wolter angesprochene Knabenliebe (J69), „im Volksmund ‚griechische Liebe‘ genannt“, zwar auch eine Rolle, aber bei weitem nicht die einzige. So denkt er zum Beispiel (J67f.) an „Kulte, in denen sexuelle Praktiken eine nicht unerhebliche Rolle spielten“ oder an „Prostitution“. Und wo die „Thora selbst“ im 3. Buch Mose „Inzest, Sodomie und Homophilie“ verbietet, tut sie es deswegen, weil durch sie „das Volk und das Land bemakelt“ werden, „sie machen das Land wieder zu ‚Ägypten‘, also unfrei.“ Jankowski geht aber auch darauf ein (J68), dass
von der Norm abweichende sexuelle Praktiken vor allem der Eliten allgemein bekannt [wurden] und … ihren Niederschlag in der Literatur der Zeit [fanden]. Von Caligula ist bekannt, daß er nicht nur inzestuösen Umgang mit seiner Schwester, sondern auch homosexuelle Affären mit Schauspielern und Angehörigen der Nobilität hatte. <55> lnnerhalb der aristokratischen Familien wurde an solchen Praktiken Kritik laut, in den unteren Schichten wurden sie mit ätzendem Spott bedacht, <56> sie waren also im öffentlichen Leben bekannt, nicht nur in der Stadt Rom.
Jankowskis Fazit seiner Auslegung von Römer 1,26-27 lautet abschließend:
Ob Prostitution oder von der Norm abweichende Sexualpraktiken – die meisten, die sich für Liebe anboten, waren Sklaven oder Freigelassene. Die Freiheit wurde geschändet, was der Menschheit dienlich sein sollte, verkam. Menschen waren ausgeliefert, versklavt auch in der Sexualität.
Wolter (W153) fügt seiner Auslegung der Verse 26-27 einen längeren Exkurs über die Rolle hinzu, die diese „in der jüngeren Vergangenheit … in der Debatte um den Umgang von Christen mit ihrer eigenen Homosexualität und der Homosexualität anderer Christen gespielt“ haben, und erhebt „gewichtige Einwände“ gegen eine „Instrumentalisierung der paulinischen Bemerkungen über den sexuellen Verkehr (chrēsis) von Männern und Frauen“:
- Erstens zielt „die paulinische Verwendung der Kategorien ‚natürlich‘ (physikē) und ‚widernatürlich‘ (para physin) … lediglich darauf ab…, Verhaltensweisen zu diskreditieren, die der kulturellen Konvention widersprechen.“
- Zweitens ist „der Umgang der Menschen mit ihrer Sexualität immer … eingebettet in kulturell vermittelte und gelernte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster“, darum ist „unmöglich… zwischen einem ‚natürlichen‘ und einem ‚widernatürlichen‘ Umgang mit der menschlichen Sexualität zu unterscheiden.“
- Drittens kennzeichnet „Homosexualität“ als „ein neuzeitliches Konstrukt“ mehr als „eine sexuelle Praxis“, nämlich „auch eine entsprechende Identität“, die „von derselben Art“ ist „wie alle anderen kulturellen Identitäten, die innerhalb der lebensweltlichen Kontexte in Geltung stehen, in denen Christen leben.“
Für den Umgang mit „unterschiedlichen sexuellen Identitäten“ gilt nach Wolter aber, was Paulus in 1. Korinther 12,13 und Galater 3,28 über (W154) andere „ldentitätszuschreibungen innerhalb jener Sinnwelt“ sagt, „die für den Christus-Glauben die „neue Schöpfung“ Gottes ist (2Kor 5,17; Gal 6,15)“. In ihr spielen sie „keine Rolle“:
Wenn Paulus schreibt: „denn alle seid ihr Einer in Christus Jesus“, so gilt das nicht nur für die alltagsweltlichen Unterschiede zwischen „Juden und Griechen“, „Sklaven und Freiem“, „männlich und weiblich“, sondern auch für den Unterschied zwischen ‚homosexuell‘ und ‚heterosexuell‘. Homosexualität für „eine tragische Deformation der Schöpfungsordnung“ zu halten <57>, ist darum ein schlimmes theologisches Fehlurteil, weil es den Versuch unternimmt, nur die eigene sexuelle Orientierung als von Gott gewollt zu legitimieren. Demgegenüber ist darauf zu insistieren, dass Homosexualität ebenso wie Heterosexualität Bestandteil der guten Schöpfung Gottes und deren Vielfalt ist.
Zurück zu Wolters Auslegung dessen, was Paulus in Römer 1,26-27 als schuldhaftes Verhalten von Frauen und Männern beschreibt (W152). Als „die Folge dieser Praxis“ nennt Paulus „parallel zu ‚Unreinheit‘ (akatharsia) in V. 24a“ in Vers 27c „das Adjektivabstraktum aschēmosynē {Schande} … für diejenigen, die sie betreiben“, und in Vers 27d „parallel zu V. 24b“ bezeichnet er die weitere „Schadensfolge“
mit metaphorischer Ironie als „Gegenleistung (antimisthia) für ihre Verirrung“. Dadurch wird sie an die in V. 25 beschriebene Verfehlung in der Gottesverehrung zurückgebunden, die hier als planē {Verirrung} wieder aufgerufen wird. Wie in V. 24b liegt auch hier die abschließende Pointe auf en heautois {durch sich selbst}, das wie en autois {durch sie} (V. 24b) instrumental zu verstehen ist: Es sind die Menschen selbst, die die Strafe an sich vollziehen, die Gott über sie verhängt.
↑ Römer 1,28-31: Schuldhafte Nichtanerkennung Gottes führt zur Strafe der Auslieferung an die Verweigerung aller Pflichten
1,28 Und wie sie es für nichts geachtet haben, Gott zu erkennen,
hat sie Gott dahingegeben in verkehrten Sinn,
sodass sie tun, was nicht recht ist,
1,29 voll von aller Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit,
voll Neid, Mord, Hader, List, Niedertracht;
Ohrenbläser,
1,30 Verleumder, Gottesverächter, Frevler,
hochmütig, prahlerisch, erfinderisch im Bösen, den Eltern ungehorsam,
1,31 unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig.
[17. Dezember 2024] In seiner dritten Darstellung eines Teufelskreises von Schuld und Strafe fasst Paulus Michael Wolter zufolge (W154) mit nur einem kurzen Satz in Vers 28a die „zuvor in V. 21-23 und in V. 25“ dargestellte Schuld „noch einmal mit anderen Worten zusammen“, indem er den „gespreizten Ausdruck ton theon echein en epignōsei (wörtlich: ‚Gott in der Erkenntnis behalten‘)“ verwendet. Es ist also „nicht so wie in SapSal {Weisheit Salomos} 13,1, dass die Menschen Gott nicht erkannt hätten, sondern sie haben die Kenntnis Gottes absichtsvoll aufgegeben.“
Ausführlicher erfolgt die „Darstellung der Strafe … in V. 28b-31.“ Nach Vers 28b besteht sie in der Auslieferung „eis adokimon noun {an einen wertlosen Verstand}“, wobei (W154f.) das „Adjektiv adokimos {wertlos}“ die Wendung „ouk edokimasan {sie hielten nicht für wert} aus V. 28a wieder“ aufnimmt. Die Menschen werden (W155)
für ihre Abkehr von Gott dadurch bestraft, dass sie an einen nous {Verstand} ausgeliefert werden, der zu einer ethischen Urteilsbildung nicht in der Lage ist.
Damit zeigt Paulus, dass er
in der Tradition der griechischen und hier vor allem der stoischen Ethik steht, wonach das rechte ethische Handeln die rechte intellektuelle Einsicht zur unabdingbaren Voraussetzung hat.
Auch indem Paulus in Vers 28c die „Schadensfolgen“ mit poiein ta mē kathēkonta {zu tun, was sich nicht gehört} umschreibt, „übernimmt Paulus einen Begriff, der in der stoischen Ethik eine bedeutende Rolle spielt.“ Das Wort ta kathēkonta bezeichnet nach „Zeno v. Kition (4./3. Jh. v. Chr.) <58>“, dem „Begründer der stoischen Philosophenschule, … die sozialen Pflichten…, die an den Menschen aufgrund seiner Natur herantreten“, die im Lateinischen officium genannt werden:
Die kathēkonta bzw. officia sind von der Vernunft geboten, und zu ihnen gehören z.B. „die Eltern ehren und die Geschwister und die Heimat sowie mit den Freunden zu verkehren“ (Diogenes Laertius 7,108). … Der Unterschied zwischen der stoischen kathēkonta-Ethik und ihrer paulinischen Rezeption wird jedoch erkennbar, wenn wir Röm 1,28 dem gegenüberstellen, was Mark Aurel über den Verstand und die Pflichten schreibt: „Den nous als Wegweiser zu den offensichtlichen kathēkonta zu haben – das gibt es auch bei denen, die nicht meinen, dass es Götter gibt“ (Mark Aurel 3,16,1) <59>. Er macht damit die ethische Urteilsbildung von der rechten Gotteserkenntnis unabhängig. Genau das ist bei Paulus anders.
Was „der stoischen Pflichtenethik … widerspricht“, zählt Diogenes Laertius 7,108 (W156) in Form der „Handlungen“ auf,
die die Vernunft (der logos) ablehnt: „die Eltern zu vernachlässigen, die Geschwister zu missachten, mit den Freunden nicht übereinzustimmen, die Heimat zu vernachlässigen und so weiter“. Die Nähe dieser Aufzählung zur paulinischen Konkretion der mē kathēkonta {was sich nicht gehört} in Röm 1,29-31 ist durch die Andeutung der Katalogform bei Diogenes Laertius gegeben. Ansonsten unterscheiden sich beide Texte vor allem dadurch, dass Paulus keine Handlungen beschreibt, sondern Personen charakterisiert.
Die mit „dem Personalpronomen autous {sie}“ in Vers 28b bezeichneten an wertlose Vernunft ausgelieferten Menschen sind nach Vers 29 peplērōmenous {angefüllt} bzw. mestous {voll} von neun Arten aller möglichen schlechten Eigenschaften, worauf vom letzten Wort des Verses 29 an bis Vers 31 weitere zwölf negative Beschreibungen dieser Menschen folgen. Diese „Aufzählung“ gehört „zu den sog. Lasterkatalogen“, die aus „der hellenistischen Literatur … auch im frühen Judentum“ übernommen wurden und „den Eindruck von Vollständigkeit zu vermitteln“ suchte. Im Unterschied zu „den meisten anderen Lasterkatalogen des Neuen Testaments <60>“ will Paulus „mit dem Katalog in Röm 1,29-31 … den Lesern hier nicht ethische Orientierung vermitteln“, sondern er „listet vielmehr bestimmte Menschentypen auf und charakterisiert sie über ihr Handeln“, ähnlich wie in „1Kor 5,10-11; 6,9-10; 1Tim 1,9-10; 2Tim 3,2-5; Tit 3,3; Apk 22,15“ beleidigende Äußerungen „gegen Gegner gerichtet sind oder Außenstehende beschreiben“. Indem solche „ethischen Kataloge … sich recht weitgehend überschneiden“, spiegeln sie „ein ethisches Grundwissen wider“, das (W157) „nicht das reale Verhalten bestimmter Menschen, sondern ldealtypen“ wiedergibt und „durch die Abgrenzung nach außen interne Vergewisserung“ erzeugt.
Das Fehlen der „sexuellen und religiösen Laster wie porneia {Hurerei} etc. und eidōlolatria {Abgötterei}“ im vorliegenden Lasterkatalog führt Wolter darauf zurück, „dass Paulus das mit diesen Begriffen bezeichnete Fehlverhalten bereits in den vorangegangenen Versen ausführlich thematisiert hatte.“ Dennoch vermutet er aber zusätzlich eine weitere Absicht, die dieser Unterlassung des Paulus zugrunde liegt:
In dem Katalog fehlen damit solche Laster, die aus jüdischer Perspektive als typische ‚Heidenlaster‘ gelten. Jeder Leser, der durch die Lektüre von V. 19-27 die Meinung gewonnen haben sollte, dass Paulus hier lediglich die „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit“ der Heiden thematisiert, bekommt durch V. 29-31 eine Perspektive vermittelt, die über diesen Rahmen hinausführt und nun wirklich auch auf der inhaltlichen Ebene die gesamte Menschheit in den Blick nimmt, und zwar auf beiden Seiten: Auf die hier genannten Laster lässt sich nicht nur kein Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden projizieren, sondern Nichtjuden und Juden können sich auch darauf verständigen, dass es sich um ethische Laster handelt und dass es sie bei den einen genauso gibt wie bei den anderen.
Zwar will Paulus „nicht behaupten, dass alle Menschen ‚Gewalttäter‘ sind oder dass jeder Mensch voller ‚Habgier‘ ist“, vielmehr geht die „Plausibilität des Katalogs … von seiner Breite und Vielfalt aus“, da
es keinen Menschen gibt, auf den nicht mindestens ein Element des Katalogs zutrifft. Auf diese Weise öffnet sich der Katalog tatsächlich auf die gesamte Menschheit hin.
Die ersten vier im Dativ mit peplērōmenous {angefüllt mit} verbundenen Laster enden alle auf -ia; das „Adjektiv pasē {aller} zu Beginn bezieht sich dabei nicht nur auf adikia {Unrechtigkeit}“, sondern auch auf ponēria {Schlechtigkeit}, pleonexia {Habgier} und kakia {Bosheit}. Dabei schließt (W158) adikia {Ungerechtigkeit} „an der Spitze des Katalogs“ an Vers 18 an und erhält eine „Leitfunktion für den gesamten Katalog“.
Die ersten beiden (W157f.) der folgenden fünf im Genitiv an mestous {voller} anschließenden Laster phthonou {Neid}, phonou {Mord}, eridos {Streit}, dolou {Tücke} und kakoētheias {Bösartigkeit} hat Paulus wohl bewusst wegen ihrer lautlichen Ähnlichkeit nebeneinandergestellt, ähnlich wie „asynetos und asynthetous in V. 31“.
Danach folgen zwölf verurteilende Zuschreibungen an Menschen, die im „Akkusativ Plural“ (W156) „als eine Kette von Appositionen dem Personalpronomen autous (V. 28b) zugeordnet“ sind. Die erste von ihnen (W158), psythyristai, wird von Martin Luther mit „Ohrenbläser“ übersetzt, wörtlich handelt es sich um einen Einflüsterer. Die anderen in den Versen 30 und 31 seien hier nur aufgezählt (W158f.): katalalous {Verleumder}, theostygeis {Gotteshasser}, hybristas {Gewalttäter}, hyperphanous {Überhebliche}, alazonas {Prahlhänse}, epheuretas kakōn {Erfinder von Schlechtem}, goneusin apeitheis {den Eltern Ungehorsame}, asynetous {Unverständige}, asynthetous {Ungetreue}, astorgous {zur Liebe Unfähige} und aneleēmonas {Unbarmherzige}. Dass (W157f.) die letzten fünf Wörter mit einem verneinenden Alpha beginnen, ist wieder der stilistischen Strukturierung des Katalogs durch Paulus zu verdanken. Auffällig ist (W159), dass die vorletzte Eigenschaft astorgoi {zur Liebe Unfähige}, die im Neuen Testament nur noch im „Lasterkatalog 2Tim 3,3“ vorkommt, in der „Septuaginta und allen anderen hellenistisch-jüdischen Texten … unbekannt“ ist, in nichtjüdischen griechischen Texten „aber weit verbreitet“.
Gerhard Jankowski (J69) geht unter der Überschrift „Die Pflichten“ auf die Verse Römer 1,28-31 ein. In den Augen des Paulus (J70) wissen auch „nichtjüdische Menschen“, dass „[o]hne Disziplin … gesellschaftliches Leben nicht möglich“ ist:
Was getan und gelassen werden muß, damit Leben möglich ist, umschreibt hellenistische Philosophie mit dem Begriff ta kathēkon, was in etwa mit Pflicht zu übersetzen ist. Wir hören an unserer Stelle den Plural dieses Begriffs (1,28). Die jüdischen Lehrer gingen davon aus, daß die Thora, als sie dem Volk Israel gegeben wurde, auch den Völkern der Welt angeboten wurde. Sie hätten also erkennen können, wozu die Thora da ist. Ebenso gilt, daß die Völker die Thora nicht erprobt haben, sie nahmen sie nicht an. Spätere sagten, daß den Völkern eine Thora angeboten wurde, die eine Handvoll Gebote enthält, die einzuhalten sind, damit überhaupt Israel mit den anderen Völkern verkehren kann. Zu diesen Grundgeboten einer Thora für die Völker gehören: Einhaltung der Rechtspflege, Verbot von Götzendienst, Hurerei, Mord, Raub. Nach Meinung der Lehrer wurden selbst diese Gebote nicht eingehalten. Deswegen verkam die nichtjüdische Welt. Sie hielt und hält sich weder an die ihr angebotenen Gebote noch an die von ihr selbst aufgestellten ethischen Regeln. Die Folgen beschreibt Paulus fast katalogartig (1,29-31). Und er beschreibt dabei gleichzeitig die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit.
Anders als Wolter geht Jankowski also davon aus, dass Paulus im Lasterkatalog von 1,29-31 das aufzählt, „was an Fehlverhalten herkömmlich der nichtjüdischen Gesellschaft angekreidet wurde und was Juden in ihrer Umwelt so auch erlebten.“ Er beruft sich dabei auf den Historiker Th. Mommsen, <61> der „die gesellschaftlichen Zustände der frühen Kaiserzeit“ ähnlich wie im paulinischen „Negativkatalog“ schildert und unter anderem darauf eingeht, dass „um Geld … der Staatsmann den Staat, der Bürger seine Freiheit“ verkaufte (J70f.):
„Urkundenfälschung und Meineide waren so gemein geworden, daß bei einem Volkspoeten dieser Zeit der Eid ‚das Schuldenpflaster‘ heißt. Man hatte vergessen, was Ehrlichkeit war; wer eine Bestechung zurückwies, galt nicht für einen rechtschaffenen Mann, sondern für einen persönlichen Feind. Die Kriminalistik aller Zeiten und Länder wird schwerlich ein Seitenstück bieten zu einem Schauergemälde so mannigfaltiger, so entsetzlicher und so widernatürlicher Verbrechen …“
Mit seinem Lasterkatalog zieht Paulus nach Jankowski (J71) folgendermaßen das „Fazit“ seiner ganzen bisherigen Ausführungen seit Vers 18:
so ist die Welt der Gojim; so erleben wir die Gesellschaft unter der römischen Herrschaft. Zur Absicherung der Herrschaft hat sie sich eine Religion zusammengezimmert, die Freiheit unmöglich macht; ihre Moral ist verkommen und pervertiert; ihre Ethik bar jeder Menschlichkeit. Sie ist an sich selbst in ihrer ganzen Verkommenheit und Unfreiheit ausgeliefert, preisgegeben der Verstörung und Zerstörung.
↑ Römer 1,32: Wer für seine Taten des Todes würdig ist, spendet andern dafür Beifall
1,32 Sie wissen, dass nach Gottes Recht den Tod verdienen, die solches tun;
aber sie tun es nicht nur selbst,
sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun.
[18. Dezember 2024] Für Michael Wolter (159) schließt der Vers Römer 1,32 „den gesamten Abschnitt ab“, nicht nur „den Lasterkatalog…, sondern alles, was er ab V. 18 geschrieben hat“, denn mit dem Wort epignontes {obwohl sie kennen} werden die stammverwandten Stichworte gnōston {erkennbar} und gnontes {obwohl sie kennen gelernt haben} von den Versen 19a und 21a aufgenommen:
Obwohl den Menschen das von Gott gesetzte Recht bekannt ist (V. 32a) …, haben sie sich nicht entsprechend verhalten. Darum sind die hoitines {sie} zwar die Lastertäter von V. 29-31, doch sind sie gerade als solche mit den autoi {sie} von V. 28b identisch und niemand anderer als die „Menschen“ von V. 18. Daher verweisen die Pronomina toiauta {solche Dinge} (V. 32b) und auta {sie} (V. 32c) auch nicht nur auf die in V. 29-31 genannten Laster, sondern auf alle Verhaltensweisen, von denen in V. 21-31 die Rede war.
Was meint Paulus mit dikaiōma tou theou {Rechtsordnung Gottes}? Nach Wolter „verweist Paulus nicht auf ein bestimmtes Rechtskorpus“, also weder auf „die Tora“ noch auf „das ‚Werk des Gesetzes‘, das den Heiden nach Röm 2,15 ins Herz geschrieben ist.“ Stattdessen ist hier seines Erachtens ausschließlich davon die Rede, dass nach Vers 32b
diejenigen, die sich der in V. 21-31 beschriebenen asebeia {Gottlosigkeit} und adikia {Ungerechtigkeit} (V. 18) schuldig machen, den Tod zu erwarten haben. Hierbei handelt es sich nicht lediglich um den biologischen Tod, der nach Röm 5,12 durch Adams Fall in die Welt gekommen ist, sondern um den eschatischen {letzten, letztgültigen} ‚Tod‘, den der in V. 18 angekündigte „Zorn Gottes“ über die Menschen als Strafe für die in V. 21-31 beschriebenen Vergehen verhängen wird. „Tod“ ist hier also Umschreibung für die Unheilsfolge des endzeitlichen Gerichtshandelns Gottes.
Keineswegs meint Paulus Wolter zufolge (W160) in Vers 32c,
Paulus würde die beifällige Zustimmung zu den Verfehlungen anderer für schlimmer halten als die Verfehlungen selbst…, denn das syneudokein {Gefallen finden} an den Verfehlungen der anderen kommt noch zu den eigenen Verfehlungen hinzu. … Die Menschen begnügen sich also nicht damit, ta mē kathēkonta zu tun, sondern sie feuern sich auch noch gegenseitig an.
Diese Bemerkung kann aber auch „als Vorbereitung zu Röm 2,1“ betrachtet werden,
denn hier wendet Paulus sich denjenigen zu, die genau das Gegenteil tun: Sie spenden den Verfehlungen der anderen keinen Beifall (syneudokein), sondern sie kritisieren sie (krinein).
Für Gerhard Jankowski gehört Römer 1,32 bereits zum folgenden Abschnitt, der sich ab 2,1 nach der Darlegung der Gründe für Gottes Zorn über die Völkerwelt den Juden mit ihrem kritischen Blick auf die Gojim zuwendet. Seine Übersetzung lautet (J71):
Die nun das Rechtsgeheiß Gottes kennen,
daß des Todes schuldig sind, die solches machen,
die tun nicht nur dasselbe,
sondern sie spenden den Machern Beifall.
Indem er davon ausgeht, dass dikaiōma tou theou sich auf das „Rechtsgeheiß Gottes“ bezieht, das in der Gestalt der Tora nur den Juden bekannt ist, unterstellt er den jüdischen Lesern seines Briefes, dass sie von diesem Rechtsgeheiß aus wie „[j]eder Jude der damaligen Zeit“ zwar „bedingungslos diese Kritik“ an den Gojim, die Paulus zuvor geübt hat, unterschreiben, aber dennoch (J73) tun „sie … genau dasselbe und nehmen zustimmend, ja applaudierend, wie er sagt, daran teil.“
Auch Jankowski findet es aber auffällig, dass Paulus
das Wort Thora, nomos, hier nicht gebraucht. Er schreibt dikaiōma und hat dabei das hebräische chok und chukkah im Sinn. Das ist das Rechtsgeheiß, das auf der Thora fußt. Ich nehme an, daß er darunter sowohl die Gebote der Thora für Israel versteht als auch die Gebote, die den Gojim gegeben waren.
Insofern scheinen Jankowskis Überlegungen letzten Endes auf dasselbe Ergebnis wie bei Wolter hinauszulaufen, denn zwar wissen „Juden aufgrund der chukkah, des Rechtsgeheißes, daß die beschriebene Praxis der nichtjüdischen Welt zu verurteilen ist“, aber sie handeln selber nicht anders.
Trotzdem ebnet Paulus Jankowski zufolge die Unterschiede zwischen Juden und Gojim nicht grundsätzlich ein, wie es Wolter tut (J72):
Die jüdische Welt ist von der nichtjüdischen Welt unterschieden, vollkommen unterschieden. Nun leben aber Juden nicht nur in einer jüdischen Umwelt. Sie leben in der Diaspora mittendrin unter den Gojim, kommen täglich mit ihnen zusammen, haben mit ihnen zu arbeiten und zu verkehren.
In „diesen Diasporaverhältnissen“ stellte sich für Juden die Frage (J72f.), auf welche Weise eine „Praxis“ geübt und bewahrt werden konnte, „die einen Juden von einem Nichtjuden unterscheidet“, und (J73) sie hörten auf „Lehrer der Thora“, die Antworten gaben. Nach Jankowski verstand sich Paulus „sicher“ als „solch ein Lehrer“, der aber „eben ganz anders“ als andere Lehrer redet. Und seine ganz andere „These …, die dann im Kapitel 7 ihre dramatische Zuspitzung erfahren wird“, lautet:
Unter den gegebenen gesellschaftlichen Zuständen kann man in der Diaspora nicht als Jude leben. Dabei geht es nicht um die Frage der Assimilation oder Emanzipation. Diese Frage spielte, wenn überhaupt, sicher nur in den geringsten Fällen eine Rolle. Das Judentum war, auch wenn es Privilegien besaß und ihm in den großen hellenistischen Städten eine Art Selbstverwaltung, das sogenannte politeuma, zugestanden wurde, zu sehr in die römisch-hellenistische Gesellschaft verwoben. Überall da kam es auf das Tun an, also auf das, was sich für Israel notwendigerweise aus der Thora ergibt. Und genau an diesem Tun entschied sich alles.
Wie genau die Lösung aussieht, die sich für Paulus in der Frage nach dem Tun der Tora durch die Frohbotschaft vom Messias Jesus eröffnet hat, das wird er im Laufe des Römerbriefs entfalten. Aber es ist klar, dass Paulus, auch wenn er nach wie vor als jüdischer Lehrer redet, mit einer solchen These jeden Juden provozieren musste, der sich trotz allem innerhalb der hellenistischen Diaspora „ernsthaft bemühte, sein Tun nach der Thora auszurichten.“ Um des „alltäglichen Tuns“ willen
wurde ja die Halacha entwickelt, die eine Hilfe sein sollte, die Gebote der Thora im alltäglichen Leben einzuhalten. Aber gerade sie führte immer wieder an Grenzen. Sie unterschied nun wirklich eindeutig zwischen Juden und Nichtjuden und machte das alltägliche Tun noch komplizierter. Mit der Halacha war die Praxis der Nichtjuden eindeutig zu beurteilen und dann auch zu verurteilen. Das wiederum führte dazu, daß Nichtjuden die Praxis der Juden als schlicht „barbarisch“ empfanden, also der hellenistischen Gesellschaft nicht angemessen. Der daraus resultierende Antijudaismus verschlimmerte die Lage nur noch. Es wurde in der Tat unmöglich, in dieser Gesellschaft als Jude zu leben. Und es war ebenso unmöglich, so meint Paulus, daß in dieser Gesellschaft Nichtjuden menschlich leben konnten. Die Unterschiede hoben sich an diesem Punkt auf.
Interessant ist, dass auch Michael Wolter in seiner Zusammenfassung der Auslegung von Römer 1,18-32 zwar weiterhin an seiner Behauptung festhält (W160), dass „Paulus die in V. 18 mit tōn anthrōpōn {der Menschen} angezeigte Reichweite seiner Darstellung bis V. 32 konsequent durchzieht und damit auch hier schon den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden einebnet“, aber zugleich drei „Uneindeutigkeiten“ hervorhebt, die diesen „Text auf verschiedenen Ebenen kennzeichnen.“
Die erste dieser „Uneindeutigkeiten“ besteht darin, dass Paulus, um „das religiöse und ethische Versagen der gesamten Menschheit“ zu beschreiben, dann doch „auf Stereotypen zurückgreift, die aus der jüdischen Polemik gegen die Heiden stammen.“
Zweitens sieht Wolter eine „Uneindeutigkeit“ zwischen der „Form“ des Textes und seiner „Funktion“. Dass er es ablehnt, ihn „als ‚prophetische Gerichtsrede‘ <62> oder ‚Anklage‘ <63>“ zu begreifen, beruht allerdings ganz und gar auf seiner in meinen Augen irrigen Annahme über die Adressaten des Römerbriefs (W161):
Weder haben die Adressaten dieses Textes über die hier beschriebenen Verfehlungen zu richten noch sind sie die Angeklagten. Auch handelt es sich nicht um eine Missionspredigt, die die Leser zur Umkehr auffordern will. <64> Die Leser, für die Paulus diesen Text geschrieben hat, sind ja die Christen in Rom, mit denen er sich einig ist, dass alles, was er hier über die „Menschen“ schreibt, sie selbst nicht betrifft. Paulus legt Christen die Situation der nichtchristlichen Menschheit dar. Dementsprechend verlangt er nicht, dass die Leser, für die er den Brief geschrieben hat, sich in seiner Darstellung wiedererkennen und sie auf sich beziehen.
Aber lädt Paulus als zu Christus bekehrter Jude wirklich christliche ehemalige Heiden dazu ein, sich gemütlich zurückzulehnen und seine Tiraden über nichtchristliche Heiden und nichtchristliche Juden anzuhören, die sie selber gar nicht betreffen? Paulus kann doch nicht wissen, wie stark der Glaube und die christliche Praxis eventueller Heidenchristen in Rom bereits ausgeprägt ist. Daher ist es weitaus wahrscheinlicher, dass er sowohl die Juden in Rom als auch Gojim in ihrem Umfeld auf ihre jeweilige prekäre Situation unter einem Urteil nach dem dikaiōma theou {Rechtsgeheiß Gottes} anspricht, um ihnen als Weg zur Befreiung das euangelion {die Frohbotschaft} vom Messias Jesus zu verkündigen, und zwar Ioudaiō te prōton kai Hellēni {für den Juden zuerst und auch für den Griechen}, wie Paulus in 1,16 betont.
Allerdings lässt Paulus auch nach Wolter (W161) „die Charakterisierung seines Evangeliums in 1,16-17 … dem Abschnitt 1,18-32 … als lnterpretationsanweisung“ vorangehen, und auch ihm zufolge wird „die ab 1,18 geschilderte Situation“ zum „Anknüpfungspunkt des paulinischen Evangeliums“:
Weil es das Heil an den Glauben bindet, ist es die einzige Möglichkeit, aus dem Zorngericht, das den Menschen von Gott her unausweichlich droht, gerettet zu werden.
Kann es denn sein, dass Paulus einfach voraussetzt, seine Adressaten seien, da sie bereits an Jesus glauben, vor dem Zorngericht Gottes befreit, und keine Anklage des Paulus könne sie mehr betreffen?
Für Wolter ergibt sich jedenfalls „eine dritte Uneindeutigkeit“ in Römer 1,18-31 daraus, dass der Text „das Evangelium mit keinem Wort erwähnt“ und „die Situation der Menschheit auch nicht von einer christlichen Position aus, sondern unter Rückgriff auf ihre eigenen Kriterien“ beschreibt. Trotzdem (W161f.)
ist das Evangelium als ‚Macht Gottes zum Heil für jeden, der glaubt‘ (1,16b), unausgesprochen ständig präsent. Es ist also eigentlich das Evangelium, das Paulus hier charakterisieren will. Woran er in diesem Abschnitt arbeitet, ist dementsprechend die Herstellung des Hintergrunds, vor dem er die Eigenart des Evangeliums am besten zur Darstellung bringen kann. Am deutlichsten erkennbar ist diese Perspektive des Evangeliums in einer Grenzverschiebung: Bei der Beschreibung des zerrütteten Gottesverhältnisses der Menschheit hat Paulus die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden aufgegeben und eine neue Unterscheidung eingeführt, die er vom Evangelium aus konzipiert hat: die Unterscheidung zwischen dem „Heil“ des Evangeliums (V. 16) und dem „Zorn“ (V. 18), unter dem die gesamte Menschheit abseits vom Evangelium steht.
Bei all diesen Uneindeutigkeiten ist letzten Endes auch aus Wolters Sicht nicht eindeutig festzustellen, ob Paulus tatsächlich „die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden“ in jeglicher Hinsicht aufgegeben hat oder ob sie nicht gerade in seiner Entfaltung des Evangeliums als einer befreienden Botschaft für Juden und Heiden eine wesentliche Rolle spielen wird.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 1,18-32
18 Denn enthüllt ist Gottes Zorn vom Himmel her
über alle Abtrünnigkeit und Unbewährtheit der Menschen,
die die Wahrheit durch Unbewährtheit unterdrücken.
19 Denn was von Gott erkennbar ist, ist unter ihnen offenkundig,
denn Gott hat es ihnen offen kundgetan.
20 Denn was an ihm unsichtbar ist,
wird seit der Erschaffung der Weltordnung
an seinen Taten mit der Vernunft ersehen,
seine ewige Macht und Göttlichkeit,
so dass sie ohne Entschuldigung sind.
21 Darum: obwohl sie Gott kennen gelernt haben,
haben sie ihn nicht als Gott geehrt oder ihm gedankt,
sondern sind der Nichtigkeit verfallen durch ihre Gedanken,
und verfinstert worden ist ihr unverständiges Herz.
22 Sie behaupten, weise zu sein, sind aber dumm geworden.
23 So haben sie an die Stelle der Ehre des unvergänglichen Gottes
das Abbild des Aussehens eines vergänglichen Menschen
und von Vögeln und Vierfüßern und Kriechtieren gesetzt.
24 Darum hat Gott sie ausgeliefert in die Begierden ihrer Herzen
an die Unreinheit,
so dass ihre Körper durch sie entwürdigt werden.
25 Sie haben die Wahrheit Gottes durch die Lüge ersetzt
und haben gehuldigt und gedient dem Geschaffenen statt dem Schaffenden,
der ist gepriesen in die Zeitalter hinein. Amen.
26 Darum hat Gott sie an würdelose Leidenschaften ausgeliefert.
Denn die Weiblichen von ihnen
haben den natürlichen Gebrauch durch den widernatürlichen ersetzt,
27 genauso haben auch die Männlichen
den natürlichen Gebrauch des Weiblichen aufgegeben
und sind entbrannt durch ihr Verlangen nacheinander,
Männliche bringen mit Männlichen Schande hervor,
und die notwendige Gegenleistung für ihre Verirrung
erhalten sie so durch sich selbst zurückerstattet.
28 Und wie sie es nicht für wert gehalten haben,
an der Kenntnis Gottes festzuhalten,
hat Gott sie an eine wertlose Vernunft ausgeliefert,
so dass sie tun, was sich nicht gehört,
29 angefüllt mit jeglicher Ungerechtigkeit,
Bosheit, Habgier, Schlechtigkeit,
voller Neid, Mord, Streit, Tücke, Bösartigkeit;
Denunzianten,
30 Verleumder, Gotteshasser, Gewalttäter, Überhebliche,
Prahlhänse, Erfinder von Schlechtem, den Eltern Ungehorsame,
31 Unverständige, Ungetreue, zur Liebe Unfähige, Unbarmherzige.
32 Obwohl sie das Rechtsgeheiß Gottes kennen,
dass des Todes würdig sind, die so etwas tun,
tun sie nicht nur so etwas,
sondern sie spenden denen Beifall, die es tun.
↑ Auch der Mensch, der über andere urteilt, steht unter dem Gericht Gottes (Römer 2,1-11)
[20. Dezember 2024] In meiner Beschäftigung mit Römer 2 folge ich weitgehend der Einteilung der Abschnitte des Kapitels, wie Gerhard Jankowski sie vornimmt (J6): Für ihn endet sein großer Abschnitt „2. Der Zorn“, der mit Römer 1,18 begann, mit Römer 2,11. Den Rest des Kapitels 2,12-29 und den Anfang von Römer 3,1-20 wird er in seinem Abschnitt „3. Die Thora tun“ zusammenfassen.
Der Unterabschnitt „Unterscheidungen“, der die Verse bis 2,11 umfasst, fängt für Jankowski, wie oben gesagt (J71), allerdings schon mit Vers 1,32 an, da er die Menschen, die „das Rechtsgeheiß Gottes kennen“, doch eher mit Juden als mit Gojim identifiziert. Nachdem Paulus ab 1,18 die Völkerwelt „in ihrer ganzen Verkommenheit“ dargestellt hatte, wird in Vers 2,1 einer angesprochen, der vernichtende Kritik daran übt und erkennen muss, dass Gott auch über ihn urteilen wird (J74): „Das Urteil, das noch aussteht, aber ganz sicher ergehen wird, kennt keine Unterscheidungen, keine Einteilungen, kein Verurteilen mehr.“
Michael Wolter (W162) fasst unter der Überschrift „Juden haben Heiden nichts voraus“ die Aussage des gesamten 2. Römerbriefkapitels zusammen, dessen (W163) innere Zusammengehörigkeit er vor allem damit begründet, „dass Paulus sich in ihm an fiktive Gesprächspartner wendet, die er mit der 2. Person Singular anspricht“, zunächst einen anthrōpos pas ho krinōn {jeder Mensch, der richtet}, ab Vers 17 „einen ausdrücklich als solchen angesprochenen Juden“. Dabei ist es nach Wolter nicht eindeutig zu entscheiden, ob Paulus mit dem ersteren „die gesamte Menschheit im Blick“ hat, während er sich „erst ab V. 17 … an den idealtypischen Juden“ wende, vielmehr akzeptiert er, wie schon im vorangegangenen Abschnitt, „die Uneindeutigkeit als ein Stilmittel …, das Paulus bewusst einsetzt.“ Mithin ist der urteilende Mensch zunächst einmal ein „Typus, den es unter Juden genauso gibt wie unter Nichtjuden“, und zwar „das Gegenbild zu jenen Menschen, die denen ‚Beifall spenden‘, die – mit den Worten von 1,18 gesagt – ‚gottlos und ungerecht‘ handeln.“ Erst auf den zweiten Blick wird ab Vers 6 deutlich, dass dieser Mensch wie später der Jude „sich den Nichtjuden überlegen“ fühlt, „obwohl es dafür keinen Grund gibt“, und er „nimmt … von Vers zu Vers immer deutlicher jüdische Gestalt an“. Nach Wolter (W164) führt Paulus also von Römer 2,1 an „eine implizite Auseinandersetzung mit dem jüdischen Erwählungsanspruch“, denn:
Die ausdrückliche Hervorhebung, dass Gottes Gericht keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden macht, ist nur gegenüber einem jüdischen Standpunkt sinnvoll, der mit einem solchen Unterschied rechnet. Der anthrōpos pas ho krinōn {jeder Mensch, der richtet}, mit dem Paulus sich in V. 1-5 auseinandersetzt, ist darum so etwas wie eine anthropologische Maske, die Paulus einem jüdischen Gesicht aufgesetzt hat, um es erst einmal zu verbergen. <65>
Leicht zu erkennen ist Wolter zufolge das Ziel „dieser Art und Weise der Darstellung“, dass nämlich „Paulus … seinen impliziten jüdischen Diskussionspartner dazu veranlassen“ will, sich von einem Menschen zu distanzieren, „der selber tut, was er an anderen kritisiert, und der sich sein Besser-Sein darum nur einbildet.“ Und „genau damit lockt er ihn in die Falle“, denn er gibt diesem „Unrecht – nicht ahnend, dass er damit in Wirklichkeit über sich selbst urteilt.“
Wolter vergleicht, was Paulus hier tut, unter anderem mit dem Vorgehen des Propheten Nathan, als er David (2. Samuel 12,1-6) durch ein Gleichnis mit seinem Unrecht konfrontiert, oder Jesajas Weinberggleichnis, das er an die Bürger Jerusalems und die Männer Judas richtet (Jesaja 5,1-7). Wirklich passen solche Parallelen aber nur, wenn Paulus den angesprochenen Menschen bzw. Juden als jemanden im Blick hat, der tatsächlich seinen Brief liest und so zur Umkehr aufgefordert wird.
Die Vorstellung, Paulus habe fiktive Gestalten als Gegner erfunden, nur um den jüdischen Heilsweg seinen heidenchristlichen Adressaten gegenüber als überholt darzustellen und sich vom „Juden“, der er selber einmal war, endgültig zu verabschieden, erscheint mir so gruselig, dass ich hoffe, Gerhard Jankowski werde es gelingen, mich ohne Zweifel davon überzeugen, dass Paulus gerade als der Jude, der er bleibt, das Vertrauen auf Jesus als die befreiende Botschaft des Gottes Israels verkündet – und zwar sowohl für Juden als auch für die Menschen aus den Völkern. Plausibler als die Auffassung von Wolter erscheint mir jedenfalls Jankowskis Annahme, Paulus wende sich bereits mit seinen Ausführungen zum Zorn Gottes über die Völkerwelt von Anfang an hauptsächlich an die römischen Juden, eben um sie in ihren auf die Gojim bezogenen Vorurteilen abzuholen und sie dann mehr und mehr ihrer eigenen Verstrickung in die Verfehlungen dieser von Gottes Zorn bedrohten Menschenwelt zu überführen.
↑ Römer 2,1-3: Ein Mensch, der über andere richtet, verurteilt sich selbst
2,1 Darum, o Mensch,
kannst du dich nicht entschuldigen,
wer du auch bist, der du richtest.
Denn worin du den andern richtest,
verdammst du dich selbst,
weil du ebendasselbe tust, was du richtest.
2,2 Wir wissen aber, dass Gottes Urteil
zu Recht über die ergeht, die solches tun.
2,3 Denkst du aber, o Mensch,
der du die richtest, die solches tun,
und tust auch dasselbe,
dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst?
[21. Dezember 2024] Wie eben gesagt, geht Gerhard Jankowski davon aus (J72), dass Paulus sich nach seiner Darstellung „der nichtjüdischen Umwelt“ mit seiner Anrede an einen urteilenden Menschen in Römer 2,1 „in eine andere Sphäre“ begibt, nämlich diejenige der von ihm adressierten Juden, die sein Urteil über die Völkerwelt teilen: „Urteilen, das ist auch das Stichwort, das diesen Abschnitt zunächst beherrscht.“
Bevor Jankowski den Text auslegt, fragt er nach der Art und Weise, in der Paulus das „griechische Wort für urteilen“, krinein, verwendet:
Es ist ein juridischer Terminus. Paulus verwendet ihn aber so, wie er ihn aus der rabbinischen Praxis her kannte. Die mizwot, die Gebote der Thora, geben einem rabbinischen Lehrer die Möglichkeit, nicht nur einen Menschen nach seinem Fehlverhalten gegenüber diesen Geboten zu beurteilen. Er muß auch jeden Tag neu beurteilen, welches Verhalten nötig ist, um die Gebote einzuhalten. Er muß unterscheiden zwischen dem, was zu tun und was nicht zu tun ist, was den Geboten der Thora entspricht und was ihnen widerspricht. Bei diesem unterscheidenden Urteil kommt alles auf das Tun, also die ganz alltägliche Praxis an.
Auf dieses „Tun, … das zweite wichtige Stichwort in diesem Text“ bezieht sich Paulus in den Versen 2,1-11 mit verschiedenen griechischen Worten:
prassein (machen), poiein (tun), ergazesthai und katergazesthai (wirken, bewirken). Dazu kommt das Nomen ergos (Werk, Wirken). Das erste Verb umschreibt m.E. die alltägliche Praxis, die anderen Verben beschreiben ein Tun, das sich an der Thora ausrichtet. Die ist gegeben, daß sie getan wird und das Tun den guten Lebensvollzug bewirkt. Vom Tun her wird hier alles beurteilt. Und das unterscheidet auch einen jüdischen Menschen von einem Nichtjuden. Wir haben also bei krinein neben urteilen auch unterscheiden und auch verurteilen mitzuhören.
Eben diese Unterscheidung eines Juden von einem Nichtjuden durch sein an der Tora ausgerichtetes Tun hält Paulus Jankowski zufolge (J73f.) unter den Bedingungen des Lebens unter der römischen Weltherrschaft aber für unmöglich. In dieser Gesellschaft können weder Juden als Juden noch Nichtjuden irgendwie menschlich leben:
Die Unterschiede hoben sich an diesem Punkt auf. Die gegenseitigen Beurteilungen und Verurteilungen, das krinein, halfen da überhaupt nichts. Deswegen: unentschuldbar bist du, Mensch, jeder, der urteilt (2,1); Mensch sagt Paulus hier sehr betont und eben nicht Jude oder Grieche (Nichtjude). Die Menschen in dieser Gesellschaft haben ihre Probleme, ob Juden oder Nichtjuden. Wie kann es da noch Unterscheidungen und gegenseitige Beurteilungen und Verurteilungen geben?
Nach Michael Wolter (W166f.) führt Paulus „mit der Konjunktion dio {darum}“, die hier keine
Schlussfolgerung aus dem Vorangegangenen einleitet, … den Gedanken weiter und weitet den Kreis derjenigen, denen er Gottes Gericht ankündigt, über die in 1,32c Genannten hinaus aus. … Was der anthrōpos pas ho krinōn {jeder Mensch, der richtet} (2,1) macht, unterscheidet ihn charakteristisch von den Menschen, die Paulus dort beschrieben hatte: Er applaudiert nicht denen, die all die schlimmen Sachen tun, von denen vorher die Rede war, sondern er kritisiert und verurteilt sie.
Dieser Unterschied spielt aber für Paulus keine Rolle, da der Urteilende „genau dasselbe tut“ wie die von ihm Verurteilten. Damit lässt er in 2,1 schon „das Auseinanderfallen von ethischem Urteil und faktischem Handeln“ thematisch anklingen (W168), auf das er „in Röm 7,13-25 noch einmal ausführlich zurückkommen“ wird.
In Vers 2 leitet Paulus mit „oidamen … hoti {wir wissen, dass} „eine Aussage ein, von der er annimmt, dass seine Adressaten ihr zustimmen“, nämlich nach Wolter „der fiktive Adressat dieser Verse“ und „die intendierten Adressaten des Briefes, die Christen in Rom.“ Indem Wolter den Vers so übersetzt (W165): „Wir wissen aber doch: Das Gericht Gottes ergeht in Wahrheit {kata alētheian} über die, die dergleichen tun“, versteht er (W168) den Ausdruck kata alētheian im Sinne von „tatsächlich“ oder „wirklich“. Paulus macht also „gegenüber der (falschen) Annahme seines fiktiven Gesprächspartners deutlich …, wie es sich wirklich verhält“, und geht zugleich davon aus, dass sein Gegenüber ihm zustimmen muss. Mit dieser Auslegung wendet sich Wolter gegen die „meisten Kommentare“, denen zufolge „Paulus zum Ausdruck bringen wolle, dass Gottes Gericht sich an der Wahrheit orientiert“. So gibt auch Jankowski den Text wieder (G11): „Wir wissen aber, dass das Urteil Gottes über die, die das alles machen, der Wahrheit entspricht.“
Gegen eine solche Auslegung spricht nach Wolter, wenn ich ihn richtig verstanden habe (W168), dass das Wort krima hier
nicht ein noch ergebnisoffenes Gerichtsverfahren oder ein Urteil [bezeichnet], das so oder auch anders ausfallen kann, wie in Röm 5,16; 11,33; 1Kor 6,7, sondern das Unheil zuweisende Bestrafungsurteil wie in Röm 3,8; 13,2; 1Kor 11,29. 34; Gal 5,10.
Indem Paulus voraussetzt, dass der urteilende Mensch „der Illusion anhängt, er würde nicht dasselbe tun wie diejenigen, die er verurteilt“, unterstellt er ihm eine „Selbsteinschätzung“, die Wolter zufolge (W169)
nicht weit entfernt [ist] von dem jüdischen Selbstbild, wie es in SapSal {Weisheit Salomos} 15,2-3 zum Ausdruck kommt: „Wir sündigen nicht, weil wir wissen, dass wir dir zugerechnet sind. Denn dich zu kennen, ist vollkommene Gerechtigkeit, und deine Macht zu kennen, ist die Wurzel der Unsterblichkeit“.
Demgegenüber gelten (Anm. 12) „Aussagen wie PsSal {Psalmen Salomos} 15,8 (‚diejenigen, die Ungesetzlichkeit tun, werden dem Gericht des Herrn nicht entkommen [ouk ekpheuxontai … to krima kyriou]‘) … immer nur für die anderen.“
Offen zutage treten (W169) solche „spezifisch jüdischen Züge“ des urteilenden Menschen allerdings hier noch nicht, wenngleich „die rhetorische Frage“, mit der Paulus ihm in Vers 3 bescheinigt, dass er sich nicht einbilden kann, „der Verurteilung … zu entgehen“, da er ja dasselbe tut „wie die von ihm Kritisierten“, an Parallelstellen wie Lukas 3,7-8 oder Matthäus 3,7.9 erinnert, wo Johannes der Täufer
die Berufung auf die Abrahamskindschaft und die durch sie gegebene Sonderstellung Israels gegenüber den Völkern … als Grund für diese Einbildung unterstellt und die er mit seinen Worten indirekt für suspendiert erklärt.
↑ Römer 2,4-5: Wen Gottes Güte nicht zur Umkehr leitet, häuft sich Zorn an für den Tag des Zorns
2,4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut?
Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?
2,5 Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen,
häufst dir selbst Zorn an
für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes…
[22. Dezember 2024] In Römer 2,4a erklärt Paulus Wolter zufolge (W171), warum Gott „gegen die Sünder bisher noch nicht strafend eingeschritten ist“, indem er mit Gottes „chrēstotēs {Güte} und makrothymia {Langmut}“ diejenigen seiner „Eigenschaften“ nennt, „die Gottes anochē {Zurückhaltung} erklären“. Das Wort anochē, von Luther mit „Geduld“ übersetzt, „kommt mit Ausnahme von 1Makk 12,25 in der griechischen Bibel nur in Röm 2,4 und 3,26a vor“ und ist abgeleitet vom „Verb anechesthai“, das „für das Ertragen von Widerwärtigkeiten“ oder „den bewussten Verzicht auf eine sich aufdrängende Handlung“ steht. „Alle drei Begriffe … treffen sich darin, dass sie Gottes Verzicht auf Bestrafung als Ausdruck seines Wesens kenntlich machen.“ Indem der in Wolters Augen (W170) „fiktive Gesprächspartner“ den sich in diesen Eigenschaften ausdrückenden „Reichtum {ploutos}“ Gottes missachtet {kataphronein}, zeigt er, „dass er falsche Vorstellungen von Gott hat und diesen nicht wirklich kennt.“
Indem dieser Gesprächspartner (W171) „sein lmmer-noch-unbestraft-sein nicht als solches erkennt und damit den Charakter sowie die Intention von Gottes ‚Milde, Zurückhaltung und Langmut‘ falsch beurteilt“, merkt er nicht (Vers 4b),
dass Gott von ihm Umkehr erwartet und ihn nur darum bisher nicht bestraft hat. … Die rhetorisch fragende Feststellung liest sich wie eine Bekehrungsaufforderung, die Paulus an seinen Gesprächspartner richtet, um ihn zur Aufgabe seines sündigen Tuns zu veranlassen. Aufgrund ihres fiktiven Charakters (der anthrōpos pas ho krinōn {jeder Mensch, der richtet} gehört nicht zu den Adressaten des Briefes), geht ihr aber diese pragmatische lntention ab. Paulus führt den Lesern seines Briefes eine Umkehrpredigt lediglich vor, um deutlich zu machen, dass sein fiktiver Gesprächspartner rettungslos verloren ist.
Wie schon oft gesagt, kann ich mir jedoch nicht vorstellen, dass Paulus mit Hilfe eines ins Leere gehenden Rufs zur Umkehr lediglich zum Fenster hinaus predigt, also abwesende Juden der Verdammnis preisgibt, während die von ihm angeredeten Heidenchristen sich im Bewusstsein der ihnen durch Jesus Christus verliehenen Seligkeit sonnen dürfen.
Sinn macht es dagegen in meinen Augen, dass Paulus hier tatsächlich reale Juden in Rom nachdrücklich zur Umkehr aufruft, und zwar um so mehr, als nach Wolter jeder Jude „dem, was Paulus hier schreibt, zustimmen“ kann, wozu er auf Sirach 5,4-7 verweist (ich zitiere nach Luther):
4 Denke nicht: Ich habe gesündigt, doch was ist mir schon widerfahren?
Denn der Herr ist langmütig.
5 Rechne nicht so fest auf Vergebung, dass du darum Sünde auf Sünde häufst.
Dieser Text will „zur Umkehr motivieren“, aber eine solche Absicht kann Paulus Wolter zufolge nicht haben, da er im folgenden Vers 5 sofort davon ausgeht,
dass sein Gesprächspartner die Umkehr verweigert. Aus diesem Grunde lässt Paulus die fiktive Auseinandersetzung in ein Gerichtswort münden, das dem Gesprächspartner die Folgen seines Tuns vor Augen führt. Die Perspektive der Beschreibung reicht zunächst nur bis zum Anbruch des Gerichtstages, dessen Charakterisierung dann ab V. 6 folgt.
Mit Hilfe „der Finanzmetapher thēsaurizeis {(Reichtümer) ansammeln, anhäufen}“ beschreibt Paulus sozusagen „in V. 5 den Stand des Kontos …, auf dem der anthrōpos pas ho krinōn {jeder Mensch, der richtet} Gottes Zorn gegen sich angesammelt hat.“ Wodurch das geschieht (W172), das beschreibt Paulus in Vers 5 mit den beiden Worten sklērotēs {Härte} und ametanoētos kardia {nicht zur Umkehr bereites Herz}.
Ersteres geht auf das Wort sklēros {hart} zurück, das Wolter mit „störrisch“ wiedergibt und „das Verhalten von Menschen“ bezeichnet, „die sich auch durch Ermahnungen und Belehrungen nicht von ihrem schlechten Weg abbringen lassen.“ So spricht zum Beispiel in „Bezug auf Israel und sein Gottesverhältnis … Dtn 9,27 von der ‚sklērotēs dieses Volkes sowie ihren Freveltaten und Sünden‘“, aber auch von der „Herzensverhärtung des Pharao“ ist sowohl „in der Exodusüberlieferung“ als auch in der Weisheitsliteratur die Rede.
Das letztere Wort ametanoētos, das die Bereitschaft zur metanoia {Umkehr} verneint, kommt in der gesamten Bibel nicht vor, nur im „Testament Gads“, einer pseudepigraphischen Schrift des Alten Testaments (TestGad 7,5)
wird ametanoētos in einer Weise verwendet, die dem paulinischen Gebrauch sehr nahe kommt: Gott „vergibt dem, der umgekehrt ist (metanoēsanti), der Umkehrunwillige (ametanoētos) aber wird aufbewahrt zur ewigen Bestrafung“.
Auf Römer 1,18 blickt Paulus zurück, indem er mit dem Zorn Gottes {orgē} „das Unheilsgeschick“ anspricht, „das Gottes Gerichtshandeln über den umkehrunwilligen anthrōpos pas ho krinōn {jeden Menschen, der urteilt} bringt.“ Dabei übernimmt er (W172f.) den
Ausdruck hēmera orgēs {Tag des Zorns} … wohl aus der Septuaginta …(vgl. Ps 109,5; Hiob 20,28; Zeph 1,15.18; 2,3; Klgl 1,12; 2,1.21f; Ez 22,24). …. Dass Paulus diesen Vorgang mit dem ungewöhnlichen Wort dikaiokrisia bezeichnet, ist nicht mehr als eine sprachliche Auffälligkeit. Er verdichtet in diesem Begriff die Überzeugung, dass Gottes Gericht selbstverständlich gerecht ist …, weil Gott ein „gerechter Richter“ ist …, der „gerecht“ und „in Gerechtigkeit“ richtet …
Gerhard Jankowski (J74) beschränkt sich in seiner Auslegung dieser Verse auf wenige allgemeine Erwägungen und eine konkrete Bemerkung zu dem Stichwort dikaiokrisia. Allgemein geht er davon aus, dass es nach Paulus nicht sein darf,
daß die Verrohung und die Verluderung der Menschheit nur benannt werden. Sie dürfen nicht bestehen bleiben. Über sie wird ein wahrhaftiges Urteil gesprochen werden. Von dem befreienden Gott her. Das weiß jeder Jude. Auch Paulus. Da hält er sich ganz an das, was in Israel gedacht wurde. Keiner wird dem Urteilsspruch entkommen, ein Urteilsspruch, in dem sich der befreiende Gott als bewährt erweisen wird.
Konkret ist Jankowski anders als Wolter der Auffassung, dass Paulus das Wort dikaiokrisia, das (Anm. 17) „im klassischen Griechisch unbekannt“ ist und auch in der gesamten Bibel nur hier bei Paulus vorkommt, mit bedacht selber geprägt hat. Er versucht zunächst (J71) „die Übersetzung mit bewährtes Urteil“ und greift später (G11) auf die Umschreibung „wahr machendes Urteil“ zurück. Ich selber würde lieber von einem zurechtbringenden Urteil Gottes sprechen, um in der Worthälfte dikaios den Aspekt der Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit nicht ganz zum Verschwinden zu bringen, aber dazu später mehr, wenn es um das geht, was traditionell die Rechtfertigungslehre des Paulus genannt wird. Darin schwingt natürlich die Annahme mit, dass es dem befreienden Gott Israels auch am Tag des Zorns nicht einfach um vernichtende Rache geht, sondern immer noch darum, Menschen in ihrer Haltung und ihrem Tun zur Umkehr zu bewegen. Ob Paulus das allerdings schon an dieser Stelle tatsächlich meint, ist schwer zu sagen.
↑ Römer 2,6-11: Gott vergilt nach den Werken zuerst der Juden und der Griechen
2,6 … der [Gott] einem jeden geben wird nach seinen Werken:
2,7 ewiges Leben denen,
die in aller Geduld mit guten Werken trachten
nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben;
2,8 Zorn und Grimm aber denen,
die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen,
gehorchen aber der Ungerechtigkeit;
2,9 Trübsal und Angst
über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun,
zuerst der Juden und auch der Griechen;
2,10 Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden
allen denen, die das Gute tun,
zuerst den Juden und ebenso den Griechen.
2,11 Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.
[23. Dezember 2024] Michael Wolter (W173) stellt zunächst den kunstvollen Aufbau der Verse Römer 2,6-11 heraus, in denen Paulus darlegt,
warum Gottes Gericht gerecht ist: Gott sieht nicht die Person an, sondern legt seinem Urteil ausschließlich die Taten zugrunde (V. 6.11). Diese führen idealtypisch entweder zu Heil (V. 7.10) oder zu Unheil (V. 8.9).
In der Lutherbibel ist die chiastische, also „auf fünf Ebenen“ überkreuzt angeordnete Wortstellung leider nicht zu erkennen, die Wolter vereinfacht so darstellt:
V. 6: —– A — Gott vergilt jedem einzelnen nach seinen Werken:
V. 7: —– B —— Für Menschen, die gute Werke tun,
——––– C ——— gibt es Heil.
V. 8: –– D ———— Für Mensehen, die böse Werke tun,
——––– E ————— gibt es Unheil.
V. 9: –– E ————— Unheil gibt es
——––– D ———— für jeden, der böse Werke tut.
V. 10: — C ——— Heil gibt es
——––– B —— für jeden, der gute Werke tut.
V. 11: — A — Denn Gott kennt kein Ansehen der Person
In Vers 6 greift Paulus (W173f.) „einen weitverbreiteten Grundsatz der theologischen Weisheit“ auf, der etwa in Psalm 61,13LXX oder Sprüche 24,12 zum Ausdruck kommt.
Die beiden folgenden Verse 7 und 8 hat Paulus „weitgehend parallel gestaltet“.
In Vers 7 (W174) spricht Paulus „von solchen, die nicht müde werden, gute Taten zu vollbringen“, wobei es nach Wolter „unwichtig“ ist, an „welche guten Werke er dabei gedacht haben könnte“. Unter Hinweis auf seine Auslegung von Römer 2,20 betont er (W174f.):
Von „Werken des Gesetzes“ spricht Paulus hier jedenfalls nicht. Er setzt hier wie auch anderswo vielmehr voraus, dass es einen allgemeinen und allen Menschen gemeinsamen Konsens in Bezug darauf gibt, dass man Gutes tun und Böses lassen soll (s. auch Röm 13,3-4; Gal 6,10). Dieser Grundsatz ist für jeden Menschen zustimmungsfähig – für Juden genauso wie für Nichtjuden –, und eben diese Gemeinsamkeit ist es, auf die es Paulus hier und im Folgenden ankommt.
In gleicher Weise (W175) „für jedermann einsichtig und zustimmungsfähig“ ist Wolter zufolge, „dass Gott Menschen, die Gutes tun, mit eschatischem Heil belohnen wird“, wobei dieses angestrebte letztgültige Heil von Paulus in „der Dreierreihe doxa, timē und aphtharsia {Herrlichkeit, Ehre, Unvergänglichkeit}“ konkretisiert und „in seiner Gesamtheit“ als von Gott gewährtes „[e]wiges Leben {zōē aiōnios}“ zusammengefasst wird. Dazu betont Wolter ausdrücklich:
Dass es sich in der Tat um eschatische und nicht um irdische Heilsgüter handelt, macht Paulus durch aphtharsia {Unvergänglichkeit} kenntlich. … „Ewiges Leben“ als komprehensive Umschreibung für das eschatische Heil in seiner Gesamtheit findet sich seit 4Makk 15,3; Dan 12,2; PsSal 3,12 in den Schriften des frühen Judentums. Im Neuen Testament ist von ihm vor allem in der johanneischen Literatur die Rede (angefangen mit Joh 3,15.16.36), aber auch bei Paulus (vgl. noch Röm 5,21; 6,22.23; Gal 6,8).
Bezeichnend ist, dass Wolter es überhaupt nicht in Erwägung zieht, die „eschatischen Heilsgüter“ der Ehre {doxa} Gottes oder eines äonischen Lebens {zōē aiōnios} könnten doch insofern „irdische Heilsgüter“ meinen, als in der gesamten jüdischen Bibel Befreiung und Recht für Israel beim Anbruch der kommenden Weltzeit des Friedens erwartet wird. Dass man sich dieses zukünftige Zeitalter als unvergänglich vorstellte – Jankowski übersetzt aphtharsia (J71) mit „Unverfälschtheit“ bzw. (G11) mit „Unverderblichkeit“ – erfordert nicht seine Verjenseitigung in den Himmel; so hofft noch die Offenbarung des Johannes (21,10 und 22,5) auf ein neues Jerusalem, das vom Himmel Gottes auf diese Erde herabkommen und „in die Zeitalter der Weltzeiten hinein {eis tous aiōnas tōn aiōnōn}“ bestehen bleiben wird. <66>
In Vers 8 „weiß man“ nach Wolter „nicht so genau“, was das Wort eritheia bedeutet, vor allem wegen
des intensiven Gebrauchs in neutestamentlichen Lasteraufzählungen (2Kor 12,20; Gal 5,20; Phil 1,17 mit der Antithese ex eritheias und hagnōs {lauter}; 2,3; Jak 3,14.16) kann man nur sagen, dass es ein Verhalten bezeichnet, das den eigenen Nutzen über das Wohl der Gemeinschaft stellt.
Als Folge eines solchen Verhaltens (W165) aus „Selbstsucht“ wird am Ende von Vers 8 (W176) mit „dem Begriffspaar orgē kai thymos … derselbe ‚Zorn‘, von dem schon in 1,18 und 2,5 die Rede war“, eindringlich zum Ausdruck gebracht; einen „Unterschied zwischen orgē und thymos gibt es nicht“.
Noch „deutlicher als V. 7-8“ sind die Verse 9 und 10 „parallel aufgebaut“, in denen Paulus „lediglich die Reihenfolge von Tun und Ergehen“ umkehrt, ohne den Inhalt zu verändern – außer dass er
mit dem zweimaligen pas {jeder} und dessen Auflösungen auf beiden Seiten des eschatischen Geschicks durch „des/dem Juden vor allem und auch des/dem Griechen“ … die Konfiguration von Röm 1,16 wieder auf[nimmt].
Nachdem Paulus „am Ende von V. 8 mit orgē kai thymos {Zorn} die Unheilsseite des Gerichts mit Bezug auf Gott in den Blick genommen hatte“, drückt er am Anfang von Vers 9 mit thliphsis kai stenochōria {Bedrängnis und Einengung/Angst} „deren Folgen für die betroffenen Menschen“ aus. In Vers 10 nimmt Paulus auf
der Heilsseite … das Begriffspaar doxa kai timē {Herrlichkeit und Ehre} wieder auf, das er dort als Ziel ethischer Existenzorientierung eingebracht hatte. lm Gericht belohnt Gott demnach Menschen, die ihr Tun auf die Erlangung von eschatischer doxa und timē ausgerichtet haben, mit dem, wonach sie gestrebt haben.
Bemerkenswert ist, dass Paulus in Vers 10 jedoch nicht das dritte „Heilsziel“ der aphtharsia {Unvergänglichkeit} aus Vers 7 wiederholt, vielmehr lässt er den Begriff eirēnē („Friede“) an seine Stelle treten (W176f.), „der als umfassende Bezeichnung für das eschatische Heil im Alten Testament und in der Literatur des frühen Judentums geläufig ist.“ Mit keinem Wort geht Wolter jedoch darauf ein, dass eirēnē in der Septuaginta in der Regel das hebräische Wort schalom wiedergibt, in dem die ganze Fülle eines Lebens in Freiheit und Gerechtigkeit auf der Erde unter dem Himmel Gottes zum Ausdruck kommt.
Dagegen legt Wolter in der Auslegung von Vers 9 besonderen Wert darauf (W177), dass Paulus mit pasa psychē anthrōpou {jede Seele eines Menschen} eine „hebraisierende Redeweise“ aufnimmt, durch die „jeder einzelne Mensch“ gemeint ist:
Damit ist indirekt zum Ausdruck gebracht, dass überindividuelle Gruppenzugehörigkeiten jenseits der Werke, die jeder einzelne vorzuweisen hat, im Gericht keine Rolle spielen werden. Die ethische und eschatologische Individualisierung ist nicht zu übersehen.
Wenn also nach den Versen 9 und 10
die Menschen in Gottes Gericht allein danach unterschieden werden, ob sie Gutes oder Böses getan haben, so werden dadurch alle anderen Unterscheidungen zwischen ihnen unerheblich. Diese Konsequenz ist eigentlich selbstverständlich. Trotzdem hebt Paulus sie mit Bezug auf den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden noch einmal ausdrücklich hervor. Er gibt damit zu erkennen, dass er seine Ausführungen seit 1,18 genau auf diesen Punkt ausgerichtet hat. Auch Gottes Gericht teilt die Menschheit in zwei Lager ein. Es ist aber nicht der Unterschied zwischen Juden und Heiden, der für die Zuweisung von Heil und Unheil maßgeblich ist, sondern der Unterschied zwischen den Werken – ob sie gut oder böse waren.
Nach Wolter (W178) wird in dieser Einebnung der
Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden … erkennbar, dass es die jüdische Erwählungstheologie ist, mit der er sich hier auseinandersetzt: dass Gott Israel aus den Völkern erwählt hat und zu seinem Eigentumsvolk gemacht hat.
Damit ist es nun Wolter zufolge so weit, dass Paulus „theologisch an die Seite Johannes des Täufers und dessen Gerichtsansage“ treten kann, „wie sie in Lk 3,8b-d par. Mt 3,9 überliefert ist.“
Dass Paulus auf der Heils- und auf der Unheilsseite das Adverb prōton aus 1,16 übernimmt, soll die Leser darauf aufmerksam machen, dass beide Aussagen zusammengehören. Es handelt sich also gewissermaßen um ein Selbstzitat. Die beiden prōton auf der Unheilsseite und auf der Heilsseite neutralisieren sich gegenseitig. Darum müssen sie auch gemeinsam interpretiert werden. Israels Erwählung ist sowohl Malus {Nachteil} wie Bonus {Vorteil}.
Zu Vers 11 hebt Wolter hervor (W178f.), dass Paulus
die Nichtbeachtung der sozialen Differenzen in Gottes Gericht auf die Nichtbeachtung des Unterschieds zwischen Juden und Nichtjuden überträgt (vgl. in diesem Sinne auch Apg 10,34f). Er will dadurch zeigen, dass Gott nicht darauf achtet, ob einer Jude ist oder nicht, sondern einzig und allein nach den Werken urteilt.
An dieser Stelle hält Wolter inne (W179) und beschäftigt sich in einem längeren Exkurs mit der Frage,
wie sich die in Röm 2,6-11 vorgetragene Erwartung eines Gerichts nach den Werken zu solchen Aussagen verhält, denen zufolge „aus Werken des Gesetzes“ kein Mensch „vor Gott gerechtfertigt wird“ (Röm 3,20; s. auch Gal 2,16), Gott die Menschen vielmehr nur „aus Glauben“ und „ohne Werke“ bzw. „ohne Werke des Gesetzes“ gerecht spricht (Röm 3,28; 4,5-6; 9,32; 11,6).
Wolter will diese Frage allein von der Intention des Paulus her beantworten, „den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden theologisch“ bedeutungslos zu machen:
Das Prinzip der Werke als Grundlage der Urteilsfindung im Endgericht macht den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden soteriologisch {das Heil betreffend} genauso irrelevant wie das Prinzip des Glaubens, für den das paulinische Evangelium eine „Macht Gottes zum Heil“ ist.
Zugleich hält Wolter mehrere andere Deutungen von Römer 2,6-11 für vollkommen ausgeschlossen. Erstens sind die
guten und bösen „Werke“ von Röm 2,6-11 … nicht identisch mit den „Werken des Gesetzes“, von denen Paulus in Röm 3,20.28; Gal 2,16; 3,2.5.10 spricht. Als „Werke des Gesetzes“ bezeichnet er jene Handlungen, die von der Tora gefordert werden und durch deren Befolgung Israel seine Erwählung aus den Völkern zur Darstellung bringen kann und soll. Die Gesetzesfrage ist bei Paulus darum immer Bestandteil der lsraelfrage.
Was Paulus dagegen mit „den erga von Röm 2,6 sowie mit dem ‚Bösen‘ und ‚Guten‘ von V. 9.10“ anspricht, findet „auf einer ethischen Diskursebene jenseits der Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern“ statt, indem er davon ausgeht, „dass Juden und Nichtjuden so etwas wie ein ethisches Grundwissen in Bezug auf das, was gut und böse ist, miteinander gemeinsam haben.“
Diese Gedankengänge laufen darauf hinaus, dass die jüdische Tora so oder so für Paulus jegliche Relevanz verloren hat. Ob das tatsächlich der Fall ist, wird später sehr genau zu überlegen sein.
Zweitens erschließt Wolter aus dem Gesamtzusammenhang, den Paulus ab 1,18 entfaltet hat (W179f.),
dass die Erlangung von Heil durch das Tun des Guten (V. 7.10) lediglich eine theoretische Möglichkeit ist. Paulus beschreibt hier zwar die Arbeitsweise von Gottes Gericht, das er als Beurteilungsgericht mit offenem Ausgang darstellt, doch ob es auch tatsächlich Menschen gibt, denen Gott aufgrund ihrer Werke „Herrlichkeit und Ehre und Friede“ zueignet, weil sie „das Gute“ vollbracht haben (V. 10), ist damit noch lange nicht gesagt. Im Gegenteil: Röm 1,18-32 sowie die Zusammenfassung des gesamten Briefteils ab 3,9 und die Einbettung in die Diskussion mit dem anthrōpos pas ho krinōn {jedem Menschen, der richtet} lassen erkennen, dass Paulus ihm mit 2,6-11 deutlich machen will, dass bei Gottes Gericht nichts als Unmengen von Zorn auf ihn warten (V. 5). Selbst wenn das Gericht Gottes auch Heil für diejenigen vorsieht, die gute Werke vorweisen können, ändert dies nichts daran, dass kein Mensch aufgrund seiner Werke heil aus dem Gericht herauskommt: Es gibt keinen, der mit guten Werken aufwarten könnte, weil alle Sünder sind. Paulus hat also nur den negativen Ausgang des Gerichts im Blick.
Der Widerspruch zwischen einem Gericht nach den Werken und der Rechtfertigung aus dem Glauben lässt sich also Wolter zufolge dadurch auflösen (W180), dass
Paulus … seiner Darstellung von Gottes Gerichtshandeln in Röm 2,6-11 insofern eine fiktive Situation zugrunde [legt], als er vom Christus-Glauben absieht. Die Fiktionalität des Gerichts ist dabei bedingt durch die Fiktionalität des anthrōpos pas ho krinōn, den Paulus ebenfalls vom Christus-Glauben absehen lässt. Der fiktive Standpunkt, den Paulus bezieht, ist der Standpunkt der nicht an Christus glaubenden Juden. Ihnen gegenüber will er demonstrieren, dass sie auch auf der Grundlage ihrer eigenen Voraussetzungen von Gottes Gericht nichts als Unheil zu erwarten haben und dass es ihnen dabei genauso ergeht wie den Menschen aus den Völkern. <67>
Etwas anders stellt sich die Situation dar, wenn man wie Gerhard Jankowski annimmt, dass Paulus die römischen Juden durchaus als reale Adressaten in ihrer Verantwortlichkeit vor Gott anspricht. Sie wissen, dass Gott am Tag der Entscheidung ein Urteil über alle Menschen fällen wird (J74):
Dieses Urteil wird nach den Werken ergehen, also nach den Taten, die gemäß des Rechtsgeheißes Gottes getan werden sollen, wie es Psalm 62 sagt, ein Lied auf die Befreiung, dessen Schlußvers Paulus hier zitiert. Und ist das Urteil gesprochen, kann in der Epoche, die kommen muß und kommen wird, endlich vollgültig gelebt werden. Die Lehrer Israels sagten, daß dieses Urteil allen in Israel zugute kommen wird, die sich im Tun der Thora bewährt haben. Verurteilt werden vor allem die Völker, die Israel unterdrückt haben.
Demgegenüber sagt Paulus auch Jankowski zufolge, dass das „Urteil, das noch aussteht, aber ganz sicher ergehen wird, … keine Unterscheidungen, keine Einteilungen, kein Verurteilen mehr“ kennt. „Hier verläßt Paulus die geltende Lehre“, allerdings tut er es als Jude, der auch als Gesandter des Messias Jesus ein jüdischer Lehrer bleibt:
Er sieht auf die Taten der Menschen, die zu beurteilen sind und beurteilt werden. Das Urteil gilt, ob positiv oder negativ, zuerst Israel und dann auch den anderen Völkern, Juden und Griechen, sagt Paulus auch hier. Das ist neu gedacht. Aber das zuerst akzentuiert das Ganze: wir Juden müssen das zuallererst wissen.
Nicht mit fiktiven Gegnern ficht Paulus also bloße Schaukämpfe zur Erbauung heidenchristlicher Adressaten aus, sondern als Jude fordert er Mitjuden dazu heraus, sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation vor dem Urteil Gottes bewusst zu werden, die sie unter den Lebensbedingungen im weltweiten Sklavenhaus des römischen Imperiums mit der gesamten Völkerwelt teilen. Wir Juden sitzen im selben Boot wie die Gojim, davon ist Paulus überzeugt. „Keiner ist bevorzugt, wie es der Schlußsatz sagt.“
Wäre damit wirklich jeglicher Unterschied zwischen Juden und Heiden eingeebnet und hätte sich Paulus bereits vom Judentum verabschiedet und dem Christusglauben als seiner neuen Religion zugewandt, wie Wolter meint, müsste Paulus eigentlich keine weiteren Worte mehr über jüdische Besonderheiten verlieren. Tatsächlich fängt Paulus aber jetzt an, sich sehr ausführlich mit der jüdischen Tora zu beschäftigen. Denn nach Jankowski will Paulus (J5) als „Anwalt der Nichtjuden“ die realen römischen Juden von seiner Sicht auf Juden und Gojim überzeugen, durch die gegenseitige Verurteilungen und Feindschaft überwunden werden können (J74):
Weil das neu ist und der orthodoxen Lehre widerspricht, muß es noch einmal bedacht werden – an der Thora.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 2,1-11
1 Darum bist du unentschuldbar,
o Mensch – jeder, der urteilt.
Denn indem du den anderen beurteilst,
verurteilst du dich selbst,
Denn dasselbe machst du – der urteilt.
2 Wir wissen aber:
Das Urteil Gottes ergeht in Wahrheit
über die, die das alles machen.
3 Rechnest du aber damit, o Mensch,
der die beurteilt, die das alles machen, und dasselbe tust,
dass du dem Urteil Gottes entfliehen wirst?
4 Oder missachtest du den Reichtum seiner Güte
und die Zurückhaltung und die Langmut
und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Umkehr führt?
5 Doch infolge deiner Härte und des nicht umkehrbereiten Herzens
häufst du dir Zorn an
am Tag des Zorns und der Enthüllung des zu Recht ergehenden Urteils Gottes,
6 der jedem vergelten wird nach seinen Werken:
7 den einen, die in der Beharrlichkeit der gutenTat
Ehre und Würde und Unverderblichkeit suchen,
Leben auf Weltzeit,
8 denen aber, die bösartige Absichten haben
und sich nicht verlassen auf die Wahrheit,
sich aber verlassen auf das Unrecht,
Zorn und Wutschnauben.
9 Bedrängnis und Angst
über jede Seele eines Menschen,
der das Böse bewirkt,
des Juden zuerst und des Griechen.
10 Ehre aber und Würde und Frieden
jedem, der das Gute wirkt,
dem Juden zuerst und dem Griechen.
11 Denn es ist kein Ansehen der Person bei Gott.
↑ Juden haben durch Tora und Beschneidung nichts vor den Gojim voraus (Römer 2,12 – 3,20)
[27. Dezember 2024] Nach Gerhard Jankowski will Paulus die römischen Juden davon überzeugen, dass sie grundsätzlich, was das Urteil und den Zorn Gottes angeht, mit den von ihnen verurteilten Gojim in einem Boot sitzen. Darum beginnt er nun, von der Tora Israels her seine Argumentation zu untermauern (J75):
Alles Tun in Israel ist an die Thora gebunden. Deswegen muß von diesem Tun und von der Thora geredet werden. Sehr massiv redet Paulus von der Thora. … In den vorangehenden Sätzen war das Tun bereits sehr eindringlich thematisiert worden. Freilich spielte da die Thora keine Rolle. So kann man nicht unter Juden argumentieren. Als erwarte er den Einwand: „So kannst du als Jude nicht vom Tun reden; da ist noch die Thora, die bestimmt unser Leben und Tun; gerade darin unterscheiden wir uns von allen anderem, stellt er nun das Tun der Thora in den Mittelpunkt seiner Argumentation.
Der erste Aspekt, den Paulus in Römer 2,12-16 von der Tora her bedenkt, ist die Frage: „Wie unterscheidet sich jüdisches Tun von nichtjüdischem?“ Zweitens wendet er sich in Römer 2,17-24 direkt an diejenigen (J78), die sich „Juden“ nennen und zu deren „Identität unabdingbar dazu gehört“, dass sie sich unter anderem durch „die Thora“ von „den anderen Völkern“ unterscheiden. Eben dies stellt Paulus (J79) allerdings in Frage, denn das „Haben der Thora ist noch keine Garantie dafür, wirklich auch Jude zu sein.“ Dasselbe gilt drittens auch (J80) für die „Beschneidung“, die einen Juden „auf jeden Fall von einem Nichtjuden“ unterscheidet. In Römer 2,25-29 stellt Paulus heraus (J82):
ein Jude, der Thora nicht tut, sie übertritt, wird zu einem Nichtjuden; er ist aus dem Bund, dessen Zeichen die Beschneidung ist, herausgefallen.
Nach diesen drei Argumentationsgängen ist Paulus gezwungen, die Frage zu beantworten (J84): „Was bleibt nun übrig vom Juden?“ Seine Antwort in Römer 3,1-8 verweist auf die „Treue Gottes“, die den Juden gilt und auch durch „die Untreue Israels“ nicht aufgehoben werden kann.
Das Fazit aller Betrachtungen der Völkerwelt und der Juden durch Paulus seit Römer 1,18 läuft am Ende in Römer 3,9-20 aber dennoch darauf hinaus (J87), dass Juden den Gojim nichts voraus haben, was er „mit Worten der Schrift … konkret und aktuell“ den Juden gegenüber begründet. „Nur ein Jude kann so zu Juden sprechen.“ Und indem (J88) „Paulus … hier zu Juden“ redet und ihnen klar macht: „Weder die ethischen Prinzipien noch die Thora können eingehalten werden“, hat in seiner Argumentation „die Thora … auch das letzte Wort in diesem Gedankengang“, indem (J89) „[d]urch sie … zu erkennen“ ist, „was Sünde ist.“
Auch nach Michael Wolter (W180) führt Paulus, nachdem er
in V. 6-11 herausgearbeitet hat, dass es zwischen Juden und Heiden keinen Unterschied gibt, weil alle Menschen nach ihren Werken gerichtet werden, … jetzt diejenige Größe ein, die nach jüdischem Verständnis den Unterschied zwischen Israel und den Völkern sichtbar macht und die gerade verhindern soll, dass Israel im Gericht das Unheilsgeschick der Völker teilt: das Gesetz …
Aber obwohl „Paulus mit der Einführung des Gesetzes auf einen unausgesprochenen Einwand“ reagiert, „der sich nur von jüdischer Seite aus gegen die paulinische Behauptung vorbringen lässt“, nämlich „dass Gott die Juden doch gegenüber den Heiden durch das Gesetz ausgezeichnet habe“, ist Wolter nach wie vor davon überzeugt, dass dieser Einwand „natürlich von niemand anderem als von Paulus selbst“ stammen kann, nämlich
von Paulus, dem Juden, der den Apostel Paulus zu einer Diskussion über Israels Erwählung durch das Gesetz nötigt. Dass Paulus das Gesetz ausgerechnet an dieser Stelle, nach V. 6-11, und mit dieser Ausrichtung einführt, macht einmal mehr deutlich, dass die Gesetzesfrage bei ihm immer in die Israelfrage eingebettet ist. In diesem Sinne kann Paulus auch in Röm 9,4 die „Gesetzgebung“ unter den Vorzügen aufführen, die Israels Erwählung und seine Sonderstellung vor Gott kenntlich machen.
Bezeichnend ist, dass Wolter sich schwer tut (W209) mit der in Römer 3,1-8 durch Paulus ausgedrückten Wertschätzung der Juden, die er unter der Überschrift „Juden bleiben immer etwas Besonderes“ abhandelt. Er kann hier nur (W223) eine „Widersprüchlichkeit“ oder sogar „Aporie“ konstatieren, hält es also für unmöglich, zu verstehen, was Paulus meint:
Trotzdem bleibt aber eine Spannung: In 3,1 nimmt Paulus die Begriffe „Jude“ und „Beschneidung“ aus 2,28-29 wieder auf, und zwar mit eben jener Bedeutung, die er dort als „äußerlich“, „am Fleisch“, „im Geschriebenen“ und „von Menschen“ abgewertet hatte. Mit seiner Antwort in 3,2 nimmt Paulus dieses Urteil über das Judentum und sein Selbstverständnis wieder zurück, ohne die Widersprüchlichkeit dieser beiden Aussagen auszugleichen.
Auch in Röm 11,28 beobachten wir eine vergleichbare Spannung, während Paulus in 3,9.22f ohne jede Relativierung wieder die Unterschiedslosigkeit von nichtchristlichen Juden und Heiden in den Vordergrund seiner Argumentation stellt.
Hierin kommt eine Aporie zum Ausdruck, die den paulinischen Umgang mit der Israel-Frage im Römerbrief insgesamt kennzeichnet: Einerseits betont er die Unterschiedslosigkeit von Juden und Heiden; andererseits insistiert er auf der bleibenden Besonderheit Israels gegenüber den Völkern. Es wird ihm bis zum Ende seines Briefes nicht gelingen, aus dieser Aporie herauszukommen.
Meines Erachtens ergibt sich diese Woltersche Aporie aus seinem Vorurteil, den Apostel Paulus gegen den Juden Paulus auszuspielen, statt ihn als den Gesandten des Messias Israels ernstzunehmen, der als Jude seine Mitjuden dazu herausfordert, im Vertrauen auf Jesus die Feindschaft zwischen Juden und Gojim zu überwinden.
Im Blick auf den Abschnitt Römer 3,9-20, in dem Paulus (W238) „alles zusammen“[fasst], was er ab 1,18 geschrieben hat“, ignoriert Wolter weiterhin die Möglichkeit, Paulus könne hier reale Juden zu einem Streitgespräch herausgefordert haben, indem er behauptet, dass „dieser Briefteil auf zwei Ebenen gelesen werden“ will,
denn er ist für zwei ganz unterschiedliche Adressaten geschrieben: zum einen für die Christen in Rom, an die der gesamte Brief gerichtet ist und denen er sein Evangelium vorstellen und erklären will; zum anderen führt er einen impliziten dialogus cum Iudaeis {Gespräch mit Juden}. Sein Gesprächspartner ist dabei niemand anderer als er, der Jude Paulus selbst.
Dabei will Wolter (Anm. 74) „diesen impliziten Gesprächspartner“ außerdem auch von „dem fiktiven jüdischen Gesprächspartner“ unterscheiden, „mit dem Paulus sich in Röm 2 auseinandersetzt und den er in 2,17-27 direkt anredet.“
Wolter zufolge (W239) läuft der gesamte Abschnitt Römer 1,18-3,20 auf die „Darstellung der Universalität der Sünde (1,18; 3,9)“ hinaus. Mit ihr
will Paulus seinen Lesern darum von Anfang an erklären, warum alle Menschen – und das heißt bei ihm pointiert: auch die Juden – auf das Evangelium von Jesus Christus und den Christus-Glauben angewiesen sind, wenn sie in Gottes Gericht bestehen wollen.
↑ Römer 2,12-13: Wer sich verfehlt, ob ohne oder mit Tora, ist verloren – nur Täter der Tora werden gerechtfertigt
2,12 Alle, die ohne Gesetz gesündigt haben,
werden auch ohne Gesetz verloren gehen;
und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben,
werden durchs Gesetz verurteilt werden.
2,13 Denn vor Gott sind nicht gerecht,
die das Gesetz hören,
sondern die das Gesetz tun,
werden gerecht sein.
[28. Dezember 2024] Nach Gerhard Jankowski (J75f.) beginnt Paulus in Römer 2,12-16 unvermittelt „[s]ehr massiv“ von der Tora <68> zu reden:
Neunmal … hören wir das Wort, dazu zweimal in einer Adverbverbindung (anomōs). …
Die Thora trennt Israel von den anderen Völkern. Das ist unumstößliche Lehre. Israel hat die Thora bekommen. Die anderen Völker nicht. Folglich kann Israel die Thora tun und hat sie zu tun. Schon bei der Gabe der Thora am Sinai (Ex 24,3.7) wird das betont:
Alles Volk antwortete mit Einer Stimme, sie sprachen:
Alle Rede, die der EWIGE geredet hat,
wir tuns.
Alles, was der EWIGE geredet hat,
wir tuns, wir hörens.
An einer anderen Stelle (J76) im 3. Buch Mose (Levitikus) 18,3-5 wird „verdeutlicht“, was das im Verhältnis zu Völkern bedeutet, die andere „Satzungen“ haben als die in der Tora im Blick auf die Befreiung und das Recht für Arme und Elende festgeschriebenen:
Nach dem Tun des Landes Ägypten, darin ihr saßet, tut nicht,
nach dem Tun des Landes Kanaan, wohin ich euch kommen lasse, tut nicht,
in ihren Satzungen geht nicht,
meine Rechtsgeheiße tut,
meine Satzungen wahrt, in ihnen zu gehen.
Der EWIGE euer Gott.
Wahret meine Satzungen und meine Rechtsgeheiße,
als welche der Mensch tut und lebt durch sie.
Unmittelbar im Anschluss an diese Verse wird im 3. Buch Mose, Kapitel 18, eine Reihe schändlicher Praktiken vor allem sexueller Art bis hin zu Kinderopfern verboten, die Israel anderen Völkern unterstellt und auf die auch Paulus in Römer 1,26-27 verweist. Danach folgen in 3. Mose 19 detaillierte Anweisungen, wie der Mensch durch das Tun der Tora als einer Disziplin der Freiheit Leben gewinnt, etwa (Verse 9-10) durch das Verbot der Nachlese bei der Ernte zugunsten des Armen und des Fremdlings, durch Bestimmungen (Vers 14-15) zugunsten von Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder zur Herstellung von Gerechtigkeit im Gerichtswesen bis hin (Verse 18 und 33-34) zum Gebot der Solidarität (agapē) <69> gegenüber dem Nächsten und sogar dem Fremdling. Jankowski fasst zusammen:
Das Tun der Thora bedeutet Leben. Der Lebensvollzug ist das Gehen in den Satzungen der Thora, die Halacha. Das unterscheidet Israel von Ägypten, Kanaan und den anderen Völkern.
Die Schlussfolgerung, die Paulus daraus zieht, formuliert er zunächst so, dass auch jeder andere Jude ihm vorbehaltlos zustimmen müsste:
Wer thoralos fehlgeht, geht thoralos verloren. Und wer in der Thora fehlgeht, wird durch Thora beurteilt werden. Und weil es auf das Tun ankommt, werden nur diejenigen, die Thora tun, bewahrheitet werden (2,12-13).
Michael Wolter betont zu Römer 2,12 (W180), dass Paulus hier den „Unterschied zwischen den Völkern und Israel“ zwar „durch das Gegenüber von anomōs {ohne Gesetz} und en nomō {mit Gesetz}“ abbildet, aber (W181) er
ebnet diesen Unterschied … sofort wieder ein und ordnet ihn einer Gemeinsamkeit unter, die Israel und die Völker miteinander verbindet: Ihre unterschiedlichen Beziehungen zum Gesetz sind für Paulus lediglich unterschiedliche Weisen desselben Sündigens (auf beiden Seiten hēmarton {gesündigt haben}). Auch in Bezug auf das Verhältnis zum Gesetz lässt Paulus also die Gemeinsamkeit von Juden und Heiden über ihre Unterschiedlichkeit domimieren, denn Sünde ist Sünde, ob mit oder ohne Gesetz.
Infolgedessen gehen die Völker zugrunde {apolountai}, und die Juden werden von Gott verurteilt {krithēsontai}, was auf dasselbe hinausläuft, „weil Paulus nicht mit einem ergebnisoffenen Gerichtsverfahren rechnet, sondern einen unheilvollen Ausgang voraussetzt.“ Diese Annahme Wolters stimmt allerdings nur, insoweit Paulus von Juden spricht, die tatsächlich nicht nach der Tora handeln.
Bevor Paulus in den Versen 14-16 auf die Beziehung der Völker zur Tora eingeht, um dann ab Vers 17 einen Juden direkt anzusprechen und ihm vorzuwerfen, „auf die Kenntnis des Gesetzes stolz zu sein, aber nicht nach ihm zu handeln“, formuliert er in Vers 13 im Blick auf „die jüdische en-nomō-{mit Gesetz-}Seite“
eine Sentenz theologischer Weisheit, der grundsätzliche Bedeutung zukommt und die nicht anders als alle bisherigen Aussagen ebenfalls für jeden Juden zustimmungsfähig ist.
Wolters Übersetzung lautet (W165):
Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht bei Gott,
sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden.
Dieser Ausspruch (W182) besteht aus zwei einander entgegengesetzt formulierten Teilen, die einen „Gegensatz zwischen dem ‚Hören‘ und dem ‚Tun‘ des Gesetzes“ konstruieren, wie das schon in der Tora selbst getan wird, wozu Wolter u. a. auf „Dtn 5,27; 6,3; 30,13; Ez 33,31.32“ verweist. Im Neuen Testament (Anm. 57) fällt Wolter besonders „die begriffliche Nähe zu Jak 1,22-25“ auf, „wo die Leser des Briefes aufgefordert werden, ‚Täter des Wortes (poiētai logou) und nicht lediglich Hörer (akroatai) zu sein‘ (V. 22).“ Indem Wolter (W182) außerdem an die Verwendung „der Bezeichnung poiētai nomou {Täter des Gesetzes} … im Umkreis … der gesetzestreuen Frommen“ erinnert, „die in den innerjüdischen Auseinandersetzungen gegen den hellenistischen Reformversuch in Juda/Jerusalem der 160er Jahre v. Chr. unter Anführung der Makkabäer entstanden ist“, z. B. in 1. Makkabäer 2,67, geht er davon aus, dass Paulus hier von Juden spricht, die „der Meinung sind, dass sie das Gesetz ohne Abstriche erfüllen.“
Spannend ist in Vers 13 (W181), dass Paulus nach dem „Gesetzesbegriff“, mit dem er sich auf die jüdische Tora bezieht, „nun auch noch Gerechtigkeitsbegriffe in seine Argumentation“ einführt, nämlich „dikaios und dikaiousthai“, die Wolter (W165) mit „gerecht“ und „gerechtfertigt“ übersetzt. Wörter vom selben Wortstamm (dikaiosynē und dikaios) waren bisher nur in Römer 1,17 vorgekommen. Aber Paulus führt an dieser Stelle nicht etwa in seine Rechtfertigungslehre ein, wie sie vor allem evangelischen Christen vertraut ist, sondern er äußert den erstaunlichen Satz, der auch von Jakobus hätte stammen können: „die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“.
Damit aber stehen nach Wolter (W183) in Vers 13 anders als in den Versen 7 und 10 nicht „bloß ‚gute Werke‘“ zur Debatte, „die von Heiden genauso wie von Juden (und Christen) getan werden könnten“, vielmehr kommt „den ‚Werken der Tora‘ … nach jüdischem Verständnis die Aufgabe zu…, die exklusive Identität Israels im Gegenüber zu den Völkern abzubilden.“ Man darf also nicht so tun, als könne man Römer 13 „auf der Grundlage eines lutherischen Gesetzesverständnisses“ auslegen, demzufolge (Anm. 60) „das Gesetz“ nicht mehr die „Erwählung Israels“ darstellt, sondern „zu einem allgemeinen ethischen Regelwerk geworden“ ist, sondern muss (W183) „die bereits in V. 12 deutlich gewordene Einbettung der Gesetzesfrage in die Israelfrage zur Voraussetzung der Interpretation“ machen. Es geht hier also
um den jüdischen Umgang mit der Tora, und Paulus behauptet, dass nur solche Juden gerechtfertigt werden, die die Rechtsforderungen der Tora erfüllen. Hierbei handelt es sich aber um eine theologische Aussage über Gott und die Standards seines richterlichen Handelns. Noch lange nicht gesagt ist damit, ob es auch wirklich zu einer solchen Rechtfertigung von „Tätern des Gesetzes“ kommt. Und genau das will Paulus hier zum Ausdruck bringen: Selbstverständlich sind im Urteil Gottes alle gerecht, die die Rechtsforderungen der Tora erfüllen – wenn es denn welche gäbe. Letzteres ist aber nicht der Fall, wie Paulus dann in 3,10 feststellen wird: „Es gibt keinen Gerechten, nicht einen“. Wie die Erlangung von Heil durch das Tun des Guten nach Röm 2,7.10 ist darum auch die Rechtfertigung von „Tätern des Gesetzes“ nach V. 13b lediglich eine theoretische Möglichkeit.
In Römer 3,20a wird Paulus daher „das tatsächliche Ergebnis von Gottes richterlichem Urteil“ beschreiben, „während er in Röm 2,13b den Grundsatz benennt, der Gottes Urteil zugrunde liegt“, ohne dass sich beide Aussagen widersprechen. Was er hier schreibt, dient Wolter zufolge (W183f.) sogar der Begründung
der These von der Rechtfertigung aufgrund des ‚Christus-Glaubens‘ (der pistis Christou) ‚ohne (Werke des) Gesetz(es)‘ (Röm 3,21f.28; Gal 2,16; 3,2.5.10-11) …: Weil es in Israel niemanden gibt, der aufgrund seiner Gesetzeserfüllung gerechtfertigt wird, ist die pistis Christou auch für Juden die einzige Chance, um nach Röm 5,9 vor dem kommenden Vernichtungsgericht („Zorn“) bewahrt zu werden.
Passt es aber zu einem Verkünder des Evangeliums von diesem „Christus-Glauben“, dass er, wie Wolter annimmt, nicht etwa reale römische Juden mit ihr konfrontiert, sondern stattdessen Heidenchristen lediglich darüber informiert, dass christus-ungläubige Juden dem göttlichen Vernichtungsgericht bereits verfallen sind?
↑ Römer 2,14-16: Es gibt Gojim, die das in ihr Herz geschriebene Werk der Tora tun
2,14 Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben,
doch von Natur aus tun, was das Gesetz fordert,
so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz.
2,15 Sie beweisen damit, dass des Gesetzes Werk in ihr Herz geschrieben ist;
ihr Gewissen bezeugt es ihnen, dazu auch die Gedanken,
die einander anklagen oder auch entschuldigen,
2,16 an dem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen
durch Christus Jesus richtet, wie es mein Evangelium bezeugt.
[29. Dezember 2024] In Römer 1,14 kommt Paulus (W184) auf die in Vers 12 erwähnten Völker zurück, die er dort anomōs {toralos, ohne Gesetz} genannt hat und jetzt als ta mē nomon echonta bezeichnet, die „das Gesetz nicht haben“:
lm Vergleich mit V. 13 konstruiert er den umgekehrten Fall: Wie die jüdische Kenntnis der Tora nicht sicherstellt, dass sie auch erfüllt wird, schließt die Unkenntnis der Tora bei den Heiden nicht aus, dass manche von ihnen manchmal in Übereinstimmung mit ihr (das meint Paulus mit ta tou nomou {das vom Gesetz [Geforderte]}) handeln.
Damit entzieht er dem „sich auf die Kenntnis des Gesetzes stützenden Überlegenheitsanspruch der Juden gegenüber den Heiden“ weiteren Boden:
Nachdem er festgestellt hat, dass es nicht auf die Kenntnis des Gesetzes ankommt, sondern auf seine Erfüllung, weist er darauf hin, dass auch Heiden damit aufwarten können. Paulus behauptet damit nicht, dass die Heiden im Allgemeinen und im Unterschied zu den Juden der Tora Folge leisteten. Mehr, als dass es Heiden gibt, die mitunter in Übereinstimmung mit der Tora handeln, sagt er nicht.
Mit der Formulierung, „dass diese Heiden physei {von Natur aus, von sich aus} in Übereinstimmung mit der Tora handeln“, unterstellt ihnen Paulus jedoch Wolter zufolge (W185) keine irgendwie naturrechtlich geartete „Gesetzeskenntnis“:
Wenn Heiden, die von der Tora keine äußere Kenntnis haben, aber trotzdem in Übereinstimmung mit ihr handeln, so ist das der Erkenntnisgrund dafür, dass sie sich selbst Vorschriften machen, die denjenigen der Tora entsprechen.
Mit dieser Aussage fällt Paulus nicht „hinter die Aussage von V. 13b zurück“, das heißt, es müsste Heiden geben, die als Täter des Gesetzes gerechtfertigt werden. Dennoch „postuliert“ Paulus Wolter zufolge genau das nicht, stellt es also nicht als wahr und gegeben hin,
dass Heiden, die ta tou nomou {das vom Gesetz Geforderte} tun, nun auch „Täter des Gesetzes“ sind, die im Endgericht gerechtfertigt werden. Umgekehrt will er natürlich ebensowenig in Abrede stellen, dass es auch unter den Juden welche gibt, die ta tou nomou tun. Das kann er als selbstverständlich voraussetzen und muss es darum nicht ausdrücklich hervorheben. Weil aber auch sie dadurch nicht zu „Tätern des Gesetzes“ werden, denen im Endgericht Heil zuteil wird, werden Juden und Heiden einander gleich: Hier wie dort gibt es welche, die ta tou nomou tun – bei den einen mehr, bei den anderen weniger –, aber keinen, der im Endgericht als „Täter des Gesetzes“ dasteht.
Im Hintergrund dieser Einschätzung, dass nach Paulus nur Menschen, die die Tora hundertprozentig erfüllen, im Endgericht bestehen können, steht nach Wolter (Anm. 72) auch hier im Römerbrief die
Feststellung von Dtn 27,26, die Paulus in Gal 3,10 zitiert („verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allen Worten dieses Gesetzes, um sie zu tun“)…
In Vers 15 (W185) liefert Paulus dafür, dass einzelne Heiden „in Übereinstimmung mit der Tora handeln, ohne die Tora zu kennen“, einige Erklärungen, denen er nach Wolter „die menschliche Alltagswelt“ zugrunde legt.
Erstens schließt Wolter von vornherein aus (W186, Anm. 73), Paulus könne mit der Formulierung to ergon tou nomou grapton en tais kardiais autōn {dass das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist} auf Jeremia 31,33 (bzw. in der LXX 38,33) zurückgreifen, wo es heißt: „Ich werde meine Gesetze in ihren Verstand geben, und auf ihre Herzen werde ich sie schreiben (epi kardias autōn graphō autous)“. Zwei Gründe führt er dafür an, erstens, dass diese Deutung voraussetzen würde, mit den ethnē von Vers 14 seien „Heidenchristen“ gemeint, und zweitens, dass „vom neuen Bund und der endzeitlichen Umgestaltung Israels“, von der Jeremia redet, „bei Paulus nichts zu erkennen ist.“ Beide Argumente sind im Blick auf Paulus, der sich vom Messias Israels zu den Gojim gesandt weiß, wenig überzeugend, da ihm durchaus zuzutrauen ist, die ursprünglich nur auf Israel bezogenen Worte in ihrer Reichweite auf Menschen aus den Völkern auszudehnen. Umgekehrt ist es kaum vorstellbar, dass der Jude Paulus nicht auf den ihm mit Sicherheit wohlvertrauten prophetischen Gedanken des Jeremia zurückgegriffen haben soll, sondern stattdessen (W186)
auf die in der Popularphilosophie seiner Zeit verbreitete Vorstellung vom ‚ungeschriebenen Gesetz (agraphos nomos)‘. ‚Ungeschrieben‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es nicht auf die üblichen Beschreibstoffe (Papyrus, Pergament, Stein, Holz, Ton etc.) geschrieben wurde, sondern in das Innere der Menschen.
Letzten Endes weiß aber auch Wolter, dass bei Paulus „das Gesetz nicht in den Verstand geschrieben“ wird, „sondern in das Herz, nach jüdischem Verständnis Sitz der menschlichen lntentionalität“, wozu er wiederum auf Beispiele aus der jüdischen Weisheit verweist (Sprüche 3,3 und 7,2-3) und dann doch noch einmal auf einen Propheten Israels, nämlich Jesaja (51,7), der „vom Herzen als Ort des Gesetzes spricht“. Sollte es Wolter nicht auch zu denken geben, dass Paulus das Wort physei {von Natur aus} aus Vers 14 eben mit dieser aus der jüdischen Bibel vertrauten Wendung „in ihren Herzen geschrieben“ wieder aufnimmt?
Zweitens nimmt Wolter (W186f.) als
weitere Bestätigung dafür, dass es bei Heiden ein Wissen um recht und unrecht gibt, … in V. 15b-c das Gewissen (syneidēsis), das in der hellenistisch-römischen Popularethik der paulinischen Zeit als Kategorie des ethischen Urteils verstanden wurde. Mit ihm verband sich häufig die Vorstellung von einem Gerichtshof im Inneren des Menschen, in dem das Gewissen als unabhängiger, weil vom menschlichen Wollen nicht beherrschbarer Ankläger, Zeuge und Richter tätig ist, der das menschliche Handeln im Nachhinein beurteilt.
Dazu verweist Wolter (Anm. 78) vor allem auf den jüdischen Philosophen Philo: <70>
„Der mit jeder Seele zusammengepflanzte und sie mitbewohnende Überführer (elenchos), der nicht gewohnt ist, etwas Schlechtes zu akzeptieren, und immer seine Natur bewahrt, indem er das Böse hasst und das Gute liebt, ist selbst zugleich Ankläger und Richter (katēgorso homou kai dikastēs)“.
Paulus stellt (W187) in Vers 15b „die Zeugenfunktion des Gewissens in den Vordergrund (symmartyrein)“, anschließend „erklärt“ er jedoch „die Arbeitsweise des Gewissens“, indem er „andere Rollen in den Blick“ nimmt:
Das Gewissen ist Ankläger und Verteidiger in einem, es beschuldigt und entlastet den Menschen gleichermaßen. Aus ē kai {oder auch} geht hervor, dass Paulus die anklagende Funktion als die regelhaftere ansieht (2Kor 1,13). Der Ausdruck metaxy allēlōn {wechselseitig} lässt erkennen, dass Paulus Anklage und Verteidigung als Vorgänge ansieht, die innerhalb ein und desselben Gewissens ablaufen und hier einander gegenüberstehen.
Noch einmal betont Wolter, dass Paulus hier noch „nicht die forensische Situation im Endgericht“ beschreibt, sondern „anthropologisch“, rein menschlich, argumentiert,“ und zwar um „die Differenz [zu] relativieren, die die Kenntnis der Tora aus jüdischer Sicht zwischen Juden und Nichtjuden markiert.“
Erst in Vers 16 kommt Paulus auf das „Endgericht Gottes“ zu sprechen, „dem alle Menschen sich zu stellen haben“. Dabei „knüpft er“ mit en hēmera {an dem Tag} „an V. 5 an und macht deutlich, dass er jetzt wieder über den ‚Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes‘ spricht.“ Rückwirkend (W188) überträgt Paulus nun doch „[a]les in V. 15 Gesagte“ auf seine Offenbarung „im Endgericht“, und nachträglich ergänzt Wolter die von ihm zu Vers 15b beigebrachten Belege für einen hellenistischen Hintergrund durch die Einsicht, dass Paulus
mit „das Verborgene der Menschen“ auf das „Herz“ [verweist], in das nach V. 15a das ergon tou nomou {Werk des Gesetzes} geschrieben ist, und auf das „Gewissen“ mit den einander anklagenden und Verteidigenden Gedanken nach V. 15b-c. zugunsten dieser Verknüpfung lässt sich auch Ps 32,11LXX anführen, wo von den „Gedanken des Herzens (logismoi tēs kardias)“ die Rede ist. Dass Gottes Gericht vor allem die Funktion hat, ans Licht zu bringen,wie es wirklich im Inneren des Mensch aussieht und was den anderen Menschen verborgen bleibt, ist eine im frühen Judentum weit verbreitete Vorstellung. Eine deutliche Nähe zu Röm 2,16 weist 1Kor 4,5 auf, wonach Christus bei seinem Kommen „das in der Finsternis Verborgene (ta krypta tou skotous) erhellen und die Absichten der Herzen offenbar machen wird“.
Seltsam, dass Paulus Wolter zufolge in Vers 15 zunächst hellenistisch-römischen Einflüssen unterlegen sein soll, die erst durch die vorher nicht beabsichtigte Verknüpfung mit dem Endgericht auch derart reichhaltige Anklänge an die jüdische Tradition erkennen lassen.
Indem Paulus ganz am Ende von Römer 2,16 die Worte „kata to euangelion mou dia Christou Iēsou {nach meinem Evangelium – durch Christus Jesus}“ als „nachklappende Ergänzung“ hinzufügt, „verlässt Paulus die in 2,1 angenommene fiktive Gesprächssituation und begibt sich wieder auf die übergeordnete Argumentationsebene von 1,1-5.16-17“, um „darauf aufmerksam“ zu machen, „dass Jesus Christus es ist, dem Gott die Funktion des Richters im Endgericht übertragen wird“, und es „ist das paulinische Evangelium, das Christus als den kommenden eschatischen Richter ankündigt.“
Zusammenfassend zum Abschnitt Römer 2,1-16 betont Wolter erstens, dass es in dem von Jesus Christus durchgeführten Gericht zwar „genauso zugehen“ wird wie in dem (W189)
Endgericht, das sein jüdischer Gesprächspartner erwartet: Was im Menschen verborgen ist, wird zum Vorschein gebracht und beurteilt. Damit müssen aber nicht nur Juden und Heiden rechnen, sondern es betrifft wirklich alle Menschen, d.h. auch Christen, selbst wenn Paulus diese Perspektive hier nicht im Auge hat. Von den Menschen (d.h. determiniert und im Plural) spricht Paulus nach 1,18 erstmals wieder in 2,16.
Zweitens ist ihm wichtig, „dass Paulus sein Evangelium, auf das er in 1,18 seine Darlegung bezogen hatte, zwischendrin nie aus dem Blick verloren hat“, und drittens hebt er hervor, dass „auch das inklusive Profil der paulinischen Ethik in diesen Abschnitt Eingang gefunden“ hat:
die in V. 7-10 genannten ethischen Normen und Werte, an denen sich Paulus zufolge die Verteilung von Heil und Unheil in Gottes Gericht orientiert, entsprechen denen, die er auch sonst propagiert (z.B. in Röm 12,17b; 2Kor 12,20; Gal 5,19-23; 6,9-10; Phil 4,8). Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie für Heiden genauso wie für Juden zustimmungsfähig sind. In ihnen wird darum die ethische Außenseite dessen erkennbar, was Paulus in Röm 1,16-17 über den Glauben gesagt hatte. Die Rechtfertigung aus Glauben und das Gericht nach diesen (!) Werken hängen darum ganz eng miteinander zusammen.
Leicht ist zu erkennen, worauf Wolter hinaus will, dass nämlich für Paulus die jüdische Tora nicht nur in ihrer Funktion der Trennung von den Völkern, sondern auch als verbindliche ethische Weisung Gottes überholt sein soll.
Was Wolter sehr ausführlich und ins Einzelne gehend auslegt, behandelt Gerhard Jankowski nur summarisch, wobei er auf ähnliche Einsichten wie Wolter kommt, ohne aber davon auszugehen, dass Paulus eine vollständige Einebnung aller Unterschiede zwischen Juden und Gojim im Sinn habe. So schreibt er zu Vers 16 (J76):
Was aber ist nun, wenn es Völker (Nichtjuden) gibt, die die Thora nicht haben, aber von Natur aus das tun, was die Thora fordert? Von Natur aus, physei, schreibt Paulus. Er hat nicht die Thora für die Völker im Sinn, die sogenannten Noachidischen Gebote. Es geht ihm auch nicht um die Behauptung, die Völker der Welt hätten am Sinai die ganze Thora angeboten bekommen, hätten aber die Annahme verweigert. Er nimmt einfach an, daß Nichtjuden völlig natürlich das tun können, was zur Thora gehört, ohne daß sie die Thora haben.
Nicht als ein ehemaliger Jude, der eingesehen hätte, dass es vor Gott keinerlei Unterschiede mehr zwischen Israel und den anderen Völkern gibt, sondern als ein Jude, der sich der Verantwortung wohl bewusst ist, dass Gott das Volk Israel allein zu dem Ziel auserwählt hat, um ihm seine Tora als Disziplin der Freiheit und der Aufrichtung jedes Armen und Erniedrigten anzuvertrauen, hält Paulus daran fest, dass getan werden muss, was zu dieser Tora, der Weisung des befreienden Gottes, gehört:
Auch in dieser – für einen Juden hypothetischen – Annahme trägt das Tun den Akzent gegenüber dem Haben. Der Besitz der Thora, sie zu haben, entpflichtet ja überhaupt nicht vom Tun. Es ist das Tun, das Paulus hier so ernst nimmt, wie er es gelernt und sicher auch tradiert hat. Steht das Tun aber im Mittelpunkt, dann ist es eben auch möglich, daß getan werden kann, was zur Thora gehört, ohne daß man sie hat. Auch Nichtjuden können das so. Wenn sie es tun.
Nach Jankowski nimmt Paulus damit ganz klar die Verheißung des Propheten Jeremia auf, die Wolter ebenso klar ausgeschlossen hat (J77):
Und dann? Dann haben die Gojim die Thora nicht. Aber sie sind sich selbst Thora. Das Wirken der Thora ist in ihre Herzen geschrieben. Das erinnert an die Hoffnung des Jeremia auf einen erneuerten Bund, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die Thora auf das Herz der einzelnen in Israel geschrieben sein wird (Jer 31,31) und so keiner den anderen mehr belehren muß. Das war die Hoffnung des Paulus auch für die Gojim. Ob die Gojim so handeln werden, wird sich erst noch erweisen an dem Tag, an dem auch die Taten der Gojim beurteilt werden. Mitteilhaber also an der Thora können die Gojim nicht sein, Mit-Täter aber wohl. Sie können es sein.
Nicht zu vergessen ist, dass Paulus sich mit diesen Erwägungen nicht, wie Wolter meint, an Heidenchristen wendet, sondern an die römischen Juden, denen gegenüber er als Anwalt der Gojim auftritt, zu denen er sich vom Messias Israels gesandt weiß. Darum stellt er nun, um den eben ausgeführten „Gedanken noch zu verschärfen“, in den folgenden Versen sehr „direkte Fragen an die Besitzer der Thora“.
↑ Römer 2,17-24: Wer sich als Jude mit der Tora beruhigt, statt sie zu tun, entehrt Gott
2,17 Wenn du dich aber Jude nennst
und verlässt dich aufs Gesetz
und rühmst dich Gottes
2,18 und kennst seinen Willen
und prüfst, weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, was das Beste sei,
2,19 und maßt dir an, ein Leiter der Blinden zu sein,
ein Licht derer, die in Finsternis sind,
2,20 ein Erzieher der Unverständigen,
ein Lehrer der Unmündigen,
der im Gesetz die Gestalt der Erkenntnis und Wahrheit hat –
2,21 du lehrst nun andere und lehrst dich selber nicht?
Du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst?
2,22 Du sprichst, man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe?
Du verabscheust die Götzen und beraubst Tempel?
2,23 Du rühmst dich des Gesetzes und entehrst Gott durch Übertretung des Gesetzes?
2,24 Denn „euretwegen wird Gottes Name gelästert unter den Völkern“,
wie geschrieben steht (Jesaja 52,5).
[30. Dezember 2024] Betrachten wir auch zu Römer 2,17-24 zunächst die Analyse und Auslegung, die Michael Wolter vornimmt. Das hier (W190) direkt als „Jude“ angeredete Gegenüber begreift er nach wie vor als „fiktiven jüdischen Gesprächspartner“, der in den Augen des Paulus als
das idealtypische Konstrukt eines Juden… sich durch die Kenntnis von Gottes Willen ausgezeichnet weiß, ihm aber trotzdem nicht folgt, sondern das Gesetz übertritt. Ihn stellt er in V. 25-26 dem nicht minder idealen Typus des gesetzeserfüllenden Heiden gegenüber.
Zur Konstruktion der Verse 17-20 hebt Wolter hervor (W191), dass sie „einen einzigen Satz“ bilden, „der jedoch elliptisch endet“. Das Ganze besteht aus einem Nebensatz, der viele Bedingungen nennt und „den Paulus aber nicht durch einen Hauptsatz fortführt.“ Wenn Wolter allerdings meint (W190), dass „als Fortsetzung des elliptisch abbrechenden Bedingungssatzes (‚Wenn du dich Jude nennst und dich auf das Gesetz stützt und dich Gottes rühmst …‘; V. 17)“ unter „Rückgriff auf V. 23 … ergänzt werden“ könnte: „‚… warum entehrst du Gott durch die Übertretung des Gesetzes?‘“, dann erscheint es mir logisch, dass Paulus die ganze Reihe der fünf Sätze in den Versen 21-23 als den von Wolter vermissten Hauptsatz versteht, wenn auch ungewöhnlich formuliert.
Bezeichnend ist weiterhin, dass Wolter (Anm. 4) die Annahme des Exegeten Jewett <71> ablehnt, „dass die beiden Fünferreihen in V. 17a-18b und V. 19b-20c auf die fünf Bücher des Pentateuch {= Fünf Bücher Mose = Bücher der Tora} anspielen wollen“. Er denkt, dass Jewett zu Unrecht „den subordinierten Partizipialausdruck {„unterrichtet aus dem Gesetz} am Ende von V. 18 für das fünfte Element der ersten Reihe hält“, und dass zudem „in der zweiten Reihe V. 19-20 das fünfte Element (V. 20c) nicht auf derselben Ebene wie die anderen vier (V. 19b-20b)“ steht. Nun könnte Paulus aber durchaus den Vers 17a nicht, wie Wolter meint (W191) „als eine Art Überschrift“ verstanden haben, sondern bereits als erstes Element einer „Reihe von“ nunmehr nicht nur „vier“, sondern fünf „Eigenschaften…, die jeweils durch kai {und} + 2. Pers. Sing. Präsens“ miteinander „gleichgeordnet sind“. Immerhin geht Paulus ja wohl davon aus, dass sein Gegenüber sich voller Stolz „Jude“ nennt. Und dass alle drei so zusammengestellten Fünferreihen (insofern wohl abweichend von Jewett betrachtet) mit einem fünften Element enden, das „sehr viel umfangreicher“ ist „als ihre jeweiligen Vorgänger, schreibt Wolter selbst im Blick auf „V. 18b und V. 20c“, die „gemeinsam“ haben,
dass sie jeweils mit einem ausdrücklichen Bezug auf das Gesetz enden, dessen Bedeutung für das jüdische Selbstverständnis Paulus damit noch einmal in den Vordergrund schiebt.
Und dasselbe gilt schließlich auch für Vers 23, den Wolter zuvor als den zu ergänzenden fehlenden Hauptsatz für die Nebensatzkonstruktion der Verse 17-20 erwähnt hatte. Ausgesprochen kunstvoll bringt somit Paulus in drei auf die fünf Bücher Mose anspielenden Fünferreihen das zwiespältige Verhältnis des von ihm angesprochenen Juden zur Tora auf den Punkt. Dabei wenden sich die in der ersten Reihe (V. 17-18) genannten Merkmale
nach innen und thematisieren die jüdische Gottesvolkidentität und deren Gestaltung. Demgegenüber wenden sich V. 19b-20c nach außen und thematisieren das jüdische Selbstverständnis gegenüber den Nichtjuden.
Die fünf anschließenden Haupt- oder Fragesätze stellen dann massiv genau dieses Selbstverständnis in Frage.
Betrachten wir nun die erste Fünferreihe genauer, die ich nach Wolters Übersetzung (W189) folgendermaßen anordne:
17 Wenn du dich aber Jude nennst
und dich auf das Gesetz stützt
und dich Gottes rühmst
18 und den Willen kennst
und prüfst, worauf es ankommt, unterrichtet aus dem Gesetz…
Was sagt Wolter (W192) zu dieser „Liste mit denjenigen Merkmalen, durch die Juden sich von Nichtjuden unterschieden wissen“, denen er V. 17a als Überschrift vorangehen lässt? In ihr präsentiert Paulus „seinen Gesprächspartner den römischen Christen als einen auf seine jüdische Identität stolzen Juden.“ Grundlegend unterscheidet sich Israel von den Völkern durch seine „Vertrautheit mit Gott und das Gesetz“, was er in der dritten und zweiten Zeile betont. Alles, was an Unterschieden noch folgt, ist
aus ihnen abgeleitet. Vor allem aber gehören diese beiden Elemente zusammen: Gott hat Israel aus den Völkern erwählt und zu seinem Eigentumsvolk gemacht. Er hat ihm an seiner Heiligkeit Anteil gegeben, und damit sein Volk diese Sonderstellung gegenüber den Völkern jeden Tag aufs Neue erfahren und zum Ausdruck bringen kann, hat Gott ihm das Gesetz gegeben – ein Gesetz, wie es kein anderes Volk hat. Es geht also um Israels Identität (Gott; V. 17) und um sein Ethos (Gesetz; V. 23), die hier wie auch sonst eng zusammengehören.
Anzumerken ist hier, ob man die Tora Israels nicht vollkommen missversteht, wenn man sie auf ihre Funktion als „Ethos“, als forderndes „Gesetz“, reduziert, ohne zugleich ihre Zielrichtung auf Befreiung und Aufrichtung der Erniedrigten zu betonen.
Zu Recht stellt Wolter fest (W193), dass Paulus „keinerlei Kritik“ daran übt, dass Juden sich Gottes rühmen, denn „[s]chließlich dürfen auch Christen sich Gottes rühmen (Röm 5,11; 1Kor 1.31; 2Kor 10,17)“, und der
Adressat des Rühmens ist in V. 17c auch nicht Gott, sondern es sind immer Menschen. Das können die Völker genauso gut sein wie lsrael selbst, das sich seiner Erwählung auf diese Weise vergewissert (vgl. in diesem Sinne z.B. Dtn 4,6-8).
Worin „das epanapauesthai nomō {sich Stützen auf das Gesetz} (V. 17b) konkret besteht“, entfaltet Paulus in Vers 18. Es ist „das Gesetz, das den Juden sagt, welches Verhalten Gott von ihnen erwartet (V. 18a)“, also was der „Inhalt von Gottes Rechtswillen“ ist, Gottes thelēma {Wille}, nämlich „die Vorschriften des Gesetzes“. Dazu verweist Wolter u. a. auf Psalm 102,7LXX, der „dem von Paulus Gemeinten am nächsten“ kommt: „Er (sc. Gott) hat Mose seine Wege kundgetan (egnōrisen), den Kindern lsraels seine Willensäußerungen (ta thelēmata autou)“.
Zuletzt „spricht Paulus“ wie „in Phil 1,10“ von „einem dokimazein ta diapheronta {Prüfen, worauf es ankommt}“. Im Brief an die Philipper meint er (W193f.)
damit die Fähigkeit der Gemeinde, aufgrund von „Erkenntnis und Einsicht“ (epignōsis kai aisthēsis; V. 9) zu entscheiden, wie sie sich verhalten muss, damit sie am Tag Christi bestehen kann.
Den Begriff ta diapheronta, der sich wörtlich auf das bezieht, was sich unterscheidet, hat Paulus nach Wolter (W194) „aus der stoischen Popularphilosophie“ übernommen:
Er bezeichnet hier solche Handlungen, die im Unterschied zu ta adiaphora {das Gleichgültige} ethisch nicht indifferent sind, weil es bei ihnen um gut und böse geht. Paulus macht ihn zu einem Bestandteil seiner Beschreibung des jüdischen Selbstverständnisses, indem er mit seiner Hilfe die konstitutive (und eben nicht indifferente) Bedeutung des Gesetzes für die jüdische Lebensführung charakterisiert. Es ist darum möglich, beide Merkmale jüdischen Selbstverständnisses, die Paulus in diesem Vers nennt, miteinander zu verknüpfen: Der Unterschied zwischen gut und böse – ta diapheronta – ist, ob das Handeln dem Willen Gottes, wie er im Gesetz niedergelegt und erkennbar ist, entspricht oder ihm zuwiderläuft.
In Vers 19 eröffnet das „Perfekt pepoithas {du bist überzeugt} … eine neue Reihe von fünf Merkmalen, von denen die ersten vier (V. 19b-20b) mit ihren Gegenüberstellungen als Einheit konzipiert sind“. Hier wieder Wolters Übersetzung (W189):
19 … sowie davon überzeugt bist, dass du ein Führer der Blinden bist,
ein Licht derer, die in Finsternis sind,
20 ein Erzieher der Törichten,
ein Lehrer der Unmündigen,
der im Gesetz die Verkörperung der Erkenntnis und der Wahrheit hat …
Von den vier „Gegenüberstellungen“ gehören nach Wolter (W194) jeweils zwei „enger zusammen: V. 19b-c zielt eher auf Bekehrung ab, V. 20a-b eher auf Belehrung.“ In diesen Versen greift Paulus wie in Vers 17 auf biblische „Bausteine“ zurück, um sie eigenständig auszuformulieren, zum Beispiel Jesaja 42,6-7 und 49,6. Außerdem steckt Wolter zufolge (W195) „hinter ‚Führer der Blinden‘ möglicherweise ein pharisäischer Anspruch, der noch in der Polemik zu erkennen ist, die sich in Mt 15,14 gegen die Pharisäer wendet …; s. auch 23,16.24).“
Das fünfte von Paulus genannte Merkmal will Wolter nicht als „weiteres Merkmal“ begreifen, sondern als „die Voraussetzung und Basis der vier vorgenannten“:
Wenn Paulus in V. 20c schließlich noch davon spricht, dass sein Gesprächspartner das Gesetz als „Verkörperung“ (morphōsis) von gnōsis {Erkenntnis} und alētheia {Wahrheit} ansieht, so schreibt er ihm dadurch die Vorstellung zu, dass es die Tora ist, in der die abstrakten und nur denkerisch erfassbaren Größen „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ sinnlich zugänglich und greifbar würden und dass ihm mit der Tora die empirisch wahrnehmbare Gestalt von „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ zur Verfügung stehe. Innerhalb frühjüdischer Überlieferungen findet diese Sicht ihre engste Entsprechung in der Vorstellung von der verborgenen Weisheit, die allein in der Tora zugänglich und als solche einzig und allein Israel mitgeteilt worden sei (Bar 3,37 – 4,4; vgl. bereits Dtn 4,6; Sir 24).
Auch was ich als dritte Fünferreihe paulinischer Aussagen in Römer 2,17-23 auffasse, sei in Wolters Übersetzung (W189) in fünf Zeilen aufgeteilt wiedergegeben:
21 Du belehrst also den anderen, und dich selbst belehrst du nicht.
Du verkündest, man solle nicht stehlen, und stiehlst.
22 Du sagst, man solle nicht ehebrechen, und brichst die Ehe.
Du verabscheust die Götzenbilder und begehst Tempelraub.
23 Der du dich des Gesetzes rühmst – durch die Übertretung des Gesetzes entehrst du Gott.
Wolter (W195) geht zunächst auf die „Reihe von vier Aussagen“ in den Versen 21 und 22 ein, „die parallel aufgebaut sind“ und „in den meisten Übersetzungen und Kommentaren <72> … als rhetorische Fragen verstanden“ werden. Sein Argument, dass Letzteres nicht „[e]rforderlich ist…, zumal wenn der parallel aufgebaute V. 23 als Aussage aufgefasst wird“, nehme ich als Bestätigung meiner Einschätzung auch der Verse 21-23 als bewusst von Paulus gestalteter Reihe von fünf zusammengehörigen Aussagen.
Allgemein wirft Paulus seinem jüdischen Gegenüber vor (W196),
dass Worte und Werke bei ihm auseinanderklaffen und er sich selbst nicht an die ethischen Forderungen hält, die er anderen gegenüber erhebt.
Das formuliert er in Vers 21 zunächst mit einem „in der Antike“ häufig vorkommenden Sprachbild, dass
ein Lehrer andere belehrt, aber nicht sich selbst, obwohl gerade er selbst die Belehrung durch seine eigene Lehre am nötigsten hätte, weil er sich nicht an sie hält…
Mit drei Beispielen in V. 21b-22 konkretisiert Paulus „diesen Widerspruch zwischen Reden und Tun“, wobei er anscheinend „den ersten beiden Beispielen das 7. Gebot (V. 21b) und das 6. Gebot (V. 22a) des Dekalogs zugrunde“ legt, gezählt (Anm. 23) „nach Luthers Kleinem Katechismus“. Wolter zieht jedoch in Zweifel (W196), dass Vers 22b „als Anspielung auf das 1. Gebot … (Ex 20,4; Dtn 5 ,8)“ zu verstehen ist, was zum Beispiel Zeller, Dunn, Wilckens und Jewett tun. <73> Er selber hält es für
wahrscheinlicher, dass Paulus sich hier an einer paränetischen Tradition seiner hellenistisch-römischen Umwelt orientiert, wo die Kombination von kleptein {Diebstahl}, moicheuein {Ehebruch} und hierosylein {Tempelraub} des öfteren belegt ist … – oft in derselben Reihenfolge wie in Röm 2,21b-22. Auch hier beschreibt Paulus nicht aus empirischer Beobachtung gewonnene Verhaltensweisen, sondern er nennt idealtypische Beispiele.
Aber was auch immer im Hintergrund dieser Beispiele stehen mag (W197), bereitet auf jeden Fall „die Logik von V. 22b“ Kopfzerbrechen. Wie kann Paulus dem von ihm angesprochenen Juden, der „die heidnischen Götzenbilder“ verabscheut, zugleich „das mit hierosylein beschriebene Verhalten“ unterstellen, „das in der Regel die Entwendung von Wertgegenständen aus Tempeln oder von anderen heiligen Stätten bezeichnet (lat. sacrilegium)“? Als Erklärung hält es Wolter für möglich, „dass dieser Vorwurf ein stereotypes Element der antijüdischen Polemik in der Umwelt des frühen Christentums war“, den Paulus „hier übernimmt“ und seinem
fiktiven jüdischen Gesprächspartner … bescheinigt, … einerseits die heidnischen Götzenbilder zu verabscheuen, andererseits aber sich aus ihren Kultstätten zu bereichern. Wahrscheinlicher ist aber, dass hierosylein eher im Sinne der allgemeineren Bedeutung als Vergehen gegen Gott selbst und seine Heiligkeit verstanden ist.
Die zweite Möglichkeit würde (Anm. 31) „der übertragenen Bedeutung von sacrilegium“ entsprechen, wie „auch die Vulgata“ hierosyleis mit sacrilegium facis ins Lateinische übersetzt.
Im Endeffekt soll Paulus hier Wolter zufolge (W198) nicht nur einen fiktiven Adressaten anreden, sondern auch keine konkreten Vorwürfe im Blick haben:
In jedem Fall kann es nur um die Frage gehen, was Paulus sich unter dem Vorwurf des hierosylein vorgestellt hat, ohne dass dem auch eine entsprechenden Realität entsprochen haben muss. Ohnehin haben die drei Vergehen rein fiktiven Charakter. Paulus will mit ihnen lediglich paradigmatisch veranschaulichen, wie ein Handeln aussehen kann, das den Rechtsforderungen der Tora widerspricht.
In Vers 23 „führt Paulus … die beiden Linien der vorangegangenen Verse zusammen“. Mit hos en nomō kauchasai {der du dich des Gesetzes rühmst} nimmt er „das Leitwort nomos {Gesetz}“ aus den Versen 17-20 auf, während die Worte dia tēs parabaseōs tou nomou ton theon atimazeis {durch die Übertretung des Gesetzes entehrst du Gott} die Verfehlungen aus den Versen 21-22 fortschreiben und eine „gezielte Antithese zu kauchasai en theō {du rühmst dich Gottes} (V. 17c)“ darstellen:
Er spitzt damit den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei seinem fiktiven jüdischen Gesprächspartner auf dessen Gottesverhältnis hin zu und wirft ihm vor, dass er der Bestimmung des Gottesvolkes nicht gerecht geworden ist. Er hat damit seine Aufgabe verfehlt, Gottes Gott-Sein durch die Erfüllung des Gesetzes vor allen Menschen erkennbar zu machen.
Was unter der Entehrung Gottes zu verstehen ist, erklärt Paulus in Vers 24 mit einem Zitat aus dem Buch Jesaja (52,5c). Allerdings (W199)
ändert er … den inhaltlichen Richtungssinn des Zitats: Im hebräischen Text und in der Septuaginta wird Gottes Name von den fremden Völkern gelästert, weil der Gott Israels nicht verhindern konnte, dass sein Volk unterworfen und in die Gefangenschaft geführt wurde. … Demgegenüber ist es bei Paulus die in V. 23b formulierte These, dass Gott durch die Übertretung des Gesetzes entehrt wird, die er mit Hilfe des Schriftzitats nicht nur untermauert, sondern auch verallgemeinert: von dem individuellen Repräsentanten Israels (2. Pers. Singular) auf das gesamte Volk (2. Pers. Plural).
Wolter betont jedoch, dass „Paulus … auch mit dem in Röm 2,23-24 vorgetragenen Vorwurf fest auf dem Boden der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition“ steht. Er findet sich zum Beispiel im „Testament Naphthalis“, einer pseudepigraphischen Schrift des Alten Testaments, abgekürzt
in TestNaph 8,6 (wenn einer „das Gute nicht tut, … wird Gott durch ihn unter den Völkern verachtet werden [ho theos adoxēsei en tois ethnesin di‘ autou]“) sowie in 2Sam 12,14 (durch die Sache mit Batseba und Uria hat David nach Nathans Worten „den Feinden JHWHs Grund zur Lästerung gegeben“).
Im Unterschied zu Wolter beschäftigt sich Gerhard Jankowski (J77) im Blick auf Römer 2,17-18 zunächst mit dem „Namen“ derer, „die Thora haben“ und vom „Besitz der Thora her … ihre Identität“ bekommen (J78):
Sie nennen sich Juden. Sie sind bene Jissrael oder bene Abraham. Jehudim, Iudaioi wurden sie von den anderen Völkern wohl nach ihrem Herkunftsland genannt, das sowohl die persischen als auch die römischen Eroberer die Provinz Judäa nannten. Meistens wurde diese Bezeichnung in verachtendem Sinn gebraucht. Aber bald bezeichneten sich die in der Diaspora Lebenden selbst so.
Interessant ist, dass im Midrasch Esther <74> von Rabbinen diskutiert wird,
warum Mardokhai in Est 2,5 isch jehudi genannt wird, obwohl er doch Benjaminit ist. Sie sagen, weil er sich nicht vor den Götzen gebeugt hat, sondern sich zu dem einzigen NAMEN bekannt hat, wobei sie statt jehudi jechidi lesen, also den Namen durch das Zahlwort eins interpretieren. Gleichzeitig ist er für sie wie Abraham in seiner Zeit, der die Größe des einen Heiligen bekanntgemacht hat. Die Bezeichnung wird so zu einer Art Ehrenbezeichnung. Jehudi, also Jude, ist jemand, der sich zum NAMEN offen bekennt und von seiner Größe Zeugnis gibt. Aus der Bezeichnung der Fremden für den Angehörigen eines Volkes aus einem Land wird in der Diaspora eine Identitätsbezeichnung.
Außer dem Namen Ioudaios gehören nach Paulus vier weitere Merkmale
zu dieser Identität unabdingbar dazu …: die Thora, der Eine Gott, der Wille (Gottes), die Unterschiede – und hier ist zu ergänzen: zu den anderen Völkern. Die Verben, die Paulus gebraucht, zeugen auf den ersten Blick von dem Selbstbewußtsein, das diese Identität bewirkt: sich mit Thora beruhigen (epanapauesthai), sich mit dem Einen Gott rühmen (kauchasthai), den Willen erkennen (ginōskein), das Unterschiedliche prüfen (dokimazein), wie man aus der Thora unterwiesen wurde. Gerade darin wird deutlich, wer sich Jude nennen kann.
Hier fällt auf, dass Jankowski (J77) den Ausdruck ta diapheronta mit „das Unterschiedliche“ übersetzt und (J78) auf „die Unterschiede … zu den anderen Völkern“ bezieht, statt ihn wie Wolter von der stoischen Popularphilosophie her zu begreifen. In seiner späteren Übersetzung (G12) kehrt er allerdings zur üblichen Übersetzung „was das Entscheidende ist“ zurück.
Zu Römer 2,19-20 hebt Jankowski hervor, dass Paulus hier „mit kurzen Strichen ein Programm“ umreißt, nämlich das „Programm …: aus den Gojim Juden machen, damit das Problem Israel und die anderen Völker gelöst wird.“ Dieses Programm „ist wohl auch sein Programm zunächst gewesen“, als er noch die Anhänger des Messias Jesus verfolgt hat, und er „beschreibt … exakt“ die „Aufgabe gegenüber den Nichtjuden“, die sich daraus ergibt:
Führer von Blinden, Erzieher von Unverständigen, Lehrer von Unmündigen zu sein, die Verkörperung der Erkenntnis und der Wahrheit in der Thora zu haben. Die Nichtjuden sind blind, leben in Finsternis, sind unverständig und unmündig, weil sie eben nicht die Thora haben, die Erkenntnis und Wahrheit geradezu verkörpert. Unterwiesen werden und lehren, das zeichnet einen Juden aus. So sahen sich ohne Frage vor allem die Lehrer Israels.
Aber gerade weil „Paulus weiß, wovon er redet“, hinterfragt er auch das genannte Programm (J78f.), indem er
schreibt, daß sich der, der sich Jude nennt, mit Thora beruhigt (2,17). Das griechische Verb, das er hier gebraucht, epanapauesthai, ist sehr selten. Wir finden es nur noch bei Luk 10,6. LXX hat es dagegen mehrfach. Was es meint, sagt am besten Micha 3,11. Der Prophet greift die Führer Israels, die Richter, Priester und Propheten an, die das Recht verkommen lassen, käuflich sind und nur das sagen, was gehört werden will. Alle stützen sich (hebr. schaˁan) dabei auf den EWIGEN mit der Parole: Ist der Ewige nicht drinnen bei uns? Der Gott lsraels ist zu einem alles absichernden Besitz verkommen, zu einer Garantie. Man hat Gott, was kann einem schon passieren? Aus dem Stützen wird ein Beruhigen.
Es mag sein, daß Paulus diese Stelle bei Micha erinnert, als er schreibt, daß man sich mit Thora beruhigen kann. Auch die Thora kann zu einem Besitz, zu einer Garantie verkommen. Aus der Verpflichtung, die Thora zu tun, wird Überheblichkeit. Das Haben der Thora verpflichtet eben nicht nur dazu, die anderen mit der Thora zu lehren, sondern auch beispielhaft für die anderen die Thora zu tun. In dem oben angesprochenen Programm kann Israel nur Paradigma für die anderen Völker sein. Was gelehrt wird, hat sich an der eigenen Praxis zu erweisen.
In Römer 2,21-22 liest Jankowski wie die Mehrheit der Exegeten vier Fragesätze, mit denen er jüdische Praxis „an der Thora“ überprüft:
Zwei Sätze der Zehn Worte zitiert er: nicht stehlen, nicht buhlen (die Ehe brechen). Gefragt wird, ob diese Gebote, die gelehrt und proklamiert werden, tatsächlich auch gehalten werden. Die Fragen zeigen, daß das zu bezweifeln ist. Auch die Rabbinen beklagen, daß diese Gebote nicht immer eingehalten werden, selbst von den Lehrern und Weisen nicht, die auf ihrer Einhaltung streng achteten. <75> Die letzte Frage bezieht sich wahrscheinlich auf den Handel mit kleinen, aus den Tempeln gestohlenen Votivbildern, an dem sich auch Juden beteiligt haben mögen.
Nach Jankowski stellt Paulus das, was von Juden gelehrt wird, also durchaus mit „Beispielen aus dem Alltagsleben in Frage“, um zu belegen:
die Thora wird auch von Juden übertreten. Das Haben der Thora ist noch keine Garantie dafür, wirklich auch Jude zu sein. Gerade ein Jude hat sie zu tun. Und er tut sie nicht. Zu fragen wäre, ob er sie tun kann unter den gegebenen Zuständen. Gerade das letzte Beispiel könnte zeigen, daß einige Juden darauf angewiesen waren, an dem Handel mit geraubten Votivbildern teilzunehmen, um zu überleben.
Mit dem „Zitat aus Jes 52,5“ in Vers 24 folgt Paulus dem Text der Septuaginta, die den hebräischen Text nach Jankowski „schon interpretierend übersetzt“. Während es ursprünglich heißt (Anm. 20): „… umsonst ist ja mein Volk hinweggenommen worden, / seine Zwingherren kreischen, / des EWIGEN Erlauten, / und stets, all den Tag, / wird mein Name gelästert“, steht in der griechischen Übersetzung (von mir wörtlich ins Deutsch übersetzt): „… weggenommen ist mein Volk umsonst, staunt und schreit, das sagt der HERR, um euretwillen wird durch alles mein Name gelästert unter den Völkern.“ Dieses di‘ hymas {um euretwillen} greift Paulus auf, indem er die Juden in Rom als seine Hauptadressaten auf ihre Verantwortung anspricht (J79f.):
weil gerade Juden die Thora übertreten, sind sie kein Beispiel für die Nichtjuden. lm Gegenteil. Sie geben den Nichtjuden Grund, das befreiende Programm des Gottes Israels, für das der NAME steht, zu verspotten. Sie halten sich nicht daran, indem sie die Thora nicht tun. Sie geben sich damit zufrieden, daß sie die Thora haben, obwohl sie wissen, daß das nicht genügt.
Jankowski zufolge (J80) hat es „noch einen anderen Grund“, dass Juden „sich mit Thora beruhigen, sich mit ihr zufriedengeben“. Darauf wird Paulus in den folgenden Versen zu sprechen kommen:
Jeder Jude trägt ein untrügliches Zeichen an sich, das ihn als Jude erkenntlich macht. Es ist die Beschneidung. Sie unterscheidet ihn auf jeden Fall von einem Nichtjuden. Von ihr und ihrer Verbindung mit der Thora ist also jetzt zu reden.
↑ Römer 2,25: Einem Übertreter der Tora wird seine Beschneidung zur Vorhaut
2,25 Die Beschneidung nützt etwas,
wenn du das Gesetz hältst;
hältst du aber das Gesetz nicht,
so bist du aus einem Beschnittenen
schon ein Unbeschnittener geworden.
[1. Januar 2024] Nach Michael Wolter (W199) kommt Paulus in Vers 25 „scheinbar unvermittelt auf die Beschneidung zu sprechen und stellt das Beschnitten-Sein der Juden und ihren Umgang mit dem Gesetz einander gegenüber.“ Ähnlich wie (W200) in Vers 12, „wo Paulus ähnlich unvermittelt auf das Thema ‚Gesetz‘ zu sprechen gekommen war“, reagiert
Paulus auf einen unausgesprochenen Einwand …, der sich auf ein Element bezieht, das die jüdische Sonderstellung gegenüber den Heiden markiert. ln 2,12 war es das Gesetz, und hier ist es nun die Beschneidung. Hier wie dort ist es niemand anderer als Paulus selbst, der die Einwände konstruiert, und er tut dies nur, um sie zu entkräften.
Zur „Bedeutung der Beschneidung für das jüdische Selbstverständnis“ weist Wolter darauf hin,
dass die Priesterschrift die in Israel schon von alters her praktizierte Beschneidung im Exil mit theologischer Bedeutung auflud und sie zu einem der konstitutiven ldentitäts- und Abgrenzungsmerkrnale machte, die die Exilierten von ihrer Umwelt unterschieden. Nach dem Verlust von Land, Kult und Königtum wurde die Beschneidung zu einem jener exklusiven Identitätsmerkmale, die auch im Exil praktiziert werden konnten.
In 1. Mose 17,1-14 wird die Beschneidung „als Gottes ‚Bund an eurem Fleisch‘ (V. 13) in der Abraham-Erzählung verankert“ und
zu einer Entsprechung von Gottes ‚ewigem Bund‘ (V. 7) mit seinem Volk gemacht. … Die Ausschlussformulierung in V. 14 („ein unbeschnittener Männlicher aber, der am Fleisch seiner Vorhaut nicht beschnitten ist, diese Seele soll ausgeschlossen werden aus ihrem Volk; meinen Bund hat er ungültig gemacht“…) lässt erkennen, dass die Beschneidung als ein quasi sakramentaler Akt aufgefasst werden konnte, der den Beschnittenen ganz unabhängig von seiner leiblichen Herkunft nicht nur in die Nachkommenschaft Abrahams eingliederte, sondern ihn auch zu einem Angehörigen desjenigen Volkes machte, das Gott sich zu seinem Eigentumsvolk erwählt und dem er eine unkündbare Bundeszusage gegeben hatte (Gen 17,7).
Von diesem „Verständnis“ her sieht Paulus die Beschneidung (W200f.)
als biographische Vorgabe, die sein fiktiver Gesprächspartner aus Röm 2,17 und jeder andere Jude als Zeichen der Erwählung und Verheißung Gottes ansehen, das sie vom 8. Tag ihres Lebens an sich herumtragen dürfen. Der von Paulus selbst konstruierte Einwand gegen die von ihm in V. 21-24 erhobenen Vorwürfe, den er seinem fiktiven Gesprächspartner unterstellt, besteht dementsprechend darin, dass er diesen auf seine Beschneidung als unverlierbares Symbol seiner Zugehörigkeit zum Gottesvolk verweisen lässt.
Demgegenüber (W201) „macht Paulus geltend, dass die mit der Beschneidung verknüpfte Heilszusage nur dann wirksam wird …, wenn diejenigen, denen sie zuteil wurde, auch das Gesetz erfüllen (V. 25b).“ Das Wort ōphelein {von Nutzen sein} bezeichnet (Anm. 42) in diesem Zusammenhang <76> „nicht lediglich ‚eine neutral-profane oder gar eudämonistische ‹Nützlichkeit›‘ …, sondern ‚das Heil des Gottesvolkes Israel‘“, denn es „ist in der Septuaginta Wiedergabe von hebr. jaˁel hi. (Spr 10,2; Hab 2,18; Jes 30,5-7 u.ö.)“.
Dass Paulus diesen Einwand nur konstruiert haben kann, liegt nach Wolter auf der Hand (W201), da „es keinen Juden gibt, der ernsthaft behaupten wollte, dass die Beschneidung allein ausreiche, um im Bund Gottes zu bleiben, und es auf die Erfüllung des Gesetzes nicht ankomme.“
Ist ein Jude jedoch ein Übertreter der Tora, dann ist seine peritomē {Beschneidung} zur akrobystia {Vorhaut} geworden, wie Paulus wörtlich sagt. Dabei ist das Wort akrobystia ein von der Septuaginta selbst gebildetes Wort
zur Wiedergabe von hebr. ˁarlah … (Gen 17,11.14.23ff; 34,14.24; Ex 4,25; Lev 12,3; Jos 5,3; 1Sam 18,25.27; 2Sam 3,14; Jer 9,24; s. auch Jdt 14,10; 1Makk 1.15); für das Adjektiv ˁarel nehmen sie aperitmētos („unbeschnitten“): Gen 17,14; Ex 12,48; Jos 5,4 u.ö.; s. auch Apg 7,51.
Außerhalb der Septuaginta gibt es das Wort akrobystia nur in jüdischen Quellen und
bei Paulus und in seinem Umkreis (Apg 11,3; Röm 2,25ff; 3,30; 4,9ff; 1Kor 7,18f; Gal 2,7; 5,6; 6,15; Eph 2,11; Kol 2,13; 3,11). Paulus hat diesen Begriff also nicht aus dem allgemeinen Sprachgebrauch übernommen, sondern wahrscheinlich aus der Septuaginta. In der paganen griechischen Literatur ist akrobystia nicht belegt.
Natürlich meint Paulus, wie Wolter betont (W202), die Versetzung seines jüdischen Gesprächspartners „in den Status der Unbeschnittenheit“ metaphorisch, und zwar in dem Sinne,
dass der das Gesetz übertretende Jude im Sinne von Gen 17,14 aus dem Gottesvolk und dem Heilsbereich der ihm geltenden Verheißungen herausfällt. Paulus behauptet damit nicht weniger, als dass ein Jude, der ein „Übertreter des Gesetzes“ ist, in Gottes Urteil wie ein Heide geworden ist.
Auch Gerhard Jankowski (J80) geht davon aus, dass Paulus von seinem (allerdings realen römischen, nicht fiktiven) Gesprächspartner „den Einwand“ erwartet:
Natürlich wissen wir auch, daß Thora getan werden muß; und wir sehen auch, daß sie nicht immer und nicht überall getan wird; und die Gründe dafür können wir auch verstehen, aber da ist die Beschneidung; sie ist das Siegel, das uns als Juden auch öffentlich beglaubigt …
Daraufhin fragt Paulus „nach ihrem Nutzen“, der in der jüdischen Tradition außerordentlich hoch eingeschätzt wird. Jankowski zitiert dazu zwei Texte aus der Mischna und dem babylonischen Talmud <77> (J81):
„Groß ist die Beschneidung, denn dreizehn Bundesschlüsse wurden bei ihr geschlossen … Groß ist die Beschneidung, denn obwohl unser Vater Abraham alle mizwot tat, wurde er erst ganz genannt bei der Beschneidung.“ (mNed 3,11) „Groß ist die Beschneidung, denn sie wiegt alle mizwot in der Thora auf.“ (bNed 32a)
Mithin kann die „Beschneidung … mit der Thora gleichgesetzt“ werden „oder übertrifft sie sogar.“ Nach einem Midrasch von Pirque Elieser „garantiert“ sie „die Befreiung“, indem
das bloße Zeigen des Beschneidungszeichens Rettung vor dem absolut Bösen [bewirkt]: Jona, im Maul des Fisches, zeigt dem Leviathan, der ihn verschlingen will, „das Siegel Abrahams und sagte zu ihm: Da, sieh den Bund.“ Worauf der Leviathan flieht.
Allerdings wird die Beschneidung „bei den herangezogenen Zitaten immer mit dem Bund in Zusammenhang gebracht“, da sie „schließlich das Bundeszeichen“ ist.
Festzuhalten ist jedoch nach Jankowski, dass es „zur Zeit des Paulus Kreise gegeben“ hat, „die die Beschneidung in ihrer Bedeutung über die Thora stellten.“ Sie wurde „besonders in einigen Widerstandsgruppen“ so wichtig genommen, dass sie Konflikte mit den Menschen im Umfeld des Paulus heraufbeschworen, denn sie bestanden darauf:
Sollten alle Nichtjuden zu Juden werden, mußten sie auch beschnitten werden. Paulus dagegen forderte die Beschneidung von den Gojim, die zur messianischen Gemeinde kamen, nicht mehr. Und so hat sie für ihn einen anderen Stellenwert. Er sieht sie in engem Zusammenhang mit der Thora. Sie ist und bleibt ein Gebot der Thora, ist also von ihr her zu werten. Er folgt da ganz dem Formular der Beschneidungsliturgie, in dem es heißt: „Gepriesen, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns geboten hat, NN in den Bund unseres Vaters Abraham eintreten zu lassen … wie er in den Bund eingetreten ist, so möge er in Thora eintreten … Der den Liebling von Mutterleib an geheiligt hat, eine Thora an sein Fleisch gesetzt hat…“ <78>
Wenn „die Beschneidung aber ein Gebot der Thora“ ist, dann ist sie „im Tun zu bewähren“, und sie nützt nur, „wenn der Beschnittene die Thora tut.“ In diesem Punkt ist Jankowski mit Wolter einig (J81f.):
Paulus radikalisiert diesen Gedanken noch: Wer die Thora als Beschnittener nicht tut, sie übertritt, wird zu einem Unbeschnittenen, zu einem Vorhäutigen, also zu einem Nichtjuden. Wahrscheinlich spielt er hier wie in 1.Kor 7,18 auf eine Praxis an, die in der Diaspora geübt wurde. Juden, die vom Judentum abfielen, versuchten, ihre beschnittene Vorhaut auf medizinischem Weg wieder vorzuziehen. Das geschah vor allem deswegen, um in der Öffentlichkeit nicht als Juden erkannt zu werden. Was Paulus hier sagt, heißt mit anderen Worten: ein Jude, der Thora nicht tut, sie übertritt, wird zu einem Nichtjuden; er ist aus dem Bund, dessen Zeichen die Beschneidung ist, herausgefallen.
↑ Römer 2,26-27: Naturgegebene „Vorhaut“, die Tora beachtet, setzt vor-geschriebene „Beschneidung“, die Tora übertritt, ins Unrecht
2,26 Wenn nun der Unbeschnittene hält,
was nach dem Gesetz recht ist,
meinst du nicht, dass dann der Unbeschnittene
vor Gott als Beschnittener gilt?
2,27 Und so wird der, der von Natur aus unbeschnitten ist
und das Gesetz erfüllt,
dir ein Richter sein,
der du unter dem Buchstaben stehst
und beschnitten bist
und das Gesetz übertrittst.
[2. Januar 2025] In Römer 2,26 kehrt nach Michael Wolter (W202) Paulus die zuvor beschriebene „Tun-Ergehens-Folge“ um und geht dabei „weit … hinaus“ über „den in 2,14 angenommenen Fall“, dass einmal Heiden, hier jetzt mit hē akrobystia {die Vorhaut} umschrieben, ta tou nomou poiōsin {das vom Gesetz Geforderte tun}, indem er nämlich „ihnen jetzt ein ta dikaiōmata tou nomou phylassein {die Rechtsforderungen des Gesetzes beachten}“ zuschreibt:
Er unterstellt ihnen damit genau das, was dem Gottesvolk Israel aufgetragen ist (vgl. Ex 15,26; Lev 25,18; Dtn 4,40; 6,2 u.ö.). Daraus folgt als notwendige Konsequenz, dass unbeschnittene Heiden, die das Gesetz erfüllen, genau den umgekehrten Weg nehmen wie solche Juden, die zu „Übertretern des Gesetzes“ geworden sind. Während diese aus dem Bund Gottes mit seinem Volk herausfallen (V. 25d), werden jene in ihn hineingenommen (V. 26b).
In der zweiten Hälfte von Vers 26 (W190) fragt Paulus rhetorisch: „wird seine Vorhaut nicht als Beschneidung anerkannt?“ Hier (W203) bezeichnet der Begriff akrobystia „die Vorhaut der unbeschnittenen Heiden“, die mit Hilfe des metaphorisch gebrauchten Begriffs peritomē {Beschneidung} „den unbeschnittenen Heiden, der die Rechtsforderungen des Gesetz befolgt, in den Bund von Gen 17“ stellt. Damit wird „die Gesetzeserfüllung zur ‚eigentlichen‘, d.h. von Gott als solcher akzeptierten Beschneidung …, weil nur sie …über die Zugehörigkeit zu dem Volk entscheidet, dem Gott seinen ewigen Bund zugesagt hat.“
Das Verb krineî in Vers 27, von der Lutherbibel mit „wird dir ein Richter sein“ übersetzt, gibt Wolter (W190) einfach mit „wird verurteilen“ wieder, denn (W204)
Paulus denkt in jedem Fall nicht daran, dass die Heiden, die das Gesetz erfüllen, über die Juden, die es übertreten, zu Gericht sitzen werden. Das Verhalten der Heiden ist vielmehr der Maßstab, an dem das Verhalten der jüdischen parabatai nomou {Übertreter des Gesetzes} gemessen wird – mit einem eindeutigen Ergebnis: Der Anspruch der jüdischen Gesetzesübertreter, schon aufgrund ihres Jude-Seins und ihrer Beschneidung (V. 17.25) vor Gott eine Sonderstellung gegenüber den unbeschnittenen Heiden einzunehmen, erweist sich als gänzlich unbegründet.
Weiter hebt Wolter hervor, dass Paulus hier nicht einfach Heiden und Juden einander gegenüberstellt, sondern er „bildet … drei Gegensatzpaare“:
- physis und gramma {Natur und Geschriebenes},
- akrobystia und peritomē {Vorhaut und Beschneidung},
- ton nomon telousa {das Gesetz erfüllt} und parabatēs nomou {Übertreter des Gesetzes}.
Während Paulus die unter (c) genannten Verhaltensweisen in Umkehrung dessen, was zu erwarten wäre, den mit (b) umschriebenen Gruppierungen der Heiden und Juden zuordnet, verbindet er die Elemente des ersten Gegensatzpaares (a) jeweils unlösbar mit denjenigen des zweiten (b):
Mit dieser Anordnung erinnert Paulus daran, dass es akrobystia {Vorhaut} immer nur ek physeōs {von Natur aus} geben kann, niemals dia grammatos {durch Geschriebenes}. Umgekehrt kann es peritomē {Beschneidung} immer nur dia grammatos {durch Geschriebenes} geben, niemals dia physeōs {von Natur aus}. Dieses Verhältnis kann man auch umdrehen: ek physeōs {von Natur aus} kann es immer nur akrobystia {Vorhaut} geben, niemals peritomē {Beschneidung}, und dia grammatos {durch Geschriebenes} gibt es nur peritomē {Beschneidung}, nicht akrobystia {Vorhaut}.
Was Wolter daraus schlussfolgert, scheint mir allerdings zu weit zu gehen:
Wie in V. 27a ek physeōs {von Natur aus} Attribut zu akrobystia {Vorhaut} ist, so fungiert in V. 27b dia grammatos {durch Geschriebens} als Näherbestimmung zu peritomē {Beschneidung}, und in diesem Gefüge ist unschwer die vertraute Antithese von physis und nomos {Natur und Gesetz} zu erkennen. Dem entspricht auch, dass dieses Gegenüber dann in V. 29c in die Antithese von „Gott“ und „Mensch“ mündet, denn hierbei handelt es sich um ein Gegenüber, in dem die Antithese von Natur und Gesetz wiederkehrt: Die Natur gilt als Gottes Schöpfung und das Gesetz als durch Menschen gemacht …
Läuft Wolters Argumentation hier tatsächlich darauf hinaus, dass Paulus das „Gesetz“ nicht als die Tora, also die von Gott dem Volk Israel gegebene Weisung, versteht, sondern als von Menschen gemacht der Schöpfung Gottes gegenüberstellt? Aber Paulus (W205) denkt doch sicher nicht wie der von Krösus befragte Älteste der Weisen, Anacharsis, <79> der die wilden Tiere für gerechter als die Menschen hielt, da nur sie nach der Natur, nicht nach Gesetzen leben – doch genau den zitiert Wolter zur Begründung seines eben wiedergegebenen Satzes beispielhaft mit den Worten:
… einai gar tēn men physin theou poiēsin, ton de nomon anthrōpou thesin [„… dass die Natur ein Werk Gottes ist, das Gesetz aber eine Setzung des Menschen“].
Von einer gewissen Scheu des Paulus, tatsächlich die Tora Gottes als bloßes Menschenwerk abzuwerten, scheint Wolter dann aber doch auszugehen, wenn er seinen Satz: „Paulus wertet die physische Beschneidung hier also ab, weil sie bloß auf ‚Geschriebenem‘ (gramma) beruht“, folgendermaßen (Anm. 56) näher erläutert:
Dass Paulus gramma schreibt und nicht nomos, mag an dieser Abwertungsintention liegen; es kann seinen Grund aber auch darin haben, dass er eine Verwechslung mit dem in diesen Versen reichlich verwendeten Gesetzesbegriff vermeiden wollte. Schon in V. 25 ist deutlich geworden, dass er die Beschneidung hier nicht als etwas vom Gesetz Gebotenes in den Blick nimmt, sondern als ldentitätsmerkmal, das jeder Jude als biographische Vorgabe empfängt und das ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet.
Wert legt Wolter auch noch auf die Feststellung (W205), dass der „Ausdruck dia grammatos kai peritomēs“ nicht „instrumental“ verstanden werden darf (also dass Juden das Gesetz nicht etwa dadurch übertreten, dass sie es als Geschriebenes befolgen und die Beschneidung vollziehen), sondern er bezeichnet „modal den begleitenden Umstand …: Der Jude übertritt das Gesetz als einer, der aufgrund von etwas Geschriebenem beschnitten wurde.“
Gerhard Jankowski übersetzt se ton dia grammatos kai peritomēs parabatēn nomon mit (J80) „dich, den durch Buchstaben und Beschneidung Übertreter von Thora“ bzw. (G13) „der du mit Buchstaben und Beschneidung die Tora übertrittst“, geht aber auf das mit „Buchstaben“ wiedergegebene Wort gramma nicht weiter ein. Er beschränkt sich zu den Versen 26 und 27 auf den kommentierenden Satz (J82):
Auf der anderen Seite müssen Nichtjuden, die ohne Thora und ohne Beschneidung sind, die Gebote der Thora aber beachten, ja sogar zum Ziel bringen (telein), wie Paulus sehr akzentuiert schreibt, damit sie als vollgültige Juden betrachtet werden.
Das heißt, dass ihm zufolge die Bedeutung von ton nomon telein {die Tora zum Ziel bringen} über ton nomon phylassein {die Tora beachten} im vorigen Vers hinausgeht, während nach Wolter (W203, Anm. 79) beides „dasselbe“ bedeutet. Wolter weist auch darauf hin, dass ton nomon telein „sonst nur noch in Jak 2,8“ vorkommt.
↑ Römer 2,28-29: Ob jemand Jude ist, zeigt sich nicht offen am Fleisch oder im Geschriebenen, sondern im Verborgenen des Herzens durch Gottes Inspiration
2,28 Denn nicht der ist ein Jude,
der es äußerlich ist,
auch ist nicht das die Beschneidung,
die äußerlich am Fleisch geschieht;
2,29 sondern der ist ein Jude,
der es inwendig verborgen ist,
und die Beschneidung des Herzens
ist eine Beschneidung, die im Geist
und nicht im Buchstaben geschieht.
Dessen Lob kommt nicht von Menschen,
sondern von Gott.
[3. Januar 2025] Um zu begründen (W205), „dass die Beschneidung eines Juden zur ‚Vorhaut‘ werden (V. 25c) und Gott die Vorhaut eines Heiden als ‚Beschneidung‘ ansehen kann (V. 26b)“, greift Paulus in den Versen 28-29 Michael Wolter zufolge auf „drei Antithesen“ zurück, um die Bedeutung der „Begriffe ‚Jude‘ und ‚Beschneidung‘“ genauer zu klären:
en tō phanerō {äußerlich} – en tō kryptō {im Verborgenen}
en sarki {am Fleisch} – kardias {des Herzens}
(en) grammati {im Geschriebenen} – en pneumati {im Geist}
Dabei verweisen „‚Äußerlich‘, ‚Fleisch‘ und ‚Geschriebenes‘ … ebenso auf ein und denselben Sachverhalt wie auf der anderen Seite ‚im Verborgenen‘, ‚Herz‘ und ‚Geist‘.“
Hinzu kommt am Ende von Vers 29 „eine weitere Antithese“:
ex anthrōpōn {von Menschen} – ek tou theou {von Gott}
Diese vierte Antithese „liefert die ontologische Grundlage für das Gesamtverständnis der ersten drei Antithesen“, indem (W206) „die Wirklichkeit der ‚Menschen‘ “ als grundlegend unterschieden von „der Wirklichkeit ‚Gottes‘“ anzusehen ist. Erstere ist „die ‚äußerliche‘ Wirklichkeit, die Wirklichkeit von ‚Fleisch‘ und ‚Geschriebenem‘“, Letztere ist „die Wirklichkeit ‚im Verborgenen‘, des ‚Herzens‘ und des ‚Geistes‘.“
Nach Wolter entzieht Paulus von „der Wirklichkeit Gottes“ her „dem jüdischen Wirklichkeitsverständnis“ jegliche Grundlage, indem er „dessen Wahrnehmung von Jude-Sein und Beschneidung nach Gen 17,11 … sowie die darauf basierende Abgrenzung von den Völkern als rein menschliche Wirklichkeitsannahme“ charakterisiert:
Für ihn macht die im Judentum praktizierte Beschneidung nur nach Meinung der Menschen zu einem Juden, nicht aber nach dem Urteil Gottes. … Umgekehrt … [können] Heiden, die innerhalb der menschlichen Wirklichkeitsannahme nicht beschnitten und keine Juden sind, in Gottes Wirklichkeit durchaus als beschnitten und als Juden gelten …
Indem Wolter aber darauf hinweist, dass „‚Jude‘ und ‚Beschneidung‘ … auch für Paulus Erwählungsbegriffe“ bleiben, „die er als solche nicht in Frage stellt“, und auch seine Problematisierung der „Kriterien, die darüber entscheiden, wie diese Begriffe zu verstehen sind und was sie bezeichnen“, letzten Endes der jüdischen Bibel entnimmt, charakterisiert er die Kritik des Paulus dann doch letzten Endes (ohne es so auszudrücken) als innerjüdische Infragestellung eines fehlgeleiteten jüdischen Selbstverständnisses und nicht als grundsätzliche Absage an das Judentum. Dazu, dass „Menschen … immer nur das äußerlich Sichtbare“ wahrnehmen „(das ‚Fleisch‘), während Gott auch das im Menschen Verborgene (das ‚Herz‘) erkennt“, verweist Wolter selbst (Anm. 61) u. a. auf 1. Samuel 16,7 und 1. Könige 8,39. Mit weiteren von ihm angeführten alttestamentlichen Stellen (Anm. 62), nämlich „Lev 26,41; Dtn 10,16; 30,6; Jer 4,4; 9,25; Ez 44,7.9“, belegt er (W206), dass Paulus auch „mit der Metapher ‚Beschneidung des Herzens‘ (V. 29b) … an einen Sprachgebrauch“ im Judentum anknüpft.
Neu ist allerdings bei Paulus, dass er den „Unterschied zwischen ‚äußerlich‘ und ‚verborgen‘ bzw. zwischen ‚Fleisch‘ und ‚Herz‘ in V. 29b mit Hilfe der Antithese von gramma {Geschriebenes} und pneuma {Geist} erläutert“, die (W207) „weder in der jüdischen noch in der nichtjüdischen Literatur der Antike belegt“ ist. Inhaltlich bezeichnet pneuma „hier so ähnlich wie in Röm 1,4 und Gal 4,29 eine Betrachtungsweise“, also (Anm. 65) „nicht etwa das Mittel, durch dessen Gabe Gott das Herz beschneidet“, und (W207)
gramma ist hier weder ‚Geschriebenes‘ noch ‚Gesetz‘, sondern es bezeichnet etwas ähnliches wie to phaneron {das Äußerliche} und sarx {Fleisch}: was aufgrund seiner Materialität menschlicher Wahrnehmung zugänglich ist, aber bei Gott keine Rolle spielt. Demgegenüber kann eine Beschneidung des Herzens, die nur Gott als solche erkennen kann, nichts anderes als eine Beschneidung en pneumati {im Geist} sein, weil sie nach menschlichen Beschneidungsvorstellungen nun einmal keine ‚Beschneidung‘ ist.
Ich gebe zu bedenken, ob nicht die Idee, pneuma mit „Inspiration“ wiederzugeben, die Ton Veerkamp <80> in seiner Auslegung des Johannesevangelium vorgeschlagen hat, einer Überlegung wert wäre. Angespielt würde damit auf die bewegende, antreibende, befreiende Kraft Gottes, auf die alles Geschriebene nur verweisen kann. Und das Missverständnis könnte in Frage gestellt werden, mit „Geist“ wäre schon in der Bibel eine als eigenständige Größe neben Gott und Jesus vorzustellende dritte Person der Dreieinigkeit gemeint.
Darauf, dass „eine Wirklichkeit …, in der es beschnittene Heiden und unbeschnittene Juden“ gibt, nur von Gott in der „Erfüllung und Übertretung des Gesetzes“ erkannt werden kann, verweist Paulus am Ende von Vers 29 mit dem von Gott zu erwartenden epainos {Lob}.
Seine Auslegung des gesamten Kapitels Römer 2 zusammenfassend geht Wolter (W208) noch einmal auf die von ihm angenommene „ Konstruktion eines fiktiven Gesprächspartners in V. 1-5.17-27 für die rhetorische Plausibilität der paulinischen Darstellung“ ein. Ihm zufolge „benötigt“ Paulus dieses Gegenüber
für die Zuspitzungen und Pauschalisierungen …, die seine Darstellung in diesen Versen kennzeichnen. Es sind darum gerade nicht ‚die Juden‘ oder ‚der Jude‘, der für das Judentum in seiner Gesamtheit steht, gegen die Paulus die in diesem Kapitel ausgesprochenen Vorwürfe erhebt, sondern ein individueller Jude als fiktives Konstrukt, dessen Existenz darum niemand in Zweifel ziehen kann. Das individualisierende Du ist darum von entscheidender Bedeutung und darf nicht unter der Hand durch ein repräsentatives oder generisches ‚Er‘ (‚der Jude‘) oder ‚Sie‘ (‚die Juden‘) ersetzt werden. Umgekehrt – und hierin wird seine rhetorische Leistungsfähigkeit erkennbar – greift das ‚Du‘ aber auch nach allen anderen Juden. Denn selbst wenn sie nicht ‚stehlen‘ oder ‚ehebrechen‘ oder ‚Tempelraub begehen‘ (V. 21-22), gibt es keinen, der sich von dem Vorwurf freisprechen könnte, nicht in ständiger Übereinstimmung mit den Rechtsforderungen der Tora zu leben.
Ich weiß nicht, ob ich Wolter nicht richtig verstehe, aber mir erscheint diese Argumentation widersprüchlich. Erst will er wohl dem Vorwurf des Antijudaismus begegnen und wehrt sich dagegen, Paulus hätte hier pauschale Vorwürfe gegen alle Juden erhoben. Dann aber soll das von Paulus verwendete „individualisierende Du“ doch „nach allen anderen Juden“ greifen, so dass es Paulus
gelingt …, die theologische Bedeutung von Beschneidung und Zugehörigkeit zum Judentum in plausibler Weise außer Kraft zu setzen: Jeder Jude wird ihm beipflichten, dass in einem solchen Fall wie dem in V. 17-24 geschilderten die Beschneidung (und damit die Zugehörigkeit zum empirischen Judentum) ‚wertlos‘ geworden ist und damit als Merkmal, das die Zugehörigkeit zum Gottesvolk in hinreichender Weise sicherstellt, prinzipiell ausfällt.
Das bedeutet aber nach Wolter (W209),
dass die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden nur noch für das an Äußerlichkeiten sich orientierende menschliche Urteil wahrnehmbar ist. Im Urteil Gottes gibt es zwischen ihnen keinen Unterschied.
Gerhard Jankowski scheint das im Großen und Ganzen ähnlich zu sehen wie Wolter, wenn er schreibt (J82): „Nicht am Äußeren oder sichtbaren Zeichen ist ein Jude erkennbar, sondern an seiner inneren Einstellung zur Thora und zu ihren Forderungen.“ Allerdings betont er sehr viel nachdrücklicher, dass genau das „die Thora selbst“ schon „so gefordert“ hatte, zum Beispiel in 5. Mose 10,12-13.16:
12 Jetzt aber, Israel,
was heischt der EWIGE dein Gott von dir
als IHN deinen Gott zu fürchten,
in all seinen Wegen zu gehen,
ihn zu lieben,
dem EWIGEN deinem Gott mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele zu dienen,
13 des EWIGEN Gebote zu wahren und seine Satzungen, die ich heuttags dir gebiete,
dir zu Gute.
…
16 Beschneidet die Vorhaut eures Herzens und seid nicht mehr harten Nackens.Man kann Paulus vorwerfen, was man will, ein Vorwurf trifft ihn auf keinen Fall: daß er die Thora nicht ernst nimmt. Freilich versteht er weder Thora noch Beschneidung formalistisch. Der Anspruch der Thora, Wegweisung für das Leben zu sein, muß erfüllt werden im Tun. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob man Thora „hat“ oder nicht, ob man beschnitten ist oder nicht. Die äußeren Zeichen, so wichtig sie auch sind, müssen in der Praxis umgesetzt werden.
Für Jankowski ist es wichtig, zwei Zusammenhänge herauszustellen, innerhalb derer Paulus angemessen verstanden werden kann, nämlich als jüdischer messianischer Lehrer, der sich vom Messias Jesus zu den Gojim gesandt weiß:
Erstens „deutet sich hier“ die „Praxis des Paulus“ an,
die Gojim, die zur messianischen Gemeinde kamen, nicht zur Beschneidung zu zwingen. Sie konnten zu dem erneuerten Israel gehören, ohne beschnitten zu sein, wie auf der anderen Seite Juden in der messianischen Gemeinde Juden blieben und also auch beschnitten waren und blieben.
Zweitens aber stellt Paulus (J82f.)
die Thora so in den Vordergrund …, daß fast notwendigerweise gefragt werden muß, ob sie überhaupt unter den gegebenen Umständen getan werden kann. Schon bis jetzt deutete Paulus an, daß sie weder von Juden noch von Gojim eingehalten wird. In einem späteren Abschnitt des Briefes, in Kapitel 7, wird das noch geradezu dramatisch problematisiert werden.
Außerdem gibt es noch eine offene Frage, die „nach solch radikaler Kritik“ zunächst nach einer Antwort verlangt, nämlich „was denn überhaupt noch vom Judentum übrigbleibt, wenn das, was es wirklich auszeichnet wie z.B. das Bundeszeichen der Beschneidung, relativiert wird.“ Dieser Frage wendet sich Paulus sogleich am Anfang des 3. Römerbriefkapitels zu.
↑ Römer 3,1-4: Den Juden bleiben die Worte Gottes anvertraut, die Untreue einiger von ihnen hebt Gottes Treue nicht auf
3,1 Was haben dann die Juden für einen Vorzug,
oder was nützt die Beschneidung?
3,2 Viel in jeder Weise!
Vor allem: Ihnen ist anvertraut, was Gott geredet hat.
3,3 Was nun?
Wenn einige untreu wurden,
hebt dann ihre Untreue die Treue Gottes auf?
3,4 Das sei ferne!
Es bleibe vielmehr so:
Gott ist wahrhaftig,
und alle Menschen sind Lügner;
wie geschrieben steht (Psalm 51,6):
„Damit du recht behältst in deinen Worten
und siegst, wenn man mit dir rechtet.“
[4. Januar 2025] Michael Wolter (W210) weist zu Römer 3,1 zunächst auf die Diskussion in den Römerbriefkommentaren über die Frage hin, welcher „Fragesteller“ sich hier zum ersten Mal zu Wort meldet, der „im weiteren Verlauf des Briefes noch öfter“ seine Stimme erheben wird, nämlich (Anm. 4) „in Röm 3,1.3.5.7.9.31; 4,1; 6,1.15; 7,7.13; 9,14.19.30; 11,1.7.11.“ Die einen, wie zum Beispiel Wilckens <81>, gehen davon aus, dass Paulus hier „auf einen ‚sehr realen, höchst massiven Gegenangriff‘ eines ‚jüdische(n) Gegner(s)‘ reagiert, der von außen an ihn herangetragen wurde“, andere meinen, dass „er eine Frage beantwortet, die er sich selbst stellt bzw. die der Jude Paulus dem Apostel Paulus vorlegt“, wie etwa Dodd oder Hultgren <82>, denen zufolge „sich ‚der jüdische Einwender‘ im eigenen Kopf des Paulus befindet“ bzw. dass es sich um einen „imaginären Gegner“ handelt. Wolter selbst vertritt die letztere Position, indem er ausführt, dass diese „Alternative … der Eigenart der paulinischen Argumentation nicht gerecht“ wird,
denn der „jüdische Gegner“, der auf das in 2,25-29 Gesagte mit der in 3,1 formulierten Frage reagiert, kann sich nirgendwo anders befinden als im Bewusstsein des Autors. Die Aufnahme der Leitbegriffe aus 2,25-29 in V. 1 … lässt erkennen, das es hier wie auch sonst niemand anderer als der Jude Paulus ist, der in 3,1 seine Stimme erhebt und den Apostel Paulus fragt, ob er wirklich der Meinung ist, dass es vor Gott keinen Unterschied mehr zwischen Juden und Nichtjuden gibt.
Implizite Fragen hatte „der Jude Paulus“, der sich hinter dem von ihm angeredeten fiktiven Juden verbarg, Wolter zufolge schon zuvor an „den Apostel Paulus“ gerichtet, nämlich
zwischen 2,11 und 2,12 (‚aber die Juden haben doch das Gesetz!‘) und zwischen 2,24 und 2,25 (‚aber die Juden haben doch die Beschneidung!‘). Auf explizite Einwände von Gegnern, die außerhalb der Welt des Textes gegen ihn erhoben werden, geht Paulus erst in V. 8 ein, und hier macht er sie auch ausdrücklich als solche kenntlich. Dieser Vers darf darum nicht zum Ausgangspunkt der Interpretation des monologischen Dialogs in V. 1-7 gemacht werden.
Ich denke, dass dieses Argument genau so gut umgekehrt funktioniert, da Vers 8 immerhin nachweist, dass es tatsächlich „explizite Einwände“ außenstehender Gegner gab, auf die Paulus reagiert. Von daher kann gar nicht so kategorisch, wie Wolter annimmt, ausgeschlossen werden, dass Paulus nicht überall, wo er Juden anspricht, sich eben doch reale römische Juden vorstellt.
Zum Aufbau des Abschnitts Römer 1,1-8 führt Wolter aus, dass Paulus in Vers 1 mit „den Stichworten Ioudaios, ōpheleia und peritomē {Jude, Nutzen und Beschneidung} … die Leitbegriffe des vorangegangenen Abschnitts 2,25-29“ aufnimmt und (W211) „zum Gegenstand einer Doppelfrage“ macht, die er in Vers 2 „auch sogleich beantwortet“. Danach bestehen die folgenden Verse 3-8 aus
zweieinhalb Dialogen, die parallel aufgebaut und jeweils einem antithetisch formulierten Leitthema zugeordnet sind:
(a) V. 3-4: „Gottes Treue“ gegen „ihre Untreue“;
(b) V. 5-6: „Gottes Gerechtigkeit“ gegen „unsere Ungerechtigkeit“;
(c) V. 7: „Gottes Wahrhaftigkeit“ gegen „meine Lüge“.
In den Versen 3-4 bzw. 5-6 diagnostiziert Wolter zwei voll ausgeführte Dialoge, die „jeweils aus fünf parallelen Bausteinen“ bestehen, nämlich einem kurzen „(α) Fragesatz“, gefolgt von einem „(β) Konditionalsatz“, der eine Bedingung nennt, auf die Paulus mit einer „Fehlinterpretation“ reagiert, die er „(γ) als rhetorische Frage“ formuliert und sofort mit einer „(δ) Zurückweisung“ beantwortet sowie „(ε) die richtige Antwort“ gibt. In einem dritten Durchgang folgt in Vers 7 auf einen „Konditionalsatz“ zwar eine „Frage“, aber in Vers 8 geht Paulus „vom textinternen Dialog … zu einer Auseinandersetzung mit textexternen Gegnern über, die falsche Behauptungen über ihn verbreiten.“
In allen drei Diskussionsgängen geht es um Gott, und zwar „in V. 3-4 als Prozessgegner“, während „er in V. 5-6 zum Richter“ wird und in den Versen 7 und 8 „in beiden Rollen“ vorkommt: „als Prozessgegner und als Richter.“ Dabei wird jeweils eine andere Eigenschaft Gottes, pistis {Treue}, dikaiosynē {Gerechtigkeit} und alētheia {Wahrhaftigkeit} in Frage gestellt.
Aber nun zur eingehenden Auslegung der Verse 1 bis 4.
Zu Vers 1 (W209): „Was ist denn nun der Vorteil des Juden, oder was ist der Nutzen der Beschneidung?“ hebt Wolter hervor (W212), dass Paulus jetzt nicht mehr wie in Römer 2,17-29 einen Juden „als fiktives und individuelles Extrembeispiel“ anredet, sondern „von ‚dem Juden‘“ im „generischen Singular der 3. Person“ spricht, der damit „alle Juden“ repräsentiert. Mit seinen „zwei Sachfragen“ knüpft Paulus an die zuvor
vorgetragene Behauptung an: dass Jude und beschnitten zu sein als solches vor Gott im Grunde genommen bedeutungslos ist. Durch sie sieht Paulus sich veranlasst, danach zu fragen, was denn nun von der jüdischen Besonderheit bleibt: Was haben Juden als Juden und Beschnittene den anderen Menschen voraus? Der Sache nach handelt es sich dabei um nichts weniger als um die Frage nach der Gültigkeit der Bundeszusage von Gen 17,7. Ihr wird Paulus sich in Röm 9-11 erneut zuwenden, jedoch unter anderen Vorzeichen.
Dass Paulus „die selbstgestellten Fragen“ mit poly {viel, groß} beantwortet, was er noch „durch eine geläufige Bekräftigungsformel“, nämlich kata panta tropon {in jeder Hinsicht} <83> verstärkt, kommt für Wolter (W212f.) „nach 2,28-29 mindestens überraschend“. Er hätte wohl eher erwartet (Anm. 15), was Dodd <84> so auf den Punkt bringt: „Die logische Antwort auf der Grundlage der Argumentation des Paulus lautet: ‚Keinesfalls!‘“ Stattdessen beharrt Paulus darauf, dass die „Beschneidung … für die Juden auch ohne Gesetzeserfüllung noch einen Nutzen“ hat „und sogar nicht nur einen ‚gewissen‘, sondern einen ‚großen‘ (poly).“
Als Begründung führt Paulus an (W209): „Vor allem {prōton men}, dass ihnen die Worte Gottes {ta logia theou} anvertraut wurden.“ Mit der Formulierung (W213) ta logia tou theou „übernimmt Paulus eine Septuaginta-Formulierung“, die zum Beispiel in 4. Mose 24,4.16 und Psalm 106,11 vorkommt.
Aber was meint Paulus „mit diesem Ausdruck“? Die „Worte Gottes“ sind Wolter zufolge „nicht die Gesamtheit des aus ‚Gesetz und Propheten‘ bestehenden Alten Testaments“, vielmehr nimmt Paulus „die Geschichte Israels in den Blick“ und damit „das Geschehen hinter der Schrift“, nämlich
jegliches Reden Gottes, das die Erwählung Israels genauso umschließt wie die zu ihr gehörenden Rechtsforderungen (vgl. Dtn 33,9; Ps 118,11.103.148.158.162…), Verheißungen und Bundeszusagen.
Dazu, dass Gott den Juden seine „Worte“ anvertraut und sie damit erwählt hat, gehört nach Wolter (W213f.) aber
immer auch die Übertragung einer zu erfüllenden Aufgabe, und weil diese Aufgabe im Licht von V. 2a steht, macht Paulus sie zu einem integralen Bestandteil des perisson {Vorzugs} und der ōpheleia {Nutzens} von Jude-Sein und Beschneidung.
Das ist die „Grundlage“, auf der Paulus in den Versen 3-4 einen „ersten Gesprächsgang aus einem Wortspiel“ entwickelt (W209): „Und nun? Wenn welche untreu geworden sind – setzt ihre Untreue etwa Gottes Treue außer Kraft?“ Hier (W214) nimmt Paulus die griechische „Wurzel pist- aus episteuthēsan {anvertraut} (V. 2b) mit ēpistēsan {untreu geworden}, apistia {Untreue} und pistis {Treue} wieder“ auf. Paulus stellt also die Frage:
Wenn die außerordentliche Besonderheit des Jude-Seins und der große Nutzen der Beschneidung darin bestehen, dass Israel mit der Erwählung auch eine Aufgabe übertragen bekam – was ist dann, wenn „welche“ diese Aufgabe nicht erfüllt haben, sich also als ‚untreu‘ erwiesen haben (apistein, apistia)? … Dass Paulus in V. 3b lediglich von „welchen“ (tines) spricht (s. auch 11,17; 1Kor 10,7-10) und nicht behauptet, dass alle Juden „untreu“ geworden sind, ist für seine Argumentation ohne Bedeutung. Gott bleibt natürlich auch den untreuen tines gegenüber treu.
Worum genau geht es hier nach Wolter (W215)? Oberflächlich gesehen fragt Paulus „danach, ob Gott auf die ‚Untreue‘ (apistia) seines Volkes“ mit heimzahlender Vergeltung antwortet und „diesem seine eigene ‚Treue‘ (pistis) aufkündigt.“ Im Zusammenhang mit den vorangegangenen Versen 3,1-2 und 2,25-29 hält Wolter es aber darüber hinausgehend für möglich, die Frage des Paulus
mit weitergehender theologischer Substanz auszustatten: Paulus fragt danach, ob aus der jüdischen Übertretung des Gesetzes („ihre Untreue“) nicht folgt, dass Gott sich nun auch seinerseits genauso verhält und seine „Worte“, die er seinem Volk „anvertraut“ hat (V. 2b), wieder zurückzieht und dass darum das Jude-Sein keineswegs noch ein „Vorteil“ ist und auch die Beschneidung keinen „Nutzen“ mehr hat (V. 1). Diese Konsequenz würde ganz auf der Linie dessen liegen, was Paulus in V. 25 festgestellt hatte.
Und wieder scheint Wolter sehr erstaunt festzustellen, dass Paulus in Vers 4 „ganz anders“ urteilt:
mē genoito {auf keinen Fall}. Dieser Ausruf ist nach einer rhetorischen Frage, die eine falsche Schlussfolgerung formuliert, bei Paulus auch in Röm 3,6.31; 6,2.15; 7,7.13; 9,14; 11,1.11; 1Kor 6,15; Gal 2,17; 3,21 belegt. Inhaltlich impliziert die Zurückweisung, dass die Untreue der tines {einige} Gottes Treue nicht außer Kraft setzt, dass Israel die logia {Worte} anvertraut bleiben und dass Jude-Sein wie Beschneidung auch weiterhin ein perisson {Vorzug} und eine ōpheleia {Nutzen} sind.
Wir werden sehen, dass Wolter an dieser Zurückweisung des Paulus weiter zu knabbern haben wird und sie letzten Endes nicht in seine Sicht des Römerbriefes einordnen kann. An dieser Stelle weicht er einer Erklärung aus, indem er im weiteren Inhalt von Vers 4 (W216) eine Bewegung „von der Sonderstellung Israels vor Gott zu allen Menschen und deren Gottesverhältnis“ konstatiert (W215f.):
Die wichtigste theologische Bewegung in diesem Vers besteht aber darin, dass Paulus das Verhältnis zwischen Gott und Israel (V. 2b-3) in das Gegenüber von Gott und Mensch überführt (V. 4b-c): Israels Untreue manifestiert lediglich den Unterschied zwischen Gott und Mensch, wie Paulus unter Rückgriff auf Ps 115,2LXX („Ich sprach in meiner Erregung: pas anthrōpos pseustēs {jeder Mensch ist ein Lügner}“) deutlich macht: Würde Gott auf die Untreue seines Volkes durch den Widerruf seiner Treue reagieren, wäre der Unterschied zwischen Gott und Mensch aufgehoben, weil „Treue“ dann nicht mehr eine Eigenschaft Gottes, sondern ein von menschlicher Treue abhängiges Verhalten wäre.
Indem Paulus (W216) „in Röm 3,4 die Israelfrage zu einer anthropologischen Frage“ macht, will er Wolter zufolge also nicht, wie Käsemann <85> meint, „am Sonderfall Israel Gottes Verhalten mit aller Welt“ beispielhaft darstellen,
sondern das Gegenteil ist der Fall: Paulus will nicht am Beispiel Israels den Charakter der ‚Welt‘ erläutern, sondern er will zeigen, dass Israel auch zur ‚Welt‘ gehört. Nicht die ‚Welt‘ wird also erklärt, sondern Israel. Umgekehrt ist nicht Israel das Mittel der Erklärung, sondern die Welt.
Wenn das stimmen würde, hätte sich Paulus tatsächlich aus einem Juden in einen hellenistischen Weltbürger verwandelt, dessen Gott nicht mehr von den an Israel gerichteten Worten Gottes her zu begreifen ist, die er aber doch gerade als den Kernpunkt dessen herausgestellt hat, was den Vorzug des Juden ausmacht. Indem Wolter weiter ausführt, Paulus belege mit „dem Zitat aus Ps 50,6LXX“ … in V. 4d den Gedanken, dass die menschliche Untreue den Unterschied zwischen Gott und Mensch sichtbar macht, weil sie Gottes Gott-Sein hervortreten lässt“, bestätigt er diese Einschätzung des Paulus als eines Theologen, der „Gottes Gott-Sein“ in griechisch-philosophischer Abstraktheit herausstellen will, als ob Gott für ihn nicht mehr den NAMEN trägt, dessen Ehre auf die letztendliche Herstellung von Freiheit, Recht und Frieden für Israel inmitten der Völker hinausläuft.
Damit läuft (W211) der erste von „zweieinhalb Dialogen“, den Paulus in den Versen 3 und 4 mit Gott „als Prozessgegner“ ausführt, am Ende auf „die richtige Antwort“ hinaus (W218):
Weil Gott Gott ist, können Juden und Heiden vor ihm nichts anderes sein als Menschen.
Mit diesem Fazit legt Wolter sehr schnell ad acta, was Paulus in den Versen Römer 3,2 und 3,4 doch in so überraschend kategorischer Weise herausgestellt hatte: Dass es eben doch immer noch poly {viel} gibt, was Juden von Gojim unterscheidet.
Gerhard Jankowski geht anders an die Auslegung von Römer 3,1-4 heran. Zunächst stellt er die Frage (J84):
Wenn im Prinzip die Gojim die Thora tun können, obwohl sie sie nicht haben und unbeschnitten sind, was unterscheidet sie dann noch von Juden? Was bedeutet es dann noch überhaupt, Jude zu sein?
Den ersten Fragesatz von 3,1: ti oun to perisson tou Iudaiou? übersetzt er mit „Was bleibt nun übrig vom Juden?“ <86> Denn
to perisson hat die Bedeutung von das über eine bestimmte Zahl, ein bestimmtes Maß Hinausgehende. Es meint also das, was übrig ist. Dieses Übrige kann natürlich auch das Besondere gegenüber dem bestimmten Maß sein. Es empfiehlt sich jedoch hier aus dem Sinnzusammenhang zu übersetzen. Die Behauptung des Paulus, daß auch Nichtjuden die Gebote der Thora tun können, führt zwingend zu der Frage, was denn noch übrigbleibt von jüdischem Leben.
Die Antwort darauf lautet bei Paulus: „Anvertraut wurden die Sprüche Gottes (3,2).“ So übersetzt Jankowski ta logia tou theou, denn zunächst einmal ist
to logion … der Orakelspruch, die Weissagung, die durch ein Medium (Priester, Seher) vermittelt werden. In der Schrift ist es Übersetzung von ˀimrah {Wort, Rede Spruch, abgeleitet von ˀamar = sagen}, ein Wort, das auch ein Synonym zu dabar {Wort, Spruch, Sache, Ereignis} sein kann.
Allerdings konstatiert Jankowski „auch Unterschiede“ zwischen den mit ˀimrah und dabar bezeichneten Worten Gottes, indem er auf 5. Mose (Deuteronomium) 33,9 und den Psalm 119 verweist (J84f.):
In Dtn 33,9 steht das Wort in engem Zusammenhang mit dem Bund: Ja, sie wahrten deinen Spruch, nun bewachen sie deinen Bund. Und für Dtn gehören zu diesem Bund auch die Thora und ihre Rechtsgeheiße. Im Psalm 119, in dem der Plural des Wortes sehr häufig vorkommt, ist der Zusammenhang mit der Thora ebenfalls gegeben. ˀimroth/ta logia ist also das, was Gott gesprochen hat, seine Sprüche, die faßbar werden in der Thora im Gegensatz zu den debarim, den tatkräftigen und wirkungsmächtigen Reden Gottes. So faßt es auch Acta 7,38 auf, wo ta logia die Sprüche sind, die Mose am Sinai empfing, um sie Israel weiterzugeben. Auch hier beinhalten also die Sprüche Gottes die Thora und ihre Rechtsgeheiße. Sie müssen und sollen weitergegeben, also überliefert werden. Wir gehen davon aus, daß der Ausdruck immer auch die Tradition impliziert.
Verständlich ist von dieser Argumentation her, dass Jankowski in seiner späteren Übersetzung (G13) den „Vorzug der Juden“ folgendermaßen wiedergibt: „Denn erstens wurden ihnen die Rechtssprüche Gottes anvertraut.“ Auch Wolter (W213) hatte erwähnt, dass Paulus mit ta logia theou {die Worte Gottes} auch auf die zur „Erwählung Israels … gehörenden Rechtsforderungen“ Bezug nimmt, die in „Dtn 33,9; Ps 118,11.103.148.158.162“ zum Ausdruck kommen, ohne allerdings explizit darauf einzugehen, dass genau dieser Psalm (hebr. 119, griech. LXX 118) ein 176 Verse umfassendes Loblied der Tora ist und Paulus damit auf den Empfang der Tora als den wichtigsten Vorzug der Juden hinweist.
Nach Jankowski (J85) bleibt es bei Paulus dabei, dass „Israel die Sprüche Gottes“ anvertraut wurden, „damit sie weiter tradiert werden von denen, die beschnitten sind und deswegen zum Bund gehören.“ Aber was ist, „wenn einige der Beschnittenen untreu werden, die Sprüche nicht tradieren“ und sich gegen die Tora verfehlen? Hebt dann ihre Untreue die „Treue Gottes“ auf? Die Antwort des Paulus ist ein klares Nein:
Durch diese Antwort verändert sich die ursprüngliche Fragestellung. Was wirklich bleibt, ist die Treue Gottes, die diesem Volk gilt. Das ist das Außerordentliche, das die Beschneidung mit beinhaltet. Nicht die Beschneidung hat eine besondere Qualität, sondern eben die Treue Gottes. Weder die Untreue einzelner Beschnittener noch deren Verfehlungen können diese Treue ins Gegenteil verkehren. Mit anderen Worten: es geht nicht darum, die Beschneidung als einen besonderen Vorzug zu begreifen; es geht darum, zu sehen, daß Gott treu bleibt.
Das heißt (J84): Damit, dass den Juden „die Sprüche Gottes“ anvertraut wurden, steht „an erster Stelle“ dessen, „was denn übrigbleibt“ vom Juden, die Treue Gottes:
Die Treue Gottes zu seinem Volk, die ist das, was übrigbleibt. Und diese Treue ist in der Tat etwas Besonderes. Viermal hören wir in den Sätzen 3,2-3 Worte, die aus der Wurzel treu/trau gebildet sind: anvertraut werden, pisteuesthai, untreu werden, apisteuein, Untreue, apistia, und Treue, pistis. Auch das Adjektiv alethēs, wahrhaftig, gehört zu diesem Bedeutungsfeld. <87> Thema ist also eindeutig die Treue, einmal auf der Seite Gottes und zum anderen auf der Seite derer, die beschnitten sind. Darüber, nämlich über die Beschneidung und was von ihr übrigbleibt, sollte ja nachgedacht werden. Zu folgern ist also, daß den Beschnittenen die Treue Gottes gilt. Denn ihnen wurden die Sprüche Gottes anvertraut.
In welcher besonderen Weise sich diese Treue Gottes jedoch bleibend für die Juden auswirkt, wird im Laufe der weiteren Auslegung des Römerbriefes zu prüfen sein.
Ausgespart hatte ich bis jetzt sowohl bei Wolter als auch bei Jankowski die Auslegung des Zitats aus Psalm 51,6, von Paulus am Ende von Römer 3,4 wiedergegeben nach der Septuaginta (50,6). Nach Jankowski (J85) unterstreicht Paulus mit diesem Zitat den Gedanken, „dass Gott treu bleibt“, wozu er bemerkt (Anm. 25):
Das Zitat folgt der Version der LXX, die den hebräischen Text leicht abändert. Der lautet in der Übersetzung Bubers: „Damit du wahr erscheinst in deinen Reden (devarim/logoi) / klar in deinem Richten“.
Obwohl Paulus nicht nach dem hebräischen Text zitiert, lehnt Jankowski sich in seiner ersten Übersetzung dieser Stelle eng an Bubers Vorlage an (J83):
damit du wahr wirst in deinen Reden,
und siegen wirst in deinem Richten.
In seiner späteren Übersetzung von Vers 4 (G13) verändert Jankowski den Sinn dieses Verses so, dass nicht Gott, sondern der von Gott gerichtete Mensch angesprochen wird, der – von Gott „wahr gemacht“ – in diesem Gerichtsverfahren den Sieg erringt:
Es soll aber Gott wahrhaftig sein,
jeder Mensch aber ein Lügner,
wie geschrieben ist:
Damit du wahr gemacht wirst durch deine Worte,
und siegst, wenn du gerichtet wirst.
Diese Lesart geht bereits an dieser Stelle für das hier zum ersten Mal im Römerbrief auftauchende und außerordentlich bedeutsame Wort dikaiousthai von der Bedeutung aus, die ihm Paulus im weiteren Verlauf des Römerbriefs zumessen wird, nämlich im Sinne von „wahr gemacht werden“, wie Jankowski die christlich vertraute Rechtfertigung begreift. Gottes Wahrhaftigkeit, die bestehen bleibt, auch wenn jeder Mensch, ob Jude oder Nichtjude, ein Lügner ist, erweist sich also darin, dass er im Gericht diesen Menschen „wahr macht“, ihn zurechtbringt, ihm zur Rechtschaffenheit verhilft.
Durch Wolters beiläufige Bemerkung (W217), dass der Vers Römer 3,4 keine „Schlüsselstellung für die gesamte paulinische Rechtfertigungslehre“ einnimmt, wie Ernst Käsemann <88> annimmt, lasse ich mich dazu anregen, kurz bei Käsemann nachzuschauen, wie er auf seine Behauptung kommt. Dieser geht davon aus, dass für Paulus „Gottes Gottheit noch ihrer endgültigen Offenbarung“ harrt, also apokalyptisch denkt; darum meint ginesthō de ho theos alēthēs in Römer 3,4: „es möge wahr werden und sich so bezeugen“, dass Gott am sich Ende der „Geschichte“ als einem „Prozeß Gottes mit der Welt“ als Sieger gegenüber dem Menschen erweist. Im Psalmzitat sieht Käsemann einen Übergang von einer zunächst kultisch geprägten Aussage im hebräischen Text zu einer eschatologischen, auf die Endzeit bezogenen Bedeutung in der griechischen Übersetzung. Das hebräische Verb sakah {rein sein} kann in der Piel-Form „mit der Bedeutung ‚gerecht erklären‘ das Ergebnis eines Rechtsverfahrens“ bezeichnen und wird in der Septuaginta mit dem Wort nikan wiedergegeben, das im Laufe der Zeit mehr und mehr im Sinne von „im Prozeß siegen“ verstanden wird:
Gott wird jetzt nicht mehr in seinem zeitlichen Urteil als gerecht erklärt, sondern siegt im Endgericht über seine irdischen Widersacher und erweist sich in den Worten seiner Offenbarung als gerechtfertigt. Pls hört aus dem Psalmzitat heraus, daß die Weltgeschichte mit dem Siege Gottes über seine Feinde und mit der Manifestation seines Rechtes über den Geschöpfen endet.
Auch wenn ich die Warnung nachvollziehen kann, das apokalyptische Denken des Paulus nicht außer Acht zu lassen, scheint Käsemann zu übersehen, dass jüdische Apokalyptik nicht etwa ein Endgericht als absolutes Ende der Geschichte kennt, sondern als Tag der Entscheidung, der die gegenwärtige Weltzeit {ˁolam ha-se} von Unterdrückung und Gewalt beendet und die kommende Weltzeit {ˁolam ha-baˀ} von Freiheit, Recht und Frieden eröffnet (siehe dazu oben meine Anm. 66). Interessant ist aber, dass Käsemann das Psalmzitat auf ein Gerechtfertigtwerden Gottes im Endgericht meint beziehen zu können.
Wolter dagegen geht davon aus, dass im Psalmzitat Gott dem Menschen als Prozessgegner gegenübersteht. Er übersetzt (W209): „… auf dass du recht behältst mit deinen Worten und siegen wirst, wenn du Klage erhebst“. Anders als es die Lutherbibel und alle mir bekannten Bibelübersetzungen voraussetzen (W217), denkt Paulus Wolter zufolge „hier also nicht daran, dass ein Mensch Gott verklagt, sondern das Umgekehrte ist der Fall: Gott selbst ist es, der gegen den sündigen Menschen einen Rechtsstreit initiiert“. Erst recht beschreibt krinesthai hier „nicht Gottes richterliche Tätigkeit“ <89>, sondern Paulus schreibt Gott
die Rolle des Prozessgegners zu, der den von ihm angestrengten Prozess gewinnt (nikan {siegen, gewinnen}; man kann sowieso nur in dieser Rolle einen Prozess gewinnen). Paulus zitiert die paradigmatische Stimme des unterlegenen Menschen, der jeden Prozess verliert, den Gott gegen ihn anstrengt, und dem darum nichts anderes übrig bleibt, als immer nur Gottes Gerechtigkeit zu preisen.
↑ Römer 3,5-8: Wird etwa Gottes Gerechtigkeit und Wahrheit durch menschliche Ungerechtigkeit und Lüge erst herausgestellt?
3,5 Ist‘s aber so, dass unsre Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist,
was sollen wir sagen?
Ist Gott dann nicht ungerecht, wenn er zürnt?
– Ich rede nach Menschenweise. –
3,6 Das sei ferne!
Wie könnte sonst Gott die Welt richten?
3,7 Wenn aber die Wahrheit Gottes durch meine Lüge
herrlicher wurde zu seiner Ehre,
warum sollte ich dann noch als ein Sünder gerichtet werden?
3,8 Und ist es etwa so, wie wir verlästert werden
und einige behaupten, dass wir sagen:
Lasst uns Böses tun, damit Gutes daraus komme?
Deren Verdammnis geschieht zu Recht.
[5. Januar 2025] In seiner Auslegung von Römer 3,5 schreibt Wolter nachträglich (W218) zu dem „Zitat aus Ps 50,6LXX“, an das die „zweite Gesprächsrunde“ des Paulus nun begrifflich anknüpft,
dass Paulus natürlich genau weiß, dass Gott in dem dort vorausgesetzten Szenario auch noch eine andere Rolle spielt: Er ist nicht nur der Prozessgegner, sondern auch der Richter.
„Die Ausgangsfragestellung“, so meint Wolter, gerät aber „ein wenig aus dem Blick“, wenn Paulus jetzt fragt, „wie denn der Richter gerecht sein kann, wenn er zugleich Prozesspartei ist.“ Durch das Wort dikaiothēs {du behältst recht} im Psalmzitat veranlasst, wechselt Paulus nun die „Leitbegriffe“:
Was er in V. 3c apistia {Untreue} und pistis {Treue} genannt hatte, wird nun zu adikia {Ungerechtigkeit} und dikaiosynē {Gerechtigkeit}.
In Vers 5a konstatiert Paulus als
einen gegebenen Sachverhalt … denselben Vorgang, der „erweist“ (synhistēmi), dass Gott „wahrhaftig“ ist, „jeder Mensch aber ein Lügner“ (V. 4b-c). Ihn hatte er in V. 4d auch mit Ps 50,6LXX Gottes ‚Rechtfertigung‘ und ‚Sieg‘ genannt. synhistēmi wird in V. 5a mit einer Bedeutung gebraucht, die normalerweise das Erkennbar-Machen oder die Manifestation einer Eigenschaft durch eine Handlung bezeichnet. Eine analoge Verknüpfung mit dem Akkusativ der Sache als Objekt gibt es bei Paulus in Röm 5,8; 2Kor 6,4; 7,11; Gal 2,18 … Die Besonderheit der paulinischen Darstellung an dieser Stelle gegenüber dem sonstigen Sprachgebrauch besteht aber darin, dass nicht Gott selbst durch sein eigenes Handeln für den Erweis seiner Gerechtigkeit sorgt, sondern dass es die Ungerechtigkeit von Menschen ist, die sie manifestiert.
Indem Wolter davon ausgeht, dass „[d]as ‚Wir‘ (hēmeis) in V. 5a … das allgemein menschliche Wir“ ist, weil Paulus sich „seit pas anthrōpos“ in Vers 4 „auf der Ebene des Verhältnisses von Gott und Mensch“ bewegt und die „adikia … zudem keine andere adikia als die adikia anthrōpōn {Ungerechtigkeit der Menschen} von 1,18“ ist, bezeichnet Paulus ihm zufolge
[m]it „Gerechtigkeit Gottes“ … nicht etwa Gottes „Bundestreue“ <90>, sondern auf einer theologisch übergeordneten Ebene die Gerechtigkeit, die als Eigenschaft Gottes sein Gott-Sein im Gegenüber zu den Menschen kennzeichnet. Nicht das Verhältnis Gott-Israel ist hier das Thema, sondern das Verhältnis Gott-Mensch. Paulus transformiert lediglich das punktuelle dikaiōthēs von V. 4d in eine allgemeine Eigenschaft. Gott ist hier noch nicht Richter, sondern immer noch Prozessgegner der ungerechten Wir.
Eine (W219) „möglicherweise naheliegende Schlussfolgerung“ kennzeichnet Paulus „schon durch ihre Formulierung als mē-{nicht etwa-}Frage als falsch“, nämlich ob Gott als Richter, wenn er den in Römer 1,18 angekündigten „‚Zorn‘ über die ‚Ungerechtigkeit‘ der Menschen bringen wird“, nicht etwa „die Menschen für dasselbe Tun bestraft, von dem er als Prozesspartei profitiert hat.“ Wie im „ersten Gesprächsgang“ der Verse 3-4
geht es darum, ob Gott so werden kann wie Menschen: Wie Paulus in V. 3b-c die Hypothese formuliert hatte, dass menschliche Untreue (apistia) Gottes Treue (pistis) außer Kraft setzen kann, so dass Gott auch selbst untreu wird, so stellt er in V. 5c die Frage, ob menschliche Ungerechtigkeit (adikia) nicht zur Folge hat, dass auch Gott ungerecht (adikos) wird.
Paulus selbst erklärt mit kata anthrōpon legō {ich rede in menschlicher Weise}, „dass er seiner hypothetischen Schlussfolgerung menschliche Gerechtigkeitsvorstellungen zugrundelegt“. Indem er dadurch auch ausdrücklich „zu verstehen“ gibt, „dass er ganz ‚allgemein und formal-logisch argumentiert‘ <91>“, hält es Wolter für erwiesen, dass „Gottes Bund mit Israel … hier nicht einmal am Rande zur Debatte“ steht.
Dass Paulus in Vers 6 mit dem Satz (W209f.): „Denn wie wird Gott (sonst) die Welt richten?“ die klare Erwartung von Gottes Gericht (W220) „als rhetorische Frage“ formuliert, führt Wolter allerdings doch darauf zurück, dass „sie fester Bestandteil des eschatologischen Grundwissens ist, das alle Juden miteinander teilen“, während Paulus unter „kosmos … hier wie auch sonst die Gesamtheit aller Menschen (vgl. Röm 1,8; 3,19; 5,12f; 11,12.15; 1Kor 1,20f u.ö.)“ versteht. Wolter bleibt dabei, die Aussagen des Paulus vollends aus dem Umfeld des Judentums herauszurücken:
Damit wird die Parallelität von V. 6b und V. 4b-c vollends deutlich: Dem Gegenüber von Gott und Mensch dort entspricht hier das Gegenüber von Gott und Welt. Auch die Sachaussage bleibt gleich: Die rhetorische Frage in V. 6b will das Gott-Sein Gottes im Gegenüber zum Mensch-Sein der Menschen deutlich machen. Weil Gott der Weltenrichter ist, können er und sein Urteil gar nicht „ungerecht“ sein, denn was gerecht und was ungerecht ist, bestimmt er allein. Sonst wäre er nicht Gott. Das heißt im Blick auf den Ausgangspunkt des zweiten Gesprächsgangs ab V. 4d: Auch wenn der Richter zugleich Prozesspartei ist und die Menschen trotzdem verurteilt – weil sie nämlich durch ihre Ungerechtigkeit seine Gerechtigkeit erweisen –, bleibt er doch gerecht, denn es ist hier nicht die Rede von einem menschlichen Richter, sondern von Gott.
Damit hat sich Paulus, wie Wolter meint, „von der Ausgangsfragestellung recht weit entfernt“, die aber dennoch in den Versen 5-6 „indirekt auch“ beantwortet wird:
Gottes Festhalten an der Erwählung Israels kann nur der in Frage stellen, der Gott nach menschlichen Maßstäben beurteilt und denkt, dass Gott sich so verhält, wie Menschen sich verhalten würden.
Eine „dritte Gesprächsrunde“ eröffnet Paulus in Vers 7a, indem er jetzt „Gottes alētheia {Wahrheit} und menschliches pseusma {Lüge}“ einander gegenüberstellt, wozu er darauf hinweist, dass (Anm. 53) alētheia „in der Septuaginta vor allem in den Psalmen“ vorkommt (z. B. „PsLXX 24,5; 25,3; 29,10; 35,6“), während (Anm. 54) pseusma „in der griechischen Bibel nur hier“ vorkommt.
Wie beim „Wir“ in Vers 5a hält Wolter (W220) auch das „Ich“ in 7a nicht, wie es „die meisten“ Exegeten tun, „für ein paradigrnatisches jüdisches ‚Ich‘“, sondern (W221) „Paulus konfrontiert hier wieder das Mensch-Sein des Menschen mit dem Gott-Sein Gottes“, wofür „auch das doxologische Achtergewicht (eis tēn doxan autou {zu seiner Herrlichkeit, Ehre})“ spricht, „mit dem er die Ausgangsfeststellung in V. 7a abschließt.“
In Vers 8 macht der Satzbau Schwierigkeiten, die Wolter vor allem darauf zurückführt, „dass Paulus das textinterne Gespräch verlässt und eine Auseinandersetzung mit textexternen Gegnern beginnt, die behaupten, er würde verbreiten: ‚Lasst uns das Böse tun, damit das Gute kommt‘ (V. 8a-b)“, wobei er zu dieser „Auseinandersetzung mit den ‚Verleumdern‘ nur darum veranlasst wurde, weil ihn die beabsichtigte Fortsetzung des fiktiven Dialogs nach V. 7b an deren Unterstellung erinnert hat.“
Eigentlich hätte Paulus nämlich auf die „rhetorische Frage (V. 7b)“, die „nach dem Grund für die Verurteilung als Sünder“ fragt, „im Stil der rhetorischen mē-{nicht-etwa-}Fragen von V. 3c.5c eine weitere Frage“ anschließen können,
deren Inhalt Paulus als Unterstellung von Seiten seiner Gegner formuliert: ‚… und tue ich das Böse etwa nicht, damit das Gute herauskommt?‘ lm Anschluss hieran hätte Paulus sogar wie in V. 4a.6a mit mē genoito {auf keinen Fall} weitermachen können, wenn ihm nicht eingefallen wäre, dass die rhetorische Frage, die er das fiktive Ich stellen lassen wollte, ziemlich genau den Unterstellungen entspricht, die über ihn verbreitet werden. Aus diesem Grunde bringt er die fiktive rhetorische Frage in jener Gestalt, wie sie ihm von seinen Gegnern in den Mund gelegt wird.
Weil aber nun (W222) die „briefliche Argumentation“ des Paulus „in den Schatten einer Auseinandersetzung“ geraten ist,
in die er außerhalb der Welt des Textes verwickelt ist, … führt er sie nicht zuende. Und natürlich gerät dadurch auch der Satz syntaktisch so gründlich aus den Fugen, dass alle Reparaturarbeiten aussichtslos bleiben müssen.
Zur „Unterstellung, gegen die Paulus sich hier zur Wehr setzt“, betont Wolter unter Hinweis auf Römer 6,1.15 und Galater 2,17, dass sie „zweifellos von jüdischer Seite“ kam und
dass es vor allem der paulinische Umgang mit der Tora und seine Gnadentheologie waren, die ihm den Vorwurf eintrugen, „er verharmlose die Sünde als Mittel zum guten Zweck“ <92>. Paulus ist damit unversehens auf einem Gebiet gelandet, das in diesem Teil der Darstellung seiner Theologie noch gar nicht zur Debatte steht.
Darum geht er auch weiter gar nicht auf die Vorwürfe ein, „sondern disqualifiziert die Personen, die sie erheben“, indem er, „rhetorisch ausgesprochen geschickt“, einfach „behauptet, …. dass Gottes Urteil über sie ‚berechtigt‘ ist“, ohne belegen zu müssen, ob überhaupt „Gott seine Gegner bereits in der Gegenwart verurteilt hat“.
Außerdem hebt Wolter hervor (W221), „dass das Wir in V. 8 weder mit dem Ich von V. 7 noch mit dem Wir von V. 5a identisch ist, denn es handelt sich um das apostolische Wir des Paulus.“ Und „das Wir von poiēsōmen {lasst uns tun}“ schließt wiederum „als Bestandteil einer fingierten apostolischen Rede … alle Menschen ein.“
In der Zusammenfassung seiner Auslegung von Römer 3,1-8 (aus der ich schon oben in der Einführung zur Auslegung von Römer 2,12 – 3-20 zitiert habe) gibt Wolter (W223) auf die Frage, warum Gott „die Erwählung Israels aus den Völkern“ niemals fallen lassen wird, die Antwort, dass „Gott Gott ist und sein Wort darum unbedingt Bestand hat“ und dass „auch Juden … vor Gott nur Menschen“ sind. Aber in seinen Augen argumentiert Paulus hier widersprüchlich:
In 3,1 nimmt Paulus die Begriffe „Jude“ und „Beschneidung“ aus 2,28-29 wieder auf, und zwar mit eben jener Bedeutung, die er dort als „äußerlich“, „am Fleisch“, „im Geschriebenen“ und „von Menschen“ abgewertet hatte. Mit seiner Antwort in 3,2 nimmt Paulus dieses Urteil über das Judentum und sein Selbstverständnis wieder zurück, ohne die Widersprüchlichkeit dieser beiden Aussagen auszugleichen.
Und damit nicht genug: Bereits in den Versen 3,9 und 3,22f stellt Paulus „ohne jede Relativierung wieder die Unterschiedslosigkeit von nichtchristlichen Juden und Heiden in den Vordergrund seiner Argumentation“.
Alles in allem stellt Wolter im „paulinischen Umgang mit der Israel-Frage im Römerbrief insgesamt“ eine ausweglose Widersprüchlichkeit fest, eine „Aporie“, aus der er „bis zum Ende seines Briefes nicht“ herauskommt:
Einerseits betont er die Unterschiedslosigkeit von Juden und Heiden; andererseits insistiert er auf der bleibenden Besonderheit Israels gegenüber den Völkern.
Ich gehe davon aus, dass Wolter hier nur deswegen eine Aporie konstatieren muss, weil für Ihn Paulus längst zu einem Nichtjuden geworden ist, dessen Gottesbild sehr allgemeine, abstrakte Züge einer griechisch-philosophisch interpretierten Gottheit angenommen hat, statt sich vom befreienden NAMEN des Gottes Israels angesprochen und gesandt zu wissen. Wenn Paulus aber als Jude seine römischen Mitjuden davon überzeugen will, dass der Messias Jesus ihn zu den Gojim gesandt hat, um sie in den zuerst mit Israel geschlossenen Bund mit hineinzunehmen, darf eine Einebnung aller Unterschiede zwischen Juden und Gojim jedenfalls nicht dazu führen, dass die unverwechselbare Eigenart des Gottes Israels, ausgedrückt in seinem unverfügbaren NAMEN, der für Befreiung, Recht und Frieden für Israel inmitten der Völker steht, nun ebenfalls von griechisch-philosophischer Theologie her überformt und letzten Endes umgewandelt wird in ein verjenseitigtes Programm zur bloßen Erlangung des persönlichen Seelenheils, von dem aber alle Menschen ausgeschlossen bleiben, vor allem auch Juden, die nicht auf eine bestimmte Weise an Jesus glauben.
Gerhard Jankowski (J85) geht nur in einem einzigen Absatz auf Römer 3,5-8 ein:
Nun könnte ja der Gedanke auftauchen, daß gerade die Untreue Israels die Treue Gottes erst bewirkt. Und Paulus formuliert ihn. Wenn das stimmen würde, dann hätten alle die recht, die genau das Paulus und anderen vorwerfen. Er formuliert auch diesen Vorwurf, der seiner Praxis gegenüber wahrscheinlich oft genug erhoben wurde: „Laßt uns das Böse machen, damit das Gute komme“. Für ihn ist das nichts als Verleumdung. Zum einen beschreibt der Satz seine Praxis bewußt falsch. Die Treue Gottes ist durch nichts herbeizuzwingen, schon gar nicht durch das Böse. Das wäre geradezu absurd.
Nach Jankowski laufen also alle in den Versen 5-6 von Paulus formulierten Dialoge auf den einen von Außenstehenden vorgebrachten Vorwurf von Vers 8 hinaus, dessen Abwegigkeit Paulus herausstellen will.
Zum anderen hält Paulus an der vorausgehenden und bleibenden Treue Gottes fest, die sich erweisen wird auch im zu erwartenden Gericht, in dem Gott sein Urteil sprechen wird. Gegenüber der Untreue einzelner müßte Gott eigentlich schon jetzt durchgreifen. Er tut es nicht und bleibt sich deswegen treu. Allein auf diese Treue kann sich Israel berufen, auch im Gericht. Es kann sich aber nicht auf die Beschneidung berufen. Die bleibt das sichtbare Bundeszeichen. Sie markiert eine Aufgabe: die Betrauung mit den Sprüchen Gottes, die weiterzugeben sind.
Jankowski geht also davon aus, dass Gott seine Treue zu Israel bewahrt, indem er der barmherzige Gott ist, der vergeben kann und auch sein erwähltes Volk nicht aufgibt, sondern es weiterhin mit der Weitergabe der ihm anvertrauten Worte beauftragt. Und Paulus geht insofern weit über die Tradition anderer jüdischer Lehrer hinaus, als er sich vom Messias Jesus damit beauftragt weiß, die zuerst Israel anvertrauten Worte von der Treue Gottes auch den Völkern weiterzugeben.
↑ Römer 3,9: Juden haben keinen Vorzug vor Griechen – sagt Paulus als Jude „wir Juden“ oder spricht er von ihnen aus nichtjüdischer Distanz?
3,9 Was sagen wir denn nun?
Haben wir einen Vorzug?
Gar keinen.
Denn wir haben soeben bewiesen,
dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind…
[6. Januar 2025] In Römer 3,9 leitet Paulus (W225) „die Zusammenfassung des gesamten Briefteils (seit 1,18), der bis 3,20 reicht, mit „der rhetorischen Frage ti oun {Was nun}?“ ein. Das darauf folgende Wort proechometha stellt eine zweite eigenständige Frage dar, da sich unmittelbar die Verneinung ou pantōs {nicht unbedingt, keinesfalls} anschließt, und „auf die Frage nach einem ‚Was‘ kann man nicht mit einer Negation antworten.“
Was bedeutet aber das Wort proechometha, das es (Anm. 6) „in der griechischen Bibel sonst nur noch in Num 16,15 gibt“? Wörtlich setzt sich das Wort aus der Vorsilbe pro- {vor} und den Verb echein {haben} zusammen. Im Aktiv ergibt sich dadurch die Bedeutung, jemandem etwas voraus zu haben, aber Paulus verwendet das Wort in der medialen oder passivischen Form, die beide identisch sind. Daraus ergeben sich nach Michael Wolter (W225f.) drei unterschiedliche Verständnismöglichkeiten:
(a) Die meisten verstehen es als Medium mit aktivischer Bedeutung und übersetzen: „Haben wir einen Vorzug?“ o.ä. Das Wir wäre in diesem Fall das jüdische Wir, zu dem Paulus sich mit den anderen Juden gegenüber den Heiden zusammenschließt.
(b) Eine Minderheit interpretiert es als Medium mit medialer Bedeutung im Sinne von „Schieben wir etwas vor?“ oder „Machen wir Ausflüchte?“ …
(c) Eine andere Minderheit versteht proechometha als Passiv im Sinne von „Werden wir übertrumpft?“ oder „Haben wir einen Nachteil?“. Das Wir gilt dabei in der Regel ebenfalls als das jüdische Wir.
Es verwundert nicht, dass Wolter (W226) „die unter (a) genannte Mehrheitsmeinung“ für am „unwahrscheinlichsten“ hält, denn es ist für ihn so selbstverständlich, Paulus sein Selbstverständnis als Jude abzusprechen, dass er sich nicht einmal vorstellen kann, Paulus könne sich am Anfang von Vers 9 in „das jüdische Wir“ eingeschlossen haben. Stattdessen unterstellt er, dass das „Wir“, das sowohl in Vers 8 als auch am Ende von Vers 9 „jeweils Paulus selbst bezeichnet“, in Vers 9 „ganz plötzlich erst auf das jüdische Wir umspringt und dann wieder zum apostolischen Wir zurückwechselt.“ Wenn sich Paulus als Jude begreift, dann muss er hier aber keine Sprünge vollziehen. Außerdem argumentiert Wolter, „dass ein aktivischer Gebrauch des Mediums proechomai nirgends belegt ist und dass man nicht erklären kann, warum Paulus nicht das Aktiv benutzt hat“, allerdings ist es Wolter bewusst (Anm. 11), „dass für andere Verben ein aktiver Gebrauch des Mediums durchaus belegt ist“.
Auch (W226) „ein Verständnis von proechometha als mediales Medium (b)“ lehnt Wolter ab, da „es hier intransitiv gebraucht ist, während es sonst immer ein Akkusativobjekt hat.“ Für ihn bleibt also nur übrig „das Verständnis von proechometha als Passiv (c)“, aber
nur unter der Bedingung …, dass man in dem Wir nicht das jüdische Wir sieht, sondern das apostolische Wir des Briefschreibers wie in V. 8a-b (blasphemoumetha {wir werden verleumdet} und hēmas legein {dass wir sagen}) und V. 9d (proētiasametha {wir haben Anklage erhoben}), oder genauer: das Wir des Verfassers von Röm 2,25-29.
Wolter übersetzt also proechometha mit „Werden wir übertroffen?“ Und das heißt: Paulus stellt die Frage nicht als Jude gemeinsam mit seinen Mitjuden, ob sie noch einen Vorzug gegenüber den Gojim haben, sondern in Augenhöhe mit den Nichtjuden und erheblicher Distanz zu seiner früheren Bezugsgruppe, von der er sich endgültig verabschiedet hat, ob die Juden ihn und die Heiden noch in irgendeiner Hinsicht übertreffen könnten. Denn nach Wolter bezieht sich Paulus mit dieser Frage
auf die Spannung zwischen 2,25-29 und 3,1-2: Wird die Härte seiner Behauptung, dass Jude-Sein und Beschneidung nur dann etwas wert sind, wenn man das Gesetz erfüllt, nicht widerlegt, wenn er andererseits daran festhält, dass Jude-Sein und Beschneidung doch etwas Besonderes sind, weil Gott die Juden erwählt hat?
Damit, dass Paulus die Frage durch „die verstärkte Negation ou pantōs (V. 9c)“ klar verneint, was er in V. 9d (W227) nochmals zusammenfassend mit „der unterschiedslosen Verfallenheit von Juden und Heiden unter die Sünde“ begründet,
nimmt er nun … die Versicherung von 3,1-2, mit der er den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden in den Vordergrund gestellt hatte, wieder zurück. Dieses Hin und Her lässt einmal mehr den Widerspruch in diesem Bereich der paulinischen Theologie erkennen. Er wird bis zum Schluss ungelöst bleiben.
So sieht das Wolter. Aber vielleicht wird er einfach dem Juden Paulus nicht gerecht, in dessen Denken der hier zutagetretende Widerspruch nicht ausweglos ist.
Als Begründung für die mit ou pantōs {keinesfalls, wörtlich: in jeder Hinsicht nicht} schreibt Paulus (W224): „Denn wir haben zuvor die Anklage erhoben, dass Juden und Griechen alle unter der Sünde sind“. Indem Paulus das „Begriffspaar ‚Juden und Griechen‘“ aus 1,16 und 2,9.10 aufnimmt, aber „dabei … den generischen Singular durch den kollektiven Plural“ ersetzt und „durch das Adjektiv pantes {alle}“ verstärkt, bezieht er die „Aussage … auf jeden einzelnen Juden und jeden einzelnen Nichtjuden“, also auf „niemand anderen als die ‚Menschen‘, von denen in 1,18 und 2,16 die Rede war.“
Zugleich spricht Paulus hier zum „ersten Mal im Römerbrief … von ‚Sünde‘ (hamartia)“ und bezieht den Begriff darauf, „dass alle Menschen ‚unter der Sünde‘ (hyph‘ hamartian) sind“. Damit versteht er „Sünde“ nicht als
die einzelne Sündentat, die Übertretung des Gesetzes, sondern eine überindividuelle Macht, die das Sein aller Menschen bestimmt. In Röm 5,12-14 wird Paulus erklären, wie die Menschen in diese Situation geraten sind (vgl. bereits ganz ähnlich Gal 3.22: „die Schrift hat alles hypo hamartian zusammengeschlossen“), und in 7,7-12.13-25 wird er beschreiben, wie sich das ‚Unter-der-Sünde-Sein‘ auf den Umgang des frommen Juden mit der Tora auswirkt (vgl. hier V. 14: „ich bin hypo tēn hamartian verkauft“). Die Erkenntnis, dass ‚unter der Sünde zu sein‘ eine condicio humana ist, ist das Ergebnis von Röm 1,19 – 2,24.
Für Gerhard Jankowski steht es außer Frage (J86), dass Paulus in Römer 3,9 als Jude gemeinsam mit seinen Mitjuden die folgerndermaßen zu übersetzende Frage stellt:
„Haben wir etwas voraus?“ Anders gefragt: Haben wir Juden einen Vorzug vor den Nichtjuden? Diese Frage ist eindeutig zu beantworten. Ja, wir haben mehr als genug voraus. Der Vorzug den Nichtjuden gegenüber ist, daß Israel die Thora besitzt als lebensgestaltendes und lebenserhaltendes Prinzip. Die anderen haben die nicht und sind deswegen als Menschen verloren. Die sind eigentlich wie Tote.
Paulus „gibt diese sehr selbstbewußte Antwort nicht“ gibt, jedenfalls „so nicht“, sondern er antwortet: „Überhaupt nicht!“ <93> Das muss eine Provokation für seine römischen jüdischen Adressaten sein, die ihm sicherlich zustimmen werden, „daß die Nichtjuden verloren sind“, was er „vorher breit dargelegt“ hatte. Aber dass Juden den Gojim „ganz und gar nichts voraus“ haben, das wird er begründen müssen. Wie er das sogleich tun wird (J87), nämlich mit einer Kette von Schriftzitaten, belegt nach Jankowski sehr klar, dass Paulus hier als Jude zu Juden spricht.
↑ Römer 3,10-18: Die Schrift belegt, dass auch Israel nicht nach Gottes Wegen der Befreiung und des Friedens fragt
3,10 … wie geschrieben steht:
„Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.
3,11 Da ist keiner, der verständig ist;
da ist keiner, der nach Gott fragt.
3,12 Alle sind sie abgewichen und allesamt verdorben.
Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer (Psalm 14,1-3).
3,13 Ihr Rachen ist ein offenes Grab;
mit ihren Zungen betrügen sie (Psalm 5,10),
Otterngift ist unter ihren Lippen (Psalm 140,4);
3,14 ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit (Psalm 10,7).
3,15 Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen;
3,16 auf ihren Wegen ist lauter Zerstörung und Elend,
3,17 und den Weg des Friedens kennen sie nicht (Jesaja 59,7-8).
3,18 Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen (Psalm 36,2).“
[9. Januar 2025] Warum Paulus Juden keinen Vorzug vor den Gojim bescheinigen konnte (J86), weil „sowohl Juden als auch Griechen, alle, unter Sünde sind“, begründet er nach Gerhard Jankowski (J87)
mit Worten aus der Schrift; nicht, weil er keine eigene Begründung findet, sondern weil die Begründung aus der Schrift zu überprüfen ist. Es steht so geschrieben, lange vor ihm bereits gesagt in Israel gegen Israel. Da er hier Juden anredet, ist es nur konsequent, daß er sich auf die Schrift beruft. Es ist ihre Sprache, die hier gesprochen wird.
Was so besonders an dieser Sprache ist, stellt Jankowski auch sogleich heraus:
Die Schrift wird zum Katalysator in der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse des eigenen Volkes. Sie ist eindeutig und trotz der alten Worte konkret und aktuell. Nur ein Jude kann so zu Juden sprechen.
Im Unterschied dazu musste sich „Paulus über die gesellschaftlichen Verhältnisse der Nichtjuden ganz anders“ äußern, „eben nicht mit Worten der Schrift (1,20-31).“ Wie Paulus ja eben gesagt hatte, bleibt es der Vorzug der Juden, dass ihnen die Worte Gottes in der Tora, in den Propheten und in den Schriften anvertraut sind, und alles, was ihnen vorzuwerfen ist, hat das Volk Israel schon seit jeher selber vom Tenakh her auf sich selber bezogen. Ein Thema fehlt allerdings unter den nach Jankowski auch auf die Juden bezogenen Vorwürfen, nämlich der „Sexualkomplex…, weil Päderastie und Homoerotik als typisch gojisch galten.“ Ansonsten stehen alle „Verfehlungen … in Parallele“, indem sie jeweils „mit der Frage nach Gott“ einsetzen.
Folgendermaßen übersetzt Jankowski die Verse Römer 1,10b-18:
10b Kein Bewährter ist, auch nicht einer.
11 Keiner ist, der begreift,
keiner ist, der nach Gott fragt.
12 Alle sind abgewichen,
angefault <94> sind sie mitsammen,
keiner ist, der Gutes tut,
auch kein einziger mehr.
13 Ein geöffnetes Grab ist ihr Schlund,
mit ihren Zungen betrügen sie.
Hinter ihren Lippen <95> ist Schlangengift.
14 Deren Mund ist voll Verfluchung und Bitterkeit.
15 Schnell ihre Füße, Blut zu vergießen.
16 Auf ihren Straßen Verwilderung und Verstörung,
17 und den Weg des Friedens kennen sie nicht.
18 Nicht gibt es Furcht Gottes vor ihren Augen.
Die Bibelzitate, die Paulus in Römer 3,10-18 zusammenstellt, „sind nicht willkürlich gewählt“. Sie rufen „bei den Adressaten immer den ganzen Zusammenhang auf“, in dem sie stehen, was wohl auch der Grund dafür ist, „daß der aus der Schrift begründete Teil wesentlich kürzer ist“ als die im Blick auf die Völker ausführlich erhobenen Vorwürfe. Zunächst bringt Paulus „in V. 10 einen Zitatanklang aus Kohelet {Prediger Salomo} 7,20 als Überschrift“, dann folgen vor allem Stellen „aus den Psalmen“:
in VV. 11-12 Worte aus Ps 14,1-3, der Version der LXX folgend, jedoch erheblich abgeändert, in V. 13 als ersten Satz ein wörtliches Zitat aus Ps 5,10, als zweiten Satz ein wörtliches Zitat aus Ps 140,4, jeweils in der LXX-Version, in V. 14 ein verkürztes Zitat aus Ps 10,7 = LXX Ps 9,28, in VV. 15-17 ein Zitat aus Jes 59,7f., der LXX folgend, jedoch mit vielen Auslassungen, V. 18 entspricht Ps 36,2 in der LXX-Fassung.
Das gemeinsame Thema der „jeweiligen Kontexte“ dieser Zitate sind
die Verfehlungen einzelner oder des ganzen Volkes, die Israel von innen heraus bedrohen oder bedroht haben und so seinen Bestand gefährden. Es gibt viele Wortentsprechungen in den jeweiligen Kontexten, vor allem aber inhaltliche Übereinstimmungen. Deswegen kann Paulus die Zitate auch abwandeln.
Beispielhaft verweist Jankowki zum ersten von Paulus mit den Versen 1-3 zitierten Psalm 14 zusätzlich auf die darauf folgenden Verse 4-6, um ihren Kontext zu verdeutlichen (J87f.):
1 Der Nichtige spricht in seinem Herzen:
‚Da gibts keinen Gott!‘
Verderbt, greulich ward ihre Sitte,
keiner ist mehr, der Gutes tut.
2 Vom Himmel schaut der EWIGE
auf die Adamskinder,
zu sehn, ob ein Begreifender west,
ein nach Gott Fragender.
3 Alles ist abgewichen.
angefault sind sie mitsammen,
keiner ist mehr, der Gutes tut,
auch kein einziger mehr!
4 Haben sies nicht erkannt,
die Argwirkenden alle,
die verzehren mein Volk:
sie verzehren ein Brot,
darüber man den EWIGEN nicht anrufen kann!
5 Dort, sie schrecken zusammen im Schreck,
denn Gott ist im bewährten Geschlecht:
6 ‚Den Ratschlag des Gebeugten
wolltet ihr zuschanden machen?!‘
Ja, der EWIGE ist seine Bergung.
Wer gibt vom Zion her
Befreiung Israels!
Wann kehren läßt der EWIGE
Wiederkehr seinem Volk,
wird Jaakob jauchzen,
wird sich Israel freuen.
Daraus ergeben sich für Jankowski folgende Schlussfolgerungen (J88):
Israel ist abgeirrt, abtrünnig geworden, hat frevlerisch gehandelt, die Befreiung verspielt, hat sich nicht bewährt, kurzum: ist der Thora nicht gefolgt. Das hat zur Folge, daß es sich in seinem Inneren nicht von den anderen Völkern unterscheidet. Aus einem befreiten ist ein unterdrücktes Volk geworden mit all den üblen Folgen im gesellschaftlichen Kontext.
Michael Wolter (W227) kommt bei der formalen Untersuchung der „Reihe von Schriftzitaten ganz unterschiedlicher Herkunft“, die die „Feststellung von V. 9d“ illustrieren soll, grundsätzlich auf den gleichen Befund wie Jankowski. Für die „Anordnung der Zitate“ konstatiert er „eine den Text bewusst gestaltende Hand“, deren Gestalt und Absicht er jedoch vollkommen anders als Jankowski deutet:
Die gesamte Reihe besteht aus zwei deutlich voneinander abgesetzten Teilen: In V. 10b-12 beschreiben die Zitate in komprehensiver Weise die Gesamtheit aller Menschen (5mal ouk estin {es gibt keinen} in V. 10b.11a.b.12b.c sowie pantes {alle} in V. 12a). Die universale Perspektive geht auch aus dem von Paulus der Reihe vorangestellten V. 9d („Juden und Griechen alle“) hervor. Die Reihe der Zitate bleibt damit auf ihren literarischen Kontext angewiesen, denn nur er stellt sicher, dass alle Leser wissen, von wem Paulus spricht. Das abschließende [ouk estin] heōs henos {es gibt nicht einmal einen} (V. 12c), das aus Ps 13,3LXX stammt und ursprünglich lediglich zu ouk estin ho poiōn chrēstotēta {es gibt keinen, der Güte übt} gehörte, weist aufgrund seiner Allgemeinheit jetzt über diese individuelle Verknüpfung hinaus und verstärkt auch die anderen ouk estin-Feststellungen. Es setzt insofern einen deutlichen Schlusspunkt.
Interessant ist, dass Wolter genau wie Jankowski das Stichwort „Kontext“ benutzt, aber damit den „literarischen Kontext“ meint, innerhalb dessen Paulus die Schriftzitate einbettet, aber keinen Gedanken auf den Kontext der Schrift verwendet, aus dem Paulus schöpft. Er würde wahrscheinlich argumentieren, dass Paulus die auf Israel bezogenen Verse 4-6 des Psalms 14 (bzw. 13LXX) um seiner universalen Perspektive willen absichtlich unter den Tisch fallen ließ. Umgekehrt könnte man aber auch sagen, dass Paulus, falls er, wovon Jankowski ausgeht, reale römische Juden anspricht, bei diesen um die Einsicht wirbt, dass schon die Schrift in die Anklage gegen das Fehlverhalten aller Menschen eben auch das Volk Israel selbst mit einbezieht.
Zum zweiten Teil der Zitatenreihe schreibt Wolter, dass sich ab Vers 13 „Rhythmus und Inhalt“ ändern:
Die ab hier folgenden Zitate charakterisieren die Menschen durch das, was sie tun. Ihnen ist zudem gemeinsam, dass sie Körperteile nennen, an denen sie das Tun der Menschen metaphorisch veranschaulichen: Hals, Zunge, Lippen, Mund, Füße und Augen. Darüber hinaus verweisen sie mit Hilfe von Pronomina im Genitiv Plural (V. 13a-c.15.16.18: autōn {ihr, ihre, ihren}: V. 14: ōn {ihr}) auf „Juden und Griechen alle“ (V. 9d) zurück. Auch diese Verse wären ohne ihre literarische Einbettung unverständlich. V. 16-17 mit dem Zitat von Jes 59,7d.8aLXX unterbricht diesen Zusammenhang, denn hier gibt es kein Körperteil und in V. 8a auch kein Pronomen. Dieses Zitat verdankt seine Einfügung jedoch der Zugehörigkeit zum Zitat von Jes 59,7a-b in V. 15 und wurde über die Assoziation „Füße“ – „Wege/Weg“ angehängt. V. 18 beginnt ebenfalls mit ouk estin {es gibt keine}, doch anders als in V. 10b-12 bezieht sich die Feststellung hier nicht auf bestimmte Personen, sondern auf eine Sache: die Gottesfurcht.
Ausführlich setzt sich Wolter (W229) mit Hypothesen auseinander, ob „Paulus die Zitate nicht ad hoc miteinander kombiniert, sondern auf eine bereits vorhandene Zusammenstellung zurückgegriffen habe“. Eine ähnliche spätere „Zitatkombination“ beim Kirchenlehrer Justin führt er allerdings darauf zurück, dass dieser wohl einfach auf den Römerbrief zurückgreift. Ein „Sündenbekenntnis“ kann der Text nicht sein, „denn die Zitate sprechen nicht von den eigenen Sünden (1. Person), sondern von denen aller Menschen (3. Person).“ Und
dass Paulus die Zusammenstellung der Zitate vor der Abfassung des Römerbriefes gewissermaßen auf Vorrat vorgenommen hat, ist nicht nur nicht erforderlich, sondern angesichts der Einbettung der Zitate in ihren literarischen Kontext auch nicht wahrscheinlich. Zu welchem Zweck sollte Paulus eine solche Sammlung erstellt haben?
Von daher (W230) „spricht alles dafür, dass Paulus auch in 3,10b-18 die Zusammenstellung der Zitate bei der Abfassung des Briefes selbst vorgenommen hat.“
Zur Absicht, die Paulus mit der „Zusammenstellung von Zitaten“ verfolgt, stellt Wolter den Apostel Paulus als Redner dar, der auf Stilmittel der von Aristoteles ausgebildeten Rhetorik zurückgreift. Indem die von Paulus zitierten Schriftzitate „nicht bestimmte Handlungen beschreiben, sondern Personen charakterisieren“ und „auch nicht je für sich, sondern in ihrer Gesamtheit gelesen werden und auf die Leser einwirken“ sollen, ist es von
den drei Überzeugungsmitteln der klassischen Rhetorik, Ethos, Pathos und Logos (vgl. Aristoteles, Rhet. 1,2,3-6), ist es zweifellos das Pathos, das Paulus hier verwendet, denn er argumentiert weder von der Sache her (Logos) noch mit seiner eigenen Glaubwürdigkeit (Ethos), sondern durch affektive Einflussnahme auf die Leser. Er will dadurch Wirkung erzielen, dass er mit Hilfe der Zitate die Schrift als weiteren Ankläger aufbietet. Paulus stellt die in 1,19-32 und 2,17-24 Beschriebenen in das Licht der Schrift und identifiziert sie als diejenigen, von denen die Schrift in den in 3,10b-18 aufgeführten Zitaten gesprochen hat.
Aber kann es sein, dass der Jude Paulus sich als Nachfolger des Messias Jesus tatsächlich so weit von seinen jüdischen Wurzeln entfernt hat, dass er als hellenistisch gebildeter Redner die heiligen Schriften Israels lediglich zur emotionalen Beeinflussung eines nichtjüdischen Publikums instrumentalisiert? Käme das nicht einem armseligen Zum-Fenster-hinaus-Predigen gleich, bei dem sich die angeredeten Heidenchristen über die Mehrheit der Juden mit ihren eingebildeten Vorzügen empören könnten, denen zwar die Schrift anvertraut war, gegen deren Worte sie sich aber allesamt nach wie vor verfehlen, während sie selbst alle heidnischen Laster durch ihren Anschluss an die christliche Gemeinschaft längst hinter sich gelassen haben. Falls Paulus wirklich in diesem Sinne gedacht und gepredigt haben sollte, könnte ich ihm als heutiger Prediger nicht guten Gewissens nacheifern.
↑ Römer 3,19-20: Kein Fleisch wird wahr vor Gott durch Werke der Tora, durch Tora geschieht aber Erkenntnis der Sünde
3,19 Wir wissen aber:
Was das Gesetz sagt,
das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind,
auf dass jeder Mund gestopft werde
und alle Welt vor Gott schuldig sei.
3,20 Denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch vor ihm gerecht sein.
Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.
[11. Januar 2025] Nach Michael Wolter (W225) bilden die Verse Römer 3,19-20 zusammen mit 3,9 einen „Rahmen“ um die eben besprochene „Kette von Schriftzitaten (V. 10-18)“, der „durch zwei Elemente miteinander verklammert“ wird: erstens „durch den Begriff ‚Sünde‘ (hamartia)“, und zweitens
durch die Wiederaufnahme von Ioudaioi te kai Hellēnes pantes {Juden und Griechen alle} (V. 9d) in dem dreimaligen pas {jeder} in V. 19-20: pan stoma {jeder Mund}, pas ho kosmos {alle Welt} und pasa sarx {alles Fleisch, jeder Mensch}. Jede einzelne Bezeichnung nimmt die gesamte Menschheit in den Blick. Diese Totalität wird aber nicht nur durch die Dreizahl der pas-Aussagen zum Ausdruck gebracht, sondern auch dadurch noch verstärkt, dass Paulus mit pas, pan und pasa {männlich, sächlich, weiblich} alle drei Genera aufbietet, um auf diese Weise deutlich zu machen, dass die gesamte Menschheit wirklich vollständig und restlos dem strafenden Urteil Gottes verfallen ist.
Zwar sind Wolter zufolge (W230) „die Zitate in der Tat vor allem auf den Dialog mit dem jüdischen Gesprächspartner berechnet …, der Paulus seit 1,18 begleitet“, was Vers 19 „nun auch auf der Ausdrucksebene des Textes deutlich“ macht, aber dies geschieht nur zu dem Zweck, diesem „impliziten Gesprächspartner“ sein „Argument aus der Hand“ zu nehmen, dass „das Gesetz nach jüdischem Verständnis Israels Privileg gegenüber den Völkern erkennbar macht.“
Wolter erkennt in Vers 19a ein Spiel
mit dem Begriff nomos {Gesetz}: Mit hosa ho nomos legei {alles, was das Gesetz sagt} verweist er auf die Reihe der Zitate in V. 10b-18, obwohl sie nicht aus dem ersten Teil des Tanach stammen, der ‚torā‘ {Gesetz, Tora}, sondern aus den ‚nɘbiīm‘ {Propheten} (Jes 59,7-8 in V. 15-17) und den ‚kɘtubīm‘ {Schriften} (Pred 7,20; Ps 13,2b-3; 5,10; 139,4; 9,28a; 35,2 in V. 10b-14.18). nomos fungiert hier also als ein literarischer Begriff.
Wolter will offenbar nicht wahrhaben, Paulus könne als der Jude, der er ist, die Disziplin der befreienden Tora Gottes auch in den biblischen Schriften außerhalb der fünf Bücher Mose, also der Tora im engeren Sinne, aufscheinen sehen, in denen es doch darum geht, nach der Tora zu leben und sie zu bewähren. Stattdessen meint er sogar, Paulus habe sich durch die in seinen Augen irgendwie fehlerhafte Zusammenfassung der „zitierten Texte … unter dem nomos-Begriff“ nur „die Möglichkeit für ein Wortspiel verschaffen“ wollen, denn (W230f.)
in dem gleich darauf folgenden Ausdruck tois en nomō {denen, die im Gesetz sind} ist nomos Sammelbezeichnung für die Rechtsforderungen der Tora. hoi en nomō {die, die im Gesetz sind} – das sind die, deren Identität durch die Tora bestimmt ist: die Juden.
Bezeichnend ist, dass Wolter (Anm. 33) „dieses Spiel mit der Mehrdeutigkeit des Gesetzesbegriffs“ auf die „Argumentationsweise sophistischer Rhetorik“ <96> zurückführen will, statt Paulus als jüdisch-messianischen Lehrer ernstzunehmen.
Nachdem Wolter betont (W231), Paulus wolle „mit V. 19a noch einmal ausdrücklich unterstreichen …, dass es gerade auch die Juden sind, von denen in V. 10b-18 die Rede war“, wird in Vers 9b jeder Angeklagte als seiner Schuld so gründlich überführt dargestellt, dass er
nichts zur eigenen Verteidigung vorbringen kann und darum verstummen muss. … Paulus entwirft ein Szenario, das die gesamte Menschheit vor Gottes Gericht stellt, und pan stoma phragē {jeder Mund verstumme} meint, dass kein einziger Mensch – im Sinne von V. 9d: kein einziger Jude und kein einziger Nichtjude – etwas zur Entkräftung der gegen ihn erhobenen Anklage vorbringen kann.
Als „Konsequenz“ steht nach Vers 9c der Angeklagte „schuldbewusst … vor dem Richter und erwartet seine Verurteilung“, was Paulus hier (W232) auf pas ho kosmos {alle Welt}, also die „Gesamtheit aller Menschen“ bezieht: „Einen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gibt es nicht mehr.“
[16. Januar 2025] Aus dieser für Wolter zentralen Erkenntnis des Paulus ergibt sich für ihn nun eine ebenso zentrale wie weitreichende weitere Konsequenz, die er nach und nach entfaltet. Paulus leitet sie im folgenden Vers 20 mit demselben Wort dioti ein, mit dem er „diesen Briefteil nach der Überschrift (1,18) in 1,19 begonnen“ hatte. Dort hatte er es „begründend“ verwendet {denn}, hier verwendet er es „folgernd“ {darum}, um diesen Teil des Briefes zu beschließen.
Das Wort pasa sarx {alles Fleisch}, mit dem „Paulus pan stoma {jeder Mund} und pas ho kosmos {alle Welt}“ aus dem vorigen Vers 19 aufnimmt, ist nach Wolter ein „Septuagintismus“, also ein in der griechischen Bibel verwendeter Ausdruck,
der von Gen 6,12 bis Dan 2,11 als Übersetzung für hebr. kol-baßar alle Lebewesen in ihrer Kreatürlichkeit bezeichnet. Der Ausdruck umfasst im Alten Testament also nicht nur alle Menschen, sondern schließt auch die Tiere ein (z.B. Gen 7,21; 8,17; 9,11; Lev 17,11; Num 18,15; Jer 39/32,27), doch kann er auch wie in Röm 3,20 als Kollektivum für die Gesamtheit aller Menschen gebraucht werden (z.B. Ps 64/65,3; 144/145,21; Jes 40,5; 49,26: Sach 2,17). Wahrscheinlich greift Paulus hier auf Ps 142,2LXX zurück, wo es heißt: „Und gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn nicht wird gerechtfertigt vor dir jeder Lebende (ou) dikaiōthēsetai enōpion sou pas zōn)“. In jedem Falle ergänzt er zum Wortlaut von Ps 142,2LXX den für ihn entscheidenden Gesichtspunkt: den Ausdruck ex ergōn nomou {aus Werken des Gesetzes}.
Darauf, dass die Ausdrucksweise des Paulus nicht nur aus der griechischen Bibel schöpft, sondern zugleich einen zutiefst jüdisch-hebräischen Hintergrund besitzt, geht Wolter (Anm. 38) nur beiläufig ein, indem er darauf hinweist, dass Paulus, statt die Verneinung oudeis anthrōpōn {kein Mensch} zu verwenden, auf den „Hebraismus“ ou … pasa sarx“ {nicht alles Fleisch} zurückgreift. Jedenfalls gibt es Wolter wenig zu denken, dass Paulus sich mit einem jüdisch-biblischen Ausdruck auf Psalm 143/142LXX bezieht; er konzentriert sich mehr auf die innerpaulinische Parallele Galater 2,16:
In dem Bericht über die Kontroverse mit Petrus in Antiochien stellt Paulus fest, dass „auch wir“, d.h. er selbst und Petrus als Juden, „zum Glauben an Christus Jesus gekommen sind, damit wir aus Christus-Glauben gerechtfertigt werden und nicht aus Werken des Gesetzes, denn“ – so führt er als Begründung an – ex ergōn nomou ou dikaiōthēsetai pasa sarx {aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtfertigt werden}.
Wolter stellt allerdings fest, dass keine vollkommene Parallele besteht, denn „beide Texte … machen … unterschiedliche Gründe geltend“. Nach Galater 2,16 werden „die Menschen allein aufgrund des Christus-Glaubens gerechtfertigt“, darum (W233) kann die Rechtfertigung „nicht aus dem Gesetz kommen“. Römer 3,20 stellt dagegen fest, dass „die Voraussetzungen“ für eine Rechtfertigung
nicht gegeben sind: Kein einziger Mensch kann „Werke des Gesetzes“ vorweisen. … Woran es liegt, dass kein Mensch im Gericht Werke des Gesetzes vorweisen kann, die seine Gerechtsprechung möglich machen, kümmert Paulus hier nicht. Diese Frage kommt erst in 5,12-21 und in 7,7-25 auf den Tisch.
Als Erklärung für die unterschiedlichen Begründungen der „inhaltsgleichen Feststellungen in Gal 2,16e und Röm 3,20a“ führt Wolter an, dass Paulus „in diesem Teil des Römerbriefes nicht wie im Galaterbrief eine innerchristliche Debatte führt, sondern im Grunde genommen eine innerjüdische Debatte.“ Um so seltsamer mutet es an, dass diese innerjüdische Debatte Wolter zufolge nur im Kopf des Paulus mit fiktiven Juden stattfindet, während er sie tatsächlich vor heidenchristlichen Adressaten entfaltet.
Wie dem auch sei: Mit dem Vers Römer 3,20a fasst Paulus „seine Ausführungen ab Röm 1,18 – 3,19 zusammen, die er in 1,18 als Begründung (gar) zu der in 1,16-17 entfalteten Charakterisierung seines Evangeliums kenntlich gemacht hatte“. Dabei lehnt Paulus zwar ebensowenig wie in 2,13 grundsätzlich das Prinzip „Werkgerechtigkeit“ ab, aber:
Weil die Menschen auf dem Weg der „Werke des Gesetzes“ keine Chance haben, durch Gottes Urteil gerecht gesprochen zu werden, bleibt ihnen dafür nur der Weg des Glaubens, den das von Paulus verkündigte Evangelium von Jesus Christus eröffnet.
[17. Januar 2025] Weiter stellt Wolter in einem Exkurs zum Stichwort erga nomou {Werke des Gesetzes} unter anderem die Frage (W234f.), ob Paulus damit „nur solche Regelungen“ meine, die „die Besonderheit des Judentums als Gottes Eigentumsvolk markierten und es von den nichtjüdischen Menschen unterschieden“, oder ob er damit „immer die Gesamtheit aller Rechtsforderungen der Tora bezeichne.“ Wolter selbst plädiert für die letztere Option (W236): „Auch für Paulus ist die Tora unteilbar.“ Dennoch kommt „Regelungen wie Beschneidung, Sabbatobservanz und Speisegebote … eine Sonderstellung zu“, denn nur „diese Gebote“ machten „Israels Anders-Sein unter den Völkern kenntlich“.
Erheblich beeinflusst (W235) „ist die aktuelle Diskussion über das paulinische Verständnis von erga nomou“ natürlich durch „Martin Luthers Auffassung“ <97>:
Als „Werke des Gesetzes“ gilt ihm „alles, was nicht Gnad ist. Denn was nicht Gnade ist, das ist gewißlich Gesetz, es gehöre gleich zum weltlichen Regiment, als Iudicialia {richterliche Dinge}, oder zur Kirchenordnung, als Ceremonialia, oder zun zehen Geboten, und habe Namen, wie es wolle“.
Am knappsten bringt Luther sein „Verständnis des Ausdrucks erga nomou“ vielleicht in seiner „Vorrede zur Übersetzung des Römerbriefes“ zum Ausdruck:
„Des Gesetzes werck ist alles, das der mensch thut oder thun kan am Gesetze, aus seinem freien willen und eigen krefften“.
Wie nachhaltig dieses „Verständnis des Ausdrucks erga nomou … bis in die Gegenwart hinein vor allem die protestantische Paulusinterpretation bestimmt“ hat, belegt Wolter mit Hinweisen auf vier bedeutende Theologen des 20. Jahrhunderts:
Karl Barth spricht mit Bezug auf Röm 3,20 von „Werken des Menschen“, und für Rudolf Bultmann <98> stehen die erga nomou für das Tun der „Gesamtheit der historisch gegebenen Gesetzesforderungen“, unter denen Heiden wie Juden stehen: Diesen träten sie in Gestalt des alttestamentlichen Gesetzes entgegen, jenen „z.B. im Staat“ oder „in der Sitte“ und ihren jeweiligen Forderungen, die alle konkreten Gehorsam verlangen.
Dadurch wird „die theologisch qualifizierte Verknüpfung von Tora und Israels Erwählung aufgelöst“, so dass (W235f.) Peter Stuhlmacher <99> das „Gesetz … zur ‚Gabe Gottes an Israel und die Menschheit insgesamt‘ ethisiert“ und nach Ernst Käsemann „‚der Jude‘ … zum ‚Typ des homo religiosus‘ bzw. zum ‚typischen Repräsentanten menschlicher Leistungsfrömmigkeit‘“ wird.
Gegenüber dieser von Martin Luther „ausgehenden exegetischen Tradition“ betont Wolter (W236)
dass Paulus hier zweifellos von „Werken“ spricht, die von der Tora gefordert werden, die Gott seinem Volk gegeben hat, damit es seine Erwählung aus den Völkern zur Darstellung bringen kann. Damit ist in diesem Begriff immer auch das Israelthema präsent, wie überhaupt die Gesetzesfrage bei Paulus immer Bestandteil der lsraelfrage ist.
Schließlich ist nach Wolter die „Frage, ob Paulus mit ‚Werke des Gesetzes‘ Vorschriften meint, die vom Gesetz erhoben werden, oder Handlungen, die in Erfüllung dieser Vorschriften getan werden“, nicht im Sinne einer sich ausschließenden Alternative zu beantworten, „denn es handelt sich lediglich um zwei Aspekte eines breiten semantischen {die Wortbedeutung betreffenden} Spektrums“. In Römer 3,20a bezeichnet der Ausdruck ihm zufolge (W237) „Handlungen …, die in Befolgung der Tora getan bzw. nicht getan werden“. Ähnlich kann Paulus auch den Begriff „Gesetz“ für sich allein (zum Beispiel im folgenden Vers Römer 3,21a) als „Umschreibung für die ‚Werke‘, die getan werden, wenn man der Tora Folge leistet“, verwenden: „‚Durch das Gesetz‘ heißt hier immer ‚durch das Tun des Gesetzes‘.“
Der Ausdruck enōpion autou {vor ihm}, durch den sich Römer 3,20a von Galater 2,16 unterscheidet und den Paulus wohl aus Psalm 142,2LXX übernommen hat, „verdankt sich“ nach Wolter „der Gerichtszene, die er in Röm 3,19 entworfen hat“, und die „auch noch in V. 20b präsent“ ist. Eigenartig finde ich Wolters Bemerkung (Anm. 69), dass Paulus hier im „Unterschied zu Röm 1,18 … also nicht ein Vernichtungsgericht …(Stichwort orgē {Zorn}), sondern ein forensisches Beurteilungsgericht“ voraussetzt. Widerspricht sich Paulus hier tatsächlich oder ist seine Verwendung des Begriffs orgē vielleicht nicht ganz exakt in die Schubladen wissenschaftlicher Bibelauslegung einzuordnen?
In Vers 20b wird jedenfalls nach Wolter (W237) „die Feststellung von V. 20a“ begründet, denn wenn „die ‚Werke‘ der Menschen mit der Rechtsforderung des Gesetzes verglichen werden, wird immer nur die Differenz zwischen dieser und jenen – also Sünde – erkennbar.“ Und derjenige (W238), der hier zur epignōsis hamartias {Erkenntnis der Sünde} kommt, ist „niemand anderer als Gott selbst, der in seiner Doppelrolle als Ankläger und Richter dem Menschen im Gericht seine Sünde zur Kenntnis bringt.“ Damit wendet sich Wolter gegen alle Exegeten, die von Römer 7,7 her annehmen, auch hier sei es „der sündige Mensch, der sich wie in Röm 7,23-24 seines sündhaften Handelns bewusst wird“, und zwar
noch bevor er zum Sünder wird… Demgegenüber fungiert das Gesetz in Röm 20b als diagnostisches Mittel, mit dessen Hilfe bereits begangene Sünden im Nachhinein als solche festgestellt werden.
Alles in allem betrachtet Wolter den Abschnitt Römer 3,9-20 als Zusammenfassung dessen, „was er ab 1,18 geschrieben hat.“ Aber warum führt Paulus in seinem an römische Heidenchristen adressierten Brief überhaupt einen so ausführlichen „impliziten innerjüdischen Dialog“? Nach Wolter erhebt
die paulinische Argumentation durchgängig den Anspruch …, auch für nichtchristliche Juden nachvollziehbar und zustimmungsfähig zu sein. Paulus will die Situation der Menschheit beschreiben, wie sie sich darstellt, wenn man sie als solche und mit Bezug auf ihr Gottesverhältnis in den Blick nimmt. Seine Darstellung erhebt den Anspruch, dass kein Jude Christ sein muss, um richtig zu finden, was er über Juden und Nichtjuden schreibt.
Wenn das aber grundsätzlich stimmt, dass die bisherige Argumentation des Paulus das Vertrauen auf Jesus als den Christus, den Messias, noch nicht voraussetzt, warum hält es Wolter dann für so abwegig, Paulus könne hier reale römische Juden angesprochen und um Verständnis und Akzeptanz für seine Sendung zu den Gojim geworben haben?
Fragwürdig erscheint mir auch, wie bereits oft gesagt, Wolters Annahme, dass die von Paulus adressierten „Heidenchristen in Rom“ sich keinesfalls „in dem, was z.B. in 1,19-32 oder in 2,17-24 steht, wiederfinden“ werden. Stattdessen sollen seine Ausführungen in „Röm 1,18 – 3,20“ lediglich dem Ziel dienen, seine „These, dass sein Evangelium ‚eine Macht Gottes ist zum Heil für jeden, der glaubt‘ (1,16-17)“, zu begründen und mit
seiner Darstellung der Universalität der Sünde (1,18; 3,9) … seinen Lesern darum von Anfang an erklären, warum alle Menschen – und das heißt bei ihm pointiert: auch die Juden – auf das Evangelium von Jesus Christus und den Christus-Glauben angewiesen sind, wenn sie in Gottes Gericht bestehen wollen. … Für die Leser des Römerbriefes wird er diese Lösung dann ab 3,21 präsentieren.
Kann es sein, dass Paulus im Römerbrief also im Grunde niemanden konkret zur Auseinandersetzung mit seiner eigenen Verantwortlichkeit vor Gott herausfordert? Die Juden nicht, weil er sie gar nicht als Adressaten im Blick hat und ihnen (in den Kapiteln 9 bis 11) lediglich noch ein paar Krokodilstränen hinterherweint? Und auch die Heiden nicht, weil er sie ja nur als ehemalige Heiden und gegenwärtige Christen anredet, denen er bescheinigen kann, dass sie letzten Endes besser dran sind als die Juden, weil sie ja inzwischen an Jesus Christus glauben? Nein, so macht alles, was Paulus bisher im Römerbrief geschrieben hat, überhaupt keinen nachvollziehbaren Sinn.
Nachvollziehbar ist für mich die harte Konfrontation auch der Juden mit ihrer Sünde nur unter der Voraussetzung, von der Gerhard Jankowski ausgeht, dass Paulus hier als Jude seine römischen Mitjuden direkt und konkret anspricht (J88):
Es ist ein bitteres Fazit, das Paulus anhand der Schrift zieht. Alle, nicht nur die Nichtjuden, sondern auch die Juden, sind unter der Sünde. Weder die ethischen Prinzipien der Nichtjuden noch die Thora können eingehalten werden. Menschliches Leben ist verunmöglicht. Auch dezidiert jüdisches Leben, ausgerichtet an der Thora, ist unmöglich. Denn Thora ist Wegweisung für ein gerechtes und befreites Leben. Das aber ist unter römischen Verhältnissen nicht möglich, was immer auch getan wird. Selbst wenn die Thora getan wird, ist unter den römischen Verhältnissen ein befreites Leben nicht zu erreichen. So führt die Thora unter diesen Gegebenheiten nur zu der Erkenntnis, daß dieses Leben voller Absonderlichkeiten steckt, voller Sünde.
Diese Deutung des von Paulus vorgelegten Fazits enthält Voraussetzungen, die Wolter nicht einmal ansatzweise teilen würde, da er gesellschaftliche Hintergründe der von Paulus vertretenen Botschaft und ihre Verwurzelung in der auf Befreiung und Gerechtigkeit ausgerichteten jüdischen Tora nirgends zur Sprache bringt. Auch ich habe lange gebraucht, bis ich akzeptieren konnte, dass es Paulus möglicherweise nicht um eine grundsätzliche Abrechnung mit jüdischer Werkgerechtigkeit geht, sondern um die bittere Einsicht, dass es unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter das neue Ägypten des Römischen Reiches kein gelobtes Land auf Erden mehr gibt, wohin Juden auswandern könnten, um dort getrennt von den Völkern eine Disziplin der Freiheit zu verwirklichen, wie sie die Tora vorschreibt. <100>
Schauen wir nun Jankowskis Auslegung von Römer 3,19-20 genauer an. Das abschließende Zitat aus Psalm 143,2 (LXX: 142,2): „aus Thorawerken wird nicht wahr alles Fleisch vor ihm“ hat Paulus etwas abgeändert:
Bezeichnenderweise fügt Paulus in das Zitat das Wort Fleisch, sarx, anstelle von allwer lebt, pas zōn, ein. Das Wort kann u.a. eine Menschheit meinen, die durch Inhumanität bestimmt ist. Wir lassen es hier bei dieser kurzen Bestimmung, kommen aber noch ausführlicher an anderer Stelle auf den Begriff zurück.
Da Paulus nach Jankowski „hier zu Juden“ redet, „die Thora hören und tun sollen“, hat diese „auch das letzte Wort in diesem Gedankengang.“ Der Grund dafür ist in Jankowskis Augen (J89), dass sie „nicht nur Besitz Israels“ ist und „so einen Vorzug“ begründet, sondern: „Durch sie ist zu erkennen, was Sünde ist.“
Während Wolter an dieser Stelle nicht konkret fragt, inwiefern dia nomou {durch die Tora} erkannt werden kann, was unter „Sünde, hamartia“, zu verstehen ist, beschäftigt sich Jankowski sehr eingehend mit diesem Begriff, der in „den Kapiteln 6-7 … 36mal“ vorkommen wird, „von insgesamt 47 Stellen im ganzen Brief.“ Zunächst erinnert er an Martin Luther, der
im ersten Satz seiner Vorlesung betont festgestellt [hat], daß es das Ziel des Briefes ist, „die Sünde einzupflanzen, zu begründen und groß zu machen“. Weil er sich mit dem Sündenbegriff seiner Zeit herumquälte, wurde ihm die Behandlung dieses Themas im Römerbrief zur großen Befreiung. Das Ergebnis seiner Lektüre war die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade. Aus dieser befreienden Formel wurde im Laufe der Theologiegeschichte mehr oder weniger ein Leer-Satz. Luthers Kampf ging u.a. gegen einen Sittenkodex, in dem vor allem Sexualität und bestimmte Rechte des einzelnen, darunter an erster Stelle das Eigentum, sanktioniert wurden. Der Verstoß gegen die festgelegten Normen war Sünde und wurde mit einem immer mehr ausufernden Bußkatalog geahndet. Das alles hatte recht wenig mit dem biblischen Sündenbegriff zu tun. Luther hat das erkannt und versucht, den biblischen Sündenbegriff wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Aber was konkret meint „die Bibel mit Sünde“? Es muss sich um etwas handeln, das „zumindest in der Schrift überaus vielschichtig“ ist, denn die Septuaginta übersetzt mit hamartia „mehr als 10 hebräische Wurzeln“ und ihre abgeleiteten Formen:
Die verschiedenen hebräischen Wurzeln haben die Bedeutung Fehler, Verfehlung, Falschheit, Abirrung, Vergehen, Auflehnung, Verrohung. Die am häufigsten verwendete Wurzel chatˀa ist am besten mit den Punkt, das Ziel verfehlen zu übersetzen. Auch das griechische Verb hamartanein hat diese Bedeutung. Es bot sich den Übersetzern der LXX von daher als Übersetzung an.
Es versteht sich aber von selbst, dass „die Verwendung eines einzigen Verbs/Nomens zur Übersetzung eines ganzen Wortfeldes auch zu einer Engführung“ führte. Das geschah ebenso im Lateinischen mit dem Wort „peccare/peccatum als Übersetzung für das breite biblische Wortfeld“, und auch
im Deutschen ist die Engführung durch Sünde/sündigen ebenfalls gegeben. Bemerkenswert ist aber, daß unser Wort Sünde von seinem Wortstamm her einer der Hauptbedeutungen im Hebräischen sehr nahe kommt. Sünde hängt zusammen mit sondern im Sinn von sich absondern, aussondern, trennen, sich trennen.
Das schwierige Problem, „im Deutschen eine adäquate Übersetzung zu finden“, könnte „wie im Hebräischen“ so gelöst werden, dass man „an jeder einzelnen Stelle“ bestimmt, welches von „einer ganzen Anzahl von Worten“ zu verwenden ist. Leider ist (J89f.) „das Wort Sünde nicht nur theologisch, sondern auch im allgemeinen Sprachgebrauch“ so sehr befrachtet, dass es „in seiner Gewichtigkeit geradezu erschlagen“ kann, aber „gerade in seiner Antiquiertheit zu einem nichtssagenden Begriff“ wird. Daher wird er in seiner späteren Übersetzung (G14) ganz auf das Wort „Sünde“ verzichten und hamartia stattdessen mit „Verfehlung“ wiedergeben. In seiner Auslegung hält Jankowski (J90) zwar noch an dem Wort fest, aber nicht ohne es durch „erklärende Nebensätze“ zu erläutern (J90):
Wir sagen also Sünde und wissen: es geht um Absonderung und Trennung, Abirrung und Verfehlung von dem Weg, der zu gehen ist. Damit der Weg in die gute Richtung führt, gibt es die Weisung für den Weg. Das ist die Thora. Sie ist zu hören und zu tun. Wird sie nicht getan, geht der Weg in die falsche Richtung. Alle, die in die falsche Richtung gehen, gehen fehl, sondern sich ab, irren ab. Sie sündigen. Die Thora ist die Möglichkeit, den Weg nicht zu verfehlen, nicht zu sündigen.
Was bedeutet aber nun für Jankowski die Einsicht des Paulus, die er in Römer 1,18 bis 3,20 ausgebreitet hat?
Alle sind unter Sünde, Juden und Nichtjuden, die ganze Menschheit also. Bedeutet das, daß die Menschheit der Sünde schicksalhaft geradezu ausgeliefert ist? Auf keinen Fall. Es ist eine Feststellung, daß Juden auf ihre Art und Weise fehlgingen und fehlgehen, auf vielfältige Weise die Weisung nicht befolgten und so sündigten und daß auch Nichtjuden auf ihre Art und Weise auf dem falschen Weg sind, sündigen. Weder die einen mit der Thora noch die anderen ohne Thora haben sich bewährt. Die Thora, gegeben, damit Leben ermöglicht wird, führt nur dazu, daß erkannt wird: Alle sind Sünder, gehen den verkehrten Weg.
Es ist nach Jankowski von großer Bedeutung, dass Paulus diese Erkenntnis genau denen gegenüber äußert, die für sie zutiefst „erschreckend“ sein muss, nämlich den Juden gegenüber:
Daß die nichtjüdische Welt verloren ist, weil sie voller Verrohung und Verluderung ist, da sie ohne Thora lebt, das galt allgemein. Daß aber auch Juden grundsätzlich verloren sind, weil auch sie sündigen, ist so kaum ausgesprochen worden. Denn da war die Thora. Sie war zu tun. Wer sie nicht einhielt, hatte immer die Möglichkeit, umzukehren von seinem falschen Weg, um sie wieder zu tun. Dagegen die Feststellung des Paulus: Thora wird nicht getan, sie kann gar nicht getan werden. Sie bringt nur zu der Erkenntnis, daß jeder und jede sündigt, also Thora nicht tut. Für einen Juden ist das eine äußerst pessimistische Sicht.
Andere haben zur Zeit des Paulus sicher ein ähnlich pessimistisches Urteil über „die Verhältnisse“ gefällt, „in denen Juden und Nichtjuden zu leben haben“. Aber sie schlugen Lösungen vor „für eine Veränderung der Zustände, so daß wieder gelebt werden konnte, wie es sich für Menschen gehört“, zum Beispiel: „Wir müssen autonom leben können, gemäß unserer Thora; was uns daran hindert, muß vernichtet werden.“ Eine solche Lösung „schließt den nichtjüdischen Teil der Menschheit aus“, und das kann „nicht die Perspektive des Paulus“ sein.
Paulus (J90f.) hat einen anderen „Lösungsvorschlag“, der „nicht gegen die Gojim durchzusetzen“, sondern „mit ihnen zusammen zu gestalten“ ist. Nach Jankowski (J91) handelt es sich dabei um „eine messianische Vision“, die „er jetzt entwickeln und begründen“ wird.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 2,12 – 3,20
2,12 Denn so viele ohne die Tora fehlgegangen sind,
werden auch ohne die Tora zugrunde gehen,
und so viele in der Tora fehlgegangen sind,
werden durch die Tora verurteilt werden.
2,13 Denn nicht die Hörer der Tora sind bewährt bei Gott,
sondern die Täter der Tora werden zu Bewährten gemacht werden.
2,14 Denn wenn Gojim, die die Tora nicht haben,
von Natur aus das von der Tora Geforderte tun,
sind diese, die die Tora nicht haben, sich selbst Tora.
2,15 Sie zeigen, dass das Werk der Tora in ihre Herzen geschrieben ist,
indem ihr Gewissen mit Zeugnis gibt
und ihre Gedanken sich wechselseitig anklagen oder auch verteidigen,
2,16 an dem Tag, wenn Gott das Verborgene der Menschen richtet
nach meiner befreienden Botschaft durch den Messias Jesus.
2,17 Wenn du dich aber Jude nennst
und dich auf die Tora stützt
und dich Gottes rühmst
2,18 und den Willen kennst
und prüfst, was das Entscheidende ist, unterwiesen aus der Tora,
2,19 und traust dir zu, ein Führer von Blinden zu sein,
ein Licht derer in Finsternis,
2,20 ein Erzieher von Unverständigen,
ein Lehrer von Unmündigen,
und hast die Verkörperung der Erkenntnis und der Wahrheit in der Tora,
2,21 der du nun einen anderen lehrst, dich selbst lehrst du nicht?
der du verkündest: nicht stehlen, du stiehlst?
2,22 der du sagst: nicht die Ehe brechen, du brichst die Ehe?
der du die Götzenbilder verabscheust, du plünderst Tempel?
2,23 der du dich der Tora rühmst, du entehrst Gott durch die Übertretung der Tora?
2,24 Denn: der Name Gottes, euretwegen wird er gelästert unter den Gojim,
wie geschrieben ist.
2,25 Denn Beschneidung ist wohl von Nutzen,
wenn du die Tora tust.
Wenn du aber ein Übertreter der Tora bist,
ist deine Beschneidung zur Vorhaut geworden.
2,26 Wenn nun die Vorhaut die Rechtsforderungen der Tora beachtet,
wird seine Vorhaut nicht als Beschneidung anerkannt?
2,27 Und verurteilen wird die von Natur aus vorhandene Vorhaut,
die die Tora zum Ziel bringt,
dich, der du durch Geschriebenes und Beschneidung
ein Übertreter der Tora bist.
2,28 Denn nicht der ist Jude, der es sichtbar ist,
noch ist das, was am Fleisch sichtbar ist, Beschneidung,
2,29 sondern der ist Jude, der es im Verborgenen ist,
und Beschneidung (geschieht) am Herzen durch Inspiration,
nicht durch Geschriebenes.
Dessen Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.
3,1 Was ist nun der Vorzug des Juden,
oder was ist der Nutzen der Beschneidung?
3,2 Viel in jeder Hinsicht.
Denn erstens sind ihnen die Worte Gottes anvertraut worden.
3,3 Was denn?
Wenn welche untreu geworden sind,
wird etwa ihre Untreue die Treue Gottes aufheben?
3,4 Das geschehe nicht!
Es sei aber Gott wahrhaftig,
jeder Mensch aber ein Lügner,
wie geschrieben ist:
Damit du wahr gemacht wirst in deinen Worten
und siegen wirst, wenn du gerichtet wirst.
3,5 Wenn aber unser Unrechttun Gottes wahr machendes Handeln hervorhebt,
was sollen wir sagen?
Ist Gott etwa ungerecht, wenn er den Zorn verhängt?
Ich rede in menschlicher Weise.
3,6 Das geschehe nicht!
Wie denn sonst wird Gott die Weltordnung richten?
3,7 Wenn aber die Wahrhaftigkeit Gottes durch meine Lüge
immer mehr zugenommen hat zu seiner Ehre,
warum werde ich dann noch als einer, der fehlgeht, gerichtet?
3,8 Und (ist es) etwa (so),
wie wir verleumdet werden und wie manche behaupten,
dass wir sagen:
‚Lasst uns das Böse tun, damit das Gute kommt‘?
Deren Verurteilung erfolgt zurecht.
3,9 Was nun? Haben wir etwas voraus? Keinesfalls!
Denn wir haben zuvor die Anklage erhoben,
dass sowohl Juden als auch Griechen alle dem Fehlgehen unterworfen sind,
3,10 wie geschrieben ist:
Da ist kein Bewährter, auch nicht einer.
3,11 Da ist keiner, der versteht,
da ist keiner, der nach Gott fragt.
3,12 Alle sind abgewichen,
korrupt sind sie allesamt.
Da ist keiner, der Güte übt,
nicht einmal ein einziger.
3,13 Ein geöffnetes Grab ist ihr Schlund,
mit ihren Zungen haben sie betrogen.
Schlangengift ist unter ihren Lippen.
3,14 Ihr Mund ist voll von Fluch und Bitterkeit.
3,15 Schnell sind ihre Füße, Blut zu vergießen.
3,16 Verwüstung und Elend sind auf ihren Wegen,
3,17 und den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt.
3,18 Es ist keine Gottesfurcht vor ihren Augen,
3,19 Wir wissen aber:
Alles, was die Tora sagt,
spricht sie zu denen in der Tora,
damit jeder Mund verschlossen sei
und die ganze Weltordnung vor Gott schuldig dasteht.
3,20 Darum: aus Werken der Tora wird nicht wahr alles Fleisch vor ihm,
denn durch die Tora erfolgt Erkenntnis der Verfehlung.
↑ Die Vision einer „aus“ und „durch“ Vertrauen auf den Messias Jesus zurechtgebrachten Menschheit (Römer 3,21-31)
[21. Januar 2025] Nach Gerhard Jankowski (J91) wäre es „nicht zum Aushalten“, wenn die langen Ausführungen des Paulus von Römer 1,18 an einfach nur auf den Satz Römer 3,20a hinauslaufen würden, „daß nicht wahr wird alles Fleisch vor ihm (3,20)“, dass also kein Mensch, weder Jude noch Goj, als dikaios, gerecht, rechtschaffen, bzw. als dikaioumenos, gerechtfertigt, wahr gemacht, zurechtgebracht angesehen werden dürfte. Die Folgen malt Jankowski folgendermaßen aus (J91f.):
Wahre Menschheit wäre nichts als ein Trug. Unmenschlichkeit, Willkür würden herrschen auf immer, wenn die menschenverachtende Ordnung der Welt sich durchsetzen sollte und bliebe auf ewig. Unerträglich ist auch der Gedanke, daß die Thora nicht das Angebot wäre, Leben zu gestalten. Das Projekt befreite Menschheit, dargelegt in der Schrift, wieder und wieder erprobt im Volk Israel, wäre gescheitert. Das aber ist undenkbar. Weil das undenkbar ist, bietet Paulus nun eine überraschende Lösung.
Diese Lösung entfaltet Jankowski in seiner Auslegung von Römer 3,21-31 unter der Überschrift „Die messianische Vision“ in zwei Abschnitten:
Mit dem Stichwort „Jom Kippur“ legt er zu den Versen 21-26 dar (J96), wie durch das „Blut des Messias“ nicht nur „die Sünden des Volkes Israel“, sondern „auch die Sünden der Gojim“ bedeckt werden; ein Versöhnungstag kann gefeiert werden, bei dem „die Gojim, die sonst von ihm ausgeschlossen sind, neben den Juden“ stehen, als „Bundesgenossen in dem erneuerten Bund“.
Im Abschnitt „Menschheit wahr gemacht“ (3,27-31) geht es Paulus (J98f.) „um eine geeinte Menschheit aus Juden und Nichtjuden“, deren „unaufhebbare Verschiedenheit“, wie Jankowski mit F.-W. Marquardt <101> sagt, aber nicht völlig eingeebnet wird.
Von eben dieser Einebnung aller Unterschiede zwischen Juden und Heiden geht nach wie vor Michael Wolter aus (W240), indem er für die „Wiederaufnahme der Leitwörter dikaiosynē theou {Gerechtigkeit Gottes} und pistis {Glaube}“ in Römer 3,21-31 davon ausgeht, „dass der Glaube den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden theologisch bedeutungslos macht“.
Was Jankowski im Blick auf diese Verse als messianische Vision beschreibt, nennt Wolter mit traditionell christlichen Formulierungen
einen christologischen Bezug …: Der Glaube richtet sich auf das Geschehen, das Paulus mit den soteriologischen Chiffren „Jesus Christus“ (3,22) oder „durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (3,24) oder „durch unseren Herrn Jesus Christus“ (5,1.11; s. auch V. 9.11.17.18.19.21) umschreibt. Er greift damit über 1,16-17 hinweg auf den christologischen Inhalt seines Evangeliums in 1,3-4 zurück. Ihn hatte er in seine apostolische Selbstvorstellung 1,1-6 eingebettet und von dort aus über die Stichworte „Evangelium“ (V. 1) und „Glaube“ (V. 5) mit 1,16-17 verbunden. In dem ab 3,21 folgenden Briefteil steht diese christologische Grundlage des Heils vor allem in 3,21-26 sowie in 5,1-21 im Vordergrund.
Das heißt: Für Wolter gehört alles, was Paulus von Römer 3,21 – 5,21 schreibt, unter der Überschrift „Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes durch Jesus Christus“ zusammen, wobei (W241) die eben genannten christologischen Abschnitte 3,21-26 und 5,1-21 „die paulinische Darstellung der Eigenart von Gottes Rechtfertigungshandeln in 3,27 – 4,25 … in die Mitte“ nehmen. Was Paulus im Abschnitt „Das ‚Gesetz‘ des Glaubens“ (3,27-31) kurz und bündig thematisch anreißt, konkretisiert er also, indem er in Kapitel 4 eingehend die „Rechtfertigung Abrahams“ betrachtet. Obwohl dieser Zusammenhang eindeutig besteht, werde ich der Beschäftigung mit (J101) dem „Midrasch“ der „Verheißung an Abraham“, wie Jankowski formuliert, ein eigenes Kapitel widmen.
Den Abschnitt Römer 3,21-26 hat Paulus nach Wolter (W243) „als Ringkomposition gestaltet“, bei dem er in einem „äußeren Rahmen“ (V. 21-22a und V. 26b-c) die Gerechterklärung derjenigen durch Gott beschreibt, „die an Jesus Christus glauben“, während ein „innerer Rahmen“ (V. 22b-23 und V. 25c-26a) auf die „inzwischen zur Vergangenheit“ gewordene Situation der Sünde zurückblickt. Mittendrin (V. 24-25b) wird „der Christus-Glaube“ erklärt, dessen „Inhalt … darin besteht, dass Gott Jesu Tod zu einem hilastērion {Gnadenort} erklärt hat, das die Sünden der Glaubenden kompensiert.“
Im Abschnitt Römer 3,27-31 wird Paulus (W266) „den dialogischen Stil“ aus Kapitel 2 und 3,1-9 wieder aufnehmen, indem er „sechs rhetorische Fragen“ stellt, wobei es Wolter zufolge wieder „Paulus selbst“ ist, „der sich diese Fragen vorlegt“. Thematisch geht es nochmals (W267) um den „auf seine jüdische Identität stolzen Juden“, der sich „Gottes und des Gesetzes ‚rühmt‘ (kauchasthai).“ Beide „Gegenstände des Rühmens“ greift Paulus aus 2,17 (Gott) und 2,23 (Gesetz) hier wieder auf:
Diese beiden Themen verleihen Röm 3,27-31 eine deutlich erkennbare konzentrische Struktur: erst „Gesetz“ (V. 27c-28), dann „Gott“ (V. 29-30) und dann wieder „Gesetz“ (V. 31). Zusammengehalten werden alle drei Teile durch die fünfmalige Rede vom „Glauben“ (V. 27d.28.30b[2 mal].31a).
↑ Römer 3,21-22a: Die außerhalb der Tora offengelegte Bewährtheit Gottes durch die Treue des Messias für alle, die vertrauen
3,21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes
die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart,
bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.
3,22a Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott,
die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus
zu allen, die glauben.
[23. Januar 2025] An den verschiedenen Übersetzungen der beiden ersten Zeilen von Römer 3,21 ist bereits erkennbar, wie unterschiedlich dieser Vers verstanden werden kann. dikaiosynē theou, in der Lutherbibel mit „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, umschrieben, gibt Wolter (W242) mit „Gottes Gerechtigkeit“ wieder, während Jankowski mit (J91) „Bewährtheit Gottes“ bzw. (G14) „worin sich Gott bewährt“ den hebräisch-jüdischen Hintergrund des Wortes abzubilden versucht.
Auch der Ausdruck chōris nomou ist von Luther in erweiterter Form übersetzt: „ohne Zutun des Gesetzes“, von Wolter (W242) einfach mit „ohne Gesetz“ und von Jankowski mit (J91) „außerhalb von Thora“ bzw. (G14) „ohne die Tora“.
Nach Michael Wolter (W246) soll das „betont vorangestellte nyni de {jetzt aber} in V. 21a … die Einführung eines neuen Gesichtspunktes“ vorbereiten:
Mit seiner Hilfe überwindet Paulus die in 3,20a festgestellte Unmöglichkeit einer Rechtfertigung „aus Werken des Gesetzes“, indem er Gesetz und die Offenbarung von Gottes Gerechtigkeit voneinander trennt und die pistis Iēsou Christou {den Glauben an Jesus Christus} zur Grundlage der Rechtfertigung macht (V. 22a).
Zwar markiert das nyni de nach Wolter nicht ganz allgemein „einen Epocheneinschnitt“, der von der bisher beschriebenen Situation der Sünde eine „mit dem Tod Jesu angebrochene gegenwärtige Heilszeit“ abgrenzt, denn nur „für alle Menschen, die durch eine Bekehrung zur pistis Iēsou Christou {zum Christus-Glauben} gekommen sind“, werden „die in 1,18 – 3,20 beschriebenen Verhältnisse zur Vergangenheit.“ Ein Einschnitt besteht ihm zufolge allerdings doch insofern, als vor dem „in V. 24-25 beschriebene[n] Handeln Gottes … eine Rechtfertigung von Menschen durch pistis Iēsou Christou schlechterdings nicht möglich gewesen sein kann.“
Die Worte chōris nomou … pephanerōtai {ist ohne Gesetz Gottes … in Erscheinung getreten} besagen, dass „Werke, die in Befolgung der Tora getan werden, …für die Manifestation von Gottes Gerechtigkeit keine Rolle gespielt“ haben.
Nun zu dikaiosynē theou: hier spricht Paulus nach Wolter (W247), anders als es die Lutherübersetzung voraussetzt, „noch nicht von der Gerechtigkeit, die Gott den Menschen aufgrund ihres Christus-Glaubens zueignet; von der wird erst in V. 24 die Rede sein.“ Stattdessen ist „wie in Röm 1,17a und Ps 97,2LXX“ von „Gottes Eigenschaft“ die Rede, „die Gott durch sein Handeln Ereignis werden lässt.“
Die Formulierung in Vers 21b (W242) „bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“ versteht Wolter so (W247), dass Paulus einen „literarischen Zitationsbegriff“ verwendet, „um einen Schriftbeweis anzudeuten“. Er will mit dem Stichwort martyroumenē {bezeugt} also nicht das
in der Gegenwart erfolgte Heilshandeln Gottes … als bereits in den heiligen Schriften Israels angekündigt kennzeichnen, sondern es liefert eine Näherbestimmung von Gottes Gerechtigkeit: Auch die heiligen Schriften Israels legen schon davon Zeugnis ab, dass es zum Wesen der Gerechtigkeit Gottes gehört, „ohne Gesetz“ zutage zu treten.
In Vers 22a wiederholt Paulus (W248) „dikaiosynē theou zusammen mit der Konjunktion de {aber}“, um diesen Begriff „durch die beiden Präpositionalphrasen dia pisteōs Iēsou Christou {durch den Glauben an Jesus Christus} und eis pantas tous pisteuontas {für alle, die glauben}“ näher zu erläutern.
Zur zweiten dieser Formulierungen verweist Wolter nur kurz darauf (W250f.), dass sie die Glaubenden bezeichnet, „für die das ln-Erscheinung-Treten der Gerechtigkeit Gottes zu einem Heilsgeschehen wird“; damit ist „die dikaiosynē theou … ein Handeln Gottes …, das den Glaubenden Heil bringt.“
Viel ausführlicher geht Wolter (W249) auf „die dia-pisteōs-Formulierung“ ein, für die er eine instrumentale Übersetzung für möglich hält, also „durch das Mittel des Glaubens“, aber es ergibt auch „die modale Interpretation einen guten Sinn“, in der es darum geht, die Art und Weise von etwas auszudrücken, insofern „Paulus mit ihrer Hilfe“ signalisiert, „dass es um die Gerechtigkeit Gottes geht, wie sie die pistis Christou versteht.“
Aber wie ist dieser Ausdruck pistis Christou genau zu begreifen und zu übersetzen?
Kategorisch wehrt sich Wolter gegen die
vor allem unter nordamerikanischen Exegeten verbreitete Interpretation des Ausdrucks pistis (Iēsou) Christou (Röm 3,22a.26; Gal 2,16; 3,22; Phil 3,9; s. auch Gal 2,20; Eph 3,12) als genitivus subjectivus im Sinne von „Treue Christi“ bzw. ‚faithfulness“ oder „fidelity of Christ“ <102> …
Diese Einschätzung beruht nach Wolter „auf einem Denkfehler“ (W249f.):
Wenn sie Jesu Leiden und Tod als „loving act of faithfulness (pistis)“ des Sohnes gegenüber dem Vater verstehen [Hays 275] und dann von „unserem Glauben“ sagen, dass er Jesu Treue „beantwortet und reflektiert {our faith answers and reflects his}“ [Hays 297], dann übersehen sie etwas sehr Wesentliches: Nach paulinischem Verständnis kann es nämlich einzig und allein der Christus-Glaube der Christen sein, der diesen Charakter von Jesu Leiden und Sterben feststellt. Eben dadurch wird er zur pistis Christou.
Wenn ich Wolter richtig verstehe, geht er also davon aus (W250), dass für Paulus die Treue Jesu nicht etwa „eine Wirklichkeit an sich“ darstellt, sondern dass es erst „die Wirklichkeitsgewissheit der pistis Iēsou Christou der Glaubenden“ ist, die das
Geschick Jesu … als Tat des „Gehorsams“ Jesu deutet. Nur der Glaube ‚an Christus‘ kann in Jesu Leiden und Sterben einen Akt des Gehorsams erkennen, und hierdurch gewinnt er sein Wesen als pistis Christou.
Trotzdem will Wolter „nicht automatisch… pistis Christou“ als „genitivus objectivus“ verstehen, also mit „Glaube an Christus“ übersetzen,
denn ‚Glaube an Christus‘ im Sinne von Gal 2,16; Phil 1,29; Phlm 5 bedeutet für sich genommen erst einmal noch nichts.
Vielmehr muss der Ausdruck „inhaltlich gefüllt werden“,nämlich im Sinne einer „Umschreibung für das vom Glauben als Gottes Heilshandeln gedeutete Christusgeschehen.“ Angemessen ist es ihm zufolge daher, den hier vorliegenden
Genitiv als genitivus qualitatis zu interpretieren: Er bringt zum Ausdruck, dass der Glaube der Glaubenden in exklusiver Weise durch seine Ausrichtung auf Jesus Christus bestimmt ist. Eine Übersetzung mit „Christus-Glaube“<103> oder auch einfach nur „christlicher Glaube“ wird der paulinischen Verwendung von pistis Christou darum am ehesten gerecht.
Mit pistis Christou meint Paulus also den Glauben, der im Christusgeschehen das Handeln Gottes zum Heil der Menschen erkennt.
Angesichts dieses Jonglierens mit verschiedenen Interpretationen des paulinischen Genitivgebrauchs und der reichlich modern anmutenden Unterstellung, Paulus verstehe pistis im Sinne eines Glaubens, der das Christusgeschehen erst als Gottes Handeln deutet, bilden sich mir Knoten im Hirn. Natürlich macht Paulus das, aber indem er das macht, geht er doch selbstverständlich davon aus, dass die Treue des Messias Jesus, durch die der treue Gott Israels selbst handelt, nicht erst dadurch entsteht, dass Menschen an ihn glauben. Viel zu abstrakt ist dieses Glaubensverständnis, gemessen am jüdischen Hintergrund des Paulus, und es scheint auf ein schlichtes Fürwahrhalten bestimmter Glaubenstatsachen, die mit Jesus zusammenhängen, hinauszulaufen.
Demgegenüber betrachtet Gerhard Jankowski, wie bereits gesagt (J91f.), die Verse Römer 3,21-22a vor dem Hintergrund der Frage, ob nicht das „Projekt befreite Menschheit, dargelegt in der Schrift, wieder und wieder erprobt im Volk Israel“, endgültig gescheitert wäre (J92), „wenn der Satz Gültigkeit haben sollte, daß nicht wahr wird alles Fleisch (3,20)“ vor Gott. Würden dann nicht „Unmenschlichkeit, Willkür … herrschen auf immer“?
Die „überraschende Lösung“, die Paulus nach Jankowski anbietet, besteht darin, „daß die Bewährtheit Gottes offenkundig geworden ist außerhalb von Thora, chōris nomou.“ Obwohl Jankowski auch die Übersetzung „ohne für chōris“ für möglich hält (und in G14 auch selber zu ihr zurückkehren wird), scheint ihm damit
an dieser Stelle eine theologische Interpretation mit starker antinomistischer {gegen die Tora gerichtet} bzw. antijudaistischer Intention vorzuliegen. Danach hat die Gerechtigkeit Gottes, die da offenbart ist, nichts mehr mit der Thora zu tun. Die Übersetzung ohne macht dann einen Sinn, auch wenn sie dem folgenden bezeugt von der Thora widerspricht.
Jankowski geht es also darum, Paulus nicht einfach zu unterstellen, er hätte längst Abschied vom Judentum und seiner durch Christus überholten Tora Abschied genommen. Der vom Messias des Gottes Israels Gesandte leidet daran, dass alle Menschen dem Zorn Gottes ausgeliefert sein sollen, und zwar nicht nur die Gojim, denen die Tora nicht anvertraut worden war, sondern auch die Juden, denen es unter den Bedingungen der gegenwärtigen Weltzeit der Versklavung unter eine unmenschliche Weltordnung nicht mehr möglich ist, die Tora einzuhalten:
Es geht Paulus nicht um die Bewährtheit, die derjenige erlangen kann, der die Thora einhält. Offenbart ist die Bewährtheit Gottes. Die unterliegt keinen Bedingungen. Es liegt ganz in der Souveränität Gottes, jemanden wahr zu sprechen und so als wahren Menschen anzuerkennen. Das kann über die Thora gehen, nachdem sie gegeben ist. Es braucht aber nicht über die Thora zu gehen. Auch außerhalb des Geltungsbereiches der Thora können Menschen wahr gemacht werden von Gott. Das ist keine Erfindung des Paulus. Für ihn wird das bezeugt von der Thora und den Propheten, d.h. von der Schrift.
Einen konkreten Schriftbeweis führt Paulus hier noch nicht; offenbar ist ihm die „ganze Schrift … ein einziges Zeugnis dafür, daß der Gott Israels nicht von seinem befreienden Programm läßt und sich darin bewährt, treu zu seinen Zusagen zu stehen.“ Im folgenden Kapitel wird er Abraham als Zeugen benennen, der „nach der augenscheinlichen Katastrophe der Menschheit“, die in der Urgeschichte des ersten Buches der Bibel beschrieben wird, „das Programm“ der Befreiung „unter die Völker tragen soll“. Später wird Gott „nach einer erneuten Katastrophe in Bewährtheit an seinem Volk“ festhalten; die von Jankowski dazu angeführte Belegstelle Jesaja 42,6 betont, dass der von Gott berufene Gottesknecht sowohl den Bund für das Volk Israel bestätigen als auch ein Licht für die Völker sein soll. So verspricht er schließlich
sein Volk aus der Mitte der Gojim zu befreien, so daß seine Bewährtheit selbst an dem zerstörten Jerusalem erkennbar werden soll (Jes 62,1ff.). All das geschieht außerhalb und ohne Thora, ist nicht an sie gebunden. Und es geschieht auch dann, wenn das Volk Israel die Thora nicht beachtete und so nach der Meinung der Propheten die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und der Verschleppung seiner Bewohner verdient hatte.
Woran diese außerhalb und ohne Tora geschehenden Bewährtheit Gottes gebunden ist, erklärt Paulus Jankowski zufolge in Vers 22a (J92f.):
„Die Bewährtheit Gottes freilich …“ Also nun doch eine Bedingung? Es ist eher eine Erklärung als eine Bedingung: „durch die Treue des Messias auf alle die Vertrauenden hin.“ Zunächst ist das Ziel zu sehen. Und das ist: Die Bewährtheit kommt allen Vertrauenden zugute, anders gesagt, sie kommt denen zugute, die auf die Treue Gottes mit Treue antworten, ihm zutrauen, daß sie zu wahren Menschen werden können. Alle heißt es hier, und wir müssen mithören: alle, Juden und Nichtjuden.
Für Jankowski steht also außer Frage, dass pistis Christou als die „Treue des Messias“ zu interpretieren ist, und kommt gar nicht auf die Idee wie Wolter (W249, Anm. 36), Paulus könne meinen, es sei erst der christliche Glaube, der „die Jesusgeschichte … als Handeln Gottes zum Heil der Menschen deutet“. Vielmehr steht nach Jankowski (J93) zwischen den Juden und den Gojim vermittelnd und versöhnend
die Treue des Messias Jesus. Der bezeugt die Bewährtheit Gottes leibhaftig. Er ist es, der den Willen Gottes getreu erfüllt – das ist die Aufgabe des Messias. Und er verkörpert das befreiende Programm Gottes. Er führt es getreu aus für alle, die darauf vertrauen, für Juden und Gojim. Es ist eine messianische Lösung, die Paulus darlegt. Die kann für ihn nicht mehr partikular allein auf lsrael bezogen sein. Sie ist ausgeweitet auf die Gojim, die anderen Völker.
Wir sehen, wie grundlegend verschieden die Zielsetzung des Paulus nach Wolter bzw. nach Jankowski aussieht: Dort der Abschied vom Judentum in der Verkündigung eines neuen christlichen Glaubens. Hier die Einbeziehung aller Völker in die befreienden Verheißungen an das zuerst von Gott erwählte Volk Israel.
↑ Römer 3,22b-24: Unverdient werden Juden und Gojim wahr durch die Auslösung aus ihrer Verfehlung im Messias Jesus
3,22b Denn es ist hier kein Unterschied:
3,23 Sie sind allesamt Sünder
und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen,
3,24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade
durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
[25. Januar 2025] Wie auch immer pistis Christou gedeutet wird, ob als christlicher Glaube oder als Hinwendung von Israels Messias auch zu den Völkern, betont Michael Wolter zu Recht (W251): „Bei ‚für alle‘ am Ende von 3,22a soll mitgehört werden : ‚Juden und Heiden gleichermaßen‘.“ Das wird in Vers 22b sogleich bestätigt, woraus Wolter Schlussfolgerungen in der Richtung seiner Auslegungsabsicht zieht:
Der „Unterschied“, den Paulus für nicht existent erklärt, ist der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden. In Röm 10,12 wird Paulus die Feststellung wiederholen und dabei ausdrücklich mit diesem Bezug versehen: „ou gar estin diastolē {es ist kein Unterschied} zwischen einem Juden und einem Griechen, denn er ist der Herr aller“. Dasselbe semantische {bedeutungsmäßige} Profil weist auch das pantes (hēmarton) {alle (haben gesündigt)} von V. 23a auf. Das geht auch aus der Nähe zu Röm 3,9d („… dass Juden und Griechen alle unter der Sünde sind“) hervor. … Weil alle Menschen aufgrund ihres Tuns Sünder sind, kann das Heil Gottes nur aus Glauben und für die Glaubenden Wirklichkeit werden. Paulus gibt in diesen anderthalb Versen nicht weniger als eine kompakte Zusammenfassung von 1,16 – 3,20.
Indem Paulus in Vers 23a nicht mehr wie in 3,9 „von der Sünde aller … im Präsens“ redet, sondern „wie in 2,12 (2mal) und 5,12 den komplexiven Aorist hēmarton {haben gesündigt}“ verwendet, also eine Verbform, die sich auf wiederholte Handlungen in ihrer Abgeschlossenheit bezieht, will Paulus nach Wolter eine Verschiebung seines Blickwinkels erkennen lassen (W251f.):
Für einen Teil der „Juden und Griechen“, von denen in 3,9 die Rede war, ist die dort beschriebene Existenz inzwischen Vergangenheit: Das sind „alle Glaubenden“ aus V. 22a, und die sind natürlich dieselben, die Paulus in V. 24a dikaioumenoi dōrean {geschenkweise gerechtfertigt} nennt. Die pantes von V. 23a sind also nicht mehr alle Menschen. Paulus spricht hier nur noch von den Glaubenden, die auf die Zeit ihres Sündigens zurückblicken. Der Vergangenheitsform hēmarton entspricht darum die Rede von den „Sünden, die vorher geschehen sind“ (progegonota hamartēmata) in V. 25c.
Als (W252) „Unheilsfolge des Sündigens“ benennt Paulus in Vers 23b „den Verlust und die Entfremdung von Gottes ‚Herrlichkeit‘ (doxa)“, was Wolter auf eine „frühjüdische Tradition“ zurückführt, die er mit Zitaten vor allem aus der Apokalypse des Moses, aber auch aus rabbinischen Texten belegt. Für die Entbehrung dieser doxa benutzt Paulus „das Präsens … (hysterountai)“ und drückt damit aus,
dass die Unheilsfolgen des Sündenfalls auch für die Glaubenden (V. 22a) und Gerechtfertigten (V. 24a) noch andauern und auch sie noch unter der Hinfälligkeit des menschlichen Daseins leiden.
Im Unterschied (W253) zu „allen anderen Menschen“ können sie jedoch „auf die Wiederausstattung mit Gottes ‚Herrlichkeit‘ (doxa) hoffen (5,2c)“, wovon Paulus auch in „Texten wie Röm 8,17.18.21.23; 1Kor 15,43; 2Kor 4,17; Phil 3,21; 1Thess 2,12“ spricht. Zur Frage, was eigentlich mit dieser doxa gemeint ist, die Wolter mit „Herrlichkeit“ übersetzt, spricht ihm zufolge „einiges dafür, dass es … um die Ebenbildlichkeit Gottes von Gen 1,27 geht: um ihren Verlust aufgrund von Adams und aller Menschen Sünde … und um ihren eschatischen {endzeitlichen} Wiedergewinn“. Zum Beleg verweist Wolter auf 1. Korinther 11,7 und 2. Korinther 3,18; 4,4.6,, wo Paulus das Wort doxa für eine „Abbildlichkeit“ verwendet, die sich auf Gott, den Mann und die Frau bzw. auf Gott, Christus und die an ihn Glaubenden bezieht.
Wie die beiden Verben in Vers 23 bezieht sich auch das Wort dikaioumenoi {werden gerechtfertigt} in Vers 24 auf
ein und denselben Personenkreis: „alle Glaubenden“ von V. 22a. Um sie geht es auch in V. 24, in dem Paulus weitere Merkmale nennt, die ihre Unterschiedslosigkeit kennzeichnen. Die „Gerechtigkeit Gottes … eis pantas tous pisteuontas {für alle, die glauben}“ (V. 22a) „tritt“ dadurch in der Welt der Menschen „in Erscheinung“ (V. 21a), dass Gott die Glaubenden „rechtfertigt“. Paulus rückt die Gerechtigkeit Gottes und die Rechtfertigung der Glaubenden hier ganz eng aneinander. Trotzdem bleiben sie aber unterschieden und wird die Gerechtigkeit Gottes nicht zu einer ‚Gabe‘: Die „Gerechtigkeit Gottes“ bleibt vielmehr stets Gottes Eigenschaft. ln V. 26 wird Paulus diese Zuordnung von Gottes Gerechtigkeit und Rechtfertigung der Glaubenden noch einmal und mit unmissverständlicher Präzision zum Ausdruck bringen.
Auf welche Weise „das rechtfertigende Handeln Gottes“ geschieht, erläutert Paulus näher durch die „sich gegenseitig“ interpretierenden Ausdrücke dōrean {geschenkweise} und tē autou chariti {aus seiner Gnade} (W254):
Für das mit diesen Begriffen charakterisierte Handeln Gottes gibt es auf Seiten der Begünstigten keinerlei Voraussetzungen, und sie haben dafür auch keinen eigenen Beitrag geleistet. Gott hat in freier Souveränität gehandelt, und hätte er anders gehandelt, hätte er sich dafür gegenüber niemandem verantworten müssen. Auch hier ist darum wichtig, dass charis nicht eine Eigenschaft Gottes bezeichnet, sondern die Eigenart seines Handelns charakterisiert.
Den Ausdruck dia tēs apolytrōseōs {durch die Erlösung} verwendet Paulus nach Wolter „in einem allgemeinen soteriologischen {auf die Erlösung bezogenen} Sinn, um Heil als Befreiung von Unheil zu akzentuieren“, wozu er sich u. a. auf Belegstellen in „Dan 4,34LXX; … Lk 21,28; Röm 8,23; Eph 1,14; 4,30; Hebr 11,35“ beruft. Wegen des Bezugs auf die Sündenthematik in 23a und 25c ist ihm zufolge wahrscheinlich wie in Kolosser 1,14, Epheser 1,7 und Hebräer 9,15 „einfach nur die Befreiung von den Sünden“ gemeint. Damit lehnt er alle Auslegungen ab, die apolytrōsis auf „die Vorstellung vom Loskauf“ zurückführen,
denn Paulus verwendet diese Metapher gänzlich abgelöst von den Bildfeldern des Freikaufs von Sklaven, von Kriegsgefangenen oder von Schuldnern. Ebensowenig will apolytrōseōs auf Israels Herausführung aus Ägypten oder auf seine Befreiung aus dem babylonischen Exil anspielen.
Auch eine „Deutung des Todes Jesu“ liefert Paulus mit dem Wort apolytrōsis nach Wolter nicht (W254f.),
sondern er bezeichnet mit diesem Begriff das Heilsgeschick der Glaubenden in Abgrenzung von ihrer früheren Unheilssituation: Gott hat sie gerecht gemacht und damit von ihren Sünden befreit.
Die Wendung (W255) en Christō Iēsou {in Christus Jesus} am Schluss von Vers 24 bezeichnet dann den Weg, auf dem Gott die Gerechtmachung der Glaubenden bewerkstelligt hat, nämlich durch „Christus Jesus“, wobei Paulus mit dieser „Chiffre“ auf den „Tod Jesu“ Bezug nimmt, der im folgenden Vers 25a „durch en tō autou haimati {in seinem Blut}“ umschrieben wird und „den die pistis Christou {der Christus-Glaube} als Gottes Heilshandeln deutet.“
Für Gerhard Jankowski (J93) sind „die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden offensichtlich“ und „bleiben“ es auch. Trotzdem sind sie, wie Paulus sagt,
aufgehoben im Fehlverhalten von Juden und Gojim. Alle haben gesündigt. Juden haben die Thora nicht erfüllt, Nichtjuden verhöhnten Recht und Gerechtigkeit und verkamen, sich selbst ausgeliefert, in ihren Abirrungen. Und wie es im Sündigen keinen Unterschied gibt, so gibt es ihn auch nicht im Vertrauen. Das eine müßte geahndet werden, das andere ist die Möglichkeit, freizukommen und trotz des Fehlverhaltens wahr zu werden.
Jankowski kommentiert diese Botschaft des Paulus als „nicht gerade logisch“, und dieselbe Unlogik stellt er auch in dem Satz fest, „mit dem Paulus diese unmögliche Möglichkeit in 3,23-24 umschreibt“, denn er ist „grammatisch höchst ungewöhnlich konstruiert“:
Logisch wäre es vom Zorn, also dem Gericht über das Fehlverhalten zu reden. Davon hören wir nichts. Im Gegenteil: Die dem Zorn Ausgelieferten sind die Bewahrheiteten – aus Gnade und ohne Entgelt, also umsonst. Die göttliche Logik rechnet anders als die menschliche. Weder Juden noch Nichtjuden werden verdammt. Sie werden wahr. Und das ist unverdient. Es ist ein Geschenk. Vor allem für die Nichtjuden ist es ein Geschenk. Denn sie haben nichts, womit sie sich diese Gnade des Gottes Israels verdienen könnten, es sei denn, sie würden Juden. Das brauchen sie nicht zu werden. Sie werden wahr, unverdient, durch die Auslösung im Messias Jesus.
Anders als Wolter übersetzt Jankowski das Wort apolytrōsis also mit „Auslösung“, obwohl sich auch für ihn „die sonst übliche Übersetzung Erlösung anbietet“, die ihm „jedoch schon zu sehr christlich-christologisch gefärbt“ ist. Vor allem aber sieht er im Hintergrund nicht nur die von Wolter angegebenen Stellen, sondern auch das vom gleichen Stamm gebildete Verb apolytroun, das in 2. Mose 21,8 für das hebräische Wort padah „im Zusammenhang eines Gebotes über die Sklaverei“ verwendet wird:
Wenn ein Mann seine Tochter als Sklavin verkauft hat, hat er sie auszulösen, falls sie ihrem Besitzer nicht gefällt. Es geht also um einen rechtlichen Akt, bei dem Entgelt zu zahlen ist. Es ist anzunehmen, daß Paulus das Nomen mit Bezug auf dieses Gebot gebraucht.
Zur Begründung nennt Jankowski (J94) „ähnliche Formulierungen“ bei Paulus, „z.B. ihr seid teuer erkauft, werdet nicht Sklaven von Menschen (1. Kor 7,23)“ und weist auf die Briefe an die Epheser und Kolosser hin, in denen „das Wort in Verbindung mit Blut“ vorkommt, „wobei dann Blut als das gezahlte Entgelt bei der Auslösung verstanden ist.“ Die Übersetzung „mit Auslösung“ soll „an die in Ex 21 beschriebene rechtlich verbindliche Auslösung aus einem fremden und abhängigen Verhältnis“ erinnern, zumal „der Schlußsatz der Bestimmung in Ex 21, die Tochter gehe aus umsonst (LXX: dōrean), ohne Entgelt“, genau so formuliert ist wie bei Paulus.
Es liegt auf der Hand, dass Jankowski mit dem Stichwort „Auslösung“ auch stärker auf die gesellschaftlich-sozialen Erscheinungsformen dessen eingeht, was biblisch mit hamartia {Sünde, Verfehlung, Verirrung} ausgedrückt wird. Damit geht einher, dass er auch den Ausdruck en Christō Iēsou {im Messias Jesus} nicht nur als dogmatische Chiffre versteht, sondern sehr konkret auf die Menschen, unter denen diese Auslösung geschieht:
Im Messias Jesus, in der messianischen Gemeinschaft können die aus fremden Verhältnissen umsonst Herausgelösten leben. Sie kommen gleichsam zurück in das Verhältnis, zu dem sie als Befreite gehören. Sie sind nicht mehr versklavt. Der Messias ist es, der sie ausgelöst hat, sie, die Nichtjuden.
↑ Römer 3,25-26: Der Messias als Ort der Bedeckung der Sünden auch der Gojim zum Erweis von Gottes wahr machender Bewährtheit
3,25 Den hat Gott
für den Glauben
hingestellt zur Sühne
in seinem Blut
zum Erweis seiner Gerechtigkeit,
indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden
3,26 in der Zeit der Geduld Gottes,
um nun, in dieser Zeit,
seine Gerechtigkeit zu erweisen,
auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den,
der da ist aus dem Glauben an Jesus.
[26. Januar 2025] Die beiden Verse Römer 3,25-26 sind sowohl von ihrer Grammatik als auch von ihrer Bedeutung her nicht ganz einfach zu durchschauen. Vor allem für die Wörter protithenai, hilastērion und paresis kann ohne eine eingehende Diskussion keine einfache Umschreibung angegeben werden, und grammatikalisch ist zu beachten (W243), dass in Vers 25a „ein von Christō Iēsou (V. 24b) abhängiger Relativsatz“ beginnt, auf dessen Aussage von Vers 25b „bis zum Ende von V. 26 eine Reihe von nicht weniger als acht präpositionalen Ausdrücken“ folgt (die Zeilen 1-4 in Vers 25, die Zeilen 5-8 in Vers 26). Diese Konstruktion sieht, versehen mit Wolters Übersetzungsvorschlägen (W242), folgendermaßen aus:
(0) hon proetheto ho theos hilastērion {den Gott zu einem Gnadenort gemacht hat}
(1) dia tēs pisteōs {durch den Glauben}
(2) en tō autou haimati {in seinem Blut}
(3) eis endeixin tēs dikaiosynēs autou {zum Erweis seiner Gerechtigkeit}
(4) dia tēn paresin tōn progegonotōn hamartēmatōn {um des Erlassens der Sünden willen, die zuvor geschehen sind}
(5) en tē anochē tou theou {aufgrund der Nachsicht Gottes}
(6) pros tēn endeixin tēs dikaiosynēs autou {zu dem Erweis seiner Gerechtigkeit}
(7) en tō nyn kairō {in der jetzigen Zeit}
(8) eis to einai auton dikaion kai dikaiounta ton ek pisteōs Iēsou {dass er gerecht ist und den rechtfertigt, der aus Glauben an Jesus (ist)}.
Was ich hier mit fetter Schrift und Unterstreichungen hervorgehoben habe, soll die grammatikalischen Zusammenhänge verdeutlichen, auf die Wolter (W244) hinweist. Die vier unterstrichenen Ausdrücke (1), (2), (5) und (7) beziehen sich „jeweils auf ein übergeordnetes Nomen“, nämlich hilastērion, paresin bzw. endeixin, und gehören daher mit dem einleitenden Nebensatz (0) und mit den jeweils vorangehenden Zeilen (4) bzw. (6) zusammen. Von ihrem Sinn her gehört außerdem die Zeile (4)+(5) ebenso mit Zeile (3) zusammen wie die Zeile (8) mit dem vorangehenden Zusammenhang (6)+(7).
Das heißt: Vom Nebensatz (0) hängen „zwei Paare mit nahezu gleichlautendem Beginn“ in Zeile (3) und (6) ab, die durch die jeweils folgenden Zeilen „konkretisiert“ werden. Dabei greift der „bestimmte Artikel“ tēn in Zeile (6) {zu dem Erweis seiner Gerechtigkeit} den hier wiederholten Ausdruck noch einmal auf, „um ihn mit einer Näherbestimmung zu versehen, die über das bei der Erstverwendung in V. 25b-24a Gesagte hinausgeht.“
Nun zur Auslegung im Einzelnen. Inhaltlich (W255) erklärt Paulus in Vers 25a, „in welcher Weise ‚Christus Jesus‘ zum Mittel von Gottes Heilshandeln geworden ist.“ Obwohl die Reihenfolge, in der Paulus vom „Christus Jesus“ spricht, klar darauf hindeutet, dass er noch keineswegs die christliche Rede von Jesus Christus so versteht, als sei Christus sozusagen sein Nachname, verzichtet Wolter wie üblich auf den Hinweis, dass Jesus durch Christos als der Messias Israels bezeichnet wird.
Zur Bedeutung des Worte protithenai, das aus der Vorsilbe pro- und dem Verb tithenai {setzen} besteht, konkurrieren (Anm. 61) unter den Exegeten „im Wesentlichen zwei Interpretationen miteinander“, nämlich
„vorherbestimmen“ und „öffentlich aufstellen“ – letzteres bisweilen unter ausdrücklichem Verweis auf die im Tempel aufgestellten „Schaubrote“ …: Ex 39,17; 40,23; Lev 24,5-9; 1Sam 21,7; Mk 2,26parr.) …
Im Nebensatz (0) Römer 3,25a ist proetheto, von Wolter (W242) mit „zu [einem Gnadenort] gemacht hat“ übersetzt, (W255) „mit einem doppelten Akkusativ konstruiert …, einem Akkusativ des äußeren Objekts (hon {den [auf Christus Jesus bezogen]}) und einem Prädikatsakkusativ (hilastērion {Gnadenort}). Überall, wo das Wort so verwendet wird, geht es
darum, dass einem Gegenstand oder Sachverhalt eine bestimmte Eigenschaft oder ein bestimmter Stellenwert zugeschrieben wird. Dementsprechend sagt Paulus in Röm 3,24-25, dass Gott das mit „Christus Jesus“ bezeichnete Geschehen zu einem hilastērion gemacht hat, indem er festgesetzt hat, dass durch den Tod Jesu Sünden getilgt werden.
Dabei bringt Paulus (W256) den „Tod Jesu … mit Hilfe des Präpositionalausdrucks en tō autou haimati {in seinem Blut} ins Spiel“, der als „Umschreibung für den gewaltsamen Tod Jesu“ dient und näher erläuternd auf das Wort hilastērion bezogen ist. Aber was bedeutet „hilastērion an dieser Stelle“?
Zunächst verweist Wolter (Anm. 66) auf die mit hilastērion eng verwandten Wörter „hilaskesthai (Lk 18,13; Hebr 2,17), hilasmos (1Joh 2,2; 4,10) und hileōs (Mt 16,22; Hebr 8,12)“, wobei das „Bedeutungsspektrum des Verbs“ hilaskesthai „von ‚gnädig stimmen‘ bis ‚entsündigen‘“ reicht und die anderen beiden in der Lutherbibel u.a. mit „Versöhnung“ bzw. „gnädig“ wiedergegeben werden. Dass hilaskesthai traditionell mit „sühnen“ übersetzt wird, ist Wolter zufolge nur dann angemessen, „wenn man auch sagt, dass man diesen Begriff im Sinne von ‚Beseitigung von Sünde‘ oder ‚Entsündigung‘ versteht.“ Im Wort hilastērion bezeichnet die „Endung -ērion … den Ort oder das Mittel, an dem oder durch das Gott gnädig gestimmt oder die Sünde beseitigt wird.“
Nur zwei Mal kommt hilastērion im Neuen Testament vor, außer bei Paulus noch in Hebräer 9,5, wo es „die 2,5 x 1,5 Ellen (ca. 125 x 75 cm) große kapporeth“ bezeichnet, also
den vergoldeten und mit Cheruben geschmückten Deckel auf der Lade im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels. Dieser Gebrauch entspricht sehr weitgehend dem Befund in der Septuaginta: Hier ist hilastērion meistens (d.h. in 21 von 28 Fällen) Wiedergabe von kapporeth: Ex 25,17-22; 31,7; 35,12; 38,5.7f (37,6.8f); Lev 16,2.13-15; Num 7,89. Im Verfassungsentwurf Ezechiels ist hilastērion in Ez 43,14.17.20 Übersetzung von hebr. ˁazarah, das dort einen Teil des Brandopferaltars im neu zu erbauenden Tempel bezeichnet.
Dass der griechische Bibelübersetzer Symmachus in 1. Mose 6,15 versehentlich das hebräische Wort thebah {Arche} mit hilastērion übersetzt, ist nach Wolter (W256) ein „sehr aufschlussreiches Missverständnis“, weil es darauf zurückzuführen ist,
dass Noah die Arche „von innen wie von außen mit Dichtungsmittel abdichten soll (kaphartha … bakkopher)“. Im Hebräischen steht hier dieselbe Wurzel, aus der auch kapporeth gebildet ist und die beide Begriffe mit ein und demselben semantischen {bedeutungsmäßigen} Merkmal versieht: ‚bedecken‘ oder ‚verschließen‘. Diese Aufgabe erfüllt das ‚Pech‘, mit dem Noah die Arche kalfatern soll, genauso wie der Aufsatz auf der Lade.
Auf „den Tod von Menschen“ wie in Römer 3,25 „bezieht sich hilastērion“ Wolter zufolge nur „ein einziges Mal, in 4Makk 17,21-22“. Dort wird über „das Martyrium des Priesters Eleazar und von sieben Brüdern, die lieber sterben, als das Gesetz zu übertreten“, gesagt (W257), dass „durch das Blut jener Frommen und durch das hilastērion ihres Todes … die göttliche Vorsehung Israel, dem zuvor Schlimmes auferlegt worden war, gerettet“ hat.
Bei Flavius Josephus <104> kommt einmal das Wort hilastērion in einer anderen Bedeutung vor, nämlich „für das, was in der nicht-jüdischen hellenistischen Welt weit verbreitet ist und dort in der Regel anathēma (‚Weihegeschenk‘) genannt wird“:
Weil bei der Öffnung von Davids Grab zwei Männer ums Leben gekommen sind, lässt Herodes d. Gr. am Eingang des Grabes „aus weißem Stein ein Denkmal der Furcht als hilastērion errichten (tou deous hilastērion mnēma leukēs petras … kateskeusato)“.
Solch ein „Gegenstand oder eine Inschrift“ kann „von Menschen gestiftet“ werden, „die auf diese Weise der Gottheit danken oder eine Bitte um Hilfe unterstützen wollen, um sie gnädig zu stimmen bzw. sich ihnen geneigt zu machen.“
In welcher Weise wird unter den Exegeten des Römerbriefs die Bedeutung von hilastērion bei Paulus in Römer 3,25 hergeleitet? Wolter (W258) unterscheidet 4 Möglichkeiten, die sich auf die oben genannten Zusammenhänge beziehen:
- Greift Paulus „die Verwendung von hilastērion als Bezeichnung für die kapporeth“ in 3. Mose 16,15-17 auf, versteht er das Wort als „metaphorische Entsprechung zu dem in Lev 16,15-17 beschriebenen großen Blutritus am Versöhnungstag …, mit dem der Hohepriester den Tempel von den Sünden Israels reinigt, indem er das Blut eines Ziegenbocks auf den Deckel der Lade spritzt.“
- Denkt Paulus an 4Makk 17,21-22, würde er Jesu Tod entsprechend „der Vorstellung vom Tod der Märtyrer zur Befreiung Israels von seinen Sünden“ deuten“.
- Nach S. Schreiber könnte es sein, dass „Paulus mit hilastērion in Röm 3,25 ‚absichtlich auf die vielfältige Praxis der Weihegeschenke anspielt‘ <105>“, allerdings in paradoxer Umkehrung: „nicht die Menschen stellen für Gott ein Weihegeschenk auf, sondern Gott selbst lässt sich durch Christus Jesus personal repräsentieren.“
- Andere nehmen an, dass Paulus „eher unspezifisch auf allgemeine Entsündigungsvorstellungen zurückgreift, wie sie in den Herleitungen (a) und (b) greifbar sind.“
Nach Wolter kommt die Deutung (c) nicht in Frage, weil die dort vorausgesetzte Umkehrung nicht funktioniert – Gott will ja schließlich nicht den Menschen gnädig stimmen. Und die Deutung (b) ist ihm zufolge „allenfalls eine punktuelle Analogie“. Nahe liegt tatsächlich aufgrund der „Näherbestimmung von hilastērion durch en to autou haimati {in seinem Blut} die Deutung (a), nämlich
dass Paulus hier in der Tat auf den großen Blutritus des Versöhnungstages anspielt, der in Lev 16,15-17 beschrieben wird. Um dieser Anspielung willen nennt er Jesu Tod darum wohl auch in metonymischer Weise ‚haima‘.
Der Einwand, „dass Jesus damit ‚sowohl als die kapporeth vorgestellt (wäre) als auch als das Opfer, dessen Blut daran gesprengt wurde‘ <106>“, ist nach Wolter nicht stichhaltig, da hilastērion von Paulus „als eine sekundäre Metapher“ auf Jesus bezogen wird, „die als primäre Metapher die Septuaginta-Übersetzung des hebräischen Wortes kapporeth (von hebr. kaphar ‚bedecken‘) durch hilastērion voraussetzt“. Das heißt (W259), dass Paulus die Funktion des Bedeckens oder der „Beseitigung der Sünden“ durch „den Tod Jesu … in eine funktionale Analogie zum Blutritus über der kapporet am Versöhnungstag“ bringt.
Da jedoch „diese Deutung des Todes Jesu nicht von allen Menschen gleichermaßen geteilt wird“, schiebt Paulus die Worte dia pisteōs {durch den Glauben} „zwischen die beiden zusammengehörigen Ausdrücke hilastērion {Gnadenort} und en tō autou haimati {in seinem Blut}“ ein, da es diese „Wirklichkeit … allein für die Wirklichkeitsgewissheit des Christus-Glaubens gibt.“
Die weitere Schlussfolgerung, die Wolter daraus zieht, erscheint mir allerdings wieder bedenklich:
Paulus will also nicht sagen, dass die durch den Tod Jesu erfolgte Befreiung von den Sünden durch den Glauben lediglich ‚empfangen‘ oder ‚angeeignet‘ wird. Vielmehr kann nur der Glaube den Tod Jesu als ein hilastērion wahrnehmen, das Gott eben dazu gemacht hat, um die glaubenden Sünder von ihren Sünden zu befreien. Dementsprechend sind es auch die Glaubenden – und zwar sowohl alle Glaubenden (Röm 3,22a) als auch nur sie (V. 26c) –, für die diese Deutung des Todes Jesu zu einer Heilswirklichkeit wird.
Würde Paulus, wenn diese Behauptung zuträfe, nicht Menschen eine Machtvollkommenheit zusprechen, aus der heraus sie über ihr eigenes Heil verfügen oder es auch mutwillig in den Wind schlagen können? Wäre damit nicht eine Werkgerechtigkeit des Glaubens aufgerichtet, aufgrund derer alle Menschen, Juden wie Heiden, verloren gehen, die nicht auf diese ganz bestimmte Weise an Jesus Christus glauben?
Damit ist bisher nur Wolters Auslegung des Nebensatzes (0) mit seinen beiden Ergänzungen (1) und (2) in Römer 3,25a behandelt.
Mit den Zeilen (3) und (4) in Vers 25b, von Wolter (W242) folgendermaßen übersetzt:
„zum Erweis seiner Gerechtigkeit
um des Erlassens der Sünden willen, die zuvor geschehen sind“
kommt Paulus noch einmal auf die in Vers 23 angesprochenen Sünden zu sprechen und nennt nun (W259) „die Intention, die Gott bei seinem in V. 25a beschriebenen Handeln leitete.“ Das Wort endeixis {Erweis} nimmt dabei „das in V. 21a durch pephanerōtai Gesagte {ist in Erscheinung getreten}“ wieder auf:
Gott hat dadurch, dass er Jesu Tod zu einem hilastērion gemacht hat, seine Gerechtigkeit unter den Menschen Wirklichkeit werden lassen. Paulus interpretiert damit das vom Glauben als Heilsgeschehen wahrgenommene Christusgeschehen als Manifestation der Gerechtigkeit Gottes oder als ein Ereignis, in dem die Gerechtigkeit Gottes zu einer für die Menschen erfahrbaren Wirklichkeit geworden ist.
Ich habe deswegen nochmals so ausführlich zitiert, weil es mir wieder schwerfällt, diese beiden Sätze kurz auf den Punkt zu bringen: ist es tatsächlich Gott, der „seine Gerechtigkeit unter den Menschen Wirklichkeit werden“ lässt, wenn das „Christusgeschehen“ nur durch den Glauben „als Heilsgeschehen“ wahrgenommen wird?
So viel zu Zeile (3). Zum Verständnis (W260) von Zeile (4) bereitet „die Bedeutung von paresis“ erhebliche Schwierigkeiten. Es findet sich außer in Römer 3,25b „innerhalb der griechischen Bibel“ sonst nirgends, während das „zu ihm gehörende Verb pariēmi … im Neuen Testament in Lk 11,42 und in Heb 12,12 sowie des öfteren in der Septuaginta“ vorkommt. Zahlreiche Belege gibt es für beide Wörter außerhalb der jüdischen Literatur.
Die unter Exegeten umstrittene Frage ist,
ob Paulus mit paresis (a) lediglich ein ‚vorläufiges Nichtbeachten‘ oder ‚Hingehenlassen‘ der früheren Sünden meint, die erst durch den Heilstod Jesu beseitigt würden, oder ob er mit ihm (b) ein ‚Erlassen‘ oder ‚Vergeben‘ der Sünden bezeichnen will. Die Vertreter des erstgenannten Verständnisses sehen mit paresis ein Verhalten Gottes in der Vergangenheit beschrieben, während es die anderen auf das in V. 24a-25 entfaltete Handeln Gottes beziehen.
Außerhalb der Bibel konzentriert sich Wolter auf „solche Verwendungen von paresis und pariēmi …, die sich auf den Umgang mit Geldschulden und mit Verfehlungen beziehen“. Während sie im Blick „auf finanzielle Schulden … den ‚Erlass‘ von Schulden bezeichnen“, meinen sie im Blick „auf Verfehlungen … stets ein Hingehen- oder Unbeachtet-Lassen, das mit einem Verzicht auf Strafe einhergeht.“ Die Wörter (W261) „paresis/pariēmi bedeuten bei dieser Verwendung also in der Tat nicht dasselbe wie aphesis/aphiēmi, nämlich Vergebung.“ Trotzdem ist „immer ein definitives Unbeachtetlassen der Vergehen“ und nicht ein nur vorläufiges gemeint; „nirgends wird gesagt, dass die Bestrafung später nachgeholt wird.“ Daher ist nach Wolter die
Frage, ob paresis in Röm 3,25b ‚Nichtbeachtung‘ oder ‚Erlass‘ bedeutet, … unerheblich. Wichtig ist vielmehr allein, dass es sich nur auf das in V. 24-25a beschriebene Heilshandeln Gottes beziehen kann: Paulus bringt mit diesem Begriff zum Ausdruck, dass die Manifestation von Gottes Gerechtigkeit in der Rechtfertigung der Glaubenden darin bestand, dass er über deren bisherige Sünden hinweggesehen hat.
Wolter ist es bewusst, dass schon nach dem Alten Testament „Gottes Gerechtigkeit sich in der Vergebung der Sünden erweist“, und er findet besonders „Dan 9,9 mit seinen Übersetzungsvarianten aufschlussreich“ für die Auslegung von Römer 3,25. Der hebräische Text schreibt „JHWH, unserem Gott“ harachamim wɘhasslichoth {das Erbarmen und die Vergebung} zu, was die Septuaginta mit dikaiosynē und eleos {Gerechtigkeit und Erbarmen} und Theodoret mit oiktirmoi und hilasmoi {Erbarmungen und Versöhnungen} übersetzt. Der Ausdruck dia tēn paresin {um des Erlassens willen} bezieht sich also „auf das Rechtfertigungshandeln Gottes“ und bezeichnet
das ‚Um-willen‘ von Gottes Heilshandeln und damit dessen Zweck und Grund zugleich …: Gott lässt die Sünden der Glaubenden unbeachtet, denn er macht „alle Glaubenden“ „geschenkweise“ gerecht; ihm genügt schon, dass sie glauben.
Das im folgenden Vers – in Zeile (5) – zum zweiten Mal bei Paulus als Eigenschaft Gottes auftauchende Wort anochē hatte Wolter in seiner Übersetzung (W165) und Auslegung (W171) zu Römer 2,4a als die „Zurückhaltung“ verstanden, aufgrund derer Gott „gegen die Sünder bisher noch nicht strafend eingeschritten ist“. In Römer 3,26a entscheidet sich Wolter aber gegen die Möglichkeit, en tē anochē tou theou wie in der Lutherbibel mit „in der Zeit der Geduld Gottes“ auf die früher begangenen Sünden – aus Zeile (4) – und damit (W262) auf „die Zeit vor dem Glauben“ zu beziehen, „die Paulus nun als Zeit des Strafverzichts Gottes deutet.“ Stattdessen verbindet Wolter „en tē anochē … mit dia tēn paresin“ und versteht es als „den auf Seiten Gottes bestehenden Beweggrund für das Nichtbeachten der von den Glaubenden einstmals begangenen Sünden“, genau so, wie tē autou chariti {aus seiner Gnade} in Vers 24 „das Rechtfertigungshandeln Gottes“ begründet hatte. Damit greift Paulus nach Wolter
auf eine Tradition zurück…, die ihre Grundlage in Ex 34,6-7a hat („JHWH, JHWH, ein mitleidiger und barmherziger Gott, langmütig [LXX: makrothymos] und reich an Erbarmen und treu, der Tausenden Gnade [LXX: dikaiosynē] bewahrt und Schuld und Missetat und Sünde wegnimmt“). … anochē in Röm 3,26a bezeichnet dementsprechend die Bereitschaft, den „Zorn … über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ (1,18) gegenüber den Glaubenden zurückzuhalten und ihre Sünden unbeachtet zu lassen.
[27. Januar 2025] Auszulegen sind in Vers 26b-c nun noch die drei letzten Zeilen (6) bis (8) der oben beschriebenen grammatikalischen Konstruktion, die von dem auf en Christō Iēsou {in Christus Jesus} bezogenen Nebensatz (0) abhängt. Mit ihnen „kehrt Paulus“ nach Wolter „auf die Textebene von V. 21-22a zurück und fasst damit den gesamten Abschnitt zusammen.“ Auf „die erste endeixis-Formulierung (V. 25b-26a) {zum Erweis}“ verweist er in Zeile (6) mit „Hilfe des bestimmten Artikels in der Formulierung pros tēn endeixin {zu dem Erweis}“, womit er zugleich ankündigt, „dass er sie mit einer inhaltlichen Weiterführung versehen will.“ Zunächst aber bezeichnet
Paulus mit endeixis tēs dikaiosynēs autou {Erweis seiner Gerechtigkeit} (V. 26b) analog zu V. 25b dasselbe Geschehen …, das er in V. 21a als dikaiosynē theou pephanerōtai {ist Gottes Gerechtigkeit in Erscheinung getreten} charakterisiert hatte: die Manifestation von Gottes Gerechtigkeit.
Mit der Formulierung en tō nyn kairō {in der jetzigen Zeit} in Zeile (7), die (W263, Anm. 95) „sonst nur noch in Gen 29,34; 30,20; Ex 9,14; Röm 11,5; 2Kor 8,14 belegt“ ist, greift Paulus außerdem (W263) auf auf nyni de {jetzt aber} aus Vers 21a zurück, womit er die „Gegenwart der pistis Iēsou {des Christus-Glaubens}“ bezeichnet,
deren terminus ante quem non {der Zeitpunkt, bevor etwas nicht geschehen sein kann} durch das Ereignis markiert wird, das er in V. 24 Christos Iēsous {Christus Jesus} genannt hatte und das die aktuelle Heilswirklichkeit der Gerechtigkeit Gottes von all ihren früheren Manifestationen unterscheidet. Diese Gegenwart erstreckt sich aber nicht nur bis zur Abfassung des Römerbriefes, sondern sie schließt auch alle anderen Gegenwarten ein, in denen das Evangelium von Jesus Christus verkündigt wird und es Christus-Glauben gibt, weil Menschen im Tod Jesu das Heilshandeln Gottes zu erkennen vermögen.
In Zeile (8) läuft die „Weiterführung, die den gesamten Abschnitt in V. 26c abschließt“, auf eine „Doppelaussage über Gott“ hinaus, die Paulus wie in Röm 1,20; 4,11; 8,29; 15,29 mit der Wendung eis to einai {wörtlich: auf das Sein hin} einleitet, um „den Zweck und die Folge von Gottes Handeln“ zu bezeichnen. Die beiden mit kai verbundenen Teile dieser Doppelaussage (W242), „dass er gerecht ist“ und „den rechtfertigt, der aus Glauben an Jesus (ist)“ sind aber Wolter zufolge (W263) nicht einfach zwei parallele Aussagen, als ob Paulus irgendwem gegenüber zunächst „hätte betonen müssen, dass Gott gerecht ist“. Vielmehr wird die erste Aussage über „das ‚Gerecht‘-Sein Gottes“, das schon in „Ps 11,7; 116,5; 119,137; 129,4; 145,17“ selbstverständlich bezeugt wird, durch die zweite Aussage lediglich näher erklärt, indem sie angibt,
was die Besonderheit der Manifestation von Gottes Gerechtigkeit en tō nyn kairō {in der jetzigen Zeit} ausmacht: dass Gottes Gerechtigkeit dadurch zu einer für die Menschen erfahrbaren Wirklichkeit wird, dass er ton ek pisteōs Iēsou {den, der aus Glauben an Jesus (ist)} gerecht spricht.
Auf diese Weise (W264) unterscheidet und verbindet Paulus „in der Doppelaussage von V. 26c die beiden alttestamentlichen Linien, die Paulus mit seiner Rede von der Gerechtigkeit Gottes aufnimmt“ und auf die er in seiner Auslegung von Römer 1,17 ausführlich eingegangen war: „Gott als dikaios und dikaiōn… erweist sich ‚in der jetzigen Zeit‘ darin als ‚gerecht‘, dass er die Jesus-Glaubenden ‚rechtfertigt‘ und dabei … deren Verfehlungen gnädigerweise unter den Tisch fallen lässt“ (die von mir hinzugefügten Unterstreichungen verweisen auf die jeweilige Übersetzung).
Die Wendung ek pisteōs {aus Glauben} ist dabei fester „Bestandteil“ des Ausdrucks ho ek pisteōs Iēsou {der aus Glauben an Jesus (ist)}, der als „Objekt“ auf dikaiōn {rechtfertigt} bezogen ist. Dieses Objekt „steht für dieselben Menschen, die Paulus in Röm 1,16 pas ho pisteuōn {jeder, der glaubt} und in 3,22a pantes hoi pisteuontes {alle, die glauben} genannt hatte.“ Gemeint sind „Menschen …, deren Heils- und Existenzorientierung sich am Christus-Glauben ausrichtet.“
Zusammenfassend schreibt Wolter zu seiner Auslegung von Römer 3,21-26 (W264f.), dass hier „drei theologische Sinnlinien zusammen“ laufen, denen er am Ende „noch eine vierte Sinnlinie“ hinzufügt:
- „Jesus Christus“ als „Inhalt des Evangeliums Gottes“ (Römer 1,3-4),
- „die Gerechtigkeit Gottes als Macht zum Heil für jeden …, der glaubt“ (Römer 1,16-17),
- die „von Gottes Gerichtszorn“ bedrohte „Menschheit unter der Sünde“ (Römer 1,18 – 3,20),
- „dass Glaube und Sünde den Unterschied zwischen Juden und Heiden einebnen“ (vgl. Römer 1,16-17; 2,9-10.12-16.25-29; 3,9).
Während Paulus die vierte Linie „in den beiden pantes {alle} von V. 22a … und V. 23
… nur indirekt und andeutungsweise“ aufnimmt, um sie „im folgenden Abschnitt … zum Gegenstand einer eingehenden theologischen Reflexion“ zu machen, verknüpft er die Stichworte Christus, Glaube und Sünde auf folgende Weise miteinander:
Der Glaube (W264), „von dem in 1,16-17 die Rede war“, bekommt „einen christologischen Inhalt“, indem „Paulus ihn in V. 25 auf Jesu Tod bezieht“, den wiederum (W265) Gott „zu einem sündentilgenden ‚Gnadenmittel‘ (hilastērion) gemacht hat.“
Aber obwohl Gott „in diesem Abschnitt“ den „einzigen Akteur“ darstellt, hebt Wolter zugleich nochmals hervor, was Paulus in seinen Augen hier über das aussagt, was er „Christus-Glaube“ nennt:
Die Heilswirkung des Todes Jesu wird allererst durch die Wirklichkeitsgewissheit des ‚Christus-Glaubens‘ zu einer Sünder zu Gerechten machenden Wirklichkeit. Es ist überhaupt nur der Glaube, der dazu in der Lage ist, das in der Vergangenheit geschehene Heilshandeln Gottes auch in späterer Zeit immer wieder neu zu vergegenwärtigen und es für Menschen wirksam werden zu lassen, die noch gar nicht gelebt haben, als Jesus gestorben ist.
Zu diesem Zweck muss das von Paulus verkündigte Evangelium „den Tod Jesu …, in dem Gott zum Heil der ganzen Welt gehandelt hat, … immer wieder neu im Wort“ vergegenwärtigen.
Nach diesem anstrengenden Hindernislauf durch die schwierige grammatikalische Konstruktion der beiden Verse Römer 3,25-26 will ich doch einmal erwähnen, wie dankbar ich Michael Wolter für seine akribische Analyse des griechischen Römerbrieftextes bin, um eine angemessene Übersetzung und Auslegung zu ermöglichen.
[28. Januar 2025] Gerhard Jankowski (J94) legt in seiner Auslegung wieder den Akzent auf die jüdischen Hintergründe der Aussagen des Paulus. Von dem „Messias Jesus“, der auch „die Nichtjuden“ aus ihrer Versklavung „ausgelöst hat“, heißt es nun:
„Den hat Gott hingestellt als KAPORET durch Treue in seinem Blut“ (3,25). In diesem Halbsatz ist mit den spröden Worten ein für Israel eminent wichtiges Geschehen geradezu komprimiert. Die Worte Blut, haima, und kaporet, hilastērion, rufen es auf. Es ist das Geschehen am Jom Kippur.
Auch Wolter hatte (W258) „den großen Blutritus des Versöhnungstages“ als Bezugspunkt für das von Paulus erwähnte hilastērion angenommen. Jankowski hebt hervor, welche Bedeutung in den zentralen Texten zum „Jom Kippur“, zum Versöhnungstag, in 3. Mose 16 (J95), zwei hebräische Wörter mit der Wurzel kaphar haben, nämlich einerseits „KAPORET“, womit „ursprünglich wahrscheinlich die Deckplatte der Bundeslade“ gemeint war, und andererseits die Piel-Form „kipper“ des Vers kaphar mit der Bedeutung „bedecken“, womit „die Aufgabe des Priesters an diesem Tag“ bezeichnet wurde. Übersetzt man kipper, wie es in der Lutherbibel geschieht, fast durchgehend mit „entsühnen“, gerät das wirklich Gemeinte aus dem Blick:
Das Bedecken ist das wichtigste Geschehen an diesem Tag. Der Priester bedeckt die Sünden des Volkes. Sie sind danach wirklich zugedeckt. Unser Wort vergeben ist für diesen Vorgang ein viel zu schwaches Wort.
Das Bedecken der Sünden geschieht an der Deckplatte der Lade, dem Zeichen des Bundes. Die Versündigung des Volkes hat das Bundesverhältnis gestört. Es wird durch das Bedecken wieder geheilt. Der Bund ist wieder in Kraft.
Dabei spielt „das Blut eine wichtige Rolle“, denn mit „Blut wurde der Bund am Sinai besiegelt“, wozu Jankowski auf 2. Mose 24,8 verweist:
Mosche nahm das Blut
er sprengte es auf das Volk,
er sprach:
Da,
das Blut des Bundes,
den der EWIGE mit euch schließt
auf alle diese Rede.Das Blut, das der Priester auf den Deckel der Bundeslade sprengt, um damit die Sünden des Volkes zu bedecken, vergegenwärtigt den Bundesschluß am Sinai.
Obwohl „die Bundeslade im zweiten Tempel“ nicht mehr vorhanden war, wurde trotzdem „das Ritual an der Stelle vollzogen, die als Platz für die Lade bereitet war“, und dieser Platz „wandelte sich zur Stätte der Entsündung oder der Sühne.“ Das ist der Grund, weshalb die Septuaginta „KAPORET mit hilastērion“ übersetzt:
Das Nomen ist abgeleitet vom Verb hilaskesthai, gnädig, geneigt machen, versöhnen. Hilastērion/KAPORET sind dann Synonyma für das Geschehen am Jom Kippur im Tempel.
Jankowski zufolge wird durch das „Wort Blut in unserem Zusammenhang … aber noch eine andere Bestimmung der Thora“ aufgerufen, nämlich das Verbot des Blutgenusses und die Verwendung von Blut im Opferkult in 3. Mose 17,10f.:
Jedermann vom Haus Jissrael und von der Gastschaft, die in ihrer Mitte gastet, er allimmer Blut esse;
mein Antlitz gebe ich wider die Seele, die Blut ißt,
ich rode sie aus dem Inneren des Volkes.
Denn die Seele des Fleisches, im Blut ist sie,
ich gebe es euch auf die Schlachtstatt, zu bedecken über eure Seelen,
denn das Blut, durch die Seele bedeckt es.
Schwer zugänglich für unser modernes Verständnis sind die jüdischen Bestimmungen über das Blut, die grundsätzlich mit der Achtung jedes Lebens verknüpft waren. Aus der Vorstellung, dass der dem baßar {Fleisch} von Gott eingehauchte nefesch {Seele, Leben} im Blut repräsentiert war, ergaben sich sowohl (J96) die „Enthaltung von Blut“, die „grundsätzlich Juden von Nichtjuden“ unterschied, als auch die Bestimmungen über die Verwendung des Blutes im Tempel:
Blut gehört auf den Altar im Tempel oder an die Stätte der Bedeckung. Es bedeckt die Sünden und erneuert den Bund. Nach Lev 17 müssen sich auch Proselyten (die Gastschaft) des Blutes enthalten. ln den Bestimmungen über die Proselyten {Mischna Keritot 2,1} gilt aber auch: Die Sühne (kappara) eines Proselyten ist nicht vollkommen, bis das Blut für ihn gesprengt ist. Vollgültiger Proselyt war also nur der, der durch das Tauchbad gegangen, beschnitten war und für den (am Jom Kippur?) das Blut gesprengt worden war.
Vor diesem Hintergrund ist nach Jankowski der Satz des Paulus in Römer 3,25-26a zu begreifen:
„Den Messias Jesus hat Gott hingestellt als KAPORET durch Treue in seinem Blut auf Erweis seiner Bewährtheit wegen des Erlassens der vorher geschehenen Sünden in der Zurückhaltung Gottes.“ Dieser Satz ruft das Geschehen am Jom Kippur in einer neuen Wirksamkeit auf. Bedeckt sind wie an jedem Jom Kippur die Sünden des Volkes Israel. Bedeckt aber sind auch die Sünden der Gojim. Denn sie gehören zu Israel, weil für sie das Blut gesprengt worden ist, wie es vorgeschrieben war für die Proselyten. Das Blut des Messias, gesprengt für die Sünden der Gojim, trennt und unterscheidet nicht mehr zwischen Juden und Nichtjuden. Der Bund ist neu geschlossen auch mit den Gojim im Blut des Messias. Juden und Nichtjuden sind Bundesgenossen in dem erneuerten Bund. Jom Kippur, der Tag der Treue Gottes, der Tag der Umkehr, der Bedeckung, der Versöhnung mit Gott und mit den Menschen, der Tag, nach dem Leben neu wieder beginnen kann, Jom Kippur wird gefeiert auch für die Gojim. Die Sünden sind bedeckt, die vorher geschehenen Verfehlungen sind erlassen, die Treue Gottes hat sich erwiesen. An diesem Jom Kippur stehen die Gojim, die sonst von ihm ausgeschlossen sind, neben den Juden. Dies ist möglich geworden durch den Messias Jesus.
Das heißt: Durch das Blut des Messias „ist der Bund neu geschlossen“, aber es bleibt der Bund mit Israel, der nicht durch einen neuen Bund aufgehoben wird. Vielmehr ist dieser „Jom Kippur“, durch den die Gojim in den Bund mit Israel hineingenommen werden, „eine Demonstration für die Bewährtheit Gottes“, indem er zugleich „eine ‚Demonstration für den unkündbaren Bund‘ (F.-W. Marquardt) <107>“ darstellt.
Alles in allem mutet Paulus den römischen Juden gegenüber also zwar geradezu ungeheuerliche Abweichungen vom überlieferten Umgang mit Nichtjuden zu, die sich dem Vertrauen auf den Gott Israels anschließen wollen, aber Jankowski zufolge knüpft er trotzdem an die diesbezüglichen Bestimmungen der Tora an:
Paulus war der Meinung, daß die Gojim zu lsrael gehören, ohne daß sie Proselyten werden müssen. Dennoch hält er an zwei wichtigen Bestimmungen über die Proselyten auch für die Gojim fest, legt sie aber anders aus. Sie müssen durch das Tauchbad hindurch, also getauft werden. Das Blut der Bedeckung und des Bundes ist für sie gesprengt worden im Blut des Messias. Beschnitten werden sie aber nicht.
Mit seinem Hinweis auf die Taufe nimmt Jankowski bereits vorweg, was Paulus in Römer 6,3-4 sagen wird. Auf eine genauere Auslegung der von Wolter mit (6) bis (8) bezeichneten Zeilen in Römer 3,26b-c verzichtet er.
Aus Jankowskis Übersetzung (J91): „zum Erweis seiner Bewährtheit in der jetzigen Frist, damit er bewährt sei und wahr mache den aus Jesu Treue“, geht allerdings hervor, dass er anders als Wolter den Akzent seiner Auslegung nicht auf den Glauben an Christus legt, sondern auf die im Messias Jesu verkörperte Treue des Gottes Israels. In seiner späteren Übersetzung (G15) gibt er die Ausdrücke dia pisteōs in Vers 25 und ton ek pisteōs Iēsou in Vers 26 dann aber doch mit „durch das Vertrauen“ bzw. „der aus dem Vertrauen auf Jesus lebt“ wieder.
In welcher Weise es hier wirklich um die Treue Gottes bzw. seines Messias und/oder um eine darauf bezogene menschlichen Haltung geht, und ob diese Haltung angemessen als „Glauben“ oder „Vertrauen“ zu bezeichnen ist, mag in der Auslegung der folgenden Verse genauer zu klären sein, in denen Paulus von einem nomos pisteōs spricht. Handelt es sich dabei um (J97) eine „Thora der Treue“ bzw. (G15) eine „Tora des Vertrauens“, oder geht es, wie Wolter übersetzt (W266), um ein „Gesetz des Glaubens“?
↑ Römer 3,27-28: Nicht eine Tora der Werke, sondern die Tora der Treue bzw. des Vertrauens bringt wahre Menschheit hervor
3,27 Wo bleibt nun das Rühmen?
Es ist ausgeschlossen.
Durch welches Gesetz?
Durch das Gesetz der Werke?
Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.
3,28 So halten wir nun dafür,
dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.
[29. Januar 2025] In Römer 3,27 nimmt Paulus nach Michael Wolter ((W267) mit der „Eingangsfrage … ‚Wo (bleibt) nun das Rühmen?‘ (pou oun hē kauchēsis)“ die Auseinandersetzung aus 2,17.23 „mit einem auf seine jüdische Identität stolzen Juden“ auf und wird in diesem Zusammenhang auch wieder auf „die beiden dort genannten Gegenstände des Rühmens“ eingehen:
erst „Gesetz“ (V. 27c-28), dann „Gott“ (V. 29-30) und dann wieder „Gesetz“ (V. 31). Zusammengehalten werden alle drei Teile durch die fünfmalige Rede vom „Glauben“ (V. 27d.28.30b[2 mal].31a).
Wogegen Paulus sich hier wendet, ist
die Gewissheit Israels, den anderen Völkern etwas voraus zu haben: die Erwählung zu Gottes Eigentumsvolk sowie die Ausstattung mit dem Gesetz, die es ihm erlaubt, seine Erwählung darzustellen.
Zwar ist die „hier formulierte … Frage als solche … ganz ergebnisoffen formuliert“, aber „mit der Antwort stellt Paulus Eindeutigkeit her“. Die Passivform von exekleisthē {wurde unmöglich gemacht} (V. 27b)“ umschreibt „Gottes Handeln“ aus Vers 25 (W268):
Gott hat Jesu Tod zu einem „Gnadenmittel“ gemacht, dessen Heilswirkung durch den Glauben, der ihn als solches wahrnimmt, wirksam wird. Dadurch wird es Israel unmöglich gemacht, sich seiner Sonderstellung zu rühmen, denn glauben können Nichtjuden genauso wie Juden.
In Vers 27c-e erläutert Paulus, wodurch das geschieht, indem er dreimal „den Gesetzes-Begriff“ verwendet und dabei zwischen einem nomos tōn ergon {Gesetz der Werke} und einem nomos pisteōs {Gesetz des Glaubens} unterscheidet.
Umstritten ist unter den Exegeten, „in welchem Sinne Paulus hier vom ‚Gesetz des Glaubens‘ spricht.“ Hochinteressant ist dazu zunächst die „ausführliche Erörterung dieser Frage … bei Augustin <108>“, an die sich später Martin Luther anschließt:
Das „Gesetz der Werke“ stehe idealtypisch für die Forderung „Du sollst nicht begehren!“ und bezeichne die ethische Forderung … Demgegenüber sei das „Gesetz des Glaubens“ eine Bitte: quod operum lex minando imperat, hoc fidei lex credendo impetrat („Was das Gesetz der Werke durch Drohung befiehlt, das erfleht das Gesetz des Glaubens durch Vertrauen“…). Darum spreche im „Gesetz der Werke“ Gott, im „Gesetz des Glaubens“ hingegen der sich an Gott wendende Mensch …: per hoc lege operum dicit deus: ‚fac quod iubeo‘, lege fidei dicitur deo: ‚da quod iubes‘ („durch dieses Gesetz der Werke spricht Gott: ‚Tu,was ich befehle!‘, durch das Gesetz des Glaubens wird zu Gott gesprochen: ‚Gib, was du befiehlst!‘“…).
Da aber (W269) alles in Vers 27c-e Gesagte grammatikalisch von 27a-b abhängt, werden jedoch nach Wolter solche Interpretationen unmöglich, „die den Sinn von (nomos) tōn ergōn {Gesetz der Werke} und nomos pisteōs {Gesetz des Glaubens} auf den menschlichen Umgang mit der Tora beziehen.“
Wolter selbst (W268) schließt sich eher Gerhard Friedrich <109> an, der Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhundert „die These“ vertreten hat,
dass Paulus mit „Gesetz der Werke“ die Tora meint, sofern sie Werke fordert, während er mit „Gesetz des Glaubens“ von Röm 3,21b her auf die ‚Zeugnis‘-Funktion der Tora verweise: Schon die als „Schrift“ verstandene Tora bezeuge, dass Gott aus Glauben rechtfertigt.
Jedenfalls (W269) „fragt Paulus“ in Vers 27c mit „dia poiou nomou …, durch welche gesetzliche ‚Setzung‘ Gott das Rühmen ausgeschlossen hat“, womit Paulus den „Rahmen der Tora … noch nicht hinter sich gelassen“ hat. Schon in den Büchern der Tora selbst wird ja mit dem Wort thorah = nomos „innerhalb der einen Tora von Teilgesetzen“ gesprochen, wozu Wolter beispielhaft auf „Ex 12,43; Lev 7,1.37; 15,32“ verweist:
Die Frage bleibt auch darum noch ganz im Rahmen des jüdischen Tora-Verständnisses, weil sie unterstellt, dass auch das von Paulus behauptete ‚Ausschließen‘ des Rühmens durch die Tora erfolgt sein könnte.
Dies erfolgt aber eben nicht durch eine Tora (W270), die – wie es im Judentum üblich ist – „als ‚Gesetz der Werke‘ charakterisiert“ wird, denn „worauf es bei der Tora ankommt“, ist nun einmal, „dass sie getan wird“, womit Paulus nicht „dem Anspruch der Tora und ihrer jüdischen Rezeption Unrecht tut“. Stattdessen verwendet Paulus in Vers 27e
den Gesetzesbegriff als Metapher zur Bezeichnung eines Prinzips: „Durch das Gesetz des Glaubens“ hat Gott das Rühmen ausgeschlossen, wie Paulus in Aufnahme der Rede vom Glauben in V. 25 feststellt. Dieser Glaube ist natürlich auch hier pistis Christou (‚Christus-Glaube‘; s. auch V. 22a.26c). Worin das „Gesetz des Glaubens“ besteht, wird Paulus am Ende von V. 30 sagen.
Um „die These von V. 27 zu begründen“, nimmt Paulus in Vers 28 die „Verknüpfung von Glaube und Rechtfertigung“ vom „Ende von V. 26c … wieder auf“. Im Vorblick auf die Verse 29-30 bereitet Paulus mit dem als Gattungsnamen verwendeten Wort
„Mensch“ die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Juden und Heiden vor, die dann in V. 29-30 begründet wird. Der anthropologischen Reichweite, die Paulus diesem Vers gibt, kommt darum große theologische Bedeutung zu, ist sie doch unmittelbar auf die übergreifende These bezogen, dass das Erwählungs-Rühmen Israels, von dem Paulus in Röm 2,17.23 gesprochen hatte, ausgeschlossen wurde.
Indem Paulus (W271) in dem „Wir von logizometha {wir sind gewiss} … dasselbe apostolische Wir“ verwendet wie „bereits Röm 1,5; 3,5.8.9“ und gleich nochmals in 3,31, kennzeichnet er „das Folgende als eine wirklichkeitsgewisse Sachverhaltsaussage“. Das „Adverb chōris {ohne} stellt … eine Querverbindung“ zu Vers 3,21a her. Und „die Entsprechung zu Röm 3,26c (Gott als dikaiōn ton ek pisteōs Iēsou {der den rechtfertigt, der aus Glauben an Jesus (ist)})“ macht
deutlich, dass die pistis in Röm 3,28 wie in V. 27 und auch sonst immer pistis Christou (‚Christus-Glaube‘) ist: der Glaube, der in Jesu Tod das Heilshandeln Gottes wahrnimmt. Martin Luthers so berühmte wie umstrittene Ergänzung des Adverbs „allein“ vor „durch Glauben“ <110> ist ohne jeden Zweifel sachgemäß, denn der Christus-Glaube ist für Paulus nicht nur hinreichende, sondern auch notwendige Bedingung für die Rechtfertigung.
Aber hatte nicht Wolter vorhin dem Kirchenvater Augustin widersprochen, der das „Gesetz des Glaubens“ mit einem Vertrauen gleichsetzen wollte, das vom Menschen ausgeht und im Gebet auf Gott gerichtet ist? Wollte Paulus selbst ihm zufolge nicht davon ausgehen, dass auch im „Gesetz des Glaubens“ Gott der Handelnde ist? Ein „Christus-Glaube“, wie ihn Wolter zufolge Paulus von jedem Menschen fordert, verschiebt in meinen Augen die Verantwortlichkeit für eben diesen ganz und gar aus den Händen Gottes in die Hände der Menschen.
Gerhard Jankowski (J97) nimmt die Handlungsvollmacht Gottes insofern ernst, als er davon ausgeht, dass die „Treue, pistis, Gottes … das eigentliche Thema des ganzen Gedankenganges“ in 3,21-31 ist, in dem das Wort achtmal vorkommt:
Es ist die Treue Gottes, die sich durchhält. In ihr zeigt sich Gottes Bewährtheit. Treue und Bewährtheit Gottes, die keine Eigenschaften Gottes sind, sondern die sich als wirklich erweisen in Taten an seinem Volk Israel und in den antwortenden getreuen Taten des Volkes.
Indem sich Jankowski gegen einen abstrakten Begriff von Gott wendet, dem man bestimmte allgemeine Eigenschaften zumessen kann, besteht er auf der konkreten Art und Weise, in der das Volk Israel Gott als den befreienden NAMEN erfahren hat und weiterhin erfahren wird. Ein Wort wie pistis hat in diesem Zusammenhang einen doppelten Bezug: es bezeichnet sowohl die sich in seinen befreienden Taten erweisende Treue als auch das auf diese Treue reagierende Vertrauen des Volkes.
Was passiert aber, wenn „Paulus Treue und Bewährtheit Gottes, Vertrauen und sich bewähren so stark“ betont, „daß dabei das Volk Israel herauszufallen, zumindest aber in Frage gestellt zu sein scheint“? Stellt er grundsätzlich in Frage, „was zum Wesen Israels gehört, die Thora“, wenn „die Antwort auf die Treue Gottes … nicht das Tun der Thora, sondern das Vertrauen“ ist? Jankowski meint zwar auch: „So könnten wir es hören.“ Aber zugleich betont er: „Paulus ist da vorsichtiger und genauer.“
Zuvor hatte Paulus am Anfang von Römer 3 ja die bleibende „Treue Gottes“ darin erkannt, „daß er seinem Volk die Thora anvertraut hat.“ Wenn das so ist und bleibt, dann besteht die angemessene Antwort Israels „auf diese Treue Gottes“ in den „getreuen Taten der Thora.“ Indem aber für Paulus „die Thora anvertraute Gabe und vertrauensvolle Aufgabe zugleich“ ist, kann sie
nie nur Besitz sein, aus dem sich eine Bevorzugung ableiten läßt, die wiederum zur Differenz zu anderen Völkern führt. Wo Thora zum Besitz geworden ist, wird sie trennend. Das Vertrauen richtet sich allein auf diesen Besitz, aus dem dann gegenüber den anderen Ruhm abgeleitet wird.
Dann aber weicht Paulus ab von der Lehre anderer jüdischer Lehrer der Tora (J97f.):
Für Paulus geht die Treue Gottes weiter als die Gabe der Thora. Sie umfaßt sie mit, geht aber über die Grenzen Israels hinaus. In dieser Treue und in dem antwortenden Vertrauen sieht er auch die Thora stehen. Sie ist für ihn eine Thora der Treue, die gerade Ruhm und Bevorzugung ausschließt. Und die ist dann nicht mehr Gabe an Israel allein, sondern an die Menschheit. Denn die Treue Gottes ist nicht nur an die Thora gebunden oder wird über sie wirklich. Und nicht nur getreue Taten der Thora sind die einzig mögliche Antwort, sondern ein Vertrauen, das an keine Bedingungen geknüpft ist.
Den Satz, der „seit Luther zu einem Spitzensatz der reformatorischen Theologie geworden ist (3,28)“ übersetzt Jankowski daher folgendermaßen:
Denn wir rechnen damit,
daß Menschheit wahr gemacht wird
durch Treue ohne Thorawerke.
In seiner späteren Übersetzung (G15) legt er den Akzent dann doch mehr auf das der Treue Gottes antwortende Vertrauen:
Denn wir rechnen damit,
daß die Menschheit durch Vertrauen wahr wird, ohne die Tora zu tun.
Wichtig ist es Jankowski dabei, dass es Paulus nicht um die individuelle Rechtfertigung des einzelnen Christen geht, sondern um eine versöhnte Menschheit, die im Vertrauen auf den Messias Jesus zu ihrer wahren Menschlichkeit findet:
Menschheit, so übersetzen wir das hier ohne Artikel stehende anthrōpos. Seit Luther haben alle deutschen Übersetzungen der Mensch. Das ist nicht einmal verkehrt, wenn es kollektivisch verstanden wird. Bei Paulus steht anthrōpos mit Sicherheit für das hebräische ˀadam, Mensch, das nicht nur einen einzelnen Menschen meint, sondern eben auch Menschheit. Im übrigen darf der Satz nicht aus seinem Kontext gerissen werden. Das Folgende macht überdeutlich, daß es Paulus um eine geeinte Menschheit aus Juden und Nichtjuden geht. Ein einzelner Mensch, erst recht ein einzelner Christ ist mit Sicherheit aber nicht gemeint.
↑ Römer 3,29-30: Der eine Gott Israels ist auch der Gott der Völker, der Juden und Gojim wahr macht aus und durch Treue und Vertrauen
3,29 Oder ist Gott allein der Gott der Juden?
Ist er nicht auch der Gott der Heiden?
Ja gewiss, auch der Heiden.
3,30 Denn es ist der eine Gott,
der gerecht macht die Juden aus dem Glauben
und die Heiden durch den Glauben.
[30. Januar 2025] Dass Paulus (W271) in Vers 29 „die Form der rhetorischen Frage wählt“, um auszudrücken, dass „Gott … nicht nur der Gott der Juden, sondern auch der Gott der Heiden“ ist, liegt nach Michael Wolter daran, dass natürlich „sein impliziter jüdischer Gesprächspartner dieser Behauptung zustimmen wird“, womit Paulus „auf den exklusiven Monotheismus des jüdischen Gottesverständnisses“ zurückgreift. Meines Erachtens passt der abstrakte Begriff „Monotheismus“ nicht zu der Art und Weise, wie der Gott Israels „z.B. in Jes 43,10-11; 45,14, aber auch in Ps 47,9; 66,7-8; 99,2-3; 113,4; Mal 1,11“ eben als der Befreier Israels zugleich als der Gott bezeugt wird, der über alle anderen Völker und ihre Götter erhaben ist. Wolter tut aber so, als lasse Paulus bewusst diejenigen „Traditionen, die die exklusive Bindung Gottes an Israel als sein Eigentumsvolk betonen, um die Abgrenzung von den anderen Völkern zum Ausdruck zu bringen (z.B. Ex 6,7; Lev 26,12; Dtn 7,6-8; 10,14-15; 14,2; 26,16-19; Jer 7,23; 11,4; 30,22; Ez 34,31; 36,28; Mi 4,5), … außen vor“ und (W272) als wolle er hier nur ganz allgemein „das Gott-Sein Gottes ins Spiel“ bringen, wie er zuvor „von der Rechtfertigung des ‚Menschen‘ (V. 28)“ geredet hat, „und von ihm aus die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden“ aufheben:
Das Gott-Sein Gottes und das Mensch-Sein der Juden und Heiden entsprechen einander. Auf derjenigen semantischen {bedeutungsmäßigen} Ebene, auf der Gott der eine Gott ist, können Juden und Heiden nichts anderes sein als Menschen.
Aber kann wirklich schon Paulus so abstrakt wie ein griechischer Philosoph von Gott geredet haben, statt als der auf den Messias vertrauende Jude, der er ist, den Gott Israels von seinem befreienden NAMEN her zu begreifen?
Natürlich hat Wolter Recht, wenn er zu Vers 30a schreibt, dass „Paulus … hier das Šɘmā von Dtn 6,4 ins Spiel“ bringt, „das monotheistische Grundbekenntnis Israels“, das (Anm. 37) „in der Septuaginta-Fassung“ lautet: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer“. Folgerichtig übersetzt er (W266) Vers 29c-30a mit: „Natürlich (ist er) auch (der Gott) der Heiden, (ist) doch Gott einer…“
Dabei dient (W272) die „Konjunktion eiper {(ist) doch}“ der Begründung von V. 29: Weil es nur einen Gott gibt, ist dieser Gott nicht ‚allein Gott der Juden‘, sondern auch Gott ‚der Heiden‘.“
Als Jude weiß Paulus jedoch, dass dieser „Herr“, dieser kyrios, wie die Septuaginta den Gottesnamen JHWH aus dem Hebräischen übersetzt, paradoxerweise ein Herr ist, der das Volk Israel aus allen Versklavungen befreit, was aus dem Zusammenhang des Schɘma in 5. Mose 6 klar hervorgeht. Auf diesen Hintergrund geht Wolter mit keinem Wort ein.
Stattdessen erkennt Wolter in dem auf Gott bezogenen „Relativsatz“ hos dikaiōsei peritomēn ek pisteōs kai akrobystian dia tēs pisteōs, von ihm übersetzt mit (W266): „der die Beschneidung aus Glauben gerecht macht und die Unbeschnittenheit durch den Glauben“, wiederum sehr allgemein (W272)
eine Prädikation, die das Wesen Gottes beschreibt, das sich unmittelbar aus seiner Einzigkeit als Gott ergibt. Der eine Gott, dem die eine Menschheit gegenübersteht, kann gar nicht anders, als alle Menschen gleich zu behandeln, und das heißt im vorliegenden Fall: dass er für die Rechtfertigung bei allen Menschen ohne Unterschied und Ausnahme den Glauben zugrunde legt. Die Begründung dafür, dass die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden für das Heilshandeln Gottes bedeutungslos ist, liefert Paulus das Šɘmā von Dtn 6,4.
Es ist die Behauptung, Gott könne „gar nicht anders, als alle Menschen gleich zu behandeln“, mit der Wolter wieder einen abstrakt-philosophischen Gottes- und Gleichheitsbegriff voraussetzt, der mit dem biblischen Denken nicht wirklich kompatibel ist. Die Gleichheit im Sinne einer sozialen und politischen Egalität, auf die das befreiende Handeln des Gottes Israels gerichtet ist, muss ja unterdrückenden Mächten immer erst abgetrotzt werden. Insofern behandelt Gott versklavende Mächte wie Ägypten, Babylon und Rom (oder auch Israels Führung, die das eigene Volk versklavt oder mit Besatzern kollaboriert) eben nicht exakt gleich wie das von ihm erwählte unterdrückte Volk (bzw. die Armen und Elenden innerhalb des Volkes). Indem Wolter einen solchen gesellschaftspolitischen Kontext der biblischen Erzählungen und erst recht des Römerbriefs vollkommen ignoriert, definiert er eine allgemeine Gleichheit aller Menschen, die sich – unausgesprochen – lediglich auf ihr individuelles Seelenheil vor Gott bezieht.
Zwei Funktionen schreibt Wolter (W273) diesem „Relativsatz V. 30b“ zu: erstens „die Begründung für die in V. 27a-b ausgesprochene Behauptung …, dass Gott das Rühmen ausgeschlossen hat“, und zweitens, dass aus ihm „hervorgeht, wie das ‚Gesetz des Glaubens‘ lautet, von dem Paulus in V. 27e gesprochen hatte.“ Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass das „Gesetz des Glaubens“ also lauten würde: Alle Menschen ohne Unterschied werden von Gott durch ihren Christus-Glauben gerechtfertigt.
Dazu passt (W272), dass Wolter „nicht mehr als eine stilistische Variation“ im Gebrauch der verschiedenen Präpositionen sieht, wenn Gott nach Paulus „die Juden ek pisteōs {aus Glauben} und die Heiden dia tēs pisteōs {durch den Glauben} rechtfertigt“:
Sie kann schon darum kein Unterschied in der Sache sein, weil beide Präpositionen dasselbe sagen wie der eine instrumentale Dativ pistei {durch Glauben} in V. 28, der sich hier auf das Juden und Heiden umschließende Appellativum „Mensch“ bezieht.
Wenn das auch grundsätzlich stimmt, mag man es Paulus dennoch zutrauen, mit Hilfe dieser stilistischen Variation anzudeuten, dass nun doch nicht alle Unterschiedenheit zwischen Israel und den Völkern einfach so eingeebnet wird, wie sich das Wolter vorstellt.
Nach Gerhard Jankowski geht Paulus davon aus, dass das große Problem der weltweiten Versklavung nicht nur Israels, sondern aller Völker unter das Imperium Romanum nicht mehr durch eine säuberliche Trennung Israels von den Völkern auf dem Wege der Befolgung der Tora, also quasi durch einen neuen Auszug aus Ägypten, gelöst werden kann. Eine Überwindung der gegenwärtigen von Unterdrückung und Gewalt geprägten Zustände ist nur möglich durch die Verwandlung der Gegensätze von innen, durch das versöhnende Handeln des Messias, wie es Paulus zuvor beschrieben hat (J98):
Menschheit wird wahr gemacht, Menschheit, die Juden und Nichtjuden umfaßt. Die wird wahr gemacht durch die Treue Gottes. Juden allein können wahr werden durch das Tun der Thora. Nichtjuden können das nicht, da sie Thora nicht haben. Sie müssen nicht durch die Vorschriften, Gesetze, Anweisungen der Thora hindurch, um wahre Menschen zu werden. Das ist ihnen gleichsam durch die Treue Gottes erlassen. Was aber von ihnen verlangt wird, ist das Vertrauen zum Gott Israels, der eine befreite und geeinte und so wahre Menschheit will.
Das heißt aber: Der Gott Israels wird nicht einfach zum abstrakt-philosophisch verstandenen Allerweltsgott aller Menschen, den jeder denkende Mensch sich als ein höchstes allmächtiges Wesen vorstellen mag. Vielmehr geht Paulus davon aus, dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der die Völker, wie es in den Schriften Israels verheißen war, den befreienden NAMEN Gottes erkennen und bekennen können:
Was Israel bekennt: der EWIGE unser Gott, der EWIGE Einer, das kann jetzt auch von Nichtjuden gesprochen werden. Der Eine Gott Israels ist der Gott von Juden und Nichtjuden. Mit anderen Worten: Auch die Gojim können das Schma Jisrael sprechen, ohne daß sie Juden werden müssen.
Nach Jankowski ist es aber von Bedeutung, dass Paulus ausdrücklich „die Unterschiede“ benennt, „die bestehen und bestehenbleiben: Beschneidung und Vorhaut.“ So
bleiben die Unterschiede gewahrt. Sie können und dürfen nicht aufgehoben werden. Das ist gerade Kennzeichen der geeinten Menschheit, daß sie nicht uniform ist, sondern die Unterschiede aushalten kann.
Von dieser Voraussetzung her interpretiert Jankowski die verschiedenen Präpositionen ek und dia in Römer 3,30b als wesentliche Akzentuierungen (J98f.):
Die Beschneidung, das sichtbare Zeichen der Zugehörigkeit zum Bund, bleibt. Wer beschnitten ist, soll beschnitten bleiben. Der wird wahr gemacht aus Treue und Vertrauen heraus, ek pisteōs. Denn Treue und Vertrauen sind ihm bekannt. Sie gehören zu dem Bund, aus dem er kommt. Es bleibt aber auch die Vorhaut. Wer nicht beschnitten ist, braucht sich nicht beschneiden zu lassen, er bleibt unbeschnitten. Wer unbeschnitten ist, wird wahr gemacht durch Treue Gottes, dia pisteōs, an Beschneidung und Bund vorbei. So ist die Treue Gottes das Verbindende zwischen den Verschiedenen. Es ist eine „unaufhebbare Verschiedenheit“ (F.-W Marquardt) <111>. Aber gerade daß die nicht aufgehoben wird, gibt der geeinten Menschheit erst einen Sinn. Nur in dieser Verschiedenheit wird sie wirklich wahr.
↑ Römer 3,31: Römer 3,31: Durch Treue bzw. Vertrauen wird die Tora nicht außer Kraft gesetzt
3,31 Wie? Heben wir das Gesetz auf durch den Glauben?
Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.
[31. Januar 2025] Dass Paulus (W273) im Vers 31a „die Frage nach der Tora noch einmal“ aufnimmt, ähnelt nach Michael Wolter „den Übergängen von 2,11 auf 2,12, von 3.9-18 auf 3,19, von 4,11b-12 auf 4,13 und von 5,12d auf 5,13-14“, denn an all diesen Stellen „kommt Paulus auf das Gesetz zu sprechen, nachdem er unmittelbar vorher festgestellt hat, dass es zwischen Juden und Heiden keinen Unterschied gibt.“ Wie in Vers 28 stellt er hier nomos und pistis {Gesetz und Glauben} einander gegenüber, und ebenso wie dort verwendet er auch hier die „1. Person Plural“.
Wie ist aber „das Gegenüber von nomon katargoumen {wir setzen das Gesetz außer Kraft} (V. 31a) und nomon histanomen {wir halten am Gesetz fest} (V. 31c) zu verstehen“? Obwohl ein solches Gegenüber sonst „in der antiken griechischen Literatur“ nirgends belegt ist, gelingt es Wolter, in einer eingehenden Analyse biblischer Texte herauszuarbeiten, was Paulus meint. Das Wort katargein verwendet Paulus selbst „22mal in Röm, 1/2Kor und Gal“, während es in der Septuaginta nur in Esra 4,21.23; 5,5; 6,8“ als „Wiedergabe von aram. batal {aufhören}“ in der Paˀel-Form vorkommt, „das ansonsten durch argein … wiedergegeben wird.“ Das Wort histanein ist „in der Septuaginta“ oft „mit einem Wort“ verknüpft, „das gesetzliche Vorschriften bezeichnet“, es basiert in „allen Fällen … auf dem hebräischen Verb qum {aufstehen, Bestand haben}“ und hat dort (W274) – worauf „vor allem auch die Austauschbarkeit mit {dem gleichbedeutenden Wort} tēreō in 1Sam 15,11 und Mk 7,9“ hinweist – die Bedeutung … von ‚halten‘, ‚bewahren‘ oder ‚ausführen‘. … In keinem einzigen Fall liegt die Bedeutung „ein bisher nicht vorhandenes Gesetz ‚aufrichten‘“ o.ä. vor.
Bemerkenswert ist für Wolter außerdem,
dass die hebräischen Grundwörter dieser beiden Begriffe, qum und batal, in der rabbinischen Literatur genau dann einander gegenübergestellt werden, wenn es um die Frage geht, ob die Tora ‚übergangen‘ / ‚aufgehoben‘ / ‚ungültig gemacht‘ / ‚außer Kraft gesetzt‘ wird oder ob sie ‚befolgt‘ / ‚aufrechterhalten‘ / ‚ausgeführt‘ bzw. an ihr ‚festgehalten‘ wird. In diesem Sinne heißt es in mAv {Mischna Avot} 4,9: „Jeder, der die Tora als Armer bewahrt (mɘqajim), wird sie auch als Reicher bewahren (qajɘmah), und jeder der die Tora als Reicher vernachlässigt (mɘbattel), wird sie auch als Armer vernachlässigen (battɘlah)“.
An dieser Stelle erkennt Wolter also an, dass Paulus als jüdischer Lehrer argumentiert, indem er in Römer 31a-b
bestreitet …, dass die Bedeutung, die er dem Christus- Glauben in V. 28 zugeschrieben hatte, in einen Bruch mit der Tora führt. In V. 31c insistiert er darauf, dass zwischen der Tora und der Gewissheit, dass Gott den Menschen nur aus Glauben und ohne Werke des Gesetzes gerecht macht (V. 28), eine ungebrochene Kontinuität besteht.
Wolters weitere Ausführungen zeigen jedoch, dass er eine vorbehaltlose Anerkennung der Tora durch Paulus nach wie vor nicht anzunehmen bereit ist, denn ihm zufolge bringt Paulus diese
Kontinuität … dadurch zur Geltung, dass er erneut mit der Bedeutung des Gesetzesbegriffs spielt: Wie in V. 28 steht nomos auch in V. 31c für die Tora. Die Fortsetzung in Kap. 4 lässt nun aber erkennen, dass Paulus den Begriff hier mit einer anderen Semantik {Bedeutung} ausstattet: Während nomos in V. 28 noch Sammelbezeichnung für die durch „Werke“ zu erfüllenden Rechtsforderungen der Sinai-Tora war, verwendet Paulus den Begriff in V. 31c wie bereits in V. 21b als literarische Kategorie und bezeichnet mit ihm die „Tora“ als den ersten Teil des alttestamentlichen Kanons, der die Geschichte von der Schöpfung bis zum Tod des Mose erzählt.
Indem jedoch Wolter die Tora als Erzählung und als Gesetz auseinanderreißt, entgeht ihm die wahre Bedeutung der Tora als einer aus den Erzählungen der fünf Bücher Mose hervorgehenden Wegweisung Gottes, die als Disziplin der Freiheit dazu dient, die geschenkte Befreiung zu bewahren.
Mit dem Hinweis (W275) auf ein „ganz analoges Wortspiel“, das Paulus „auf engstem Raum auch in Gal 4,21“ veranstaltet, wo er diejenigen, die „unter dem nomos sein“ wollen, auf die von ihm anschließend theologisch interpretierte „Abraham-Erzählung“ verweist, stellt Wolter allerdings zu Recht fest, dass Paulus jetzt auch hier „im Anschluss an Röm 3,31c … wie in Gal 4,22-31“ auf Abraham eingeht und in Kapitel 4 „aus dem ‚Gesetz‘ zeigen“ wird, „dass Gott nicht nur schon immer aus Glauben gerechtgesprochen hat, sondern dass dies auch bei Abraham, dem Stammvater des Gottesvolkes, der Fall gewesen ist.“
Zusammenfassend hebt Wolter hervor, dass Paulus „in V. 29-30 … die Unterschiedslosigkeit der Heilszuweisung an Juden und Heiden aus dem Gottesverständnis Israels“ ableitet:
Paulus will deutlich machen, dass die Aufhebung des Unterschieds zwischen Juden und Heiden durch den Christus-Glauben in ungebrochener Kontinuität zum Gottesverständnis Israels steht. Aus V. 29-30a geht aber auch hervor, dass Paulus bei dieser Argumentation nur einen bestimmten Aspekt des alttestamentlichen Redens von Gott herausgreift: Gottes Universalität und Einzigkeit. Die exklusive Bindung Gottes an Israel, die ebenfalls zum Grundbestand des jüdischen Gottesverständnisses gehört, lässt er unbeachtet.
Zu Römer 3,31 wiederholt Wolter seine Behauptung, dass Paulus trotz seiner gegenteiligen Beteuerung die jüdische Tora als Gottes Wegweisung in ihrer Geltung doch im Grunde als überholt ansieht, da er sie von den Büchern der Tora her unter Absehung vom bleibenden Bund Gottes mit Israel völlig neu interpretiert (W275f.):
Dem entspricht, dass Paulus die Kontinuität zum Gesetz nur so postulieren kann, dass er innerhalb des Gesetzesbegriffs differenziert: Er unterscheidet zwischen einem „Gesetz der Werke“ und einem „Gesetz des Glaubens“ (V. 27c-e), grenzt die Rechtfertigung „durch Glauben“ ausdrücklich von den „Werken des Gesetzes“ ab (V. 28) und integriert das Gesetz schließlich in Aufnahme von 3,21b als literarische Kategorie in seinen theologischen Begründungszusammenhang (V. 31c). Dass aus dem Begriffspaar „Gesetz und Propheten“ (3,21b) in 3,31c nur noch das Gesetz übrig bleibt, hat zwei Gründe: Zum einen ist das Thema ‚Gesetz‘ zusammen mit dem Thema ‚Gott‘ aus 2,17.23 vorgegeben, und zum anderen steht die Abrahamüberlieferung, auf die Paulus gleich im Folgenden Bezug nehmen wird, nun einmal in der Tora.
Für Gerhard Jankowski (J99) steht es außer Frage, dass Paulus in seinen Argumentationen die Tora immer mitbedenken muss, da sie es ja ist, „die die Unterschiede und Verschiedenheiten markiert.“ Wenn also, wie er festgestellt hat, „nur die Treue maßgebend dafür ist, daß Menschheit wahr werden kann“, auch wenn nach wie vor „die Unterschiede bestehenbleiben, was ist dann mit der Thora? Wird sie nicht überflüssig? Ist sie nicht zu einer Nebensache geworden, vielleicht sogar erledigt?“ Das ist für
den Juden Paulus … eine undenkbare Möglichkeit. Auf keinen Fall ist für ihn der Bund, zu dem die Thora gehört, aufgehoben. Er bleibt ja gerade durch die Treue Gottes bestehen. Und so bleibt auch die Thora.
Mit dem folgenden Satz: „Mehr noch, durch die Treue wird die Thora erst in ihrer Gewichtigkeit betont, aufgerichtet, wie Paulus sagt“, übernimmt Jankowski die gängige Übersetzung von histēmi mit aufrichten. Mich hat dagegen Wolter davon überzeugt, nomon histanomen einfach mit wir halten an der Tora fest zu übersetzen.
Da Jankowski anders als Wolter nicht davon ausgeht, dass Paulus die Unterschiede zwischen Juden und Gojim als völlig eingeebnet ansieht, muss jedoch zuerst „die Einheit der Verschiedenen geklärt werden“. Aus welchem Grund kommt denn „den Gojim die Treue Gottes genauso wie den Juden zugute“?
Es fällt Jankowski nicht gerade leicht, darauf zu antworten, weil Paulus erstens in den ersten beiden Teilen seines Briefes „sehr theoretisch“ argumentiert und auf „die praktischen Konsequenzen … erst im dritten Teil des Schreibens“ eingeht und weil er zweitens
in diesem ersten Teil eine Diskussion mit Juden führt…, wie er es gelernt hatte. Vieles braucht nur angedeutet zu werden und ruft doch ganze Stränge einer Diskussion auf. Das meiste, was Paulus sagt, muß, weil es Widerspruch hervorrufen könnte, wieder und wieder begründet werden. Das alles wieder z.T. nur in angedeuteten Akzentuierungen. Es ist die Sprache der Lehrer Israels, die uns hier begegnet. Es ist mühsam, sich in diese Gedankenwelt einzuarbeiten, sie überhaupt erst zu entdecken. Teilweise ist uns unsere theologische Verbildung dabei nicht hilfreich, weil sie jüdische Traditionen gerade auch bei Paulus eher nur am Rande zur Kenntnis nimmt.
Drittens kommt erschwerend hinzu, dass „der Römerbrief … weitgehend von lutherischer Rechtfertigungslehre her gelesen und interpretiert worden“ ist und damit „das eigentliche Thema des Briefes zu kurz kommen“ musste, womit viertens einher ging (J100), dass die Frage nach der
Bedeutung der Thora… dazu benutzt wurde, einen Trennungsstrich zum Judentum zu ziehen. Das geschah und geschieht zum einen aus theologischen Gründen; zum anderen konnte es zu dieser Interpretation kommen, weil die durch und durch jüdische Gedankenwelt des Briefes nicht erkannt oder geleugnet wurde.
Als „das grundlegende Thema des Briefes“ erkennt Jankowski „das Volk Israel und die anderen Völker oder auch: das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden“, das er „in seinem historischen und jüdischen Kontext einzuordnen“ versucht:
Das Thema wurde zur Zeit des Paulus innerhalb des Judentums kontrovers diskutiert. Die eher orthodoxen und radikalen Gruppen vor allem in der Provinz Judäa strebten nach Autonomie für das eigene Volk. Sie propagierten dabei die völlige Trennung von den anderen Völkern. Oder sie wollten die anderen Völkern judaisieren, d.h. zu Juden machen.
Paulus ging einen heterodoxen {von der herrschenden Lehre abweichenden} Weg. Er hatte erkannt, daß die Forderung nach Autonomie unter den gegebenen Verhältnissen unmöglich durchzusetzen war. Die Judaisierung der Nichtjuden in der Diaspora zu propagieren war für ihn ebenso unmöglich. Daher gab es nur eine Möglichkeit: Israel mußte sich für die anderen Völker öffnen. Der Kampf war nicht gegen die Völker, d.h. gegen die Nichtjuden, sondern für sie zu führen. Nichtjuden konnten zu Israel gehören, ohne Juden zu werden. Grundlage dafür war ein konkreter Messianismus. Was die Propheten erhofft hatten, daß die Völker zum Zion kommen sollten, um dort mit Israel den Gott Israels zu loben, war für Paulus zu einer realen Möglichkeit geworden, nachdem er in dem gekreuzigten und auferstandenen Rabbi Jesus den Messias erkannt hatte.
Von daher ist der Abschnitt Römer 3,21-31 für Jankowski
ein erster Höhepunkt des Briefes, weil hier das, was Paulus wollte, auf den Punkt gebracht ist: die Gojim, die Nichtjuden, gehören zu Israel, ohne Juden werden zu müssen. Zusammen mit den Juden verkörpern sie die Menschheit, die auf messianische Befreiung angelegt ist. Es ist eine wirklich geeinte Menschheit, obwohl die Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden bestehenbleiben. Die Gemeinschaft, bewirkt durch die Treue des Gottes Israels, wird zum Lernfeld des gemeinsamen Vertrauens zwischen Juden und Gojim.
Dass „in diesem ganzen Zusammenhang Israel nicht erwähnt wird“, fällt Jankowski auf, ohne dafür einen vermutlichen Grund anzugeben. Indem Paulus „bei dem bekannten Gegensatz Juden – Griechen oder Juden – Nichtjuden“ bleibt, „unterstreicht er den alten Antagonismus“, aber „[g]leichzeitig …zeigt er seine Überwindung auf.“
Mit „diesem Ansatz“ verabschiedet sich Paulus nicht etwa vom Judentum oder von der Tora als solcher, wohl aber wusste er, dass ihm
die ganze bisherige jüdische Tradition entgegenstand… Er kam nicht umhin, diese Tradition zu befragen und zu interpretieren. Er mußte erklären, wie er bei seinem Ansatz die Thora verstand, was die Beschneidung für ihn noch bedeutete, was an der Verheißung an Abraham für ihn noch tragend war.
Die letztgenannte Frage wird er in Kapitel 4 sogleich ausführlich erörtern.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 3,21-31
21 Jetzt aber ist ohne die Tora
Gottes Bewährtheit offenkundig geworden,
bezeugt durch das Gesetz und die Propheten,
22 eine Bewährtheit Gottes aber
durch die Treue Jesu, des Messias,
für alle, die vertrauen.
Denn es ist kein Unterschied,
23 denn alle sind fehlgegangen
und ermangeln der Ehre Gottes
24 und werden geschenkweise wahr gemacht aus seiner Gnade
durch die Auslösung, die geschehen ist im Messias Jesus,
25 den Gott hingestellt hat als Gnadenort
durch Treue
in seinem Blut
zum Erweis seiner Bewährtheit
um des Erlassens der zuvor geschehenen Verfehlungen willen
26 in der Zurückhaltung Gottes
zu dem Erweis seiner Bewährtheit
in der jetzigen Zeit,
dass er bewährt ist und den wahr macht, der aus Jesu Treue ist.
27 Wo ist nun das Rühmen?
Es wurde ausgeschlossen.
Durch welche Tora?
Die der Werke?
Nein, sondern durch die Tora des Vertrauens.
28 Denn wir rechnen damit,
dass die Menschheit durch Vertrauen wahr wird
ohne Werke der Tora.
29 Oder ist Gott der Gott der Juden allein?
Nicht auch Gott der Gojim?
Ja, auch der Gojim,
30 ist doch Gott einer,
der wahr machen wird die Beschneidung aus Vertrauen
und die Unbeschnittenheit durch Vertrauen.
31 Setzen wir nun die Tora durch das Vertrauen außer Kraft?
Das geschehe nicht!
Wir halten vielmehr an der Tora fest.
↑ Ein Midrasch über die Verheißungen an Abraham (Römer 4,1-25)
[1. Februar 2025] Für Gerhard Jankowski (J6) reicht der ausführliche Midrasch des Paulus über Abraham, mit dem er als jüdischer Lehrer die Einbeziehung der Gojim in den Bund mit Israel gegenüber der gesamten jüdischen Tradition zu begründen versucht, von Römer 4,1 bis Römer 5,11, und zwar unter den Zwischenüberschriften „Das Vertrauen 4,1-8“, „Vater aller Vertrauenden 4,9-12“, „Erben der Verheißung 4,13-16“, „Vater vieler Gojim – Abraham 4,17-22“, „Zukunft 4,23-25“ und „Gegenwart 5,1-11“.
Michael Wolter dagegen (WXII) legt das gesamte Kapitel 4 unter dem Stichwort „Die Rechtfertigung Abrahams“ aus, wobei alle Unterteilungen in irgendeiner Weise auf den „Glauben“ bezogen sind, während er die Auslegung von 5,1-11 mit dem darauf folgenden Abschnitt „Christus und Adam (5,12-21)“ unter der Überschrift „Die Umkehr von Unheil in Heil durch Jesus Christus“ zusammenfasst. Da von Abraham ausdrücklich nur bis zum Ende von Kapitel 4 die Rede ist, lasse ich wie Wolter mit Römer 5,1 einen neuen Abschnitt meiner Auslegung beginnen.
In seiner Einleitung zur Auslegung von Römer 4,1-25 stellt Wolter fest (W276), dass es „nach dem bisherigen Verlauf des Römerbriefes aus zwei Gründen nicht überraschend“ ist, dass „Paulus auf Abraham zu sprechen kommt“. Erstens hatte er seine in 3,22.26.28-30 vorgetragene „These von der Rechtfertigung aus Glauben … auf der Grundlage von Gen 15,6 im Galaterbrief entwickelt“, und zwar in „der Auseinandersetzung mit christlichen Juden, die von den galatischen Heidenchristen die Beschneidung verlangten“, und zweitens (W277)
drängt sich das Abraham-Thema aufgrund der heilsgeschichtlichen Bedeutung Abrahams auf: Abraham gilt als der Stammvater Israels, das Gott sich aus den Völkern zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat. Mit der Erwählung Abrahams wurde Israel von den Völkern unterschieden, denn Gott hat sich sein Volk dadurch erwählt, dass er Abraham erwählt hat.
Da sich Paulus Wolter zufolge im Römerbrief um die „theologische Aufhebung“ dieser „Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern“ bemüht, muss er „geradezu zwangsläufig die Frage nach Abraham stellen.“
Die Antwort des Paulus läuft nach Wolter auf „den Nachweis“ hinaus,
dass gerade Abraham, und zwar als Glaubender, zum Stammvater einer über das Judentum hinausreichenden Nachkommenschaft geworden ist: Abrahams heilsgeschichtliche Funktion erstreckt sich auf alle Menschen, die wie er glauben, und schließt damit auch die Menschen aus den nichtjüdischen Völker ein, die an Jesus Christus glauben.
In welchem Ausmaß das Kapitel Römer 4 aus Inhalten der ersten drei Römerbriefkapitel hervorgegangen ist, belegt Wolter mit dem Hinweis auf „zahlreiche Begriffe und Themen, die vor allem in 3,21-31, aber auch in 1,16 – 3,20 eine Rolle gespielt haben, in Kap. 4 wiederkehren“. Vom Alten Testament her (W277f.) bilden
die Gen 15,6 entnommenen Begriffe pistis/pisteuein {Glaube/glauben}…, logizesthai {anrechnen} (V. 3-6.8-11.22-24) sowie dikaiosynē {Gerechtigkeit} und Stammverwandte … in derselben semantischen Konfiguration wie im alttestamentlichen Praetext Rahmen und Grundgerüst der paulinischen Darstellung…
↑ Römer 4,1-3: Abrahams Gottvertrauen wurde ihm zur Bewährtheit gerechnet
4,1 Was sagen wir denn von Abraham, unserm leiblichen Stammvater?
Was hat er erlangt?
4,2 Das sagen wir:
Ist Abraham durch Werke gerecht,
so kann er sich wohl rühmen,
aber nicht vor Gott.
4,3 Denn was sagt die Schrift?
„Abraham hat Gott geglaubt,
und das wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“
[2. Februar 2025] Der ersten Vers aus Römer 4 betrachtet Michael Wolter (W279) als „Überschrift“ des ganzen Kapitels. Verwunderlich findet er, dass der Satz vielen „Abschreibern und Exegeten“ vom Satzbau her „Probleme bereitet“ hat, die wohl daher kommen, dass das einleitende „Fragepronomen ti {was}“ sich „als Objekt“ sowohl auf „eroumen (‚Was sollen wir nun sagen?‘)“ als auch auf „heurēkenei (‚Was erlangte Abraham?‘)“ bezieht. Seine Übersetzung lautet:
Was, sollen wir nun sagen,
erlangte Abraham, unser Urvater nach dem Fleisch?
Es gibt offenbar Exegeten, die diese Frage von 1. Mose 18,3 her „beantwortet wissen“ wollen, dass nämlich Abraham vor Gottes Augen „Gnade“ gefunden habe, Wolter meint allerdings, dass hier „vielmehr ein allgemeiner Sprachgebrauch“ vorliegt, „der menschliches Ergehen metaphorisch als ein ‚Finden‘ bzw. ‚Erlangen‘ umschreiben kann“, wie z.B. auch in 1. Mose 26,12, Sprüche 21,21 oder Jeremia 6,16. Gefragt wird hier (W280) „also danach, wie es Abraham ergangen ist“, und zwar infolge „eines bestimmten Tuns oder Verhaltens“, das in den folgenden Versen erläutert wird.
Der „Ausdruck kata sarka … verweist … auf die leibliche Abstammung aller Juden von Abraham.“ Im Blick darauf schließt sich Paulus also ausdrücklich „mit den nichtchristlichen Juden zusammen“, während die „heidenchristlichen Adressaten des Römerbriefes … hier außen vor“ bleiben,
denn ihr Vater ist Abraham nicht kata sarka, sondern allein aufgrund des Glaubens (vgl. V. 11 sowie Gal 3,7). Dieses Abrahamverständnis findet seine Entsprechung in Röm 9,3, wo Paulus alle nichtchristlichen Juden „meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch (kata sarka)“ nennt. Mit hēmōn {unser} will Paulus sich also gerade mit den nichtchristlichen Juden zusammenschließen.
Obwohl es Wolter bewusst ist, dass Paulus „dabei vom traditionellen jüdischen Abrahambild“ ausgeht, das auf „Verheißungen … wie … in Gen 13,16a … und … Gen 15,5; 17,4-6; 22,17“ beruht, und er sich sich selbst offenbar gerade auch als Apostel des Messias Jesus dem Volk Israel zugehörig weiß, das „z.B. 2Chr 20,7; Jes 41,8; Ps 105/ 104,6“ als „Same (sperma) Abrahams“ bezeichnet wird, scheint es Wolter nicht aufzufallen, dass darin ein Widerspruch zu zwei seiner Behauptungen besteht, nämlich erstens, Paulus würde alle Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden einebnen wollen, und zweitens, Paulus würde nur römische Heidenchristen ansprechen. Die Verschiedenheit spielt für Paulus eine Rolle, wenn auch nicht in der jüdisch-traditionell vorgegebenen Weise. Und es wäre seltsam, wenn Paulus aus seiner nach wie vor bestehenden Verbundenheit mit dem Urvater Abraham heraus sich nicht gerade eindringlich an eben diejenigen wenden würde, mit denen er sich durch das hēmōn {unser} zusammenschließt, nämlich jüdische Adressaten in Rom. Heidenchristen müsste er doch nicht erst davon zu überzeugen versuchen, dass Juden keinen Grund haben, sich auf ihre Erwählung etwas einzubilden; und ich kann mir nicht vorstellen, dass Paulus einfach nur heidnische Vorurteile gegenüber Juden bestätigen wollte.
Römer 4,2 wird von Wolter anders wiedergegeben als in allen anderen mir zugänglichen Übersetzungen (W281):
Wenn Abraham nämlich aus Werken gerechtfertigt worden wäre,
hat er Grund zum Rühmen.
Aber nicht bei Gott!
Anderswo wird nicht mit „wäre“, sondern mit „ist“ übersetzt, aber für Wolter ist ei {wenn} mit edikaiōthē in der Verbform „Indikativ Aorist“ ein „irrealer Bedingungssatz“ <112>, der „dann aber in V. 2b-c wie ein realer Bedingungssatz“ weitergeht. Was im Satzbau nicht zusammenpasst, hat ihm zufolge auch inhaltliche Gründe, weil
Paulus sich hier mit einem Abrahambild auseinandersetzt, wie es u.a. in Jak 2,21 erkennbar ist: „Abraham, unser Vater – wurde er nicht aus Werken gerechtfertigt, als er Isaak, seinen Sohn, auf den Altar legte?“ (s. auch Neh 9,8; Sir 44,19-20; … Hebr 11,17-19). Es verknüpft Abrahams Rechtfertigung mit seiner gehorsamen Unterwerfung unter Gottes Gebot und Forderung. Auch Paulus will Abraham durchaus nicht absprechen, dass er Grund hatte, sich seiner „Werke“ zu rühmen. Dieser „Ruhm“ war jedoch bei seiner Rechtfertigung nicht maßgeblich, weil Gott ihn nicht „aus Werken“ für gerecht erklärt hat.
Da aus dem folgenden Vers mit Bezug auf 1. Mose 15,6 hervorgeht (W282), „dass Abrahams Glaube für seine Rechtfertigung ausschlaggebend war, kann die Annahme, er sei ex ergōn gerechtfertigt worden, nur als eine irreale Annahme formuliert werden.“ Und mit „all‘ ou pros theon {aber nicht vor Gott} (V. 2c)“ will Paulus sagen, dass Abraham sich allenfalls „pros anthrōpon“ {vor einem Menschen}“ seiner unzweifelhaft vorhandenen
Werke … hätte rühmen können. Gott hat jedoch auf sie nicht geachtet, als er Abraham für gerecht erklärt hat, denn bei ihm gibt es keine Rechtfertigung „aus Werken“.
In Römer 4,3 folgt dann das „Zitat von Gen 15,6“, mit dem Paulus begründet, warum „Abrahams ‚Ruhm‘ … bei seiner Rechtfertigung nicht maßgeblich“ war, denn Gott hat „ihn aufgrund seines Glaubens gerecht gesprochen“. Damit nimmt er „Gott selbst und die Eigenart seines rechtfertigenden Handelns… als entscheidendes Argument für die in V. 2 ausgesprochene These“. In „direktem Widerspruch zur Interpretation dieses Verses in der frühjüdischen und rabbinischen Literatur“ behauptet Paulus also, „dass Gott überhaupt nur aufgrund von Glauben gerecht spricht.“ Obwohl also Abraham durchaus Werke vorzuweisen hatte, wurde er „nicht ‚aus Werken‘ gerecht gesprochen“, sondern „weil Gott sein Glauben (pisteuein) als Gerechtigkeit angerechnet hat.“
[5. Februar 2025] Gerhard Jankowski beginnt seine Auslegung von Römer 4 mit einer genaueren Betrachtung der Verheißungen an Abraham (J101):
Abraham. Mit ihm fängt an, was einmal Israel heißen soll. Herausgerufen wird er aus einem fremden Land. Als er auftaucht aus der Zerstreuung der Gojim über die Erde (Gen 11,32,) hört er eine unglaubliche Verheißung (Gen 12,1-3):
1 Geh vor dich hin aus deinem Land aus deiner Verwandtschaft aus dem Haus deines Vaters
in das Land, das ich dich sehen lassen werde.
2 Ich will dich zu einem großen Goj machen
und will dich segnen
und will deinen Namen großwachsen lassen.
Werde ein Segen.
3 Segnen will ich, die dich segnen,
die dich lästern, verfluche ich.
Mit dir werden sich segnen alle Sippen des Bodens.
Eine der beiden großen Verheißungen ist damals kein Problem, nämlich (J102) die „Verheißung des Landes“, da Abraham nach 1. Mose 11,31 bereits „auf dem Weg dorthin“ ist. Aber wie soll Abraham, der „kinderlos“ ist, „ein großer Goj“ werden, ein zahlreiches Volk? Daraufhin bekommt Abraham „noch einmal eine Verheißung“ (1. Mose 15,4-5):
Der von deinem Leib ausfährt, der wird dich beerben.
Er führte ihn hinaus ins Freie und sprach:
Blicke doch himmelan und zähle die Sterne,
kannst du sie zählen?
Und sprach zu ihm:
So wird dein Same sein.Die Zukunft des großen Volkes steht buchstäblich in den Sternen. Abraham kann nichts tun, nichts bewirken, nichts erwirken von dem, was in Zukunft sein wird. Er kann die Zukunft nicht planen. Machen kann er sie sowieso nicht. Diese Zukunft aber soll Israel heißen. Folglich ist Israel nicht zu planen und nicht zu machen. Israel ist Verheißung, Israel wird gegeben, es wird werden im Vertrauen auf die Zusage Gottes hin. Deswegen erfolgt auf diese zweite Verheißung, die gegen alles Machen und Planen steht, nur noch eine lapidare Feststellung (Gen 15,6):
Er aber vertraute dem EWIGEN
das achtete er ihm als Bewährtheit.
Alles was Israel von Anfang an sein konnte, entsprang nicht menschlichem Wollen und Wirken, sondern schon der Abraham verheißene „Sohn, der Zukunftsträger“, wird „von einer unfruchtbaren Frau in hohem Alter, also gegen die Natur“ geboren:
Dieser Sohn ist nicht gemacht. Er ist gegeben. Ihm folgen dann die vielen anderen Söhne durch die Generationen hindurch – nach dem Fleisch, heißt das in biblischer Sprache. Und der erste Sohn Abrahams ist nicht der einzige, der geschenkt wird. Immer dann, wenn die Zukunft gefährdet erscheint, wird einer der zukunftstragenden Söhne um der Verheißung willen gegeben. Bis dann aus den vielen Söhnen Abrahams das Volk Israel wird. Seit dem ersten gegebenen Sohn Abrahams ist jeder in Israel Sohn Abrahams und jede in Israel Tochter.
Auf diese gemeinsame Geschichte des Volkes Israels, die auf „Abraham, den Vater Israels“ zurückgeht und die Paulus mit allen Juden teilt, bezieht er sich (J103) mit den Worten „unser Vorvater nach dem Fleisch“. Auf welchem Wege konnte Abraham diese Rolle übernehmen?
Dadurch, daß er vertraut hat. Er hat für diese Vaterschaft nichts getan, außer daß er auf das vertraute, was ihm von dem zukünftigen Sohn und den zukünftigen Söhnen gesagt wurde. Das ist seine „Tat“. Auch dort, wo vom Werden des Vaters erzählt wird, bleibt Abraham passiv. Es wird nicht erzählt, daß er den Sohn gezeugt habe. Die Passivität Abrahams betont die Erzählung von der Geburt des Sohnes (Gen 21,1-3):
1 Der EWIGE ordnete es Sara zu, wie er gesprochen hatte,
an Sara tat der EWIGE , wie er geredet hatte.
2 Sara wurde schwanger und gebar Abraham auf sein Alter einen Sohn,
zu der Frist, von der Gott ihm geredet hatte.
3 Und Abraham rief den Namen seines Sohnes, der ihm geboren worden war, den Sara ihm geboren hatte:
Jizchak: Er lacht.
In welchem Ausmaß Gerhard Jankowski seine biblischen Einsichten im Einklang mit Ton Veerkamp <113> entwickelt hat, geht daraus hervor, dass Letzterer in seiner Auslegung von Johannes 1,13 die gleiche Argumentation wie hier Jankowski im Blick auf diejenigen ausführt, die „nicht aus dem Willen eines Mannes“ gezeugt wurden. Dabei ergänzt Veerkamp den Gedanken, dass „im Gegensatz zu all den Patriarchen aus dem Buch Genesis, Zeugungen (tholedoth), tholedoth ˀAdam (Genesis 5,1) tholedoth Noach … bis tholedoth Jaˁaqov (Genesis 37,2) … ausgerechnet das Kapitel tholedot ˀAvraham“ fehlt:
Zwar hören wir: „Dies sind die Zeugungen Isaaks, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugte den Isaak“, Genesis 25,19. Aber die Zeugung durch Abraham ist ein Element aus dem Kapitel: „Zeugungen Isaaks“.
Ähnlich wie Jankowski im Römerbrief in der pistis Abrahams das Vertrauen auf eine durch den Messias Jesus ermöglichte Versöhnung zwischen Juden und Nichtjuden begründet sieht, legt Veerkamp die Aussage von Johannes 3,16 über Jesus als „den SOHN, den Einziggezeugten“ von den Aussagen der Tora über Abraham her aus, der „seinen Sohn, ‚seinen Einzigen‘, als Opfer“ erheben soll, um einzusehen, dass
dieser Isaak nicht der Sohn Abrahams, sondern der Sohn seines Gottes ist, des VATERS von Israel, dem Volk, das dazu bestimmt ist, Erstgeborenes unter den Völkern zu sein. Bleibt Isaak nicht am Leben, hat Abraham keine Zukunft. Er muss am Leben bleiben, aber nur als Gottes Sohn.
Entsprechend deutet der Evangelist Johannes nach Veerkamp die Ermordung des Messias Jesus am römischen Kreuz als die Erhöhung eines zweiten Isaak zum Schlachtopfer, wobei er Jesus als die Verkörperung sowohl Israels (des erstgeborenen Sohnes Gottes) als auch des befreienden NAMENS Gottes selber begreift:
Die Solidarität Gottes mit Abraham zeigte sich damals in der Verhinderung der Opferung Isaaks. Bei Johannes muss der Gott Israels etwas tun, was von Abraham nie verlangt wurde. Hier wird Jesus/Isaak erhöht, blutig. Hier geht der Gott Israels den ganzen blutigen Weg mit der Welt der Menschen, weil es keinen anderen Weg gibt, um mit ihnen solidarisch zu sein.
↑ Römer 4,4-5: Aus Gnade wird das Vertrauen des Frevlers zur Bewährtheit gerechnet
4,4 Dem aber, der mit Werken umgeht,
wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet,
sondern weil er ihm zusteht.
4,5 Dem aber, der nicht mit Werken umgeht,
aber an den glaubt,
der den Gottlosen gerecht macht,
dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.
[6. Februar 2025] Die beiden Verse Römer 4,4-5 verlaufen gegenläufig parallel zueinander, was nach Michael Wolter (W283) durch „das auf beiden Seiten identische Prädikat logizetai {wird zugerechnet bzw. angerechnet}“ unterstrichen wird, das jeweils den „Zusammenhang von Tun und Ergehen“ beschreibt. Dabei stehen sich auf „der Seite des Tuns … ergazesthai {Werke tun} (V. 4) und pisteuein {glauben} (V. 5) gegenüber, während auf der Seite des Ergehens dem misthos {Lohn} (V. 4) die dikaiosynē {Gerechtigkeit} (V. 5) entspricht.“ Außerdem entspricht einander auf beiden Seiten die nähere Bestimmung der Zu- bzw. Anrechnung von Lohn bzw. Gerechtigkeit am Ende von Vers 4 im Gegenüber von „ou … kata charin alla kata opheilēma {nicht aus Gnade, sondern aus Schuldigkeit}“. Nach Wolter besteht aber eine Unstimmigkeit innerhalb dieser Parallelität, denn in Vers 4 ist es das Ergehen des Lohnes, das aufgrund der Tat der Werke zugerechnet wird, während es in Vers 5 (wie schon in Vers 3) die Tat des Glaubens ist, die auf das Ergehen der Gerechtigkeit hin angerechnet wird.
Mit Vers 4 „entwirft Paulus so etwas wie ein Gegenbild zu dem in Gen 15,6 beschriebenen Vorgang“. Es geht eben „bei Gott nicht zu“ wie im „Alltagsleben“, in dem „ein Mensch, der ‚Werke tut‘ (ergazesthai), einen Anspruch auf ‚Lohn‘ (misthos) hat.“ In Vers 5 dagegen (W284) sagt Paulus über „das Verhältnis zwischen Mensch und Gott“, dass dem „Glaubenden … sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet“ wird, „auch wenn er keine Werke vorzuweisen hat.“
Damit will Paulus Wolter zufolge aber „nicht etwa das ergazesthai {Werke tun} verbieten oder auch nur zu einem Hindernis auf dem Weg zur Rechtfertigung machen.“ Indem Paulus in den folgenden Versen 6-8 das „mē ergazesthai {nicht Werke tun} erst durch chōris ergōn {ohne Werke}“ aufnimmt „und dann durch anomiai {Gesetzlosigkeiten} und hamartiai {Sünden} näher“ bestimmt,
wird erkennbar, dass er den mē ergazomenos {den, der keine Werke tut} als den Sünder darstellen will und dass es ihm darum geht, den Glauben als eine hinreichende Bedingung für die Rechtfertigung zu kennzeichnen. Dass er auch eine notwendige Bedingung ist, hatte Paulus schon in Röm 1,17; 3,26.28.30 gesagt. Demgegenüber spielt das ergazesthai der Menschen bei der Rechtfertigung keine Rolle. Gott handelt eben nicht wie ein Mensch kata opheilēma {aus Schuldigkeit}, sondern immer nur kata charin {aus Gnade} (vgl. dann auch Röm 11,6).
Die „Formulierung kata charin“, mit der Paulus in Vers 4 die Worte „tē autou chariti {aus seiner Gnade} (Röm 3,24)“ wieder aufnimmt, bezeichnet also „ein Handeln, das aus Gottes freier Initiative hervorgeht und auf seinem eigenen Entschluss basiert“ und in dieser Weise „seinem Gott-Sein“ entspricht. „Würde Gott aufgrund von Werken rechtfertigen“, würde er dagegen „wie ein Mensch handeln.“
In Vers 5 nimmt Paulus außerdem alles „in 3,23-24 Gesagte (‚alle haben gesündigt … und werden … gerechtfertigt aus seiner Gnade‘)“ auf und „verallgemeinert“ es „zu einem Wesenszug Gottes“, indem er
Gott als denjenigen bezeichnet, der den ‚Gottlosen‘ (ton asebē) rechtfertigt. … Diese Gottesprädikation ist ansonsten nirgends belegt. Sie wurde von Paulus vielmehr ad hoc als Korrelat zu kata charin {aus Gnade} formuliert. Die Bezeichnung asebēs weist hier keine bestimmte Referenz auf sondern fungiert als generische Bezeichnung, mit deren Hilfe Paulus Gott und dessen Handeln charakterisieren will. Der asebēs, den Gott rechtfertigt, ist identisch mit dem „Mann, dessen Sünde der Herr nicht anrechnet“ (V. 8 nach Ps 31,2LXX).
Genau im Blick auf den zuletzt zitierten Psalm mahnt Wolter (Anm. 27) zur Vorsicht gegenüber Exegeten, die in dieser Gottesprädikation einen „schroffen Gegensatz zur jüdischen Anschauung“ <114> – wie etwa in „Ex 23,7; Spr 17,15; 24,24“ – sehen.
Weiter betont Wolter (W284f.), dass Paulus mit „der Formulierung pisteuein epi ton dikaiounta ton asebē {glauben an den, der den Gottlosen rechtfertigt} … nicht nur das personale Gegenüber des Glaubens, sondern auch dessen Inhalt“ bezeichnet (W285): „Sie besagt, dass man mit Gott als demjenigen rechnet, der den Gottlosen rechtfertigt.“
Der Bezug von pisteuein {glauben} mit der Präposition epi auf einen Akkusativ wird schon im Buch der Weisheit Salomos 12,2 verwendet und dann „in Apg 9,42; 11,17; 16,31; 22,19; Röm 4,24c; s. auch Hebr 6,1“. Da Wolter zufolge die „Mehrzahl der Texte … einen Bekehrungsvorgang“ beschreibt, „könnte die Verwendung gerade dieser Präposition den Glauben als Bestandteil oder Ergebnis einer Hinwendung charakterisieren wollen.“ Er hält es aber für „ganz unwahrscheinlich“, dass
Paulus mit alledem den Glauben Abrahams kennzeichnen will…, denn der wird erst ab V. 17b beschrieben. Auch dass Paulus bereits in V. 4 damit begonnen hat, die Konsequenzen von Gen 15,6 zu verallgemeinern, spricht gegen diese Annahme. Abraham selbst ist inzwischen in den Hintergrund getreten. Paulus will Abraham hier darum weder als asebēs {gottlos} kennzeichnen noch stellt er seine Rechtfertigung als iustificatio impii {Rechtfertigung des Gottlosen} dar. Es geht in diesen Versen um Gott und sein rechtfertigendes Handeln; auf Abraham kommt Paulus erst wieder ab V. 9c zu sprechen.
Auch nach Gerhard Jankowski (J103) wird Abraham in den Versen 4-5 natürlich nicht als gottlos dargestellt:
Die Ausleger preisen ihn in den höchsten Tönen. Er ist es, der die Thora vollkommen gehalten hat. Er war in allem vollkommen. Sein ganzes Leben war unsträflich und tadellos. Er ist der Zaddik, der Bewährte schlechthin. Deswegen ist er auch überaus von Gott belohnt worden. Das macht seinen Ruhm aus. Das mag sein, sagt Paulus. Wenn das so stimmt, dann mußte Abraham auch belohnt werden. Denn wer etwas tut, dem wird Lohn geschuldet. Lohn empfängt man nur für Werke, so heißt es in Mekhilta zu Ex 12,6. Aber die Schrift sagt es eben anders. Sie redet nicht von den Taten Abrahams, sondern von seinem Vertrauen. Dadurch ist er zum Bewährten geworden. Die Folgerung ist: Wahr gemacht wird nur der, der vertraut.
Nach dieser Klarstellung geht Paulus in Vers 5, wie „es in der Schriftauslegung üblich war, … von dem speziellen Fall des Vertrauens Abrahams über zum Allgemeinen“, nämlich zur Frage: „Wie kann einer wahr werden, der gefrevelt, der also eine eindeutig falsche Tat getan hat?“ Indem Jankowski (J101) asebēs nicht einfach mit „gottlos“ übersetzt, sondern mit „Frevler“, deutet er an, dass im Hintergrund dieses Wortes der hebräische Ausdruck raschaˁ steht, der ein abgrundtief böses, kriminelles Handeln bezeichnet, das im Widerspruch zur befreienden und Recht schaffenden Wegweisung Gottes steht, und nicht einfach ein religiöser Unglaube im Sinne eines modernen Atheismus oder Agnostizismus. Ein solcher Frevler (J103)
kann nur darauf vertrauen, daß er freigesprochen und seine Schuld bedeckt wird. Das hat zwar mit Abraham wenig zu tun, soll aber zeigen, daß die Gnade Gottes nicht zu erarbeiten, zu erwirken ist. Die Gnade wird gewährt, sie ist Geschenk oder sie ist nicht Gnade. Sie wird angerechnet, logizesthai.
Hier drückt sich Jankowski nicht ganz präzise aus (J101), denn es ist ja hē pistis autou {sein Vertrauen} und nicht die Gnade selbst, die „auf Bewährtheit hin angerechnet“ wird. Er setzt aber zu Recht voraus, dass auch menschliches Glauben oder Vertrauen keine menschliche Leistung ist, die Gottes Handeln bedingt, und dass Gottes Treue und Gnade dem menschlichen Vertrauen vorausgeht (J104):
Eigentlich müßte Gott die Abtrünnigkeiten und die Versündigungen aufrechnen. Er tut es aber nicht. Er rechnet sie nicht an. Darin zeigt sich seine unbedingte Gnade. Sie bleibt immer Geschenk. Daß Gott so handelt, daß er etwas bedingungslos gewährt, das kann nur im Vertrauen anerkannt werden. Und so war das auch, als Abraham vertraute.
↑ Römer 4,6-8: Davids Preislied auf den Menschen, dessen Toraverstöße aufgehoben, dessen Verfehlungen bedeckt, nicht angerechnet wurden
4,6 Wie ja auch David den Menschen seligpreist,
dem Gott zurechnet die Gerechtigkeit
ohne Zutun der Werke (Psalm 32,1-2):
4,7 „Selig sind die,
denen die Ungerechtigkeiten vergeben
und denen die Sünden bedeckt sind!
4,8 Selig ist der Mann,
dem der Herr die Sünde nicht zurechnet!“
[7. Februar 2025] In den Versen Römer 4,6-8 zitiert Paulus (W285) Psalm 31,1-2aLXX, um seine „Interpretation von Gen 15,6“ zu bestätigen. Dabei steht erneut „das Verb logizesthai {anrechnen/zurechnen}“ … für das „Handeln Gottes“, das sich wiederum in „V. 6 … auf das Ergehen wie in V. 4“ bezieht, aber „in V. 8 analog zu V. 5 auf das Tun“. Mit dieser „Interpretation des einen Textes durch den anderen“, wobei in beiden dasselbe Wort logizesthai vorkommt, bedient sich Paulus, wie manche Exegeten annehmen, „einer bestimmten rabbinischen Auslegungsregel …, der sog. gɘzērā šāwā {wörtlich ‚gleiche Verordnung‘ oder ‚gleiche Satzung‘}“. Wenn (W285f.) „in zwei Sätzen der Tora derselbe Begriff vorkommt“, wird nach dieser Regel „die Möglichkeit abgeleitet, zwischen den Sachverhalten, die in den beiden Texten bezeichnet werden, eine Analogie herzustellen.“
Mit einer (W281) auf den Psalmdichter David zurückgeführten Seligpreisung „des Menschen …, dem Gott die Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet“, will Paulus „dieses ‚ohne Werke‘ als Prinzip des rechtfertigenden Handelns Gottes“ absichern. Nach Wolter geht es „dabei höchstens ganz indirekt“ um Abraham, zentral aber um „die Prinzipien von Gottes ‚Buchführung‘ (logizesthai) im Umgang mit den Menschen“. Das wortwörtliche Zitat (W287) von Psalm 31,1b-2aLXX in Römer 4,7-8 beschreibt „dreimal ein und dasselbe Handeln Gottes …: ‚Gesetzlosigkeiten vergeben‘ und ‚Sünden zudecken‘ und ‚Sünde nicht anrechnen‘“, und in diesem Handeln geschieht
nichts anderes … als eine Zurechnung von Gerechtigkeit „ohne Werke“. Diesen Zusammenhang hatte Paulus auch schon in 3,21-26 hergestellt. Es ist insofern die Eintragung des Gegensatzes von pisteuein und ergazesthai in seine Lektüre von Gen 15,6, die er durch Ps 31,1-2LXX absichern will: Wenn Gott den Menschen ihre Sünden vergibt, sieht er von ihren Werken ab und rechnet ihnen Gerechtigkeit „ohne Werke“ zu. Paulus will den Lesern deutlich machen, dass seine Interpretation von Gen 15,6 in Übereinstimmung mit dem Gottesbild steht, das in Ps 31,1-2LXX erkennbar wird.
Auch nach Jankowski (J103f.) bildet das Verb logizesthai {rechnen} „die Klammer“ zwischen der vorangehenden „Abrahamserzählung“ und zum folgenden „Schriftbeleg aus Psalm 32“ in seiner Septuaginta-Version. Zur Auslegung von Römer 4,6-8 beschränkt er sich auf den Hinweis (J104), dass „Ps 32,1f. … von den Rabbinen mehrfach im Zusammenhang mit Jom Kippur diskutiert“ wird:
Das Stichwort liefert natürlich das Verb bedecken aus diesem Psalm. In bJoma 86b1 <115> sind einige Autoren der Meinung, daß die Sünden am Jom Kippur einzeln benannt werden müssen. Rabbi Akiva ist der gegenteiligen Meinung und belegt sie mit Psalm 32,1. Es ist zu vermuten, daß Paulus dieses Zitat verwendet, weil er vorher dezidiert vom Jom Kippur geredet hatte.
↑ Römer 4,9-10: Abraham war noch unbeschnitten, als ihm sein Vertrauen zur Bewährtheit gerechnet wurde
4,9 Diese Seligpreisung nun,
gilt sie den Beschnittenen oder auch den Unbeschnittenen?
Wir sagen doch:
„Abraham wurde sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.“
4,10 Wie wurde er ihm denn zugerechnet?
Als er beschnitten oder als er unbeschnitten war?
Ohne Zweifel nicht, als er beschnitten, sondern als er unbeschnitten war!
[8. Februar 2025] In Römer 4,9-12 wendet sich Paulus (W288) anstelle „des Gegenübers von ‚Glaube‘ und ‚Werken‘ (pistis und erga)“ dem „Gegenüber von ‚Beschneidung‘ und ‚Unbeschnittenheit‘ (peritomē und akrobystia“ zu, wobei er diese Begriffe einerseits „auf die physische Beschnittenheit bzw. Unbeschnittenheit“ bezieht und andererseits (in den Versen 9a und 12a) auf „die Gesamtheit von Juden bzw. Heiden“.
Seine „Erklärung“ von Vers 9 beginnt Michael Wolter, indem er betont, dass „Abraham … immer noch außen vor“ bleibt, weil Paulus zunächst, ohne Abraham zu erwähnen, die Frage stellt, ob die zuvor ausgesprochene
Seligpreisung nur für Juden oder auch (kai) für Heiden gilt. Er formuliert die Frage so, dass für ihn ein Bezug der Seligpreisung auf Juden selbstverständlich ist und die Einbeziehung auch der Nichtjuden erst noch begründet werden muss. Am Ende dieses Abschnitts wird sich die Perspektive umgekehrt haben: Nur für diejenigen Juden ist Abraham „Vater“, die wie er glauben (V. 12).
Dass sich aber diese Frage eben genau auf Abraham bezieht, macht Paulus in der zweiten Hälfte von Vers 9 ausdrücklich deutlich, indem er „noch einmal Gen 15,6“ zitiert und dabei (W289) „in Abweichung von der Septuaginta-Formulierung von Gen 15,6b das Personalpronomen autō {ihm} renominalisiert {wieder als Substantiv schreibt} und durch Abraam ersetzt.“ In dem „begründenden gar {denn}“, mit dem Paulus das Zitat einführt, erkennt Wolter einen „Hinweis darauf …, dass er die Frage für sich schon längst positiv beantwortet hat.“
Die beiden von Paulus in Vers 10 gestellten Fragen sind Wolter zufolge
rhetorisch, denn Paulus weiß schon von Anfang an, wie die Antwort lautet, und dasselbe gilt auch für seine Leser: Als Abraham seinen Glauben von Gott als Gerechtigkeit angerechnet bekam, war er unbeschnitten. Diesen Sachverhalt nimmt Paulus als Antwort auf die in V. 9a formulierte Ausgangsfrage: Ps 31,1-2LXX bezieht sich auch auf die Heiden, weil Abraham genauso wie sie unbeschnitten war, als er aus Glauben bzw. ohne Werke für gerecht erklärt wurde.
Diese Antwort stellt jedoch für die Adressaten des Briefes nur dann eine Selbstverständlichkeit dar, wenn es sich tatsächlich um Heidenchristen handelt, wie Wolter annimmt. Aber warum sollte Paulus einfach nur offene Türen einrennen? Nur gegenüber jüdischen Adressaten macht seine eindringliche Argumentation wirklich Sinn, zumal Wolter selbst zu Vers 9 darauf hingewiesen hatte (W288, Anm. 40), wie die Frage nach der Bedeckung der Verfehlungen in der rabbinischen Tradition <116> beantwortet wurde:
„Am Versöhnungstag reinigt Gott Israel und sühnt ihre Schuld … Und wenn du sagen wolltest: ‚Auch eine andere Nation (reinigt er)‘ (dann wisse): nein, nur Israel … Nur Israel vergibt er. Als David sah, wie Gott die Sünden der Israeliten vergibt …, fing er an, selig zu preisen und zu rühmen: ‚Selig, dem die Übertretung vergeben ist …‘ (Ps 32,1)“.
Wenn man wie Gerhard Jankowski davon ausgeht, dass sich Paulus im ersten Teil des Römerbriefs vor allem mit römischen Juden auseinandersetzt, um sie von der Einbeziehung der Nichtjuden in die Gemeinschaft mit Israel zu überzeugen, können die im Anschluss an das Psalmzitat in Römer 4,7-8 gestellten Fragen keineswegs als rhetorisch betrachtet werden. Vielmehr ringt Paulus um ihre Beantwortung (J104):
Wem gilt die unbedingte Gnade? Oder anders gefragt: auf wen bezieht sich das, was in Ps 32,1 gesagt wird? Wem und wie wird das Vertrauen angerechnet? Es ist wieder dieses Stichwort, das zum nächsten Gedanken in dem kleinen Midrasch über Abraham leitet.
Nach Jankowski (J105) bewegt sich der Gedankengang des Paulus im Laufe des Kapitels 4 nur scheinbar von Abraham weg:
Wir fingen mit Abraham an. Dann gingen wir ins Allgemeine. Wir waren eben immer noch in Israel. Jetzt aber wird der Horizont noch weiter. Wem gilt der Makarismus aus Ps 32? Die Antwort muß lauten: denen, die beschnitten sind. Könnte man nicht auch fragen, ob die Nichtbeschnittenen ebenso gemeint sein können? Genauso fragt Paulus. Und damit ist er wieder bei Abraham und dem Ausgangspunkt für seinen Midrasch, bei dem Satz aus Gen 15,6: Dem Abraham wurde das Vertrauen zur Bewährtheit angerechnet.
Die in Vers 10 gestellten Fragen stellt Paulus nun aber nicht rückblickend als ehemaliger Jude, der sich an Heidenchristen als Adressaten wendet, die am Judentum nur beiläufig über die Schulter schauend interessiert sind. Nein, Jankowski zufolge liegt ihm wirklich daran, römische Juden mit Hilfe biblischer Argumente von seiner neuen Sicht auf Israel und die Völker zu überzeugen, und als biblisch geschulter jüdischer Lehrer stellt er ernst gemeinte Fragen, die er mit differenziertem Blick auf die Tora beantwortet:
Wie aber wurde es angerechnet? Wie, pōs, das bezieht sich auf Abraham. Wie war Abraham, als er auf die Verheißung vertraute? War er beschnitten oder war er unbeschnitten? Wenn er beschnitten war, dann ist alles nur auf die Beschnittenen, also auf Juden zu beziehen. Die Antwort der Schrift ist aber: Abraham war unbeschnitten. Denn der Bund zwischen den Stücken, der in Gen 15 {Verse 7-21} nach der Verheißung geschlossen wird, wird mit dem unbeschnittenen Abraham geschlossen. Erst danach nimmt er das Zeichen der Beschneidung an, wie in Gen 17 erzählt wird.
So beruft sich Paulus in seiner Argumentation darauf, dass in der Tora an mehreren Stellen vom Bundesschluss Gottes mit Abraham erzählt wird. Und erst die dritte Erzählung im 1. Mose 17, auf die Paulus gleich in den Versen 11-12 eingehen wird, läuft am Ende darauf hinaus, dass der Bund durch die Beschneidung besiegelt wird. In der zweiten Erzählung in 1. Mose 15 dagegen ist es Gott, der nach der Treuebekundung Abrahams seinen Bund beglaubigt, indem eine brennende Fackel zwischen den Stücken eines von Abraham dargebrachten Opfers hinfährt (1. Mose 15,17).
↑ Römer 4,11-12: Mit dem Siegel der Beschneidung versehen wird Abraham zum Vater sowohl vertrauender Gojim als auch vertrauender Juden
4,11 Das Zeichen der Beschneidung aber empfing er
als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens,
den er hatte, als er noch nicht beschnitten war.
So sollte er ein Vater werden aller,
die glauben, ohne beschnitten zu sein,
damit auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werde;
4,12 und ebenso ein Vater der Beschnittenen,
wenn sie nicht nur beschnitten sind,
sondern auch gehen in den Fußstapfen des Glaubens,
den unser Vater Abraham hatte, als er noch nicht beschnitten war.
[9. Februar 2025] Zu Römer 4,11-12 stellt Michael Wolter eingangs fest (W289), dass die beiden Verse „einen einzigen Satz“ bilden. In ihm wird die zunächst „auf die Heiden bezogene“ grammatische Konstruktion <117> „eis to einai auton patera … {wörtlich: im Hinblick auf sein Vater-Sein …} (V. 11b) in V. 12a im Blick auf die Juden fortgesetzt (kai patera peritomēs …).“
Warum musste „Abraham überhaupt noch beschnitten“ werden, wenn „Gott ihn schon vorher, noch im Zustand der Unbeschnittenheit, für gerecht erklärt hatte“? Diese Frage beantwortet Paulus in Römer 4,11 nach Wolter wohl „in Anknüpfung an Gen 17,11, wo die Beschneidung sēmeion diathēkēs (‚Zeichen des Bundes‘) genannt wird“, er „lässt aber den Bezug auf den Bund weg“ und bezieht sich auch nicht auf die Beschneidung der „Nachkommenschaft Abrahams …, die zum Bundeszeichen gemacht wird“, sondern nimmt (W289f.)
lediglich die Beschneidung Abrahams in den Blick und bezieht sie auf die Gerechtigkeit, die Gott ihm aufgrund seines Glaubens als dikaiosynē tēs pisteōs {Gerechtigkeit des Glaubens} zugerechnet hat.
Indem Paulus (W290) dem Zeichen der Beschneidung in 1. Mose 17,11 keine „in die Zukunft weisende Bedeutung gibt“, sondern sie nur rückblickend auf 1. Mose 15,6 bezieht, gerät nach Wolter sowohl ihre „Bedeutung als Bundeszeichen“ als auch ihre Bedeutung „für Abrahams Nachkommenschaft“ aus dem Blick. Stattdessen erhält sie „ihre Bedeutung … allein von Abrahams Rechtfertigung her“, deren sphragis, „Siegel“, sie darstellt.
Dieses Siegel wiederum wird näher bestimmt „durch die kaskadierende Genitivkette tēs dikaiosynēs tēs pistēōs tēs en tē akrobystia {der Gerechtigkeit des Glaubens [als] der[jenigen] in der Unbeschnittenheit}.“ Wie „in 2Tim 2,19; Apk 9,4“ stellt sich Paulus „Gott … also in der Rolle des Siegelträgers“ vor, „der Abraham das ‚Zeichen der Beschneidung‘ wie ein Siegel ‚eingeprägt‘ oder ‚aufgedrückt‘ hat.“ Nach Wolter mag eine solche „Deutung der Beschneidung als ‚Siegel‘ schon im frühen Judentum verbreitet gewesen“ sein. Und indem „die physische Materialität und die damit gegebene Sichtbarkeit und Vorweisbarkeit“ die bedeutungsmäßige „Schnittmenge von ‚Beschneidung‘ und ‚Siegel‘“ darstellt, nimmt Paulus die Beschneidung (W291)
paradoxerweise als sichtbare und vorweisbare Bestätigung, die Gott Abraham gegeben hat, um ihm zu garantieren, dass er allen, die wie er im Zustand der Unbeschnittenheit (di‘ akrobystias) glauben, zum Vater wird.
Für diesen Vorgang „ist die Beschneidung Abrahams darum nicht Sachgrund, sondern Erkenntnisgrund“, denn „Sachgrund ist das in Gen 15,6 erzählte Geschehen“:
Die Menschen haben denjenigen zum Vater, dessen „Werke“ sie tun (Joh 8,41f.44), und das heißt: mit dessen Handeln ihr eigenes Handeln übereinstimmt (vgl. z.B. Lk 6,23c.35c.36). Für Röm 4,11b folgt daraus, dass Abraham dadurch zum „Vater“ aller glaubenden Heiden wird, dass er genauso wie sie als Unbeschnittener geglaubt hat.
So integriert Paulus „die nichtjüdischen Christen in die Kontinuität der Erwählung Abrahams“ mit der Konsequenz (W292), dass
sie auch sein Ergehen teilen: Gott wird ihnen aufgrund dieses Glaubens genauso Gerechtigkeit zurechnen, wie er das zuvor bei Abraham getan hatte. Zu pisteuontes {die glauben} in V. 11b ergänzt Paulus darum in V. 11c aus Gen 15,6 logizesthai {zugerechnet wird} und dikaiosynē {Gerechtigkeit}, um das Geschick der Heidenchristen zu beschreiben.
Die Auslegung von Vers 12, der mit den Worten kai patera peritomēs … {und Vater der Beschneidung} die Aussage von Vers 11 über Abrahams Vaterschaft für die Unbeschnittenen unmittelbar fortführt, scheint erhebliche Probleme in der Zunft der Exegeten hervorgerufen zu haben, die Wolter vor allem auf die Wortstellung der beiden bestimmten Artikel tois {derer} zurückführt.
Wolter zufolge muss die Fortsetzung von Vers 12a tois ouk ek peritomēs monon {wörtlich: derer nicht aus Beschneidung allein} so verstanden werden:
als wolle Paulus eine Einschränkung vornehmen: „Vater der Beschneidung“ ist Abraham nur für diejenigen Juden, die nicht allein beschnitten sind …, sondern noch eine weitere Bedingung erfüllen.
Stünde der Artikel tois nicht vor der Verneinung ouk, sondern hieße es ou tois ek peritomēs monon {nicht derer aus Beschneidung allein}, dann würde sich dieser Halbsatz ohne Ausnahme auf alle Juden beziehen.
Ein Widerspruch tut sich nach Wolter in 12b auf. Dort ist von denjenigen die Rede (W288), die „in den Fußtapfen des Unbeschnittenheitsglaubens unseres Vaters Abraham wandeln“. Wäre dieser Halbsatz eingeleitet (W292, Anm. 55) mit alla tois kai stoichousin {sondern derer, die auch … wandeln} oder einfach mit alla tois stoichousin {sondern derer, die … wandeln}, dann hätte „Paulus die in 12a begonnene Einschränkung in V. 12b unmissverständlich“ fortgesetzt. Nun steht aber „das zweite tois {derer} hinter kai {auch} und daher (W292)
liest sich V. 12b wie eine Ausweitung: ‚sondern auch für diejenigen, die in den Fußtapfen des Unbeschnittenheitsglaubens … Abrahams wandeln‘ {alla kai tois stoichousin …}. Im erstgenannten Fall wäre nicht mehr die Beschneidung, sondern der Glaube notwendige Bedingung für die Teilhabe an der Verheißung, im letztgenannten Fall käme der Glaube als hinreichende Bedingung zur Beschneidung hinzu, die dadurch aber auch ihren Charakter als notwendige Bedingung verlieren würde.
So wie Wolter diese Unterscheidung formuliert, laufen beide Alternativen auf dasselbe hinaus, nämlich dass die physische Beschneidung für Heiden und für Juden nicht mehr notwendig ist. Die Frage, warum Paulus sich trotzdem im Sinne der letzteren Alternative ausdrückt, stellt Wolter hier nicht.
Stattdessen beschäftigt er sich mit der Diskussion unter den Kommentatoren dieses Verses, die sich „im Wesentlichen um zwei Fragen“ dreht:
(a) Spricht Paulus in beiden Vershälften von ein und derselben Gruppe oder von zwei verschiedenen Gruppen? (b) Wenn Letzteres angenommen wird: Wer sind die beiden Gruppen?
Die meisten Exegeten stellen „V. 12a in den Vordergrund“ und sehen „Paulus hier nur von einer einzigen Gruppe sprechen“, und zwar von den „Judenchristen“. Ihnen zufolge will er „deutlich machen, dass Abraham nur für diejenigen Juden ‚Vater‘ ist, die zusätzlich zu ihrer Beschneidung auch noch wie Abraham glauben.“
Andere nehmen „von V. 12b her … an, dass Paulus von zwei verschiedenen Gruppen spricht“, wobei (W293) „allerdings unterschiedlich beantwortet“ wird, wer hier gemeint sein soll: „Judenchristen und Heidenchristen oder nichtchristliche und christliche Juden oder Juden und Heidenchristen.“ Da Paulus aber „das Verhältnis der Heidenchristen zu Abraham bereits in V. 11b-c“ thematisiert hatte, kann von ihnen jedoch hier keinesfalls schon wieder die Rede sein.
Nach Wolter stellt Paulus in V. 12 „die Bedeutung der Beschneidung Abrahams“ auch „für seine Nachkommenschaft … in das Licht von Gen 15,6:
„Vater“ ist Abraham nur für diejenigen Juden, die nicht nur beschnitten sind, sondern auch den Glauben Abrahams teilen. Oder andersherum gesagt: Nur als ‚Vater des Glaubens‘ wird Abraham zum „Vater der Beschneidung“. … Hätte Paulus betonen wollen, dass Abraham für „die aus der Beschneidung“ schon allein aufgrund ihrer Beschneidung „Vater“ ist, hätte er sich V. 12b sparen können.
Daraus ergibt sich für Wolter (W294), dass Paulus „in V. 12 mit großer Wahrscheinlichkeit nur von einer einzigen Gruppe“ spricht, nämlich einem „Ausschnitt aus der peritomē {Beschneidung}, und das wären die christlichen Juden.“
Dieser Halbvers, der nach Wolter von christlichen Juden handelt, endet dann aber betont mit tou patros hēmōn Abraam, „unseres Vaters Abraham“,
und markiert ein deutliches Ende, das zusammen mit der Formulierung „Abraham, unser Urvater nach dem Fleisch“ in V. 1 eine Inklusion bildet. Das Pronomen hēmōn {unser} hat jetzt aber eine andere Referenz als in der Überschrift: Es umschließt nicht mehr nur alle Juden, sondern schließt auch diejenigen Heiden ein, die wie Abraham im Zustand der Unbeschnittenheit glauben. Eine Reduktion der Vaterschaft Abrahams nur auf die christlichen Juden liegt Paulus ganz fern, denn er kann und will natürlich nicht bestreiten, dass Abraham kata sarka {nach dem Fleisch} immer auch der Vater derjenigen Juden bleibt, die nicht glauben.
In meinen Augen mögen die Schwierigkeiten vieler Exegeten einschließlich Wolters mit diesem Vers darin begründet liegen, dass Paulus noch gar nicht zwischen einem christlichen und jüdischen Glauben unterschied. Vielmehr wusste er sich als Jude durch den Messias Jesus zum Gesandten für die Völker berufen und konnte sich daher wahres Jüdisch-Sein nur noch als ein Vertrauen auf Jesus als den Messias Gottes vorstellen, der auch die Völker im Vertrauen auf ihn in eine versöhnte Gemeinschaft mit den Juden hineinruft.
[10. Februar 2025] Auch nach Gerhard Jankowski (J105) geht es in Römer 4,12 darum, wie bereits gesagt, dass erst nach dem „in Gen 15 … mit dem unbeschnittenen Abraham“ geschlossenen Bund „in Gen 17 erzählt wird“, dass Abraham „das Zeichen der Beschneidung“ annimmt:
Die Beschneidung bestätigt das Vertrauen, das Abraham als Unbeschnittener hatte. Siegel der Bewährtheit des Vertrauens nennt Paulus sie. Die Bestätigung aber hat ein Ziel. Abraham soll durch sie zum Vater werden.
Dieses Ziel markiert Paulus „im Griechischen … mit einer starken finalen Infinitivkonstruktion, die im Deutschen nicht nachzumachen ist“, worauf ich bereits eingegangen bin (siehe meine Anm. 117): „eis to einai auton patera {wörtlich: im Hinblick auf sein Vater-Sein}.“
Die Sätze, die sich hier unmittelbar anschließen, beziehen sich auf eine Einsicht, die seines Erachtens (Anm. 30) als erster F.-W. Marquardt [206] „erkannt und herausgearbeitet hat“, die Jankowski aber leider nicht ganz genau wiedergibt, indem er schreibt:
Mitzuhören ist natürlich: er soll Vater Israels und damit Vater eines jeden Juden und einer jeden Jüdin sein. Um Vater Israels zu werden, muß Abraham beschnitten werden. Als Unbeschnittener wäre und ist er nicht Vater Israels. Paulus hätte an dieser Stelle natürlich behaupten können: Abraham bekam die Verheißung, als er unbeschnitten war, deswegen ist er der Vater aller Unbeschnittenen. Genau das macht er nicht. Er hält sich an seine Tradition. Und in der gilt, daß nur der beschnittene Abraham Träger der Verheißung für Israel und Vater Israels sein kann. Es ist hier wie bei dem Satz: als mein Vater vier Jahre alt war. Denn als mein Vater vier Jahre alt war, war er natürlich noch nicht mein Vater, aber für mich ist er auch da schon mein Vater. Abraham wird erst als Beschnittener zum Vater Israels. Aber für Israel ist er auch als Unbeschnittener immer schon Vater gewesen.
Alles in diesem Abschnitt Gesagte ist richtig, aber es ist nicht die Pointe, auf die Marquardt hinaus will. Für Marquardt [206] ist entscheidend wichtig, dass Abraham auch zum Vater für die Völker gerade nur als Jude werden kann:
In V.10 hatte Paulus gesagt: Abraham wurde, als er noch Heide war, noch unbeschnitten, von Gott gerechtfertigt. Ein einfacher logischer Schluß würde daraus weiter folgern: Also wurde er als Heide zum Verheißungsträger für alle unbeschnittenen Heiden. Aber gerade diese einfache Konsequenz verfolgt Paulus in V.11 nicht. Wohl wiederholt er in V.11: Die Gottesgemeinschaft des Vertrauens hat Abraham in der Tat erfahren, als er noch nicht beschnitten war; aber zum „Vater“, d.h. zu einem Verheißungsträger für alle Zeiten, wurde er dadurch noch nicht. Zum „Vater“, zum Modell, kann nicht der Heide Abraham werden. Dies kann nur der beschnittene Abraham, Abraham der Jude. Gewiß: der Abraham des heidnischen Vertrauens wurde zum Juden. Er erhielt die Beschneidung als Siegel für jenes Vertrauen und jene Gottesgemeinschaft, die er schon als Heide bewährt hatte. Der Heide auf dem Weg zum Juden – darin ist Abraham auch Urtypus alles biblisch verstandenen Heidentums. Aber wie gesagt: „Vater vieler Völker“, Hoffnungsträger, kann er nur als Jude sein. Und – das ist jetzt die aufregende Spitze der Argumentation in 4,11 –: Es ist der beschnittene Abraham, es ist Abraham der Jude, der zum Vater aller unbeschnittenen heidnischen Gläubigen wird. In der Welt der Bibel kann nicht der Heide zum (geistlichen) Vater der Heiden werden. Und da kann auch nicht ein gottvertrauender Heide zum Vater „auch der Juden“ werden – wie dies in der Logik der Abfolge auf dem Wege Abrahams läge: Vom Heiden wird er dann „auch“ zum Juden. Nein: Nur ein Jude kann „Vater“ auch der Heiden sein. Das ist die Aussage von 4,11.
Widerspricht es dieser Argumentation aber nicht (J105), dass Paulus „die sonst übliche Reihenfolge Jude zuerst und dann die Gojim an dieser Stelle“ umkehrt? <118> Da Abraham „Vater aller unbeschnittenen, nichtjüdischen Vertrauenden“ ist, stehen diese „hier voran“. Trotzdem (J106) haben sie jedoch keinen Vorzug vor den Juden:
Denn wie Abraham Vater der Unbeschnittenen ist, so ist er vor allem Vater der Beschnittenen. Nur zusammen aber sind beide Nachkommen des einen beschnittenen, jüdischen Vaters. Daß Abraham Vater aller Beschnittenen ist, ergibt sich daraus, daß er selbst beschnitten wurde. Er ist eben aber auch Vater all derer, die in gleicher Weise dem Vertrauen auf der Spur sind, das Abraham hatte, als er noch nicht beschnitten war. Diesem Vertrauen können sowohl Juden wie Nichtjuden, Beschnittene wie Unbeschnittene folgen. Sie können sich gemeinsam auf den Weg machen, wie sich Abraham auf den Weg machte, mit nichts anderem als seinem Vertrauen in die Verheißung. Die Beschneidung bestätigt das Vertrauen, sie bestätigt das Vatersein Abrahams, sie bestätigt die Verheißung. Sie ersetzt aber nicht das Vertrauen, das Abraham hatte, und sie ersetzt nicht die Verheißung, die ihm gegeben wurde. Vertrauen und Beschneidung sind so keine Gegensätze. Beide sollen aktiv gelebt werden auf dem Weg, den Abraham, der Vater aller unbeschnittenen Vertrauenden und der vertrauenden Beschnittenen, vorausgegangen ist.
Damit ist der Midrasch über Abraham noch nicht an sein Ende gelangt, denn es kann einen weiteren Einwand von jüdischer Seite geben, dass es nämlich für den Weg, der zu gehen ist, „als Wegweisung die Thora“ gibt, die aber „nur den beschnittenen Juden gegeben“ ist. Sind sie nicht „die wahren Nachkommen Abrahams“ und „gerade auch wegen der Thora seine wirklichen Erben“? Diesem Einwand stellt sich Paulus in den folgenden Versen.
↑ Römer 4,13: Nicht durch Tora, sondern durch Bewährung im Vertrauen erhält Abraham die Verheißung, Erbe der Weltordnung zu sein
4,13 Denn die Verheißung,
dass er der Erbe der Welt sein sollte,
ist Abraham oder seinen Nachkommen
nicht zuteilgeworden durchs Gesetz,
sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens.
[11. Februar 2025] Michael Wolter begründet zunächst, warum der Abschnitt Römer 4,13-17a einschließlich des Schriftzitats aus 1. Mose 17,5 in Römer 4,17a einen Zusammenhang bildet. Hier (W294) führt Paulus „zwei neue Begriffe in seine Abraham-Darstellung ein: ‚Gesetz‘ (nomos) und ‚Verheißung‘ (epangelia)“, die „er bereits in Gal 3,17-18.21 miteinander in Verbindung gebracht“ hatte. Am Ende (W295) thematisiert Paulus in Römer 4,16e-17a wie zuvor in den Versen 11b-12 „Abrahams Eigenschaft als ‚Vater‘ im Blick auf Juden und Heiden“, womit der „Bogen“ endet, „den Paulus von Abraham aus in die Gegenwart schlägt.“ Erst ab Vers 17b „geht es wieder um den historischen Abraham, genauer: um die Eigenart seines Glaubens.“
Das Wort epangelia {Verheißung} kommt im Ersten Testament nur selten vor, erst in hellenistischer Zeit werden damit „die Zusagen, die Abraham und die anderen Väter von Gott empfangen haben, vereinzelt … zusammengefasst“. Paulus knüpft mit diesem Thema „speziell an die Landverheißung an (Gen 12,7; 13,15.17; 15,7f.18; 17,8), denn es ist das Land, von dem es heißt, dass Abraham und seine Nachkommen es ‚erben‘ (klēronomein; Gen 15,7; s. auch 28,4).“ Allerdings (W296) verweist Paulus „nicht auf eine bestimmte Stelle in der Schrift, sondern er fasst den Gehalt der oben genannten Texte aus der Abrahamüberlieferung mit eigenen Worten zusammen.“ Dass diese Verheißung für Paulus „ein allgemein bekannter Sachverhalt“ ist, macht er deutlich, indem er in Vers 13b auf sie mit dem „bestimmten Artikel to {das}“ verweist – ähnlich wie das Wort „to auch in Mt 19,18; Lk 22,37; Röm 13,9a“ als „Einleitung von Zitaten aus dem Alten Testament“ verwendet wird. Die hier verwendete grammatische Konstruktion ist erneut ein a.c.i. (siehe meine Anm. 117): to klēronomon auton einai kosmou {wörtlich: das auf ihn bezogene Erbe-Sein der Welt}, und wird von Wolter (W294) folgendermaßen wiedergegeben: „dass sie [Abraham und seine Nachkommenschaft] Erbe der Welt sind“.
Die auffällige Universalisierung der biblischen Landverheißung (W296), durch die Paulus „Abraham mit seinen Nachkommen zu Erben der ‚Welt‘ macht“, hat nach Wolter bereits „einen gewissen Vorlauf in der frühjüdischen Rezeption der Abrahamüberlieferung, an die Paulus anknüpfen konnte“, z.B. in Sirach 44,21 oder beim jüdischen Philosophen Philo. Letzterer schreibt in seinem Werk über die Träume <119>
mit Bezug auf die Erinnerung an die Abraham-Verheißung in Gen 28,14: „Das Geschlecht der Weisheit ist wie der Sand der Erde“, und wer sie (die Weisheit) habe, sei „Erbe der Teile der Welt (tōn tou kosmou klēronomos merōn)“.
Während es allerdings bei Philo „die Weisheit ist“, durch die sich „die Ausweitung der Erbschaft vom Land auf die ‚Welt‘“ ergibt, ist es
bei Paulus der Glaube. Beide Texte nehmen eine „a-territoriale“ Neuinterpretation der Landverheißung vor. <120> Bei Paulus sind es ganz gezielt nicht nur die beschnittenen Nachkommen Abrahams, denen die Verheißung zuteil wird, sondern auch alle Unbeschnittenen, die wie Abraham glauben. Wenn Paulus Abraham und dessen Nachkommenschaft „Erbe der Welt“ nennt, so entspricht diese Dimensionierung dem Universalismus von Röm 1,16-17, der die gesamte Menschheit in den Blick nimmt (s. auch 3,22.28-30).
Es ist (W297) der „Hintergrund“ dieser Universalisierung, vor dem „verständlich“ wird, „warum Paulus die Abrahamverheißung in V. 13a vom Gesetz abgrenzt“, denn es ist ja „die Tora, die den Unterschied zwischen lsrael und den Völkern zur Darstellung bringt“. Erneut nötigt „im Hintergrund wieder der Jude Paulus … den Apostel Paulus zu einem Diskurs über die Bedeutung der Tora“, und zwar hier konkret „für die Teilhabe an der Abrahamverheißung.“
Schon in Galater 3,17-18.21 hatte Paulus zum „Verhältnis von Verheißung und Gesetz“ zwei Gedanken ausgeführt,
zum einen, dass die zeitliche Priorität der Verheißung durch das später gegebene Gesetz nicht aufgehoben wurde (V. 17; s. auch schon V. 15 und dann V. 21); zum anderen, dass die zugesagte „Erbschaft“ (die klēronomia) auf der Verheißung basiert und nicht auf dem Gesetz (V. 18).
Während im Galaterbrief aber „‚Verheißung‘ und ‚Gesetz‘ … einander antithetisch gegenüber“ stehen, „ist epangelia {Verheißung} in Röm 4,13 der Oberbegriff“, und Paulus „stellt ‚Gesetz‘ und ‚Gerechtigkeit des Glaubens‘ einander gegenüber.“ Gemeint ist Wolter zufolge (W297f.)
dass Gott seine Verheißung nicht von der Erfüllung des Gesetzes abhängig gemacht, sondern mit der Gerechtigkeit verknüpft hat, die er aufgrund des Glaubens zurechnet. Dass Paulus damit den Zusammenhang von Verheißung und Gesetz bzw. Israel, wie er für die jüdische Abrahamrezeption konstitutiv ist (vgl. bereits Gen 26,4-5 und dann Sir 44,20-21), auflöst, ist ebenso offenkundig wie beabsichtigt.
[12. Februar 2025] Gerhard Jankowski (J107) stellt zu Römer 4,13 die Frage: „Was ist Inhalt der Verheißung an Abraham?“ Die Antwort darauf ist eine doppelte: „Daß seine Nachkommenschaft zu einem großen Volk werden soll und daß er das Land erben soll, zu dem er unterwegs ist, Volk und Land also, so können wir auch abgekürzt sagen.“ Aber wie werden diese Verheißungen an den verschiedenen Stellen im 1. Buch Mose ausformuliert?
In der ersten Verheißung, in Gen 12,1f., stehen Volk und Land eng zusammen. In der Wiederholung der Verheißung in Gen 15, jetzt auch auf die Nachkommen bezogen, haben Volk und Land eine andere Gewichtung. Relativ kurz ist die Verheißung das Volk betreffend. Sie wird unterstrichen durch den Satz, den Paulus auslegt: Abraham vertraute dem EWIGEN, das rechnete er ihm zur Bewährung. Erst danach ist die Rede vom Land. Diese Verheißung ist sehr breit und nimmt den ganzen Weg Israels bis zur Landgabe voraus.
Jankowski betont nun, dass Abraham für „diese Verheißung … ein Zeichen“ verlangt, „was er bei der Verheißung der Nachkommen nicht getan hatte. Da hatte er vertraut.“ Dass die „Verheißung des Landes … durch den Bund zwischen den Stücken besiegelt“ wird (vgl. oben in meiner Auslegung von Römer 4,9-10 die letzten beiden Absätze),
deutet den Bund am Sinai an. Dort wird aus den Söhnen Israels das Volk Israel. Mose empfängt die Thora für dieses Volk. Mit dem Volk wird der Bund geschlossen. Das Volk Israel verpflichtet sich dabei, die Thora zu tun, die ihm gegeben wurde. Erst danach, nachdem die Thora gegeben und aus den Söhnen Israels das Volk Israel geworden ist, kann das verheißene Land ererbt werden. So scheint also die Verheißung der Nachkommenschaft an das Vertrauen gebunden zu sein, die Verheißung des Landes aber an einen verpflichtenden Bund, in dessen Mittelpunkt die Thora steht.
Diese „Verheißung des Landes“ nun interpretiert Paulus ganz anders, nämlich so, dass „Abraham und seine Nachkommen … die Weltordnung, kosmos, erben“ sollen: „Die Verheißung bezieht sich für ihn nicht mehr auf das Stück Land, Erez Jissrael, sondern eben auf den kosmos.“ Was bei Paulus im Hintergrund dieses Wortes mitschwingt, davon war schon in der Einleitung unter dem Titel Der kosmos der römischen Weltordnung als ein weltweites Sklavenhaus die Rede. Hier schreibt Jankowski:
Kosmos wird gewöhnlich mit Welt übersetzt. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist Schmuck. Es steht dann für die harmonische, wie ein kostbarer Schmuck anzusehende Ordnung der Dinge, sei es in einem Gemeinwesen (ho kosmos, so heißen in manchen griechischen Städten die Behörden der Polis), sei es in der gut geordneten Art und Weise, wie Menschen leben sollen. Es war das Ziel des Hellenismus, die eroberte, bewohnte Welt einheitlich zu gestalten und zu ordnen. Die Welt, das war der vom Hellenismus gestaltete kosmos, die Ordnung der bewohnten Welt. Unsere Übersetzung Weltordnung ist ein Versuch, dem Begriff in seiner Bedeutung nahezukommen. Weltsystem wäre eine andere mögliche Übersetzung. Die Römer als ideologische Erben des Hellenismus verstehen ihr System der Weltbeherrschung als die neue Weltordnung. U.E. meinen die messianischen Schriften und auch Paulus diese Weltordnung, wenn sie das Wort kosmos gebrauchen. Den die Erde umgebenden Weltraum meinen sie auf jeden Fall nicht.
Es liegt auf der Hand (J108), dass „eine Perspektive“, die „Abraham und seine Nachkommen als Erben der herrschenden Weltordnung“ betrachtet,
weit über das hinausgeht, was als Perspektive in der Verheißung an Abraham angelegt ist. Die Verheißung ist nicht mehr an das ganz bestimmte Stück Land gebunden, das da Erez Jissrael heißt. Das wird dem Volk Israel gegeben werden, dem Volk, dem auch die Thora gegeben ist, damit es in diesem Land leben kann. In diesem Land, das den Erben Abrahams verheißen ist, die aus Thora sind, die also die Thora haben, ist die Thora auch zu tun. Es ist auf jeden Fall das Land, in dem mit der Thora die Gestaltung eines bewährten Lebens möglich ist. Die Verheißung dieses Landes ist deswegen zu Recht gebunden an die Thora. Sie ist immer überprüfbar auch und gerade dadurch, daß die Thora getan wird.
Dieser Rahmen passt nicht mehr zu den Verhältnissen, in denen das Volk Israel unter den Bedingungen des Römischen Imperiums lebt. Aus dieser Weltordnung kann das Volk nicht auswandern in ein Gelobtes Land, wie es damals unter Mose nach der Weisung der Tora möglich war. Da Paulus zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Tod des Messias am römischen Kreuz die Weltordnung selbst überwunden hat, zielt schon „die Verheißung an Abraham und seine Nachkommen auf die Weltordnung“ selbst, aber darum „kann sie nicht nur mit der Thora gelebt werden“, die Israel für das Leben in dem ihnen anvertrauten Land, getrennt von den Völkern, gegeben war. Verwandelt werden kann die Weltordnung nur (J106) „durch Vertrauensbewährtheit“, nämlich dadurch, dass Juden und Völker gemeinsam im Vertrauen auf den Messias Jesus eine neue Weltordnung aufbauen, und zwar durch die Praxis der agapē, einer von Jesus gelebten und geforderten Solidarität miteinander (J109):
Paulus legt also den ganzen Akzent darauf, daß das Vertrauen bleibt, was es ist: ein Annehmen einer neuen Perspektive ohne jegliche Absicherung, ohne jede Garantie.
↑ Römer 4,14-15: Tora ohne Vertrauen bewirkt ihre Übertretung und Gottes Zorn und macht Vertrauen und Verheißung zunichte
4,14 Denn wenn jene, die aus dem Gesetz leben, Erben sind,
dann ist der Glaube nichts, und die Verheißung ist dahin.
4,15 Denn das Gesetz richtet Zorn an;
wo aber das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung.
[13. Februar 2025] In Römer 4,14-15 geht Paulus darauf ein (W298), „was die Folgen wären, wenn Gott die Verheißung an die Erfüllung des Gesetzes gebunden hätte“, er „spielt durch“, was geschieht, wenn es die hoi ek nomou, also „die Erfüller des Gesetzes“, wären, „denen die Abrahamverheißung gilt“. Dabei meint hoi ek nomou {die aus dem Gesetz} Michael Wolter zufolge
nicht einfach … ‚die Juden‘ oder ‚lsrael, obwohl die lsraelfrage natürlich im Hintergrund steht und den eigentlichen Horizont der paulinischen Argumentation bildet. Paulus sagt nicht, dass die nichtchristlichen Juden von der Erbschaft ausgeschlossen sind. Er will vielmehr lediglich deutlich machen, dass die Abrahamverheißung nicht die Erfüller des Gesetzes als Erben eingesetzt hat. Das ist die Pointe von V. 14a.
So ganz erschließt sich mir diese Pointe in Wolters Zuspitzung nicht, jedenfalls vermisse ich eine Begründung dafür, warum aus seiner Sicht die „nichtchristlichen Juden“, die ja nicht den Glauben an Jesus teilen, nicht „von der Erbschaft ausgeschlossen“ sein sollen.
Paulus gibt für seine in Vers 14a vorgetragene These in 14b „zwei Begründungen“, wobei er voraussetzt, „dass seine Leser ihm beipflichten.“ Erstens würde der Glaube „Abrahams“ und „seiner Nachkommenschaft“ (W298f.)
„entleert“ (kekenōtai), wenn Gott seine Verheißung an die Erfüllung des Gesetzes gebunden hätte. Paulus nimmt hier eine theologische Depotenzierung des Gesetzes durch den Glauben vor, die sich ganz ähnlich auch in Röm 3,27; 4,2-3; Gal 3,11-12 findet: Weil die Gerechtigkeit aus Glauben kommt, kann sie nicht aus Werken bzw. aus dem Gesetz kommen. Ein solches Argument können natürlich nur solche Leser überzeugend finden, die sich selbst aufgrund ihres Glaubens zur Nachkommenschaft Abrahams zählen.
Diese selbstverständliche Annahme Wolters möchte ich jedoch nicht so einfach schlucken, setzt sie doch voraus, dass Paulus nur bereits für sich gewonnenen heidenchristlichen Anhängern nach dem Mund redet, statt bei bisher noch nicht überzeugten jüdischen Adressaten um ihre Zustimmung zu ringen.
Zweitens (W299) müsste Gottes „Verheißung“ selbst „ins Leere gehen“, wenn sie „an die Erfüllung des Gesetzes gebunden“ wäre, „denn es gibt unter allen Menschen keinen, von dem man sagen könnte, dass er diese Bedingung erfüllen würde.“ Das wiederum begründet Paulus im folgenden Vers 15 mit einem Blick auf „Gottes Zorn“, den „jeder Mensch … auf sich zieht“, der „die Tora übertritt“.
Paulus belässt es nach Wolter aber nicht bei dem Satz (W294): „Denn das Gesetz bewirkt Zorn“, sondern er ergänzt in Vers 15b „eine Feststellung …, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt“ und die sich „nicht mehr nur auf die Tora, sondern … auf jedes Gesetz unter Einschluss der Tora“ bezieht:
Paulus nivelliert damit die Besonderheit der Tora, die ihr als Bestandteil der Erwählung Israels zukommt, und stellt eine Eigenschaft in den Vordergrund, die sie mit allen anderen Gesetzen gemeinsam hat. Ganz ähnlich wird er auch in Röm 7,13-25 verfahren. Diese allen Gesetzen gemeinsame Eigenschaft besteht darin, dass die Sünde erst durch ein Gesetz die empirische Gestalt von „Übertretung“ (parabasis) erhält und dadurch justitiabel wird (vgl. Röm 2,23.25.27; 5,14; Gal 3,19; 1Tirn 2,14; Jak 2,11). Dementsprechend erhält die Sünde nach Röm 5,14 erst durch die Tora wieder die Gestalt der „Übertretung“, in der sie durch Adam in die Welt gekommen ist.
Wiederum verstehe ich nicht, inwiefern Paulus hier und an den anderen von Wolter genannten Stellen angeblich „die Besonderheit der Tora“ aufhebt, wenn Paulus in Römer 5,13-14 doch gerade die Zeit zwischen Adam und Mose als mē ontos nomou {wenn kein Gesetz ist} charakterisiert. In meinen Augen setzt Paulus damit voraus, dass Gesetze anderer Völker für ihn eben nicht dieselbe Rolle spielen wie die Tora.
Gerhard Jankowski (J108) befasst sich in seiner Auslegung gar nicht mit Vers 15; er wird aber in der Auslegung von Römer 5,13-14 auf die in 15b angesprochene Frage eingehen. Nur beiläufig geht er auf Vers 14 ein, indem er dem folgenden bereits oben zitierten Satz einen weiteren hinzufügt:
Wenn aber die Verheißung an Abraham und seine Nachkommen auf die Weltordnung zielt, kann sie nicht nur mit der Thora gelebt werden. Dadurch würde das Vertrauen entleert, d.h., es ginge seines Inhaltes verlustig und die Verheißung wäre keine Verheißung mehr.
Denn die neue Perspektive der Verwandlung der gesamten Weltordnung durch eine versöhnte Gemeinschaft von Juden und Menschen aus den Völkern kann nur „ohne jegliche Absicherung, ohne jede Garantie“, im Vertrauen angenommen werden. Damit kann aber keine grundsätzliche Depotenzierung der Tora gemeint sein, wie Wolter annimmt, vielmehr ist mit Marquardt [206] zu sagen:
Abraham ist Vater der wahren Juden, die es nicht bloß äußerlich sind, sondern auch in ihrer emuna {ihrem Vertrauen}; rein äußerlicher Werkglaube ohne Formung durch den nomos pisteōs {Tora des Vertrauens}, ohne emuna, zählt nicht für Gott – das weiß mit Paulus jeder gute Jude (4,13-15).
↑ Römer 4,16a-d: Aus Vertrauen, damit aus Gnade, ist die Verheißung gewiss für alle Kinder Abrahams
4,16 Deshalb muss die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen,
damit sie aus Gnaden sei
und die Verheißung festbleibe für alle Nachkommen,
nicht allein für die, die aus dem Gesetz leben,
sondern auch für die, die aus Abrahams Glauben leben.
[14. Februar 2025] Die Verse Römer 4,14-15 (W299f.) stellten nur einen „erklärenden Einschub“ dar. Die „Formulierung dia touto ek pisteōs {deshalb aus Glauben} (V. 16a)“ nennt Michael Wolter „elliptisch“, weil sie sinngemäß zu ergänzende Satzteile aus Vers 13a-b auslässt, nämlich dass Abraham und sein Same verheißen wurde, Erben der Welt zu sein. Dass dies ek pisteōs {aus Glauben} geschieht,
knüpft an V. 13c [alla dia dikaiosynēs pisteōs {sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens}] an und markiert die Antithese zu ou gar dia nomou {denn nicht durch das Gesetz} (V. 13a).
Dazu betont Wolter nochmals (Anm. 87), dass die „Präpositionen ek {aus} und dia {durch} in diesem Zusammenhang“ austauschbar sind, denn „in Gal 2,16 sowie Röm 3,30“ liegt eine „umgekehrte Zuordnung“ zu Gesetz bzw. Glauben vor.
Die Worte (W300) dia touto {deshalb} beziehen sich auf den folgenden Ausdruck hina kata charin {damit aus Gnade} (V. 16b), der wie „bereits in Röm 3,24 und 4,4“ die Art und Weise „von Gottes Handeln beschreibt“:
Gott reagiert mit der Verheißung nicht auf menschliches Tun (nach 4,4: kata opheilēma), sondern er handelt aus eigener Initiative, was allein seinem Gott-Sein entspricht. Dementsprechend besteht der Glaube in der Überzeugung, dass die Verheißungen Wirklichkeit werden, weil Gott es ist, der sie ausgesprochen hat. Diesen Gedanken wird Paulus dann in V. 20-21 entfalten.
Der Zusammenhang mit Röm 3,24 ist durch 4,14b-15 vermittelt: Das Gesetz produziert immer nur „Zorn“ und „Übertretung“; es lässt den Menschen immer nur als Sünder dastehen und würde die Verheißung „wirkungslos“ machen, wenn sie von der Erfüllung des Gesetzes abhängig wäre. Dass die Verheißung jedoch weiterhin gültig ist, verdankt sich darum derselben Gnade Gottes, die nach 3,23-24 über die Sünden der Sünder hinwegsieht.
Das Wort bebaia (V. 16c) bezeichnet Wolter zufolge demnach im Gegenüber „zu katargeisthai {wirkungslos geworden} (V. 14b)“ im Blick auf die epangelia {Verheißung} „die Gewissheit von deren Erfüllung“, was zu folgender Übersetzung von Vers 16a-d führt (W294):
Deshalb aus Glauben, damit aus Gnade,
so dass die Verheißung für die gesamte Nachkommenschaft gesichert ist –
nicht für die aus dem Gesetz allein,
sondern auch für die aus dem Glauben Abrahams.
In der zweiten Zeile (16c) hebt Wolter „die zusätzliche Kennzeichnung des aus V. 13a übernommenen Dativs tō spermati durch das inklusive Adjektiv panti {aller / für die gesamte}“ hervor. Wie in Römer 1,16; 3,22; 4,11 bezeichnet es ihm zufolge
die Gesamtheit aller Glaubenden, Juden wie Nichtjuden gleichermaßen, und will die Unterschiede zwischen ihnen theologisch bedeutungslos machen.
Die auf diese Weise bezeichnete (W301) „Ausweitung“ des Begriffs „sperma Abraam über das Judentum hinaus“ auf „die glaubenden Heiden“ nimmt Paulus in den Zeilen 16c-d ausdrücklich vor:
Das sperma Abraam {der Same, die Nachkommenschaft Abrahams} besteht nicht lediglich aus dem (sperma) to ek tou nomou {(Samen) derer aus dem Gesetz}, sondern auch aus dem (sperma) to ek pisteōs Abraam {(Samen) derer aus dem Glauben Abrahams}. Dementsprechend ist die Verheißung auch für diesen und nicht lediglich für jenen Teil der „gesamten Nachkommenschaft“ Abrahams gesichert.
Umstritten ist unter den Exegeten wiederum, welche „beiden Gruppen … Paulus mit dieser Unterscheidung bezeichnen“ will.
Vorgeschlagen werden die folgenden Identifikationen: (a) auf der einen Seite nichtchristliche und christliche Juden, auf der anderen christliche Heiden; (b) auf der einen Seite nichtchristliche Juden, auf der anderen christliche Juden und Heiden; (c) auf der einen Seite christliche Juden, auf der anderen christliche Heiden.
Gegen „die Lösungen (a) und (b)“ spricht nach Wolter,
dass aus ou … monon, alla kai … {nicht nur, sondern auch} hervorgeht, dass die Verheißung nach paulinischem Verständnis auch für to (sperma) ek tou nomou {(Samen) derer aus dem Gesetz} „gesichert“ (bebaia) ist.
Nach dem in Vers 12 und „in V. 13-15 Gesagten“ wäre das aber nur „im Sinne von Vorschlag (c) auf die Judenchristen … zu beziehen“, während „die unbeschnittenen Heidenchristen“ die „pistis Abrahams“ im Sinne „jene[s] ‚Glaube[ns] im Zustand der Unbeschnittenheit‘ … mit dem unbeschnittenen Abraham gemeinsam haben.“
Genau genommen würde bei „Vorschlag (c)“ aber (W301f.) den „jüdischen Christen“ abgesprochen, „ek pisteōs Abraam {aus dem Glauben Abrahams} zu sein“, was wiederum Vers 12b widerspricht. Daher hält es Wolter (W301) denn doch für
wahrscheinlicher, dass Paulus mit to (sperma) ek tou nomou im Sinne von Vorschlag (b) das nichtchristliche Judentum in den Blick nehmen will und es durchaus nicht aus der Verheißung herausfallen lässt.
Bestätigt sieht Wolter (W302) diese Annahme in Römer 11,25-32, wo Paulus
eine Heilsperspektive auch für den jetzt noch ungläubigen Teil Israels formulieren wird und ihre Gewissheit in diesem Zusammenhang gerade von den Vätern her begründet (V. 28b): Auch die nichtchristlichen Juden bleiben von Gott „geliebt“. Die Verheißungen, die Abraham und seine Nachkommenschaft von Gott empfangen haben, gelten auch für denjenigen Teil Israels weiter, von dem Paulus sagt, dass er zur Zeit nur kata sarka mit Abraham verbunden ist (Röm 4,1).
Den „Widerspruch zwischen 4,12.13-15 und 4,16d“ erklärt Wolter auch in diesem Zusammenhang wieder „als Bestandteil jener Aporie …, die den paulinischen Umgang mit der Israelfrage in diesem Brief insgesamt kennzeichnet.“
[15. Februar 2025] Gerhard Jankowski übersetzt Römer 4,16 folgendermaßen (J106):
Deswegen aus Vertrauen, damit gemäß Solidarität,
auf daß die Verheißung fest sei allem Samen,
nicht nur dem aus Thora allein,
sondern auch dem aus Vertrauen Abrahams,
der unser aller Vater ist.
Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass Paulus nach Jankowski (J108) in den Versen 13-15 „den ganzen Akzent“ auf ein „Vertrauen“ legt, dass im „Annehmen einer neuen Perspektive ohne jegliche Absicherung, ohne jede Garantie“, besteht. In Vers 16 läuft das auf die Zuspitzung hinaus: „Daher aus Vertrauen, damit gemäß Solidarität, ek pisteōs, hina kata charin“.
Wie kommt Jankowski auf die unübliche Übersetzung von charis mit „Solidarität“? Er geht vom Zusammenhang des Wortes „charis … mit dem Wortstamm chair-“ aus,
von dem auch das Verb chairein, sich freuen, abgeleitet ist. Charis ist alles, worüber man sich freuen kann. Mögliche Übersetzungen sind Gunst, Huld, Wohltat, aber auch (körperlich) Anmut, Liebreiz. Die Charites, die Töchter des Zeus und der Eurynome, verkörpern als Göttinnen geradezu die charis. Wir nennen sie Gratien, abgeleitet von der lateinischen Übersetzung gratiae. Das lateinische Wort hat die gleiche Bedeutung wie das griechische. Freuen kann man sich auch über ein gutes, freundschaftliches Verhältnis oder Einverständnis, in dem Menschen zueinander stehen. Auch das ist charis.
Skeptisch betrachtet Jankowski unser „Wort Gnade, die häufigste Übersetzung“, weil es „nur von ferne an das Gemeinte“ herankommt, denn „ihren Grund“ hat diese Übersetzung darin, dass in „hellenistischer Zeit … die charis fast ausschließlich den Herrschern zugeschrieben“ wird:
Sie sind es, die jemandem etwas gnädig gewähren oder Gnade walten lassen. K. Kroon umschreibt diese Gnade so: „Gnade in der Welt ist: das Knie auf der Brust des gefällten Opfers, das Gnade! fleht.“ <121> Die Übersetzung mit Gnade wird fraglich, wenn das Wort mit Gott in Verbindung gebracht wird. Gott wird dann zu einem Herrscher, der kaum von den bekannten Herrscherfiguren zu unterscheiden ist.
Die Septuaginta verwendet das Wort charis „als Übersetzung von chen/chanan, sich jemand in guter Absicht zuwenden“, und zwar „fast ausschließlich in der stehenden Wendung Gnade/Gunst in jemandes Augen finden“. In „den messianischen Schriften“, wie Jankowski das Neue Testament nennt (J109), kommt charis „sehr häufig“ vor, nämlich insgesamt „151mal“, aber nicht in der eben genannten Bedeutung. „Paulus hat das Wort 60mal, davon 22mal im Röm, vor allem im ersten Teil des Briefes.“ Fast immer verwendet Paulus das Wort
im Zusammenhang mit pistis, Treue/Vertrauen. Diese Verbindung läßt auf das biblische Grundwort schließen, das hinter charis steht. Es ist das hebräische chessed. Chessed we-emeth gehören neben zedakah we-mischpath, Bewährtheit und Gerechtigkeit, zu den Grundkategorien, die das Wesen des Bundes zwischen dem Volk Israel und seinem Gott umschreiben. <122>
Dieses hebräische Grundwort chessed hat ähnlich wie das griechische charis „die Grundbedeutung von Zuneigung, Zuwendung, Huld“, und markiert „das Verhältnis Gottes zu seinem Volk und das Verhältnis der Menschen zueinander in diesem Volk … Zuverlässigkeit <123>, Solidarität sind angemessene Übersetzungen.“
Dass die Septuaginta das Wort „chessed … nicht mit charis, sondern mit eleos oder eleēmosynē“ übersetzt, ist nach Jankowski wohl darauf zurückzuführen, dass
die Übersetzer eine gewährte Zuwendung für Hilfsbedürftige annahmen, ganz so, wie sie im hellenistischen Denken den Herrschern zugeschrieben wurde. Auch von daher kommt man schnell zur deutschen Übersetzung Gnade.
Indem bei Paulus das Wort charis, wie gesagt, „fast immer in Zusammenhang mit pistis {Treue/Vertrauen} und in der Nähe zu dikaiosynē {Bewährtheit}“ steht, hält er
sich also an die in der Schrift vorgegebenen Kategorien, die den Bund mit Gott und das Bündnis untereinander grundlegend umschreiben. Gleichsam als neue Kategorie kommt bei Paulus hinzu, daß für ihn auch die Gojim in den Bund hineingenommen sind. An allen Stellen, wo dieser Zusammenhang gegeben ist, wie auch im Kontext von Röm 4, empfiehlt sich daher als Übersetzung für charis unser Wort Solidarität. Gott steht treu zu seinem Bund, zu dem auch die Gojim gehören. Er erklärt sich mit ihnen solidarisch. Wirklich wird diese erklärte Solidarität im gegenseitigen solidarischen Verhalten zwischen Juden und Gojim. So bewährt sich der Bund.
In meinen Augen lässt sich die Bedeutung von chessed bzw. charis zwar nicht vollkommen mit dem modernen Wort „Solidarität“ wiedergeben und schon gar nicht von Martin Buber her begründen, dessen Verdeutschung mit „Huld“ in eine andere Richtung geht (siehe meine Anm. 123). Darum kehrt wohl auch Jankowski später (G16) zur Übersetzung „aufgrund von Gnade“ zurück. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der biblische Gott selbst das Gefälle zwischen sich und auf ihn vertrauenden Menschen in ein Gegenüber auf Augenhöhe verwandelt. Bereits im Ersten Testament offenbart sich Gott nicht als unterdrückender Herrgott, sondern als derjenige, der das von ihm erwählte Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Und im Zweiten Testament offenbart sich Jesus <124> als die Verkörperung dieses befreienden NAMENS Gottes, indem er seinen Schülern als ihr „Herr und Lehrer“ die Füße wäscht und ihr „Sklave (doulos, ˁeved)“ wird, um „diese Menschen“ zu einer agapē {solidarische Liebe} zu ermutigen, in der sie „untereinander Sklaven füreinander“ sind.
Für die Auslegung von Römer 4,13 und 16 folgt nach Jankowski aus solchen Überlegungen (J109f.):
Die Perspektive, ausgehend von der Verheißung an Abraham, ist: die Weltordnung erben. Nicht diejenigen, die die Welt beherrschen und sie mit Gewalt ordnen, sind die Erben. Die Erben sind die Nachkommen Abrahams. Es sind die, die im Vertrauen an dieser Verheißung festhalten. Und dazu gehören auch die, die nicht über den Weg der Thora berechtigte Erben sind, auch die, die in dieser Weltordnung ohne Thora leben. Auch sie sind Nachkommen Abrahams, nicht durch Beschneidung und Thora bestätigt, sondern aus der treuen und freien Solidarität Gottes heraus, mit der er an seiner Verheißung festhält. Zusammen mit dem einen Volk erben die anderen Völker die Weltordnung. Zusammen mit den Juden werden auch die Nichtjuden die Verheißung wahr machen, Erben der Weltordnung zu sein. Das alles aber nur, weil da einmal Abraham eine Verheißung bekam, sie im Vertrauen annahm und so zum Vater wurde, zum Vater der beschnittenen Juden, seinen direkten Nachkommen, und zum Vater der nicht beschnittenen Nichtjuden, die durch die Solidarität Gottes zu seinen Nachkommen wurden. Auch sie sind Samen des einen Vaters Abraham und deswegen auch legitime Erben.
Die von Wolter erneut behauptete Aporie, also der angeblich ausweglose Widerspruch, zwischen dem Festhalten des Paulus an den Verheißungen für nichtchristliche Juden und seiner Proklamation des Christus-Glaubens als dem einzigem Weg, dem Zorn Gottes zu entkommen, verliert dann einiges an seiner scheinbaren Ausweglosigkeit, wenn man beachtet, dass Paulus sein Evangelium gerade auch an alle Juden adressiert, um sie gemeinsam mit den Gojim für das Vertrauen auf den Messias zu gewinnen. Dass er damit nur bei wenigen Juden auf Resonanz stößt, setzt ihm so sehr zu, dass er fast bis zur Selbstaufgabe leidet (vgl. Römer 9,1-3). Den späteren Weg der schon bald heidenchristlich dominierten Kirche, die sich von dem Volk Israel kata sarka {nach dem Fleisch} vollständig lossagt und es seiner Verheißungen zu enterben versucht, hätte er sicherlich mit noch größerem Schmerz und maßlosem Entsetzen als eine unverzeihliche Katastrophe beurteilt.
↑ Römer 4,16e-17a: Abraham als Vater von uns allen – der Juden und der Völker
4,16e Der ist unser aller Vater –
4,17 wie geschrieben steht:
„Ich habe dich gesetzt zum Vater vieler Völker“ – …
[16. Februar 2025] Indem Paulus mit den Worten (W294) „Der ist Vater von uns allen“ in Vers 4,16e (W302) „das Thema der Vaterschaft Abrahams aus V. 1 und V. 12b wieder“ aufnimmt und „durch ein betont vorangestelltes pantōn {von uns allen}“ ergänzt, hebt er nach Michael Wolter hervor,
dass Abraham auch der Vater der Heidenchristen ist. Dementsprechend geht der Umfang von pantōn hēmōn über die beiden „Unser-Vater“-Formulierungen von V. 1 und V. 12b hinaus: „Wir alle“ – das sind jetzt, nach V. 16d – nichtchristliche Juden und jüdische wie nichtjüdische Christen.
Paulus fügt in Vers 17a ein Zitat aus 1. Mose 17,5 an, um zu belegen, dass „diese Integration der Christen aus den nichtjüdischen Völkern in Kontinuität zu der Verheißung steht, die Abraham von Gott empfangen hat“. Dort spricht schon „der hebräische Text … von den gojim, den fremden Völkern“, und bezieht sie „in das Heil Gottes“ ein, so dass sicherlich „Paulus mit den ethnē, von denen dort die Rede ist, die nichtjüdischen Völker bezeichnet sah, die Heiden bleiben und nicht als Proselyten zum Judentum hinzukommen.“ Auch hier betont Wolter nochmals:
Damit will Paulus selbstverständlich nicht das nichtchristliche Judentum von Abraham trennen. Es tritt hier lediglich in den Hintergrund, weil es Paulus um die Einbeziehung der Heidenchristen in die Nachkommenschaft Abrahams geht.
Nach Gerhard Jankowski (J110) ist die „Behauptung“, dass „auch die Nichtjuden, die Gojim, legitime Nachkommen, Söhne und Töchter Abrahams sind, … zumindest gewagt“, aber für
Paulus ist sie durch die Schrift bestätigt. Denn da ist der Satz: Zum Vater vieler Gojim habe ich dich gesetzt. Gesagt ist dieser Satz zu Abraham als erneute Verheißung in der Erklärung seines Namens.
Beachtenswert ist für Jankowski der neue Name „Abraham“, den er, der bis zu diesem Zeitpunkt Abram geheißen hat, von Gott erhält, wie er in 1. Mose 17,5 gedeutet wird (J111):
5 Dein Name sei Abraham,
denn zum Ab-hamon gojim gebe ich dich.Wie das begründende denn zeigt, ist Ab-hamon gojim die Deutung des Namens Abraham. Abraham heißt in dieser Deutung Vater einer Menge von Gojim/Völkern. LXX übersetzt das mit patēr pollōn ethnōn {Vater vieler Völker}. Und so übernimmt es auch Paulus. Was den Wortlaut betrifft, scheint die Deutung ziemlich weit hergeholt zu sein. Vom Inhalt her macht sie aber einen Sinn. Erst recht für Paulus.
Da sich auch Paulus in einem sein Leben einschneidend verändernden Erlebnis (Galater 1,16) zum Frohbotschafter des Messias unter den Völkern berufen weiß, ist es verständlich, dass er eine Parallele zur eigenen Beauftragung gerade in der dritten Erzählung vom Bundesschluss Gottes mit Abraham erkennt:
Die Deutung des Namens in Gen 17 ist eng verbunden mit einem erneuten Bundesschluß zwischen Gott und Abraham. Es ist der Bund der Beschneidung. Der Bund wird so angekündigt:
2 Ich gebe meinen Bund zwischen mich und dich,
und mehre dich reich, überreich.
3 …
Gott redete mit ihm, sprechend:
4 Ich,
da, mein Bund ist es mit dir,
daß du Ab-hamon gojim wirst.
Genau im Anschluss daran „erfolgt so etwas wie eine Namensgebung: Aus Abram wird Abraham“, und dieser „neue Name“ wird wie oben beschrieben gedeutet:
Das Rufen des Namens erfolgt immer bei der Geburt eines Menschen. Wenn nun hier ein neuer Name ausgerufen wird, wird Abraham gleichsam neu geboren. Der neue Name bekräftigt gleichzeitig die erste Verheißung an Abraham. Der folgende Bund ist die Bestätigung der Verheißung reicher Nachkommenschaft und des Landes. ln den Bundesschluß sind alle Nachkommen Abrahams auf Weltzeit hin hineingenommen.
Es gibt aber nun „eine Besonderheit“, durch die sich dieser Bund auszeichnet:
10 Dies ist mein Bund, den ihr wahren sollt, zwischen mir und euch, und deinem Samen nach dir:
Beschnitten sei unter euch alles Männliche.
Daraus, dass „Nachkommen Abrahams … also nur Beschnittene sein“ können, ergibt sich das
Problem, daß Abraham ausdrücklich bei der Namensgebung Vater vieler Gojim genannt wird. Die Gojim sind aber unbeschnitten. Sie müssen, wenn sie Nachkommen Abrahams sein sollen, beschnitten werden. So haben denn auch die Rabbinen das Problem gelöst. Sie sagen, daß Abraham der Vater auch der Proselyten ist. Und das sind Gojim, die sich haben beschneiden lassen und danach als Nachkommen Abrahams gelten. Ganz späte Stimmen sagen, daß Abraham Vater aller ist, die in die Welt kommen.
An dieser Stelle weicht Paulus von der Haltung der Rabbinen ab, aber nicht, indem er sich vom Judentum löst. Vielmehr folgt er als vom Messias Israels berufener Jude ganz und gar den Spuren Abrahams (J111f.):
Er hält sich an das in der Schrift Gesagte, und da heißt es nun einmal, daß Abraham Vater vieler Gojim sein soll. Folglich sind die Gojim Nachkommen Abrahams. Sie sind es, auch wenn sie nicht beschnitten sind. Und sie müssen sich auch nicht beschneiden lassen, mit anderen Worten: sie müssen nicht Proselyten werden, um zu Israel zu gehören. Mit dieser Behauptung geht Paulus weit über das hinaus, was die Weisen über die Gojim und über die Proselyten gelehrt und festgelegt haben. Dennoch nimmt er Teile dieser Entscheidung auf, wendet sie aber grundsätzlich nur noch auf die Gojim an.
Schon hier weist Jankowski (J112) auf einige „Elemente aus der Diskussion“ der Rabbinen „über die Proselyten“ hin, die Paulus im Römerbrief später aufgreift, „aber konsequent auf die Gojim“ anwendet, denn für „ihn gehören die Gojim als Gojim zu Israel“, und es „war nicht seine Absicht, Proselyten zu machen.“ So ist es
erwähnenswert, daß Abraham nicht in jungen Jahren beschnitten wurde, weil er die Proselyten nicht entmutigen wollte (BerR {Bereschit Rabba} 46,2; ähnlich auch 84,2). Es ist das hohe Alter, in dem Abraham beschnitten wurde, das den Proselyten zeigt, daß es für die Beschneidung nie zu spät ist. In mEd {Mischna ˁEduyot} 5,2 heißt es: „Das Haus Hillel sagt: Wer sich von der Vorhaut absondert, gleicht einem, der sich vom Grab absondert.“ Ein Proselyt ist also vor seiner Beschneidung wie ein Toter anzusehen, der grundsätzlich unrein ist. Nach seiner Beschneidung ist er wie ein Neugeborener anzusehen. Nach BerR 84,4 ist ein Proselyt anzusehen als einer, der neu geschaffen wurde.
Es bleibt abzuwarten, wie Paulus solche Aussagen über die Proselyten in sein Plädoyer für die Einbeziehung der Gojim in die Verheißungen an Israel aufnehmen wird.
↑ Römer 4,17b-22: Abraham vertraute auf Gott, der erstorbenen Leibern Kinder erweckt und so zum Vater vieler Völker werden lässt
[Abraham … ist unser aller Vater] … vor Gott, dem er geglaubt hat,
der die Toten lebendig macht
und ruft das, was nicht ist, dass es sei.
4,18 Wo keine Hoffnung war,
hat er auf Hoffnung hin geglaubt,
auf dass er der Vater vieler Völker werde,
wie zu ihm gesagt ist:
„So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“
4,19 Und er wurde nicht schwach im Glauben,
als er auf seinen eigenen Leib sah,
der schon erstorben war,
weil er fast hundertjährig war,
und auf den erstorbenen Mutterschoß der Sara.
4,20 Er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben,
sondern wurde stark im Glauben und gab Gott die Ehre
4,21 und wusste aufs Allergewisseste:
Was Gott verheißt, das kann er auch tun.
422 Darum wurde es ihm auch „zur Gerechtigkeit gerechnet“.
[17. Februar 2025] Michael Wolter (W303) betrachtet die Verse Römer 4,17b-21 als eine zusammenhängende Einheit, da es in ihnen „wieder um den historischen Abraham“ geht und durchgehend „immer Abraham das grammatische und semantische {bedeutungsmäßige} Subjekt der Sätze ist“. Inhaltlich geht es um (W303f.)
so etwas wie eine theologische Erläuterung zu Gen 15,6a: Was ist gemeint, wenn hier von Abraham gesagt wird, dass er Gott „glaubte“? Was heißt hier „glauben“? In V. 22 formuliert Paulus die Schlussfolgerung unter Rückgriff auf den Wortlaut von Gen 15,6b.
Wolter zufolge (W304) will Paulus hier den „Abstand … überbrücken“, der sich zwischen dem Glauben der Heidenchristen „und dem Glauben Abrahams“ auftut, denn der Letztere konnte „sich naturgemäß noch nicht auf Jesus Christus richten“. Zu diesem Zweck beschreibt er Abrahams Glauben so, „dass er mit dem christlichen Glauben (der pistis Christou) verbunden werden kann“. Damit bereitet er
die Übertragung seiner Abraham-Interpretation auf die Christen vor, die er in V. 23-24 durchführt. Von der christlichen Seite aus baut er in V. 24c an derselben Brücke.
Gegen fast alle anderen Kommentare und Bibelübersetzungen meint Wolter den Ausdruck katenanti hou episteusen theou nicht mit „vor Gott, dem er geglaubt hat“ (so Luther) oder „vor dem Gott, dem er vertraute“ (so Jankowski J110/G16) übersetzen zu dürfen, sondern mit (W303) „Er glaubte angesichts Gottes“, denn (W304) das „Relativpronomen hou {des} steht hier anstelle des Demonstrativums toutou {desjenigen}“ und bezieht sich betont auf das, was danach von Gott gesagt wird, also: „Er glaubte angesichts desjenigen Gottes, der …“. Mir scheint, dass Wolter auf diese Weise andeuten will, dass Paulus unter der Hand den Akzent von Abrahams Glauben vom Gott Israels weg in Richtung auf Jesus Christus verlagert.
Mit der anschließenden Rede von „Gott als dem, ‚der die Toten lebendig macht‘ (ho zōopoiōn tous nekrous)“, greift Paulus „auf jüdisches Reden von Gott zurück“, z.B. auf den „Schluss der Benediktion {Segnung} des Achtzehngebets (‚Gepriesen bist du, JHWH, der die Toten lebendig macht‘)“, aber damit hat er Wolter zufolge „nicht die eschatische Auferweckung aller Toten im Blick (oder die Bekehrung Abrahams oder die iustificatio impii {Rechtfertigung des Gottlosen}), sondern die Auferweckung Jesu.“ Er will also „Abrahams Glauben mit dem christlichen Glauben verknüpfen, den er in V. 24c als Glaube ‚an den‘ charakterisiert, ‚der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat‘.“ Dadurch wird „Abrahams Glaube … zu so etwas wie einer allgemeinen Vorform des christlichen Glaubens“, wozu sich Wolter (Anm. 105) auch darauf beruft, dass Paulus in Vers 19 „vom ‚erstorbenen (nenekrōmenon) Leib‘ Abrahams sowie vom ‚Abgestorbensein‘ (nekrōsis) von Saras ‚Mutterschoß‘ spricht.“
Auch für „die zweite Prädikation (‚der das Nichtseiende ins Sein ruft‘)“ gibt es nach Wolter (W305) „Parallelen“ z.B. bei Philo oder in anderen jüdischen Schriften:
Für Röm 4,17b ist vor allem 2Makk 7,28f interessant, weil hier der Gedanke der Schöpfung aus dem Nichts mit der Erwartung einer Auferweckung von den Toten zusammengebracht wird: „Diese (sc. Himmel und Erde) hat Gott nicht aus Seiendem gemacht (ouk ex ontōn epoiēsen); darum … nimm den Tod auf dich, damit ich dich durch das Erbarmen … zurückerhalte“ (s. bereits V. 23). Der Verweis auf die Schöpfung aus dem Nichts hat hier rhetorische Funktion: Er will Gottes Allmacht ins Bewusstsein rufen, um die Gewissheit zu begründen, dass Gott auch die gesetzestreuen Märtyrer von den Toten auferwecken wird.
Wolter stellt aber wieder einen „Unterschied zu den jüdischen Texten“ fest, denn Paulus spricht
nicht im Rückblick von der einstigen Erschaffung der Welt, sondern er charakterisiert (Partizip Präsens) das Wesen Gottes, der – weil er Gott ist – immer wieder so handelt, dass er aus Nichtseiendem Seiendes macht.
Daraus schlussfolgert Wolter von Vers 24c her, dass Paulus
die Auferweckung Jesu im Wesen Gottes selbst verankert und den christlichen Osterglauben als einen Glauben charakterisiert, der sich unmittelbar auf Gottes Gott-Sein bezieht.“
Außerdem bezieht Paulus Wolter zufolge die Worte kalountas ta mē onta hōs onta {der das Nichtseiende ins Sein ruft} auch auf „die Hinzunahme der Heiden“, da er später in Römer 9,25
das Zitat von Hos 2,25cLXX (erō tō Ou-laō-mou Laos mou ei sy {ich will sagen zu Nicht-mein-Volk Mein-Volk}) so umformuliert, dass dabei die Formulierung von Röm 4,17b durchscheint: kalesō ton ou laon mou laon mou {ich werde nennen das Nicht-mein-Volk Mein-Volk}.
In Vers 18 wird Abrahams Glaube mit dem „Wortspiel“ par elpida ep‘ elpidi {gegen Hoffnung voller Hoffnung} „als eine Hoffnung“ charakterisiert, die „genau dort entsteht, wo es nach menschlichem Ermessen nichts zu hoffen gibt“, nämlich in der in Vers 19 bezeichneten „Überwindung der Aussichtslosigkeit …, dass Abraham und Sara jemals noch leibliche Kinder bekommen.“
Zunächst beschreibt Paulus weiter (W306) „die Hoffnung Abrahams mit Worten, die er unter Rückgriff auf Gen 17,5 formuliert“, nämlich eis to genesthai auton patera pollōn ethnōn {dass er zum Vater vieler Völker wird}, „und er sieht sie in den aus Gen 15,5 zitierten Worten begründet“: kata to eirēmenon: houtōs estai to sperma sou {nach dem, was gesagt ist: ‚So wird deine Nachkommenschaft sein‘}.
Sehr viel Wert legt Wolter nun darauf, dass „Paulus die Hoffnung hier als einen Modus des Glaubens“ darstellt, das heißt:
Glaube ist der Gewinn von Hoffnung und nicht etwas, das sie begründet oder das durch sie noch zu ergänzen wäre. … Der Aorist episteusen gibt dem Ganzen eine ingressive {den Beginn einer Handlung beschreibende} Ausrichtung: Damit, dass Abraham Gottes Ankündigung Glauben geschenkt hat, hat er eine Hoffnung gewonnen, die er vorher nicht hatte.
Zum Beleg führt er Parallelstellen von Paulus selbst in „Röm 5,2 und Gal 5,5“ an sowie aus Psalm 78/77,22, wo „Gott ‚glauben‘ [heˀemin; LXX: pisteuein] und auf sein Heil ‚hoffen‘ [batach; LXX: elpizein] … das Gottesvolk“ kennzeichnen. Bezeichnend ist neben seiner durchgehenden Wiedergabe von ˀaman bzw. pisteuein mit „glauben“ statt mit „vertrauen“ auch hier erneut die Übersetzung von jɘschuˁah bzw. sōtērion mit „Heil“ anstelle von „Befreiung“ (siehe oben mein Abschnitt Der unerläuterte Gebrauch des Begriffs „Heil“).
In den Versen 19-21 „erläutert Paulus das Gegenüber von par‘ elpidas {gegen Hoffnung} und ep‘ elpidi {voller Hoffnung} aus V. 18“ näher (W307):
Was Paulus mit asthenein tē pistei („schwach werden im Glauben“; V. 19a) meint, wird er in V. 20a durch diakrinesthai („zweifeln“) konkretisieren. Grund und Anlass für eine solche – durchaus vorstellbare – Reaktion entnimmt er wahrscheinlich Gen 17,17,wo Abraham sein eigenes und seiner Frau Alter in Betracht zieht und sich von da aus die Unerhörtheit von Gottes Ankündigung klar macht.
Indem „Paulus die Zeugungsunfähigkeit Abrahams und die Empfängnisunfähigkeit Saras als eine Art Tod charakterisiert (nenekrōmenon bzw. nekrōsis in V. 19b.d)“, baut er Wolter zufolge
wieder ein Stück an jener Brücke, die den Glauben Abrahams (V. 17c) mit dem Glauben der Christen (V. 24c) verbindet. Abraham glaubt, dass Gott seinen bereits ‚verstorbenen‘ Leib, d.h. seine Zeugungsunfähigkeit und Saras toten Mutterschoß wieder ‚lebendig machen‘ bzw. ‚auferwecken‘ wird.
Dabei wird der Glaube Abrahams durch „das Prädikat katenoēsen {er betrachtete}“ so charakterisiert, dass er „seine und Saras Fortpflanzungsunfähigkeit … als ein Gestorben-Sein deutet.“ Indem er (W307f.)
der in Gen 15,5 ausgesprochenen Ankündigung Gottes trotzdem Glauben schenkt, … wird … erkennbar, dass er sie als Gottes Wort gehört hat. Denn es ist Gott allein, der aus dem Tod ins Leben führen kann, und sein Wort bewirkt immer, was es sagt (vgl. Jes 55,11; Jer 1,12 u.ö.).
Damit, dass Paulus in Vers 20 das Nicht-Zweifeln Abrahams an Gottes Verheißung zahlreicher Nachkommen „als ‚Gott Ehre geben‘ interpretiert“, verweist er
zurück auf 1,21, wonach die Grundsünde der Menschen darin bestand, dass sie Gott, obwohl sie ihn aus seinem Handeln in Schöpfung und Geschichte kannten, „nicht als Gott verherrlicht haben (ouch … edoxasan)“. Dass diese Querverbindung für die theo-logische Deutung des Glaubens Abrahams in Röm 4,20 maßgeblich ist, lässt der Kontext erkennen: Paulus kann Abrahams Glauben als „Gott Ehre geben“ interpretieren, weil Abraham davon „überzeugt ist“ (V. 21), dass Gott seine Verheißung gegen allen Augenschein darum zu erfüllen in der Lage ist, weil er Gott ist. Es ist die unbedingte Verlässlichkeit von Gottes Wort, auf die Abraham vertraut. Abraham glaubt dem Verheißungswort Gottes, weil es Gottes Wort ist. Wenn Paulus diesen Glauben als Gott „die Ehre geben“ interpretiert, macht er Abraham zum ersten Menschen, der die in Röm 1,21 beschriebene Grundsünde der Heiden hinter sich gelassen und „Gott als Gott verherrlicht“ hatte. Dazu passt, dass Abraham der erste Mensch ist, von dem in der Bibel gesagt wird, dass er glaubt.
Im letztgenannten Zusammenhang erwähnt Wolter (Anm. 124), dass in ihrem „Hintergrund … ein jüdisches Abrahambild“ steht: „Demnach war Abraham der erste Heide, der sich vom Götzendienst zum Monotheismus bekehrte“. Das hindert ihn jedoch nicht daran, auch hier wieder ein sehr allgemeines Bild von Gott zu zeichnen, das von den konkreten Befreiungserfahrungen Israels mit seinem Gott abstrahiert.
Mit den Worten von Vers 22 schließlich (W303): „Und darum wurde es ihm als Gerechtigkeit angerechnet“ greift Paulus nochmals auf 1. Mose 156b zurück und macht „die Rechtfertigung Abrahams als Folge seines Glaubens kenntlich“. Bemerkenswert ist, dass Wolter dasselbe auch noch einmal anders ausdrückt (W308f.):
lm Lichte des alttestamentlich-jüdischen Verständnisses von Gerechtigkeit gesagt: Gott bescheinigt Abraham, dass er sich gegenüber Gott gemeinschaftsgemäß verhalten hat. Denn dass die Menschen dem Wort Gottes bedenkenlos „glauben“ – dieses Verhalten ist es, was dem Charakter der Beziehung von Mensch und Gott auf Seiten der Menschen entspricht.
[18. Februar 2025] Gerhard Jankowski beruft sich in seiner Auslegung von Römer 4,17-22 zwar nicht auf Friedrich-Wilhelm Marquardt, aber dennoch lohnt es, genau an dieser Stelle einen Blick auf dessen Christologie zu werfen, denn auch er [208] betont zu Römer 4,22 wie Wolter, dass Abrahams Gottvertrauen,
indem er Gott die Ehre gab und völlig überzeugt war, was Gott verheißen habe, das vermöge er auch zu tun…, … seinem Gemeinschaftsverhältnis mit Gott entsprach, und darum wurde dies ihm zur Gerechtigkeit angerechnet. Im Gemeinschaftsverhältnis mit Gott zählen nicht die uns erschwinglichen Bedingungen der Möglichkeiten und der Wirklichkeit des Wortes. Unser Vertrauen, nicht unsere Logik, ist da die Struktur des Wirklichen und des Möglichen.
Interessant ist nun, dass auch Marquardt [207] die „theologische Spitze“ im „Abraham-Midrasch“ des Paulus ähnlich wie Wolter darin erblickt, dass Abraham in seiner „Doppelvaterschaft“ von Juden und Heiden „die Wirklichkeit desjenigen Gottes“ repräsentiert, „der in der Auferstehung Jesu von den Toten gewirkt hat.“ Während Wolter jedoch so tut, als lenke Paulus die Aufmerksamkeit vom Gott Israels weg auf Jesus Christus, schärft Marquardt eindringlich ein, dass Paulus die Geschichte des auferstandenen Jesus vom Gott Israels her erzählt:
Der Ostergott ist kein anderer als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und aller ihrer Nachkommen. Der Ostergott ist der Gott Abrahams, der die Toten lebendig macht. Gott ist Einer.
Daher hat die Art und Weise [208], wie Paulus seine Aussage erläutert, dass „Gott die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft“, weniger mit „philosophischen Gedanken einer Schöpfung aus Nichts“ zu tun, vielmehr geht es hier um
die Analogie zwischen der Totenauferstehung und den toledot, den Zeugungen in Israel. Der Gott, der die Toten lebendig macht, ist der Gott, der erstorbene Leiber von Frauen und Männern öffnet und revitalisiert.
Damit greift Paulus [211] auf eine „frühchristliche (in Wahrheit urjüdische) Tradition“ über die „Zeugungsunfähigkeit von Sara und Abraham“ zurück:
Ohne Kinder sind sie geschichtlich tot. Wohl leben sie noch, aber ihr Leib ist „erstorben“ für das Leben, auf das es Gott um Israels willen ankommt. Glaube ist für sie konkret: Gott und seiner Verheißung eines Sohnes trauen. Und darin ist Gott Gott, daß er neues Leben, daß er ihnen einen Sohn verheißt, und zwar so, daß sie mit ihren eigenen Leibeskräften am verheißenen neuen Leben, ihrem hohen Alter zum Trotz, beteiligt sein werden. Jedes einzelne Moment ist hier wichtig: die erstorbenen Leiber der Menschen, – die dessen unerachtet ausgegebene Verheißung Gottes, – das Wunder neuen Lebens, das Gott schafft, – und die produktive Beteiligung von Abraham und Sara an diesem neuen Leben.
Ganz in diesem Sinne führt auch Gerhard Jankowski (J112) zu Abraham und Sara aus:
Als Abraham den Nachkommen verheißen bekommt, ist er 99 Jahre alt, fast hundertjährig, sagt Paulus. Sara, die den Sohn gebären soll, ist 90 Jahre alt (Gen 17,17). Die Zeugungsfähigkeit Abrahams kann in diesem Alter angezweifelt werden. Sara ist in einem Alter, in dem sie nach menschlichem Ermessen nicht mehr gebärfähig ist. Bei beiden ist eher Sterben angesagt als neues Leben. Abrahams Leib ist eben erstorben, nenekrōmenos, und der Schoß Saras ist ebenso gezeichnet vom Erstorbensein, nekrōsis (Gen 14,19). Es ist gegen die Natur, daß von beiden jemand gezeugt oder geboren werden kann. Aus Erstorbenem ist kein Leben zu erhoffen. Und dennoch vertraut Abraham gegen alle Hoffnung auf Hoffnung, daß er Vater vieler Gojim werden soll. Er vertraut dem Gott, der die Toten, nekroi, lebendig macht und das Nichtseiende, ta mē onta, wie Seiendes ruft.
Diese Gedanken verbindet Jankowski mit der Vorstellung der jüdischen Rabbinen, dass ein Goj oder ein Proselyt vor seiner Beschneidung als Toter anzusehen ist (J112f.):
Nekroi, nenekrōmenos, nekrōsis, ta mē onta, es sind diese Worte, auf die es hier ankommt. Abraham durchbricht mit seinem Vertrauen eine Todessphäre. Die als Tote gelten, die Nichtjuden, werden gerufen, daß sie leben. Was als nicht existent anerkannt wurde, bekommt die Existenz, die ihm zusteht. Das galt als unmöglich. Aber es ist ja auch unmöglich, daß ein fast Hundertjähriger mit einem erstorbenen Leib und eine Frau mit einem erstorbenen Schoß noch Leben hervorbringen sollen. Beider Gegenwart ist vom Sterben gezeichnet, ihre Zukunft erledigt. Und dennoch soll aus ihnen Neues, Unmögliches möglich werden. Das aber ist nicht zu machen, zu gestalten, zu bewirken. Es ist da eine Hoffnung, die eingelöst werden muß. Darauf ist zu vertrauen.
Bemerkenswert ist nach Jankowski (J113), dass Paulus seine gesamte Argumentation auf einen einzigen Punkt ausrichtet und dabei alles andere ausblendet:
Schaffung aus dem Nichts, Totenauferstehung, diese Theologumena sind von Paulus hier nicht angesprochen, obwohl es die Worte nahelegen. Alles zielt hier ab auf die Gojim. Sie werden zu Seienden, zu Lebenden aus den Toten. Von dem Sohn, der Abraham verheißen war, hören wir nichts. Der Same, in dem natürlich der und die Nachkommen enthalten sind, wird von Paulus konsequent nur auf die Gojim gedeutet. Die biblische Deutung des Namens macht er sich für diese Deutung zunutze. Das Ziel des Vertrauens gegen Hoffnung auf Hoffnung ist, Vater vieler Gojim zu werden.
Sehr gewagt ist nun die Begründung, die Paulus dafür anführt, denn er „unterstreicht“ es „mit einem wörtlichen Zitat aus Gen 15,5: So, houtōs, wird dein Same sein.“ Das ist allerdings „im Zitat auf die zahlreiche Nachkommenschaft“ von Abraham selbst bezogen: „So wie die Sterne wird dein Same sein“, während Paulus es in Römer 4,18 „auf die Gojim“ bezieht,
so daß gehört werden soll: So, die Gojim, sollen dein Same sein. Diese Hervorhebung der Gojim geschieht nicht, um die leiblichen Nachkommen Abrahams zu enterben. Paulus setzt diesen Akzent, um seine Praxis deutlich zu machen. Es bleibt ja dabei, daß Abraham für ihn der Vater von Juden und Nichtjuden ist.
Schon Abraham hätte „der Verheißung, Vater der Gojim zu sein“, misstrauen und sie anzweifeln können, es „sprach alles dafür“. Aber das hat er nicht getan. Auch „was Paulus formuliert in seinem Midrasch, ist anzuzweifeln und zumindest mißtrauisch zu betrachten“ und es ist „[g]ewiß … von der Orthodoxie stark bezweifelt worden.“ Aber nach der Überzeugung des Paulus ist es
das unangefochtene Vertrauen Abrahams, das die Gojim zu seinen Nachkommen macht. Wie der fast Hundertjährige zum Vorbild und Beispiel für die Proselyten wird, so ist er es in seinem Vertrauen für die Gojim. Dieses Vertrauen hat sich als mächtig erwiesen. Dieses Vertrauen wird als Bewährtheit angerechnet.
Damit wiederholt Paulus den „Satz, der Ausgangspunkt für den Midrasch über die Verheißung an Abraham war“, noch einmal „an seinem Ende:
Wahr werden, das ist nicht zu kalkulieren, nicht zu reglementieren, nicht zu ordnen. Wahr werden heißt gegen Hoffnung auf Hoffnung vertrauen, daß Tote lebendig werden, daß die Veränderung der Zustände begonnen hat.
↑ Römer 4,23-25: Was Abraham angerechnet wurde, gilt durch Tod und Auferweckung des Messias auch für Juden und Gojim, die auf den Gott Israels vertrauen
4,23 Nicht nur um seinetwillen steht aber geschrieben:
„Es wurde ihm zugerechnet“,
4,24 sondern auch um unsertwillen,
denen es zugerechnet werden soll,
die wir glauben an den,
der unsern Herrn Jesus auferweckt hat von den Toten,
4,25 welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben
und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt.
[19. Februar 2025] Mit einem Sprung (W309) „in die Gegenwart“ überträgt Paulus
das Handeln Gottes an Abraham mit den Prinzipien, an denen es sich orientierte, auf die glaubenden Christen …: Weil Gott derselbe ist, rechnet er heute … wie damals … den Glauben, der seinem Wort entgengebracht wird (vgl. Röm 1,1-5.16; 10,14-17; 1Thess 2,13), als Gerechtigkeit an.
Das „christliche Wir“ in Vers 24 umgreift Michael Wolter zufolge „Judenchristen und Heidenchristen“ und schließt „alle diejenigen in sich ein…, für die gilt, was in V. 24c steht, die nämlich (W309) „an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat.“
Bezeichnend scheint mir, wie sehr Wolter auch hier wieder darauf besteht, die Verbindung von pisteuein {glauben, vertrauen} durch die Präposition epi mit einem Akkusativ- statt einem Dativ-Objekt als einen Glauben „an Gott“ zu verstehen, was seiner Ansicht nach (W285) auf „einen Bekehrungsvorgang“ hindeutet, wie er bereits zu Römer 4,5 festgestellt hatte. Daher meint er (Anm. 129): „Einfluss von Jes 28,16 liegt hier nicht vor …, denn dort steht pisteuein epi mit Dativ (s. auch Röm 9,33; 10,11: 1Petr 2,6).“ Der Unterschied erschließt sich mir allerdings nicht wirklich. Geht es Wolter darum, pisteuein epi + Dativ-Objekt im Sinne von auf Gott vertrauen von pisteuein epi + Akkusativ-Objekt im Sinne von an Gott glauben zu unterscheiden? Gerade die zuletzt von Wolter angeführten Stellen belegen aber doch, dass Paulus selbst sich durchaus auf Jesaja 28,16 beruft, ohne erkennen zu lassen, dass er eine solche Unterscheidung vornimmt.
Im Grunde bestätigt Wolter ungewollt sogar selbst, dass er hier auf künstliche Weise und aus inhaltlichen Gründen eine grammatikalische Unterscheidung unterstellen will, denn ihm zufolge (W310) „will Paulus“ in Römer 4,24c mit der Verwendung des Akkusativ-Objekts „den Glauben Abrahams an den Gott, ‚der die Toten lebendig macht‘ (V. 17), und den christlichen Glauben einander entsprechen lassen.“ In Vers 17 verwendet Paulus pisteuein aber gar nicht mit epi + Akkusativ-Objekt, sondern ohne epi mit Genitiv-Objekt; hinzu kommt, dass Wolter zur Auslegung von Vers 17 ausdrücklich betont hatte, dass pisteuein dort überhaupt nicht im Sinne von an Gott glauben, sondern mit (W303) „Er glaubte angesichts Gottes“ zu übersetzen wäre. Mir scheint, dass Paulus hier tatsächlich ziemlich willkürlich mit dem Gebrauch der Präpositionen und grammatischen Fälle umgeht und dass nur aus dem biblischen Gesamtzusammenhang zu erschließen ist, ob mit pisteuein eher die Haltung des Vertrauens auf die Treue Gottes oder ein Glaube an bestimmte neue Glaubenssätze gemeint ist, der mit einer Bekehrung zu einer neuen Religion einhergeht.
In Wolters Augen scheint die letztere Deutung außer Frage zu stehen, indem er folgendermaßen argumentiert (W310):
Dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, macht Paulus auch in Röm 10,9 sowie in 1Kor 15,14.17; 1Thess 4,14 zum maßgeblichen Inhalt des christlichen Glaubens. „Glaube an Gott“ und „Christus-Glaube“ (pistis Christou im Sinne der o. S. 249f skizzierten Bedeutung <125>) stehen dabei natürlich nicht für zwei verschiedene Ausrichtungen oder Inhalte des Glaubens, sondern es handelt sich in beiden Fällen um ein und denselben Glauben: dass Gott durch Jesus Christus zum Heil der Menschen gehandelt hat und dass durch Jesus Christus das Heil Gottes erschlossen wird. Paulus gibt seiner Formulierung des Glaubensinhalts die Form einer Gottesprädikation. Auch wenn ihr konkreter Wortlaut auf Paulus selbst zurückgehen dürfte, ist sie in Bezug auf Form und Inhalt vorpaulinischer Herkunft.
Zur Aussage „Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat“ hebt Wolter hervor, dass in „dieser Form … die ältesten Aussagen über Jesu Auferstehung … im Neuen Testament überliefert sind“, nämlich nicht als „Aussagen über Jesus, sondern Aussagen über Gott: dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.“ Dazu verweist er auf „1Thess 1,10“ sowie „Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Kol 2,12; 1Petr 1,21“. Sie
entsprechen … den alttestamentlichen Gottesprädikationen, die Gottes Handeln in der Geschichte thematisieren. Als Parallelen zu nennen sind vor allem die Prädikationen „(Gott,) der Himmel und Erde gemacht hat“ (Gen 14,19.22; 2Chr 2,11; Ps 115,15 [113,23LXX]) und „(Gott,) der Israel aus Ägypten herausgeführt hat“ (Ex 20,2; 29,46; Lev 11,45; Num 15,41; Dtn 5,6; Jer 16,14; 23,7).
Indem im Neuen Testament „das Auferweckungshandeln Gottes an Jesus … auf der Ebene der Schöpfung und der Herausführung Israels aus Ägypten“ angesiedelt wurde, wird nach Wolter
das außerordentliche theologische Gewicht der neuen Gottesprädikation erkennbar. Dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, sagt etwas darüber aus, wer Gott ist. Im Unterschied zu der in Röm 4,17 rezipierten Gottesprädikation „… der die Toten lebendig macht“ wird in diesen Texten nicht auf eine bleibende Eigenschaft, sondern auf ein einmaliges geschichtliches Handeln Gottes Bezug genommen. Diese neuen Prädikationen wollen die alten selbstverständlich nicht verdrängen; sie kommen vielmehr zu ihnen hinzu und wollen sie ergänzen.
Zwar versichert Wolter, dass die neutestamentlichen „Gottesprädikationen“ diejenigen aus dem Alten Testament „selbstverständlich nicht verdrängen“ wollen, aber er kommt nicht auf die Idee, Jesu Auferweckung als „einmaliges geschichtliches Handeln Gottes“ vom ebenfalls einmaligen geschichtlichen Handeln Gottes in „der Herausführung Israels aus Ägypten“ her zu begreifen. Ebenso meint er ja, dass Paulus in Römer 4,17 auf eine allgemeingültige „bleibende Eigenschaft“ Gottes Bezug nimmt statt auf die konkrete Geschichte der Zeugungen Israels. Nach Ton Veerkamp <126> kann sogar das Schöpferhandeln Gottes in den Schriften des Ersten Testaments auch die Überwindung eines menschengemachten thohu wa-bohu {Irrsal und Wirrsal} durch das befreiende Handeln Gottes meinen, und dementsprechend bezeichnet der Evangelist Johannes den Auferstehungsmorgen des Messias Jesus pointiert als den Tag eins einer neuen Schöpfung, mit dem die Überwindung dieser gegenwärtigen Weltordnung von Hass und Gewalt und die Feier eines neuen Passahfestes weltweiter Befreiung durch die Praxis einer weltverändernden solidarischen Liebe (agapē) in greifbare Nähe rückt.
Obwohl mit Vers 24c „das Kapitel eigentlich zuende sein“ könnte, fügt Paulus in Vers 25 einen von ihm sorgsam gestalteten Satz an, in dem der Tod Jesu gedeutet wird. Damit wendet sich Wolter (W311) gegen die „Annahme, dass hier eine – wie es immer wieder heißt – ‚vorpaulinische Formel‘ zitiert wird.“
Zwar „gibt es im Neuen Testament … sowie bei den Apostolischen Vätern“ auch anderswo „Kombinationen von Aussagen über Jesu Heilstod und seine Auferstehung“, z.B. „in 1Kor 15,3-5, in Röm 5,9-10 … und in 2Kor 5,15“, aber diese kann man „auf keine gemeinsame Vorlage oder Tradition zurückführen“. An weiteren Stellen werden auch „[o]hne Deutung des Todes Jesu als Heilstod … sein Tod und seine Auferstehung … gemeinsam in den Blick genommen“, nämlich
in 1Thess 4,14 …, in den synoptischen Ankündigungen des Leidens und der Auferstehung (Mk 8,31 parr.; 9,31 parr.; 10,33-34 parr.: jeweils vom „Menschensohn“, in den beiden zuletzt genannten Texten aber immerhin wie in Röm 4,25 mit einer Form von paradidōmi {dahingeben}) sowie im sog. „Kontrastschema“ der Apostelgeschichte, mit dem Lukas das Handeln Gottes an Jesus demjenigen der Jerusalemer Juden gegenüberstellt (z.B. Apg 10,39b-40: „den sie ans Holz gehängt und getötet haben – diesen hat Gott am dritten Tage auferweckt“; s. auch Apg 2,23-24.36; 3,13.15; 4,10; 5,30-31; 13,28-30).
Mit der Aussage von Vers 25a hos paredothē dia ta paraptōmata hēmōn {der wurde dahingegeben um unserer Verfehlungen willen} „deutet Paulus den Tod Jesu als Heilstod“, bei dem durch die Passivform „Gott als handelndes Subjekt kenntlich gemacht“ wird. Auch dafür gibt es Entsprechungen, „vor allem in Röm 8,32 und in Gal 1,4“, aber diese sind nur punktuell (W311f.):
Aufs Ganze gesehen hat die Aussage über Jesu Heilstod in Röm 4,25a keine Parallele im Neuen Testament. Wahrscheinlich verdankt sich ihre Besonderheit dem Einfluss der Septuagintafassung von Jes 53,12c, wo es vom Gottesknecht heißt: „Er hat die Sünden vieler auf sich genommen, und um ihrer Sünden willen wurde er hingegeben (kai dia tas hamartias autōn paredothē)“.
Die Präposition dia {um willen} ist (W312) „nicht nur in Jes 53,12LXX, sondern auch in Röm 4,25a kausal zu verstehen“, also im Sinne der Ursache für den Tod, hat jedoch auch einen finalen Nebensinn im Sinne eines Ziels oder Zwecks,
der zum Ausdruck bringen will, dass Jesus nur in dem Sinne „um unserer Verfehlungen willen hingegeben wurde“, dass er deren Unheilsfolgen „für uns“ getragen und „uns“ dadurch von ihnen befreit hat. In Jes 53 wird diese Interpretation vor allem durch V. 5 sichergestellt („Züchtigung zu unserem Heil traf auf ihn, und durch seine Wunde wurden wir geheilt“).
In Vers 25b: kai ēgerthē dia tēn dikaiōsin hēmōn {und wurde auferweckt um unserer Rechtfertigung willen} „hat die Präposition dia demgegenüber“ eine ausschließlich „finale … Bedeutung“, denn „Jesus wurde auferweckt, damit ‚wir‘ von Gott ‚Rechtfertigung‘ (dikaiōsis) erlangen.“ Damit (W212f.) schreibt „Paulus … Jesu Auferstehung hier eine Heilsfolge zu, die er in Röm 3,24-25 mit dem Tod Jesu verknüpft hatte.“ Wie in 1. Korinther 15,17 geht auch hier
die Befreiung von den Sünden und deren Unheilsfolgen mit der Rechtfertigung einher. Wie in Röm 3,24-25 der Glaube an den Heilscharakter des Todes Jesu dessen Heilswirklichkeit erfährt, so ist es nach 1Kor 15,17 und Röm 4,25b der Glaube an die Auferstehung Jesu, dem dasselbe Ergebnis zuteil wird. Es ist damit der Glaube, der sowohl Tod und Auferstehung Jesu zu einem einheitlichen Geschehen macht als auch umgekehrt durch diesen Bezug zur pistis Christou {Christus-Glaube} wird und dadurch stets ein und derselbe Glaube bleibt.
Zusammenfassend schreibt Wolter zu Römer 4,1-25, dass Paulus hier begründet, was er in 3,31b behauptet hatte:
dass seine These, wonach Gott alle Menschen immer nur aus Glauben für gerecht erklärt (3,28-30), der Tora nicht widerspricht, sondern in Übereinstimmung mit ihr steht. Die Bestätigung entnimmt er der Geschichte Abrahams, die in der Tora erzählt wird.
Dabei „zieht er zu keinem Zeitpunkt in Zweifel“, dass Abraham nach wie vor „als Stammvater Israels gilt“ und dass „Gott sich Israel dadurch zum Eigentumsvolk erwählt hat, dass er Abraham erwählt hat.“ Aber die Frage ist, „wodurch die Zugehörigkeit zu Abraham vermittelt wird.“
Zur Klärung dieser Frage geht Wolter zunächst (W314) auf die „Übereinstimmungen“ und „Unterschiede“ zwischen Galater 3,6-29 und Römer 4,1-25 ein:
Hier wie dort ist die paulinische Argumentation von dem Interesse geleitet, die Heidenchristen in die Kontinuität der Nachkommenschaft Abrahams hineinzustellen und sie damit, auch ohne dass sie leiblich von Abraham abstammen oder durch die Beschneidung zu Juden werden, zu Angehörigen des Gottesvolkes zu machen.
Erhebliche Unterschiede lassen jedoch erkennen, dass Paulus seine Argumentation auf die jeweilige Situation ausrichtet. Zwar arbeitet Paulus z.B. „hier wie dort an ein und demselben Sachproblem“ der Beschneidung, aber „[a]nders als im Galaterbrief stehen Glaube und Beschneidung in Röm 4 einander nicht mehr antithetisch gegenüber, sondern werden zueinander in Beziehung gesetzt.“ Und „auch die Kontinuität zwischen dem Glauben Abrahams und dem Glauben der Christen“ wird
in unterschiedlicher Weise bestimmt. In Gal 3,16 stellt er sie unter Verweis auf den Wortlaut von Gen 13,15; 17,8 (s. auch 12,7; 15,18) her, indem er den Singular tō spermati sou {und seinem Samen} christologisch deutet: Weil die Verheißung sich auf Christus beziehe, seien alle Christen mit Abraham Erben. Demgegenüber stellt Paulus in Röm 4,17b.24b die Kontinuität dadurch her, dass er den Glauben Abrahams als eine allgemeine Vorform des christlichen Glaubens erscheinen lässt: In beiden Fällen ist Gott der Bezugspunkt des Glaubens, und in beiden Fällen ist er es als einer, der den Tod überwindet: „der die Toten lebendig macht“ (V. 17b) und „der Jesus von den Toten auferweckt hat“ (V. 24b).
Mit Gott als „Bezugspunkt des Glaubens“ ist Wolter zufolge (W315)
dasjenige Element genannt, das der paulinischen Argumentation in diesem Kapitel ihr besonderes Profil verleiht: Sein eigentliches Thema ist Gott selbst. Paulus will durch Abraham zeigen, wie es „bei Gott“ (V. 2c) zugeht: dass Gott schon immer und niemals anders gerechtfertigt hat und rechtfertigen wird als aufgrund des Glaubens.
Es ist also letzten Endes „Gott und die Selbigkeit der Prinzipien seines rechtfertigenden Handelns“, durch die „Paulus die Christen mit Abraham verbunden sieht“. Dadurch werden
alle, die den Glauben Abrahams teilen, zu Erben der an ihn ergangenen Verheißung. Außerdem stellt allein der Glaube sicher, dass Gottes Verheißung auch in der Gegenwart noch „Erben“ vorfindet (V. 13-15).
Wolters abschließendes Fazit zu Römer 4 läuft auf die Feststellung hinaus:
Paulus will mit diesem Kapitel zeigen, dass die Christen aus Juden und Heiden in der Kontinuität der Erwählung Abrahams stehen und dass sie auf die Erfüllung der Verheißung hoffen dürfen, die Abraham zuteil wurde. Es hat wenig Zweck, in Abrede zu stellen, dass Paulus damit den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden im Blick auf die Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams suspendiert hat. Dass er damit aber die nichtchristlichen Teile des Judentums durchaus nicht „aus der Nachkommenschaft Abrahams eliminiert“ hat <127>, geht aus V. 16c-e hervor.
[20. Februar 2025] Gerhard Jankowski (J114) weist am Ende „des kleinen Midraschs … über die Verheißung an Abraham“ noch einmal auf seinen „Ausgangspunkt“ hin, nämlich „das Zitat aus Gen 15,5 in Röm 4,3“. Inzwischen hat Paulus herausgearbeitet, „daß Abraham auch Vater der Gojim ist“, und in Vers 23 kehrt er
wieder zu dem Ausgangszitat zurück. Aber dieses Zitat ist stark verkürzt. Die Worte Vertrauen und Bewährung, der Name Abraham fehlen. Übrigbleiben nur die Worte ihm wurde angerechnet. Das steht geschrieben. Was geschrieben steht, ist Vergangenheit. Aber es ist nicht nur um der schönen Worte willen aufgezeichnet. Das Aufgeschriebene deutet Geschehenes. Es ist deswegen nicht objektiv. Was geschrieben steht, wird überliefert und bedarf in der Überlieferung wieder der neuen Deutung. So wird das Geschriebene, die Schrift, zur Wegweisung für Gegenwart und Zukunft. Denn wer wissen will, wohin er gehen will, muß wissen, woher er kommt.
Das heißt also, dass Paulus mit seinem Midrasch den „Versuch einer neuen Erzählung für die Gegenwart und die Zukunft“ unternimmt. Daher betont er zum Schluss:
Was geschrieben ist, ist nicht nur seinetwegen, sondern auch unsertwillen geschrieben. Was Abraham verheißen bekam, wird uns, seinen Nachkommen aus Juden und Nichtjuden, verheißen; was ihm angerechnet wurde, wird seinen Nachkommen angerechnet werden. Wie er vertraute, so vertrauen auch sie. Abraham vertraute auf den, der Tote lebendig macht. So steht es geschrieben. Seine Nachkommen vertrauen auf den, der den Messias aus den Toten erweckt hat. Das ist die neue Erzählung des Paulus und anderer. Der aus den Toten Erweckte trägt einen Namen, Jeshuah/Jesus. Auch er ist einer aus der langen Reihe der Nachkommen Abrahams. Was verheißen worden ist, das wird durchgehalten durch die Generationen der Nachkommenschaft in die Gegenwart hinein und erhofft für die Zukunft. Das Vertrauen Abrahams wird erneuert, wird vergegenwärtigt. Wer darauf vertraut, daß Tote erweckt werden, vertraut darauf, daß diese Welt neu wird, daß Menschen neu werden. Wer von der Auferstehung aus den Toten, dieser Wahrheit, deren Stunde nur noch nicht gekommen ist, überzeugt ist, der hat der gegenwärtigen Welt etwas entgegenzusetzen. Aus diesem Vertrauen heraus lebt die Nachkommenschaft Abrahams gegen die sehr benennbare Herrschaft des Todes in der Welt an. So wird sie wahr werden.
Zwar ist die „neue Erzählung des Paulus … durch den Messias Jesus bedingt“, aber er „erzählt nicht dessen Geschichte“. Die Evangelisten werden das später tun, der Anlass dazu wird der Ausgang des Judäischen Krieges sein. Nach Jankowski (J115) steht für Paulus
der Messias ganz in der Nachfolge des Knechtes Gottes, wie ihn Deuterojesaja kennt. An ihn erinnert er mit dem Zitatanklang aus Jes 53,12 dahingegeben um unserer Übertretungen willen. Dahingegeben, aber eben nicht ausgelöscht. Deswegen auferweckt. Weil er, wie alle aus der Nachkommenschaft Abrahams, nicht ausgelöscht werden kann, da ihm und ihnen Zukunft verheißen ist. Es ist eine messianische Erzählung, die Paulus mit seinem Midrasch vorlegt.
In die durch den Messias geprägte Zukunft sind auch die Gojim als Nachkommen Abrahams hineingenommen. Was Abraham angerechnet wurde, wird auch ihnen angerechnet werden. Sie werden wahre Menschen. Jetzt schon.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 4,1-25
4,1 Was, wollen wir nun sagen,
hat Abraham gefunden, unser Urvater nach dem Fleisch?
4,2 Wenn Abraham nämlich aus Werken wahr gemacht worden wäre,
hat er Ruhm.
Aber nicht vor Gott.
4,3 Denn was sagt die Schrift?
Abraham aber vertraute Gott
und es wurde ihm zur Bewährtheit angerechnet.
4,4 Dem, der Werke tut,
wird der Lohn nicht angerechnet aus Gnade,
sondern aus Schuldigkeit.
4,5 Dem aber, der nicht Werke tut,
aber auf den vertraut, der den Frevler wahr macht,
wird sein Vertrauen als Bewährtheit angerechnet.
4,6 Wie auch David die Seligpreisung des Menschen ausspricht,
dem Gott Bewährtheit ohne Werke anrechnet:
4,7 Selig die, deren Verstöße gegen die Tora vergeben
und deren Verfehlungen bedeckt wurden.
4,8 Selig der Mann, dessen Verfehlung der HERR nicht anrechnet.
4,9 Diese Seligpreisung nun,
(gilt sie) der Beschneidung oder auch der Unbeschnittenheit?
Denn wir sagen:
Angerechnet wurde Abraham das Vertrauen zur Bewährtheit.
4,10 Wie nun wurde es angerechnet?
Als er beschnitten war oder als er unbeschnitten war?
Nicht als er beschnitten, sondern als er unbeschnitten war.
4,11 Und das Zeichen der Beschneidung empfing er
als Siegel der Bewährtheit des Vertrauens
im Zustand der Unbeschnittenheit,
damit er Vater aller ist,
die als Unbeschnittene vertrauen,
damit auch ihnen die Bewährtheit angerechnet wird,
4,12 und Vater der Beschneidung für diejenigen,
die nicht allein aus der Beschneidung sind,
sondern die auch den Fußspuren folgen
des Unbeschnittenheitsvertrauens unseres Vaters Abraham.
4,13 Denn nicht durch Tora
(geschah) Abraham oder seinem Samen die Verheißung,
dass er Erbe der Weltordnung ist,
sondern durch Vertrauensbewährtheit.
4,14 Denn wenn die aus Tora Erben sind,
ist das Vertrauen leer geworden
und die Verheißung aufgehoben.
4,15 Denn die Tora bewirkt Zorn,
wo aber Tora nicht ist,
ist auch keine Übertretung.
4,16 Deshalb aus Vertrauen, damit nach Gnade,
damit die Verheißung sicher ist allem Samen,
nicht dem aus Tora allein,
sondern auch dem aus Vertrauen Abrahams.
Der ist unser aller Vater,
4,17 wie geschrieben ist:
Zum Vater vieler Völker habe ich dich gesetzt,
vor dem Gott, dem er vertraute,
der die Toten lebend macht
und ruft das, was nicht ist, dass es sei.
4,18 Er vertraute gegen Hoffnung auf Hoffnung,
dass er Vater vieler Völker wird,
nach dem, was gesagt ist:
So wird dein Same sein.
4,19 Und nicht schwach geworden im Vertrauen,
betrachtete er seinen eigenen schon erstorbenen Leib,
fast hundertjährig war er,
und das Erstorbensein von Saras Mutterschoß.
4,20 Aber an der Verheißung Gottes zweifelte er nicht im Unvertrauen,
sondern er wurde stark im Vertrauen, gab Gott die Ehre
4,21 und war völlig gewiss:
Der verheißen hat, ist stark, auch zu tun.
4,22 Darum auch wurde es ihm angerechnet zur Bewährtheit.
4,23 Geschrieben wurde jedoch nicht nur um seinetwillen:
Ihm wurde angerechnet,
4,24 sondern auch um unseretwillen,
denen angerechnet werden soll,
die auf den vertrauen, der erweckt hat Jesus, unseren Herrn, aus Toten,
4,25 der dahingegeben wurde um unserer Fehltritte willen
und erweckt um unserer Zurechtbringung willen.
↑ Gewisse Hoffnung auf Frieden jedes Christen mit Gott oder auf die Versöhnung von Juden und Völkern im Schalom Gottes? (Römer 5,1-11)
[22. Februar 2025] Wie man den Abschnitt Römer 5,1-11 versteht, scheint entscheidend zu sein für die Auslegung des gesamten Römerbriefs. Für Michael Wolter steht außer Frage (W318), dass im Mittelpunkt „die christlichen Wir“ stehen „und dass für sie das Gottesverhältnis wieder in Ordnung gekommen ist“. Indem Paulus „die Situation dieser Wir auf drei zeitlichen Ebenen“ beschreibt, nämlich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, können sie „voller ‚Hoffnung‘ auf die Wiedererlangung der nach 3,23 durch die Sünde verlorengegangenen ‚Herrlichkeit Gottes‘ (V. 2c) in die Zukunft schauen.“ Genauer gesagt (W338) „will Paulus“ in diesen Versen
beschreiben, was sich durch die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes nach 3,21-26 für die aus Glauben Gerechtfertigten gegenüber der Situation von 1,18 – 3,20 geändert hat. Er stellt dabei in den Vordergrund, dass sie nunmehr und im Gegensatz zu ‚einst‘ in einem intakten Gottesverhältnis leben. „Frieden mit Gott“ (V. 1) und vor allem „Versöhnung“ (V. 10.11b) sollen nicht nur dieses Verhältnis charakterisieren, sondern sie implizieren auch ein Gegenüber von einst und jetzt. Paulus trägt damit dem Sachverhalt Rechnung, dass die christlichen Wir von Röm 5,1-11, d.h. die intendierten Leser seines Briefes genauso wie er selbst und alle anderen Christen seiner Zeit, durch eine Bekehrung zum Christus-Glauben gekommen waren. Aus V. 11a (die Versöhnten sind kauchōmenoi en tō theō {die sich Gottes rühmen}) geht zudem hervor, dass Paulus von den aus Glauben Gerechtfertigten wie vom erwählten Gottesvolk spricht.
Dabei (W339) erfährt der „Glaube, der Jesu Tod als Tod für die Sünder deutet“, diesen Tod „auch als Erweis der Liebe Gottes“, das heißt:
Paulus verankert die christliche Hoffnung in der Gewissheit, von Gott geliebt zu sein. Diese Gewissheit macht er so stark, dass er sie an den Geist bindet und mit ihm in den Herzen der Glaubenden „ausgegossen“ sein lässt (5,5b-c). Die Liebe Gottes wird dadurch zu einem anthropologisch beschreibbaren Bestandteil des Wesens eines jeden Glaubenden.
So beschreibt Wolter sehr klar die christliche Rechtfertigungslehre in ihrer auf das individuelle Heil jedes Christen gerichteten Ausformung, wie sie schon bald aus dem Römerbrief des Paulus herausgelesen wurde.
Nach Gerhard Jankowski (J126) verkehren Christen wie Wolter mit dieser „individualistisch ausgeformten Versöhnungslehre“, durch die „der einzelne Sünder mit Gott“ versöhnt wird, zutiefst das eigentliche Anliegen des Paulus (J125), dem „die Öffnung Israels für die Gojim, ohne sie zu Juden zu machen“, am Herzen lag:
Die Nähe zu den Gojim hautnah auszuhalten, das war in nuce ein revolutionäres Programm. Es mußte nämlich die nichtjüdische Welt mit den ganz konkreten jüdischen Hoffnungen auf Befreiung, auf wahrhaftige, gelebte Menschlichkeit anstecken. Die messianischen Gemeinden gerade in den Städten der Diaspora waren auf dem Weg, Zellen der Veränderung zu werden.
Von diesem Ausgangspunkt her begreift Jankowski (J117) das Wir, „das Paulus in diesem Abschnitt durchgängig gebraucht“, vollkommen anders als Wolter; er bezieht es nämlich auf die Gemeinschaft der durch das Vertrauen auf den Messias Jesus wahr gemachten und miteinander versöhnten Juden und Nichtjuden:
Mit dem wir, das Paulus in diesem Abschnitt durchgängig gebraucht, stellt er sich ganz auf die Seite der Gojim. Ihr Anwalt will er ja sein bei seinem Volk, als einer der Juden, der angefangen hat, mit Nichtjuden solidarisch zu leben und zu arbeiten.
Diese Solidarität ist zwar gegeben, aber sie ist auch gefährdet. Sie kann jederzeit von denen aufgekündigt werden, die in den Nichtjuden immer noch Feinde sehen und nicht Bundesgenossen. Sie kann auch durch die Nichtjuden gefährdet werden. Sie sind nahe gebracht diesem Volk Israel, sie sind gleichsam hautnah an die Existenz Israels herangekommen. Es ist die Frage, ob sie das aushalten können.
Indem die schon bald heidenchristlich dominierte Kirche (J126) die in diesem Abschnitt vorkommenden thlipsesin {Bedrängnisse} vorwiegend auf „[i]ndividuelles Leid, ‚Trübsal‘ aufgrund der Sünden“ bezog, „Bedrängnis und Verfolgung“ ihrer „jüdischen Bundesgenossen“ aber verdrängte, kam es schon sehr bald tatsächlich dazu,
daß die Nahegekommenen, die später zu Christen wurden, diese Nähe der Existenz Israels nicht ausgehalten haben. Sie war ihnen zu hautnah. Je weiter sie sich von Israel entfernten, desto mehr wuchs die Feindschaft an, die eigentlich vernichtet sein sollte. Die mit Gott allein durch Christus Versöhnten waren bereit, die zu töten, die sie zu Feinden Christi und bald auch der Menschheit erklärten.
Vordergründig ist die Auslegung Wolters in bestechender Weise überzeugend, da wortwörtlich in Römer 5,1-11 kein einziges Mal auf Juden und Heiden Bezug genommen wird und auch die Worte eirēnē {Frieden} und katallagē {Versöhnung} im Hinblick auf Gott und nicht ausdrücklich für die Überwindung zwischenmenschlicher Feindschaft verwendet werden. Um so wichtiger ist es, die Hintergründe der paulinischen Argumentation ernst zu nehmen. Immerhin folgen die Verse 5,1-11 nahtlos dem ausführlichen Midrasch über Abraham. Und auch nach Wolter bilden sie das Gegenstück zu den noch eingehenderen Ausführungen des Paulus über die Verfehlung jeglicher Bewährtheit und Gottfeindschaft von Völkern und Juden in Römer 1,18 – 3,20. Es ist uns leider allzu sehr in Fleisch und Blut übergegangen (J126), Paulus „mit Hilfe der lutherischen Rechtfertigungslehre zu interpretieren“, statt ihn als den Gesandten des Messias Israels zu verstehen (J123), durch dessen Tod „die Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden getötet“ wurde und ihre Versöhnung möglich wird. Zwar beziehen sich sowohl Wolter als auch Jankowski nur ganz am Rande auf den hebräischen Hintergrund des Wortes eirēnē, nämlich den schalom Gottes, der in den prophetischen Schriften der Bibel als ein umfassendes Wohlergehen in der kommenden Weltzeit auf Erden unter dem Himmel Gottes erhofft wird, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Paulus von eben dieser Hoffnung auf eine baldige Überwindung der von Hass und Unterdrückung geprägten gegenwärtigen Weltzeit unter der Herrschaft der so genannten Pax Romana zutiefst erfüllt war.
Nach Wolter (W337) überträgt Paulus „auf diejenigen Juden und Heiden, die aufgrund ihres Christus-Glaubens gerechtfertigt und mit Gott versöhnt sind“, ein entscheidendes „Merkmal Israels“, nämlich „das Vorrecht des Gottesvolkes …: sich Gottes rühmen zu dürfen“. Nicht zurecht kommt er erneut mit dem in seinen Augen ausweglosen Widerspruch, dass Paulus von dieser „Position… in Röm 9-11 wieder abrücken wird“. Könnte diese scheinbare „Aporie“ nicht selbstgebastelt sein, da sie darauf beruht (J123), dass die gewisse Hoffnung des Paulus auf eine Versöhnung der gesamten Menschheit mit Gott in Gestalt eines versöhnten Zusammenlebens von Juden und Völkern im „Leib des Messias“ ausgetauscht wurde durch eine gewisse Hoffnung nur der Christen auf ihre Verschonung vor dem ewigen Zorn Gottes, während ungläubige Juden und Heiden der Verdammnis anheimfallen?
↑ Römer 5,1: Wahr geworden aus Vertrauen auf Jesus haben wir Frieden auf Gott hin
5,1 Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben,
haben wir Frieden mit Gott
durch unsern Herrn Jesus Christus.
[23. Februar 2025] Mit den Anfangsworten von Römer 5,1 (W319), „dikaiōthentes oun ek pisteōs {da wir nun aus Glauben gerechtfertigt sind} knüpft Paulus an 3,21-26 an und fasst das dort Gesagte zusammen.“ Indem er „von einem Vorgang spricht, der sich in der Vergangenheit abgespielt hat“, geht er Wolter zufolge von dem „Sachverhalt“ aus,
dass alle Christen in seiner Gegenwart durch eine Bekehrung zum Glauben gekommen sind. Auf dieses Geschehen blicken sie zurück, und für sie wird das nyni de {jetzt aber} von 3,21 darum zu einem zeitlichen Einschnitt, der ihre Lebensgeschichte zerteilt: Vor ihrer Hinwendung zur pistis Christou {zum Christus-Glauben} galt für sie das in 1,18 – 3,20 Dargelegte. Jetzt gilt, was Paulus in 5,1-11 schreiben wird.
Die unterschiedliche Art und Weise, in der nach Paulus der Vorgang des dikaiousthai {Gerechtfertigtwerdens} geschieht, sei es in 3,24 „durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“, oder später (W320) in 5,9 „durch sein Blut“ oder hier in 5,1 (wie in 3,26. 28.30) „aus Glauben“, macht nach Wolter
deutlich, dass der Tod Jesu nach paulinischem Verständnis immer nur als Glaubenswirklichkeit zu einer Heilswirklichkeit wird; beides gilt immer nur zusammen: Das dikaiousthai erfolgt durch den vom Glauben als Heilsgeschehen (nach 3,25: als hilastērion {Gnadenort}) gedeuteten Tod Jesu bzw. – anders herum gesagt – durch den Glauben, der Jesu Tod als Heilsgeschehen deutet. In 5,1 wird dieses Ineinander durch den Präpositionalausdruck „durch unseren Herrn Jesus Christus“ markiert, der über eirēnēn echomen pros ton theon {wir haben Frieden mit Gott} auf das Partizip dikaiōthentes {Gerechtfertigte} verweist, das diesen „Frieden“ allererst möglich gemacht hat.
Daraus, dass dieser Friede mit der Formulierung pros ton theon {auf Gott hin} gerichtet ist, schließt Wolter, „dass Paulus hier von einem Verhältnis des Friedens zwischen Gott und den Glaubenden spricht“, wobei er „den Friedensbegriff metaphorisch“ verwendet, „denn er beschreibt das Gottesverhältnis in Analogie zu zwischenmenschlichen Friedenszuständen.“ Nach zwei Seiten hin grenzt Wolter diese Interpretation ab:
„Frieden mit Gott“ bezeichnet hier weder den inneren Gemütszustand der Gerechtfertigten, noch knüpft Paulus an die Heilserwartung der frühjüdischen Eschatologie an, die immer wieder als Hoffnung auf schalom bzw. eirēnē umschrieben wurde. … Paulus will darum nicht behaupten, dass die eschatologische schalom-Hoffnung Israels für die Glaubenden bereits erfüllt ist. Er will hier vielmehr zum Ausdruck bringen, dass diejenigen, die zum Christus-Glauben gekommen sind und die Gott darum für gerecht erklärt hat, nunmehr in einem intakten Gottesverhältnis leben und der in 1,18 – 3,20 beschriebene Zustand für sie Vergangenheit ist.
Wolter will den Frieden mit Gott also nicht einfach nur als inneren Seelenfrieden begreifen; vor allem aber scheint er auszuschließen, dass der Friede pros ton theon {auf Gott hin} besonders auf den Frieden von Juden und Nichtjuden untereinander bezogen sein könnte. Natürlich kann Paulus nicht meinen, dass ein solcher endzeitlicher Friede bereits in seiner Gegenwart hergestellt sei. Aber muss ein Friede, der von einem menschlichen Wir auf Gott gerichtet ist, nicht notwendigerweise zugleich mit einer Ausrichtung auf den Frieden zwischen diesen Menschen einhergehen?
Nach Gerhard Jankowski (J116) wird in den ersten Worten von Römer 5,1 „das Ergebnis des Midraschs über die Verheißung an Abraham“ zusammengefasst, dass „Juden und Nichtjuden“ als „Söhne und Töchter Abrahams wahr gemacht“ sind, und zwar durch „die durchgehaltene Treue Gottes“ bzw. (G17) „aus Vertrauen heraus“. Auf die Frage (J116), was „das aber konkret“ bedeutet, antwortet Paulus:
„Wir haben Frieden bei Gott durch unseren Herren Jesus Messias.“ Wer hat Frieden? Die Antwort ist: wir, Juden und Nichtjuden, haben Frieden untereinander und bei Gott.
Für Jankowski ist klar, dass hier erstens ein aus Juden und Nichtjuden zusammengesetztes Wir spricht und dass zweitens die Situation, in der dieses gegensätzliche Wir lebt, realistischerweise diesem Satz vollkommen widerspricht:
Die gegenteilige Meinung wurde propagiert: Es kann keinen Frieden geben zwischen dem Volk Israel und den anderen Völkern. Deswegen bereiteten sich einige jüdische Gruppen in Erez Jissrael auf den Krieg gegen das feindliche Volk, die Römer, vor. Es galt als ausgemacht, daß die nichtjüdische Welt die jüdische Welt bedrohte und sie zu vernichten drohte. Um jüdische Identität zu wahren, war ein Zaun um Israel gebaut worden, der Zaun der Thora, vor allem der Halacha. Dieser Zaun trennte Juden und Nichtjuden. Er diente zur Sicherung Israels und zur Abwehr der Feinde.
Solche offensichtlichen Hintergründe des Römerbriefs blendet Wolter konsequent aus, während sie Jankowski als selbstverständliche Grundlage für eine angemessene Auslegung voraussetzt. Es ist die real existierende Feindschaft zwischen Israel und den Völkern, um deren Überwindung willen Paulus „den Frieden zwischen Juden und Nichtjuden“ propagiert. Jankowski wird diese These durch Indizien in den folgenden Versen untermauern.
↑ Römer 5,2: Wir – Juden gemeinsam mit Gojim – sind im Vertrauen der Gnade des Gottes nahegebracht, dessen Ehre in der Befreiung Israels besteht
5,2 Durch ihn haben wir auch den Zugang
im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen,
und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird.
[24. Februar 2025] Der in V. 2a-b von Paulus (W320) eingeschobene „Relativsatz“ nimmt nach Michael Wolter mit dem Wort prosagōgē {Zugang} „eine Vorstellung auf, die sich im Neuen Testament auch in Eph 2,18; 3,12 sowie in Hebr 4,16 und 1Petr 3,18 findet“, die aber ursprünglich „aus kultischen Kontexten“ stammt (W320f.):
Eine alttestamentliche Vorgeschichte hat sie in Bezeichnungen für das Hinzutreten des kultischen Personals zum Dienst im Heiligtum, das als ein Hintreten vor Gott verstanden ist (z.B. Lev 7,35; Num 8,9-10; 16,9-10; Ez 44,13.15). Dieses Recht bleibt immer nur auserwählten Einzelnen vorbehalten und setzt die Erfüllung besonderer Zulassungsbedingungen voraus (z.B. Ex 19,22; 30,20; 40,32; Lev 10,9; Num 16,5). In der hellenistischen Umwelt entspricht diesem Sprachgebrauch eine Verwendung im Kontext des Herrscherkults, wo prosagōgē mit seinen Stammverwandten und Synonymen die Zulassung zur Audienz beim König bezeichnet …
Indem Paulus (W321) „vom ‚Zugang in diese Gnade (eis tēn charin tautēn)‘ spricht“, identifiziert er „den Zustand des Friedens mit Gott, von dem im V. 1 die Rede war“, rückblickend „als ‚Gnade‘, die Gott gewährt hat“ und die
sich einzig und allein der souveränen, in 3,24-25 beschriebenen Heilsinitiative Gottes verdankt. … Gottes Gerechtigkeit ist darin Wirklichkeit geworden, dass er den Gerechtfertigten gnädigerweise Frieden mit sich geschenkt hat.
Mit dem Wort hestēkamen {wir stehen}, das trotz der Perfektform „eher präsentischen Sinn“ hat, bleibt Paulus „innerhalb der räumlichen Vorstellung, die schon seine metaphorische Rede von der ‚prosagōgē {Zugang} in die Gnade‘ in V. 2a hervorgerufen hatte“. Bezeichnenderweise zieht Wolter für die Bedeutung des Zusammenhangs von „prosagōgē und charis“ vor allem den „Kontext des antiken Herrscherkults“ heran, ohne weiter auf den biblisch-jüdischen Kontext einzugehen (W321f.):
Wenn der Herrscher Zugang zu sich gewährt, so handelt es sich dabei immer um eine „Gnade“ (s. auch Hebr 4,16: proserchōmetha … tō thronō tēs charitos {lasst uns hinzutreten zu dem Thron der Gnade}). Nach V. 2a-b findet das Friedensverhältnis, von dem in V. 1 die Rede war, seinen Ausdruck darin, dass Gott den Glaubenden Zugang in den Heilsraum geschenkt hat, der ihn umgibt.
Mit dem Satz kai kauchōmetha ep‘ elpidi tēs doxēs tou theou {und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes} in Vers 2c (W322) „setzt Paulus den Hauptsatz von V. 1 fort, den er durch V. 2a-b unterbrochen hatte.“ Indem er „die ‚Hoffnung“ (elpis) als neuen Begriff ein[führt], um die Situation der ‚Gerechtfertigten‘ (V. 1) zu charakterisieren“, lenkt er „den Blick nun von der Gegenwart in die Zukunft“. Die „glaubenden Christen“ haben „Hoffnung …, weil sie glauben und gerechtfertigt wurden.“ Dieses „Thema der Hoffnung“ wird den gesamten Abschnitt bis Vers 11 bestimmen.
Vom „Gegenstand, auf den sich die Hoffnung richtet: die ‚Herrlichkeit Gottes‘ (doxa theou)“, war bereits in Römer 1,23 die Rede gewesen, wo Paulus
den Verlust der ‚Herrlichkeit Gottes‘ als Unheilsfolge der menschlichen Sünde festgestellt hatte. Es ist demnach ihr Wiedergewinn, worauf sich die Hoffnung der Glaubenden richtet (vgl. vor allem dann auch Röm 8,17.18.21 sowie 1Kor 15,43; 2Kor 4,17; Phil 3,20-21; 1Thess 2,12). Dieser Wiedergewinn steht zwar noch aus, doch charakterisiert Paulus die Hoffnung der Gerechtfertigten nicht als ein ‚Vielleicht‘, sondern als eine Gewissheit.
In seiner Anm. 18 verweist Wolter u.a. auch auf Jesaja 40,5 und 60,1-2, wo in seinen Augen „Herrlichkeit/doxa“ als zusammenfassende „Umschreibung für das eschatische Heil, auf das die Frommen hoffen dürfen, gilt“. In dieser Verwendung rein religiös besetzten Vokabulars bleibt kaum wahrnehmbar, dass das endzeitliche „Heil“, auf das „die Frommen“ Israels hoffen, sich in Gestalt einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Welt vollziehen wird. Aber es hat sich ja bereits herausgestellt, dass jedenfalls Wolter die Vorstellungen des Paulus nicht von einem so verstandenen alttestamentlichen Kontext her begreifen will.
Stattdessen hebt Wolter (W322) den hohen Grad der Gewissheit hervor, der „die paulinische Rede von der Hoffnung hier kennzeichnet“, indem er
schon die Hoffnung auf sie als ein Heilsgut darstellen kann, dessen sich die Glaubenden „rühmen“ können. Hoffnung wird dadurch zu einem christlichen Existential, zu einem Merkmal der christlichen Existenz. Es gibt keinen Christen, der nicht „Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes“ hätte. Dass Christen Hoffnung haben, unterscheidet sie nach 1Thess 4,13 von den „Übrigen“ (hoi loipoi), denn die „haben keine Hoffnung“.
Darin (W322f.), dass in der „Hoffnung der Glaubenden … das von der Zukunft erwartete eschatische Heil – in diesem Falle die ‚Herrlichkeit Gottes‘ – bereits in der Gegenwart präsent“ ist, ergibt sich nach Wolter (W323) eine „Alleinstellung der aus Glauben Gerechtfertigten gegenüber allen anderen Menschen“, die „Paulus dadurch zum Ausdruck“ bringt,
dass er diese Hoffnung zum Gegenstand eines christlichen „Rühmens“ (kauchasthai) werden lässt. Die Erfüllungsgewissheit dieser Hoffnung wird Paulus in V. 5-10 begründen.
Während Wolter über Alleinstellungsmerkmale von Christen gegenüber Juden und Heiden nachdenkt und das Stichwort prosagagē als den Zugang zur Gnade einer göttlichen Herrschergestalt versteht, legt Gerhard Jankowski (J116) dieses Wort im Kontext des Friedens „zwischen Juden und Nichtjuden“ aus, der Paulus am Herzen liegt. Wolter hatte ja durchaus erwähnt (W320), dass die Worte prosagagē und prosagein eine Rolle für das „Hintreten vor Gott“ im jüdischen Heiligtum spielten; von daher versteht Jankowski (J116) prosagein als ein Nahen oder Nahebringen und betont, dass für Paulus „die Nichtjuden nahe gebracht“ waren „durch den Messias.“
In diesem Zusammenhang geht Jankowski auf die „Diskussion der Rabbinen über die Proselyten“ ein, in der „Friede, eirēnē, und Nahung, prosagōgē“ wichtige „Stichworte“ darstellen (J116f..):
Sie sind wahrscheinlich gewonnen aus Jes 57,19. Dort heißt es:
Ich schaffe Frucht der Lippen und Frieden,
Frieden dem Fernen und dem Nahen,
spricht der EWIGE.Unter den Nahen verstand man die Juden, unter den Fernen die Gojim. Die Fernen konnten aber genähert, nahe gebracht werden. Die Wendung einen Fernen Gott nahe bringen wird zum Synonym für jemanden als Proselyten annehmen. <128> Der hebräische Ausdruck dafür ist karab, der griechische prosagein. Paulus hat das von diesem Verb abgeleitete Nomen prosagōgē nur an dieser Stelle. In ähnlichem Zusammenhang steht es nur noch in Eph 2,18 und 3,12. Dort ist es eindeutig auf die Eingliederung der Gojim nach Israel bezogen. Der Kontext von Röm 5 läßt den Schluß zu, daß Paulus es auch hier in diesem Sinn verwendet. Prosagōgē, das ist vielleicht ein von ihm geprägter Neologismus für das Nahebringen der Gojim. Wir versuchen daher die Übersetzung mit Nahung. <129>
Aber ganz gleich, ob man mit „Nahung“ oder „Zugang“ übersetzt, steht es für Jankowski außer Frage (J117), dass Paulus „seine Begrifflichkeit aus der rabbinischen Diskussion“ gewinnt. Dazu zitiert er aus der Mekhilta zu 2. Mose 18,6:
„R. Eliezer sagte: Dem Mosche war gesagt: … ich bin, der nahe bringt, und nicht, der entfernt. Denn es heißt: ‚Bin ich denn ein Gott nur der Nahen, spricht der EWIGE, und nicht auch ein Gott der Fernen‘ (Jer 23,23) … auch du, wenn ein Mensch zu dir kommt, um Proselyt zu werden, und wenn er um Gottes willen kommt, auch du bring ihn nahe und entferne ihn nicht.“
Das Nahebringen war dann sehr streng geregelt. Klar war auch, daß die Nahegebrachten Juden werden mußten, also beschnitten wurden. Für die messianische Zeit freilich wurde erwartet, daß auch das Verhältnis zu den Gojim neu gestaltet werden sollte. So heißt es in mEd {Mischnat ˁEduyot} 8,7 zum Abschluß einer Diskussion über die Wiederaufnahme oder Entfernung von Apostaten {Abtrünnigen}: „Die Weisen sagen: (Elijahu {Elia} wird zu Beginn der messianischen Zeit kommen) weder um zu entfernen, noch um nahe zu bringen, sondern um Frieden in der Welt zu stiften.“
Paulus argumentiert also durchaus als jüdischer Gelehrter in den Bahnen der Rabbinen und nicht als ein Christ, der sich von der jüdischen Religion verabschiedet hätte. Allerdings vertritt er als Jude eine radikal von den Rabbinen unterschiedene Position:
Für Paulus sind die Gojim nahe gebracht, nicht als Proselyten, sondern als Gojim. Durch den Messias, er gebraucht hier bewußt nur den Titel, hat das Nahebringen bereits begonnen. Damit ist dann auch der Friede zwischen Juden und Gojim gestiftet. Die Fernen sind hineingenommen in die Solidarität, die in Israel bestimmend ist. Sie stehen in dieser Solidarität, leben sie also.
Auch wenn Jankowski die Übersetzung von charis mit dem neuzeitlichen Wort „Solidarität“ inzwischen aufgegeben hat, ist nach wie vor zu bedenken, dass die „Gnade“ des Gottes Israels nicht als von oben herab gewährte und letzten Endes entwürdigende Herrschergeste missverstanden werden darf, vielmehr besteht sie tatsächlich in einem Akt der Solidarität des befreienden Gottes mit einem Volk, das er immer wieder aus Versklavung errettet und auf ein solidarisches Miteinander insbesondere mit Armen und Elenden sowie mit Fremdlingen verpflichtet. Von dort her ergibt sich für Paulus offenbar die Konsequenz, die Feindschaft zu den Gojim endgültig zu überwinden:
Mit dem wir, das Paulus in diesem Abschnitt durchgängig gebraucht, stellt er sich ganz auf die Seite der Gojim. Ihr Anwalt will er ja sein bei seinem Volk, als einer der Juden, der angefangen hat, mit Nichtjuden solidarisch zu leben und zu arbeiten.
Nichts könnte Paulus ferner liegen, als sich im Römerbrief der vielen Heiden zu rühmen, die sich gemeinsam mit wenigen Juden zum religiös korrekten Christus-Glauben bekennen und vom nunmehr überholten Judentum Abschied genommen haben.
Auf Vers 2c, den Jankowski (J115) mit „und wir rühmen uns der Hoffnung wegen der Ehre Gottes“ bzw. (G17) „auf die Ehre Gottes“ übersetzt, geht er nicht näher ein. Zur Hoffnung wird er sich im Folgenden äußern, zur „Ehre“, womit er das Wort doxa wiedergibt, hätte er darauf verweisen können, was vom biblisch-jüdischen Kontext her mit dieser doxa (von Wolter durchgehend mit „Herrlichkeit“ wiedergegeben, ohne diese näher zu konkretisieren) gemeint ist.
Nach Ton Veerkamp <130> beruht das Wort doxa auf dem hebräischen kavod, das „wortwörtlich ‚Wucht‘ (von kaved, ‚schwer sein‘)“ bedeutet und das er deswegen beispielsweise in seiner Auslegung von Johannes 1,14 „mit ‚Ehre‘ und nicht mit ‚Herrlichkeit‘“ übersetzt, denn das im Messias Jesus unter den Menschen als Fleisch geschehene „Wort ist nicht zu ‚ver-herr-lichen‘, sondern ihm gebührt Ehre auf Grund dessen, was es für Israel tut.“ Zu Johannes 13,31-32 schreibt er:
Die Ehre Gottes ist nicht wie die schnell beleidigte Ehre der Menschen. Die Ehre, {hebräisch} kavod, eigentlich „Wucht“, ist sein Durchsetzungsvermögen bei der Verwirklichung seines „Projektes“ Israel.
Kerninhalt dieses „Projektes“ ist, „dass Israel lebt“, und Veerkamp erkennt im Johannesevangelium die Absicht des Evangelisten, den Messias Jesus als denjenigen zu proklamieren, der ganz Israel, also die judäischen Juden einschließlich der verlorenen zehn Stämme Samarias und der weltweit zerstreut in der Diaspora lebenden Juden in einer messianischen Gemeinde wieder zusammenführt und durch die Praxis der agapē {einer solidarischen Liebe} die unmenschliche Weltordnung des römischen Imperiums überwindet.
Zwar ist der Evangelist Johannes nach Veerkamp viel vorsichtiger als Paulus, was die Annäherung (prosērchomai = hinzutreten in Johannes 12,20-21) einiger weniger Gojim an den Messias Jesus betrifft, aber in dem „unglaublichen Nebensatz“ (Johannes 17,23): „damit die Weltordnung erkennt, dass du mich gesandt hast und solidarisch mit ihnen gewesen bist, wie du auch mit mir solidarisch warst“, scheint der Evangelist ähnlich wie Paulus eine allerdings viel zaghafter ausgedrückte Hoffnung darauf zu setzen, dass letzten Endes auch die auf die Völker gerichtete „biblische Vision“, die in Jesaja 66,18 ausgedrückt wird, wahr wird:
Und ich, um alle Nationen, alle Sprachgruppen zu holen aus ihrem Tun,
aus ihren Planungen,
bin ich gekommen.
Und sie kommen, und sie sehen meine Ehre.Wenn die Weltordnung aller Nationen im Römischen Reich dem Messias vertraut, wird sie „herausgeholt aus ihrem Tun und ihren Planungen“. Dann ist sie eben nicht länger herrschende Weltordnung, kosmos.
… Ziel der biblischen Politik ist eine andere Weltordnung, eine, die dem Messias vertrauen kann, weil sie dann messianische Konturen hätte. …
Der Messias bittet, dass die Schüler dort sein mögen, wo der Messias sein wird. Das Ziel ist …, dass der Messias geehrt wird. Die Ehre des Messias ist die Einheit der messianischen Gemeinde als Urbild der kommenden Einheit Israels. Anders gesagt, sie mögen eine Situation erleben, wo der Messias und seine messianische Ordnung Maß aller Dinge sein wird.
Mit diesem Ausflug in die Auslegung des Johannesevangeliums von Ton Veerkamp wollte ich zeigen, dass trotz sehr unterschiedlicher Akzente, die Paulus vor und der Johannesevangelist nach den Erfahrungen des Judäischen Krieges setzen, beide nicht im Sinne eines Abschieds vom Judentum verstanden werden müssen, sondern im Sinne eines Einsatzes für eine Zukunft Israels, die auf der Überwindung der gegenwärtig herrschenden Weltordnung durch den Messias Jesus beruht. Während Paulus dabei ganz auf das vertrauensvolle Miteinander von Juden und Gojim in der messianischen Gemeinde setzt, bleibt Johannes sehr zurückhaltend gegenüber den Gojim, als ob er die verheerenden Folgen der heidenchristlichen Dominanz in der sich schon bald entwickelnden christlichen Kirche erahnen würde.
↑ Römer 5,3-4: Die Bedrängnisse Israels sind für uns Anlass zum Rühmen, indem sie Ausharren, Erprobtheit und Hoffnung bewirken
5,3 Nicht allein aber das,
sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse,
weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,
5,4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung…
[25. Februar 2025] Mit den Worten (W323) ou monon de, alla kai {nicht nur aber, sondern auch} und der „Wiederaufnahme von kauchōmetha {wir rühmen uns}“ leitet Paulus am Anfang von Vers 3 zu einer Aussage über, die „die zuvor formulierte Behauptung noch ergänzen und zuspitzen will“. Wolter zufolge ermöglichen es
Rechtfertigung aus Glauben und Friede mit Gott …, dass die christlichen Wir sich sogar ihrer Leidenserfahrungen (thlipseis) „rühmen“ können, weil auch sie wieder in Hoffnung münden. Er spricht dabei von Erfahrungen, denen die Adressaten seines Briefes wie auch alle anderen Christen aufgrund ihres Christ-Seins von Seiten ihrer Umwelt ausgesetzt sind. Dass er diese Erfahrungen als endzeitliche thlipsis im Sinne von Dan 12,1; Mk 13,19.24 deutet, ist nicht erkennbar. Die thlipseis von Röm 5,3 sind dieselben „Bedrängnisse“, von denen Paulus in 1Thess 3,3-4 fürchtet, dass sie die Gemeinde „erschüttern“ (V. 3; s. auch 1Thess 1,6; 2Thess 1,4-6).
Er greift dieses Thema nach Wolter deswegen auf, um „dem Leidensgeschick“ der Christen „seinen Charakter als Differenzerfahrung zu nehmen“ und (W324) „die christliche Hoffnungsgewissheit der Adressaten zu stabilisieren.“
Zur Begründung verweist Paulus mit den Worten eidotes hoti {denn wir wissen, dass} auf „allgemein bekanntes Wissen…, das auch seinen Adressaten vertraut ist“, nämlich
auf eine im frühen Judentum weit verbreitete Tradition der Leidensdeutung und Leidensbewältigung … Er verdichtet diese Tradition in den vier Abstraktnomina thlipsis {Bedrängnis}, hypomonē {Standhaftigkeit}, dokimē {Bewährung}, elpis {Hoffnung} und der Abfolge, in der er sie auseinander ableitet.
Vergleichbare Kettenschlüsse, die „bei den antiken Rhetorikern klimax (‚Leiter‘) oder gradatio (‚Steigerung‘)“ heißen, gibt es u.a. „auch in Röm 8,29-30; 10,14-15; Jak 1,15 sowie in 2Petr 1,5-7“. Paulus greift mit (W324f.)
Hilfe des Kettenschlusses … eine im frühen Judentum verbreitete Leidensdeutung auf, die das unschuldige Leiden von Frommen und Gerechten, als Prüfung wahrnimmt, mit der Gott ihre „Treue“ (pistis) und „Standhaftigkeit“ (meistens hypomonē, aber auch makrothymia) „auf die Probe stellt“ (dokimazein oder peirazein). Wer in der Anfechtung des Leidens seine Gottesfurcht und Gottes Gebot unerschütterlich bewahrt, erweist sich vor ihm als „bewährt“ (dokimos) und wird mit dem Heil beschenkt, das Gott seinen Frommen verheißen hat. Diese Gewissheit bringt Paulus dadurch zum Ausdruck, dass er die „Hoffnung“ zum Zielpunkt des Kettenschlusses macht.
Eine besonders (W325) „auffällige Nähe“ gibt es nach Wolter „zwischen Röm 5,3-4 und Jak 1,2-4 sowie 1Petr 1,6-7“, die dafür spricht, dass alle drei Autoren „auf eine Ausformulierung der oben skizzierten Tradition zurückgegriffen haben, die ihnen in einem bereits textlich verfestigten Aggregatszustand vorgelegen hat“, die jedoch (W326) nicht rekonstruiert werden kann:
Mit Hilfe dieser Tradition kann Paulus die Hauptlinie seiner Argumentation noch mit einer zusätzlichen Unterstützung versehen: Die Wirklichkeit des Leidens widerlegt die christliche Hoffnungsgewissheit nicht nur nicht, sondern sie stärkt sie sogar.
Gerhard Jankowski (J117) bezieht die in Römer 5,3 erwähnten thlipseis {Bedrängnisse} nicht einfach auf christliche Leidenserfahrungen, sondern er begreift sie aus der Situation des Paulus heraus, der als Jude „angefangen hat, mit Nichtjuden solidarisch zu leben und zu arbeiten.“ Diese Solidarität ist aber durchaus noch keineswegs selbstverständlich, sondern von beiden Seiten „gefährdet“. Einerseits kann sie „jederzeit von denen aufgekündigt werden, die in den Nichtjuden immer noch Feinde sehen und nicht Bundesgenossen“, umgekehrt kann sie aber
auch durch die Nichtjuden gefährdet werden. Sie sind nahe gebracht diesem Volk Israel, sie sind gleichsam hautnah an die Existenz Israels herangekommen. Es ist die Frage, ob sie das aushalten können.
An dieser Stelle nimmt Jankowski ernst, was Wolter als von Christen aus dem Judentum übernommene Leidensdeutung beschreibt, nämlich dass es die gesamte „Existenz Israels“ ist, die „Paulus mit den Worten Bedrängnis, thlipsis, Ausdauer, hypomonē, Erprobtheit, dokimē, Hoffnung, elpis“, bezeichnet (J118):
Wie jeder Jude weiß auch Paulus, daß zur Realität seines Volkes nicht nur die Befreiung gehört, sondern auch die Bedrückung und Unterdrückung, die Verfolgung. Gerade auch dieser Existenz sind die Gojim nahegekommen, und daran kommen sie nicht vorbei. Sie sollen wissen, auf was sie sich einlassen. Sie kommen nicht nur zu dem Volk, das Gott sich erwählt hat. Sie kommen auch zu dem Volk, das weiß, daß zur Erwählung Bedrückung und Leid hinzugehören. Und zu dem Volk, das sich deswegen, wegen der Erwählung und der Bedrückung, rühmen kann. Es ist ein Ruhm, der schlicht und einfach beschreibt, was erlebt wird, und dennoch festhält an der Befreiung.
Als Beispiel für „[s]olch ein paradoxes Rühmen“ führt Jankowski den Psalm 44 an, in dem Israel in Vers 9 und 18 seine Treue zu Gott bekennt, obwohl Gott das Volk nach den Versen 10 bis 17 vielfältigen Bedrängnissen ausgesetzt hat:
9 Gottes rühmen wir uns all den Tag
in Weltzeit danken wir deinem Namen.
10 Wohl, du hast uns verworfen,
und hast uns Schimpf angetan …
18 All dies ist gekommen an uns,
und doch haben wir dein nicht vergessen,
nicht gelogen haben wir deinem Bund.
Diese „Existenz Israels“, die in Erfahrungen „von Verfolgung und Unterdrückung“ besteht, innerhalb derer „dennoch … an dem Bund“ festgehalten wird, zeichnet Paulus „mit seinen Worten in einer Art Kettenschluß nach“.
Anders als Wolter interpretiert Jankowski das erste Glied dieser Kette, „die Bedrückung, thlipsis“, durchaus in Rahmen dessen, was man Apokalyptik nennt, also von als endzeitlich empfundenen Bedrängnissen her. thlipsis, so verstanden,
ist das, was von denen erfahren wird, die nicht zu den Herrschenden gehören. Unterdrückt sind die unterworfenen Völker im römischen Imperium. Juden empfanden diese Unterdrückung als ein ägyptisches Sklavenhaus im Weltmaßstab. Bei den sogenannten Apokalyptikern, die von einer Wirklichkeit reden, deren Stunde noch nicht da ist, wird die thlipsis zur letzten, kaum mehr auszuhaltenden Bedrängnis, bis dann die Stunde der geschauten Wirklichkeit schlägt. Auch für Paulus, und da ist er ganz Apokalyptiker, hat diese Stunde bald geschlagen. Die Bedrückung treibt ihrem Höhepunkt zu. Sie ist kaum mehr auszuhalten. Das kann zur Resignation und Apathie führen. Für Paulus bewirkt sie Ausdauer, hypomonē.
Das Wort hypomonē wird üblicherweise mit „Geduld“ übersetzt. Nach Jankowski ist es „zwar richtig‚ daß gewaltsame Bedrückung zu erdulden ist“. Aber zugleich wächst „in dem Erdulden“ ihm zufolge (J119)
die Kraft zur Überwindung, manchmal sogar auch zum Kampf gegen die Unterdrücker. Erdulden hat es nicht mit Verzweiflung und Resignation zu tun. Es ist aktives Dabei- und Dranbleiben, wie man hypomonē fast wörtlich übersetzen kann.
Zur Erläuterung dessen, was „gemeint ist“, erinnert Jankowski an das, was „ein Zeuge einer Unterdrückungssituation unserer Tage“, nämlich „Leo Baeck <131>, …über die Leidenszeit im Konzentrationslager Theresienstadt schreibt“:
„Einer der eigentümlichen Züge des jüdischen Wesens und des jüdischen Genius ist die Verbindung von Phantasie und Geduld … Es liegt darin einer der Gründe dafür, daß dieses Volk immer weitergelebt hat und immer weiterleben kann.
Ob das Leben in einem Konzentrationslager sonst und in Theresienstadt bestanden worden ist, hing äußerlich von Umständen ab: Krankheit, Tortur, Vernichtung konnten es zerstören oder an ihm vorübergehen. Aber ob es innerlich durchgehalten wurde, war wesentlich davon bedingt, ob dieses beides an ihm lebendig blieb, die Geduld und die Phantasie: die Geduld, diese Widerstandskraft, die die Fähigkeit zu leben nicht aufhören ließ – und vielleicht stirbt ein Mensch erst, wenn er nichts mehr will –, und die Phantasie, diese Imagination, die immer wieder und trotz allem eine Zukunft zeigte – vielleicht hört ein Mensch erst auf, wenn er bloß die Vergangenheit und den Moment noch sieht. Beides mußte da sein. Die Geduld richtet sich auf durch die Phantasie, ohne sie könnte sie in ein bloßes Sklaventum sinken, und die Phantasie hat ihre Verbindung mit dem Leben des Tages durch die Geduld, ohne sie wäre sie ein Traum im Schlafe des Tages.“
So ist hypomonē als „aktive Widerstandskraft“ gekennzeichnet, „die nicht erlahmt.“ Sie muss nach Römer 5,4 mit dokimē, mit „Erprobtheit“, verbunden sein, also einer
Befähigung zur Widerstandskraft, die gestärkt und so erprobt wird im gemeinsamen Handeln. Sie weiß abzuschätzen, wie weit die Kraft reicht und wo sie durch sinnloses Anrennen gegen die Unterdrücker sich abnutzt. Wer erprobt ist, ist erfahren genug, um aktiv zu werden und nicht nur alles passiv zu erdulden.
Das letzte Glied in „dieser Kette“ ist schließlich wieder „die elpis, die Hoffnung“, auf die Leo Baeck Bezug nimmt, indem er sie als eine „Phantasie“ umschreibt,
die trotz allem eine Zukunft zeigt. Wer hofft, ist durchdrungen davon, daß die große Veränderung der Dinge, die kommen muß und kommen wird, nicht nur ein schöner Traum bleibt. Hoffnung prägt die Gegenwart von der Zukunft her. Abraham ist das Beispiel eines solchen Hoffenden. Seine Töchter und Söhne nehmen dieses Hoffen aktiv auf.
Dass sich dieser „Hoffnung … niemand zu schämen“ braucht, darum wird es im folgenden Vers gehen.
↑ Römer 5,5: Hoffnung bereitet keine Beschämung, da die Liebe des Gottes Israels in unseren Herzen ausgegossen ist durch heilige Inspiration
5,5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden;
denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen
durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.
[26. Februar 2025] In Michael Wolters Augen (W326) setzt Paulus mit Vers 5 „nicht den Kettenschluss fort, sondern knüpft über ihn hinweg an V. 2c an.“ Mit hē de elpis ou kataischynei {die Hoffnung aber bereitet keine Beschämung} „nimmt er dabei kauchōmetha {wir rühmen uns} in V. 2c wieder auf.“ Die beiden „Begriffe“ des Rühmens und Beschämens „und ihre Stammverwandten werden auch sonst häufig aufeinander bezogen“, z.B. „bei Paulus selbst in 2Kor 7,14 … und in 10,8“. Und schon in „PsLXX 21,6; 24,20; 30,2; 70,1; Jer 31,13LXX“ wird „die Gewissheit, dass Hoffnung sich erfüllt und nicht ins Leere geht, … als ein ou (kat)aischynesthai {nicht Beschämtwerden} umschrieben“. Damit betont Paulus Wolter zufolge,
dass das kauchasthai der christlichen Wir ein begründetes Rühmen ist, weil es von der Hoffnung, die es zum Gegenstand hat, nicht widerlegt wird. Diese Hoffnung darf sich vielmehr ihrer Erfüllung gewiss sein.
Der Grund für „diese Erfüllungsgewissheit der Hoffung“ wird von Paulus in Vers 5b-c erläutert, wofür er mit guten Grund „den heiligen Geist ins Spiel bringt“:
Denn genauso wie der Glaube (V. 1.2a) und die Hoffnung (V. 2c.3b.5a) gehört auch der heilige Geist zur Grundausstattung der christlichen Existenz. Wie es keinen Christen gibt, der nicht glaubt und keine Hoffnung hätte, so gibt es auch keinen Christen, dem Gott nicht den heiligen Geist gegeben hätte (s. auch Röm 8,15.23; 1Kor 2,12; 2Kor 1,22; 5,5; 11,4; Gal 3,2.5.14; 4,6; 1Thess 4,8). Auch in Röm 5,5c ist darum Gott als Subjekt des Gebens vorausgesetzt.
Indem Wolter (Anm. 33) auf den „alttestamentlichen Hintergrund“ in Psalm 51,13 und Jesaja 63,10-11 verweist, räumt er allerdings zugleich ein, dass der heilige Geist keine christliche Erfindung ist, sondern bereits in den biblischen Schriften auf den Gott Israels bezogen wird:
Der Geist ist „heilig“, weil er Gottes Geist ist: Weil Gott heilig ist, ist auch sein Geist heilig. Dementsprechend bekommen diejenigen, denen Gott seinen Geist schenkt, Anteil an Gottes Heiligkeit.
Als die (W327) „Besonderheit der Rede vom heiligen Geist in Röm 5 ,5“ stellt Wolter sodann heraus,
dass Paulus den Geist mit der „Liebe Gottes“ verbindet. Sie ist es, von der er sagt, dass sie „in unseren Herzen ausgegossen ist“. Paulus geht hier also von der Erfahrung und dem Wissen seiner Leser aus (‚wir haben den heiligen Geist‘) und verknüpft sie mit der Liebe.
Ich verhehle nicht, dass mir Wolters Annahme, die heidenchristlichen Leser des Paulus könnten vom selbstverständlichen Besitz des heiligen Geistes ausgehen, übel aufstößt. Sollte Paulus nicht genau wie der Evangelist Johannes wissen, dass der göttliche Wind weht, wo er will (Johannes 3,8), und betont er nicht in Römer 5,5 sogar ausdrücklich, dass der heilige Geist eine Gabe Gottes ist?
Wie dem auch sei, indem Paulus davon spricht, dass hē agapē tou theou ekkechytai en tais kardiais hēmōn {die Liebe Gottes in unseren Herzen ausgegossen ist}, kombiniert er durch diese „ganz ungebräuchliche Formulierung … zwei unterschiedliche, schon im Alten Testament belegte Redeweisen, die Gottes Handeln an den Menschen umschreiben“, nämlich „zum einen die Metapher des ‚(Aus)gießens‘ oder ‚(Aus)schüttens‘ ([ek]cheō)“, die verwendet wird, „um ein Ergehen zu bezeichnen, das Gott über die Menschen bringt“, während auf der anderen Seite „im Alten Testament häufig davon die Rede, dass Gott“ bestimmte Haltungen oder Fähigkeiten „‚in das Herz‘ (hebr.: bɘlev/bɘlebav) von Menschen gibt.“ Im ersteren „Sinne wird vor allem von Gottes ‚Zorn‘ (orgē oder thymos) gesagt, dass er über die Menschen ‚ausgegossen‘ wird“, aber auch u.a. „von Gottes ‚Erbarmen‘ …, von ‚Segen‘ …, von ‚Erkenntnis‘ … und vom Geist“. In anderen Zusammenhängen ist davon die Rede, dass Gott
„Weisheit“ oder „Klugheit“ … oder „Gottesfurcht“ … oder auch die Fähigkeit „zu lehren“ … „in das Herz“ … von Menschen gibt. ln Jer 31,33 verheißt Gott, dass er sein Gesetz „in das Innere“ (bɘqerev) seines Volkes legen wird. Diesem Sprachgebrauch entsprechen auch 2Kor 1,22 (Gott hat „die Anzahlung des Geistes [ton arrhabōna tou pneumatos] in unsere Herzen gegeben“) und Gal 4,6 (Gott hat „den Geist seines Sohnes [to pneuma tou hyiou autou] in unsere Herzen gesandt“).
Von diesen Hintergründen her schließt Wolter aus, dass in Römer 5,5 „der Geist lediglich das Mittel wäre, das Gott benutzt hätte, um seine Liebe in die Herzen der Glaubenden zu befördern“, sondern Paulus spricht
hier von der Liebe Gottes so, wie er sonst vom heiligen Geist spricht. … Mit dem heiligen Geist ist die Liebe Gottes in die Herzen der Glaubenden gegeben. Gottes Geist in „uns“ wird damit zum Repräsentanten der Liebe Gottes, die die Menschen verändert, er wird – um eine traditionelle Formulierung aufzunehmen – zum ‚Geist der Liebe Gottes‘.
Was sich daraus ergibt, formuliert Wolter so (W328), als ob Paulus von der Liebe Gottes etwas zuvor nie Dagewesenes aussagt:
Die Liebe Gottes ist nicht bei Gott geblieben, sondern sie ist zu einem Teil der von ihm Geliebten geworden. Was sonst immer vom Geist Gottes gesagt wird – dass er die Menschen verändert –, überträgt Paulus hier auf die Liebe Gottes. Sie verändert nicht lediglich etwas an den von Gott Geliebten, denn dadurch, dass die Liebe im Herzen der Glaubenden ausgegossen ist, sind sie im Zentrum ihrer Personalität und Intentionalität verwandelt. Wen Gott liebt, der ist zu einem anderen Menschen geworden.
Allerdings gibt Wolter gleichwohl zu erkennen (Anm. 38), dass vom Gott Israels nicht nur gesagt werden kann, etwa in 1. Samuel 10,6: „Geist des Herrn wird über dich kommen …, und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden“, sondern dass auch (Anm. 37) bereits das Alte Testament die Ausgießung des Geistes in Verbindung mit Gottes Gnade und Erbarmen bringt, nämlich in Sacharja 12,10LXX,
wo vom pneuma charitos kai oiktirmou („Geist der Gnade und des Erbarmens“) die Rede ist, das Gott über das Haus David und über Jerusalem ausgießen will (ekcheō).
Gerhard Jankowski (J119f.) hält es für möglich, in der „Sentenz am Ende des Kettenschlusses in 5,5“ einen „Zitatanklang“ aus zwei Psalmen wiederzuerkennen, die beide Erfahrungen „aus der Unterdrückung und dem Martyrium“ widerspiegeln. Er zitiert Psalm 22 und 25 (allerdings nach den Septuaginta-Fassungen 21 bzw. 24):
5 Auf dich hofften unsere Väter,
sie hofften, und du ließt sie entrinnen.
6 Zu dir schrieen sie und wurden befreit,
auf dich hofften sie und wurden nicht beschämt.3 Und alle, die dranbleiben (hypomenein) an dir,
sollen nicht beschämt werden. …
20 Ich möge nicht beschämt werden,
weil ich auf dich gehofft habe.Ps 25 schließt mit dem Schrei nach Befreiung: Lös aus, o Gott, Jissrael aus all seinen Bedrängnissen (thlipseis)! Die Stichworte aus dem Kettenschluß des Paulus finden sich in diesen beiden Liedern, so daß die Schlußsentenz in 5,5 durchaus aus ihnen genommen sein kann. Obwohl sie Verfolgung und Martyrium beschreiben, sind sie zugleich starke Lieder der Zuversicht. Die in den Liedern ihrer Hoffnung Ausdruck geben, gehören nicht zu den Starken. Im Grund sind sie zu bedauern und müßten sich schämen, weil sie als Leidende längst abgeschrieben sind. Sie tun es eben nicht. Im Gegenteil, sie rühmen sich und – sie hoffen.
Von daher hält Jankowski es für gut begründet (J120), dass die „Grundstruktur der beiden Psalmen“ als „Vorlage für den Kettenschluß des Paulus“ gedient haben kann. Denn „Hoffnung ist keine Schande“, sondern „[w]o Hoffnung ist, wird Phantasie aktiviert.“ Dazu zitiert Jankowski nochmals Leo Baeck (siehe meine Anm. 131):
„Selbstsucht ist zum grossen Teil Phantasielosigkeit; Überheblichkeit und Vorurteil sind zu einem grossen Teil moralische Müdigkeit, Mangel an moralischer Geduld. Wo moralische Vision und moralische Spannkraft zusammenkommen, dort lebt und schafft etwas Jüdisches, lebt und schafft der soziale Geist unserer Bibel.“
In Römer 5,5b-c folgt eine Begründung für diese „aktive Hoffnung“, von Jankowski so übersetzt:
Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen
durch heiligen Geist,
uns gegeben.
Ganz anders als Wolter betrachtet Jankowski den heiligen Geist nicht als (W326f.) selbstgewisse christliche „Grundausstattung“, die Paulus „mit der Liebe“ verknüpft, vielmehr steht in seinen Augen (J120) im Hintergrund
eine Auslegung des zweiten Satzes des Schema Jisrael, der lautet (Dtn 6,5):
Liebe denn
den EWIGEN deinen Gott
mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht.
Nach Jankowski (J121) ist es nämlich „die Liebe, die der EWIGE von einem jeden in Israel fordert“, die jetzt auch „in den Herzen der Nichtjuden ausgegossen“ ist, und zwar „durch den heiligen Geist. Sie sind geradezu von Gott zur Liebe inspiriert.“ Und daraus ergibt sich eine für Juden und letzten Endes auch für Gojim provozierende Konsequenz: „Das Bekenntnis Israels kann jetzt auch von Nichtjuden gesprochen werden.“ Wie sehr Paulus darunter gelitten hat, dass die Mehrheit der Juden nicht bereit war, diese Konsequenz zu ziehen, wird in den Kapiteln Römer 9-11 deutlich werden. In welchem Ausmaß Nichtjuden schon bald vergessen sollten, dass es der befreiende Gott Israels war, dessen solidarische Liebe ihre Herzen erfüllen und verwandeln wollte, statt dass sie sich als die Besitzer eines Geistes wähnen sollten, dessen Erbe von den Juden auf sie übergangen wäre, hat Paulus wohl nicht ahnen können. Für Paulus steht außer Frage, dass eine auch in die Herzen der Nichtjuden ausgegossene Liebe Gottes nicht einfach etwas ist, das man haben kann, sondern sie stellt eine gewaltige Herausforderung bzw. Veränderung des gesamten Lebens dar:
Wer das Schma sagt, rezitiert nicht nur fromme Worte, und die dort geforderte Liebe ist keine Gefühlsduselei. Beides fordert den ganzen Menschen, sein ganzes Leben, manchmal auch die Hingabe des Lebens im Tod. Das Joch der Herrschaft der Himmel auf sich nehmen, so haben die Rabbinen dieses Bekenntnis genannt.
So wird von Rabbi Akiba berichtet, daß er während seiner Folterung das Bekenntnis sprach und starb, als er das Wort echad, einer, herausschrie, um die Einheit Gottes sowohl im Leben als auch im Tod hervorzuheben (vgl. bBer {babylonischer Talmud, Traktat Berakhot} 61b). Bekennen, das Joch der Herrschaft Gottes auf sich nehmen, das kann das Martyrium zur Konsequenz haben. Sind die Nichtjuden befähigt worden, das Schma zu sprechen, dann wird sie auch diese Konsequenz treffen. Sie werden nicht mehr auf der Seite der Sieger stehen, sondern zusammen mit den Bedrängten und Verfolgten auch das Martyrium zu gewärtigen haben.
↑ Römer 5,6-8: Aufgrund von Gottes Liebe ist der Messias für uns gestorben, als wir schwach und gottlos waren, fehlgehende Feinde
5,6 Denn Christus ist schon zu der Zeit,
als wir noch schwach waren,
für uns Gottlose gestorben.
5,7 Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen;
um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben.
5,8 Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin,
dass Christus für uns gestorben ist,
als wir noch Sünder waren.
[27. Februar 2025] Die Verse Römer 5,6-8 bilden nach Michael Wolter (W328) einen Zusammenhang, denn „die Sachaussage von V. 6“ wird „nahezu wortgleich in V. 8b wiederholt“. Zwischen beiden liegt Vers 7 als „exkursartiger Einschub“. Die drei Verse knüpfen aber auch an den vorigen Vers 5 an, denn auch „auf die Liebe Gottes kommt Paulus noch einmal in V. 8a zu sprechen.“
Zu Vers 6 hebt Wolter hervor, dass er vom Satzbau her „sehr undurchsichtig gestaltet“ ist, was besonders die Frage betrifft, worauf sich (Anm. 49) der „sonst nirgends“ belegte Ausdruck eti kata kairon {noch zu der Zeit} in V. 6b bezieht. In seinen Augen (W328) spricht aber die
Parallelität mit eti … ontōn hēmōn asthenōn {als wir noch schwach waren} (V. 6a) … dafür, dass Paulus hierauf noch einmal verstärkend und hervorhebend zurückverweisen will, um deutlich zu machen, dass Christus für Menschen gestorben ist, die das eigentlich nicht verdient haben.
Nach Wolter greift Paulus „hier eine urchristliche Tradition auf, die er jedoch verfremdet“, indem er zwei bisher unabhängig voneinander verwendete Formulierungen zusammenzieht:
Dass Christus sein Leben „für uns“ (hyper hēmōn: Röm 8,32; 2Kor 5,21; Gal 3,13; 1Thess 5,10; s. auch Röm 14,15; 1Kor 8,11; Eph 5,2; Tit 2,14; 1Joh 3,16) oder „für unsere Sünden“ (1Kor 15,3; Gal 1,4; s. auch Rom 4,25; 8,3; 1Petr 3,18; 1Joh 2,2; 4,10) dahingegeben hat, war schon vor Paulus eine christliche Glaubensgewissheit.
Indem Paulus nun schreibt, „dass Christus ‚für Gottlose‘ (hyper asebōn; V. 6b) gestorben ist, ruft er (W328f.)
die asebeia {Gottlosigkeit} der Menschen aus 1,18 wieder auf und gibt seiner Beschreibung der nichtchristlichen Menschheit von 1,19 – 3,20 eine retrospektive Ausrichtung: Für die Glaubenden ist sie inzwischen zur Vergangenheit geworden, und genau als sie sich „noch“ in dieser Situation befanden, ist Christus für sie gestorben. Diese Einteilung der christlichen Existenz in ein ‚Einst‘ und ein ‚Jetzt‘ setzt voraus, dass die Adressaten des Römerbriefes wie überhaupt alle Christen der Paulus-Generation durch eine Bekehrung zum Christus-Glauben gefunden haben. Nur unter dieser Voraussetzung ist ein solches Argument für die Leser plausibel.
Wolter nimmt also an, dass das doppelte auf den Zeitpunkt des Sterbens Christi bezogene eti {noch}, das stattfand, als das von Paulus hier vorausgesetzte Wir noch schwach bzw. gottlos war, als Beweis für mehrere von ihm schon lange als unhinterfragbar selbstverständlich geltende Sachverhalte gelten kann: erstens, dass es schon zur Zeit des Paulus vom Juden- bzw. Heidentum zu einem neuen Glauben bekehrte Christen gegeben habe, und zweitens, dass es genau dieser Akt der Bekehrung gewesen sei, der die Gegenwart der Christen von ihrer Vergangenheit unterschieden hat. Unausgesprochen bedeutet das natürlich drittens auch, dass alle nicht bekehrten Juden und Heiden der Verdammnis durch Gott verfallen, und viertens erübrigt es sich ebenfalls, auf Unterschiede zwischen Juden und Heiden einzugehen, da sie unter diesen Umständen für Paulus keine Rolle mehr spielen dürften.
Jankowski sieht das anders, wie wir sehen werden; hier sei nur darauf hingewiesen, dass der Tod des Messias für Gottlose zeitlich auf jeden Fall auch dem Entschluss irgendeines Menschen, ob Jude oder Heide, vorausging, auf eine rettende oder befreiende Bedeutung dieses Todes zu vertrauen. Und das weiß Wolter auch, denn er geht (W329) auf zwei verschiedene Merkmale ein, von denen „die Existenz der ‚Gerechtfertigten‘ (Röm 5,1) vor ihrer Hinwendung zum Glauben bestimmt“ war, nämlich asthenēs {schwach} und asebēs {gottlos}. Beide sind in seinen Augen „nicht synonym, sondern stehen für unterschiedliche Merkmale, die das Menschsein der Menschen ohne Glauben kennzeichnen.
Von diesen Merkmalen hat Paulus rückblickend „die ‚Schwäche‘ (astheneia) als anthropologische Grundbefindlichkeit im Blick“, wie es Wolter ausdrückt. Interessant ist aber nun, dass Wolter
diese Beschreibung der vorchristlichen Existenz neben Texte stellt wie PsSal {Psalmen Salomos} 17,37 („Er wird nicht schwach sein [ouk asthenēsei] …, denn Gott hat ihn stark gemacht durch den heiligen Geist [kateirgasato auton dynaton en pneumati hagiō]“) oder Röm 8,26 („Der Geist unterstützt [uns] in unserer Schwäche“ [synantilambanetai])…
Unausgesprochen und ungewollt verdeutlicht Wolter damit, dass die von ihm als allgemein menschliche (anthropologische) – also Juden und Heiden unterschiedslos betreffende – Schwäche von diesen Texten her nur auf die „vorchristliche Existenz“ der Nichtjuden bezogen werden kann, denn ihm zufolge steht „V. 6a im Lichte von V. 5c“ und will „darum sinngemäß sagen …: ‚als uns der heilige Geist noch nicht gegeben worden war‘.“ Dass schon Juden um die Stärkung durch den Geist Gottes wussten, geht nach Wolter (Anm. 46) auch aus Richter 6,34 und Micha 3,8 hervor.
In Vers 7 schiebt Paulus zwei Sätze ein (W329), die „darauf aufmerksam machen, wie außergewöhnlich der in V. 6 mitgeteilte Sachverhalt – Jesu Tod für ‚Gottlose‘ – ist“. Dabei greift er im ersten Satz auf „das aus dem Alten Testament bekannte Gegenüber zweier Typen“ zurück, nämlich „des ‚Gottlosen‘ (raschaˁ; asebēs) und des ‚Gerechten‘ (zaddiq; dikaios)“, das (Anm. 47) vor allem „den roten Faden von Spr 10-15“ bildet (10,3.6f.11.16.20.24f.28.30.32; 11,3 bis 15,29), aber auch in „Gen 18,23.25; Dtn 25,1; Ps 1,6; 11,5; Hos 14,10; SapSal 10,20 u.ö.“ zu finden ist. Die „Logik“, der sich Paulus (W329f.) in dem Text bedient: „Wenn schon für den Gerechten kaum (molis) einer stirbt, wer wird dann für die Gottlosen sterben?“, findet sich am deutlichsten bereits in der Septuaginta-Version von Sprüche 11,31: „ei ho men dikaios molis sōzetai, ho asebēs kai hamartōlos mou phaneitai? [‚Wenn der Gerechte kaum gerettet wird, der Gottlose und Sünder – wo wird er erscheinen?‘]“.
Zum Inhalt von Vers 7a hebt Wolter hervor (W330), dass „Paulus auf einen Topos der hellenistischen Freundschaftsethik“ zurückgreift, demzufolge „man für den Freund oder die Familie oder auch für die eigene Stadt und das eigene Volk bereitwillig stirbt“, was „immer wieder ausdrücklich als Tat der ‚Liebe‘ bezeichnet wird.“
Mit dem zweiten eingeschobenen Satz in Vers 7b will Paulus nach Wolter „den in V. 7a ausgesprochenen Gedanken nicht korrigieren, sondern noch zuspitzen“. Daraus folgt (W317), dass er die Konjunktion gar hier nicht mit „denn“, sondern mit „allenfalls“ übersetzt: „allenfalls nimmt es jemand auf sich, für das Gute zu sterben.“
Zur umstrittenen Frage (W330), „wen oder was Paulus mit tou agathou (‚des Guten‘) bezeichnen will“, entscheidet sich Wolter gegen alle Vorschläge, die „tou agathou als Maskulinum (‚der Gute‘) auffassen“, und sieht den Ausdruck als Neutrum, so dass Paulus „hier vom Sterben ‚für das Gute (to agathon)‘“ spricht (W331):
„Für das Gute zu sterben“ hat keine bestimmte Referenz, sondern charakterisiert lediglich ganz allgemein die Bereitschaft, sein Leben für einen als „gut“ angesehenen Zweck oder ein als „gut“ geltendes Ziel hirızugeben. Das können geliebte Menschen genauso sein wie die Freiheit, das Vaterland oder das Gesetz.
Auch der „Ausdruck tolman apothanein hyper {es auf sich nehmen, zu sterben für}“ ist aus „der griechischen Literatur geläufig“. Aus den von Wolter dazu angeführten Texten geht hervor,
dass man tolman in Röm 5,7b nicht mit ‚wagen‘ übersetzen sollte, denn es will das „Sterben für“ natürlich nicht als ein Risiko kennzeichnen, sondern deutlich machen, dass dafür großer Mut und außerordentliche Tapferkeit erforderlich sind.
In Vers 8 führt Paulus mit den Worten (W317f.): „Gott stellt aber seine Liebe zu uns unter Beweis, denn Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren“, seinen (W332) „in V. 5b-6 formulierten Gedanken“ weiter, dabei ist
V. 8a … parallel zu V. 5b-c, und V. 8b nimmt V. 6 wieder auf. Paulus ersetzt dabei „Schwache“ (astheneis V. 6a) und „Gottlose“ (asebeis; V. 6b) durch „Sünder“ (hamartōloi; V. 8b). Einen Bedeutungsunterschied zwischen asebeis und hamartōloi gibt es nicht. Nicht ohne Grund verwendet die Septuaginta beide Begriffe zur Übersetzung ein und desselben hebräischen Wortes (raschaˁ). <132>
Das Wort synhistēmi {erweisen, unter Beweis stellen} hat nach Wolter „hier dieselbe Bedeutung wie in Röm 3,5; 2Kor 6,4; 7,11; Gal 2,18“. Gott macht seine „als solche unanschauliche Liebe … im Tod Christi für die Sünder erkennbar, die die christlichen Wir waren, bevor sie zum Glauben gekommen sind.“ Ein weiteres Mal nimmt Wolter diesen Vers zum Anlass, um seine Anschauungen über die in seinen Augen zum Christus-Glauben bekehrten Adressaten des Paulus zu entfalten:
Weil diese Erkennbarkeit aber nur der pistis Christou {dem Christus-Glauben} zugänglich ist, die den Tod Jesu, den das Evangelium als ein Heilsgeschehen verkündigt, im Sinne von Röm 3,24-25 deutet, verwendet Paulus nicht eine Vergangenheitsform von synhistēsin, sondern das Präsens. Der im Glauben als ein Sterben für „Sünder“ gedeutete Tod Jesu wird so zum Erkenntnisgrund dafür, dass Gott „uns“, die Glaubenden, liebt. Plausibilitätsbasis dieser lnterpretation der Liebe Gottes ist ebenfalls der Charakter des Urchristentums als Bekehrungsreligion: Paulus weiß, dass die Leser seines Briefes durch eine Bekehrung hindurchgegangen sind und auf eine vorkonversionale Vergangenheit in ihrem Leben zurückblicken. Diese Zeit nehmen sie nun, nachdem sie zum Glauben gekommen sind, als Zeit ihres Sünder-Seins wahr.
Da Wolter auf diese Weise alles ausblendet, was vor einer von ihm vorausgesetzten Bekehrung der von Paulus angeschriebenen Menschen für sie eine Rolle gespielt hat, macht er sich keinerlei Gedanken darüber, was es für Juden bedeutet haben mag, dass Paulus die auf den Messias vertrauenden Gojim in hautnahen Kontakt mit ihnen und dem Gott Israels bringt. Für Gerhard Jankowski dagegen (J121) ist das, was
Paulus da behauptet, … ungewöhnlich, wenn nicht unerhört. Denn die Nichtjuden, die Gojim, sind immer die gewesen, die Israel bedrängt und verfolgt haben. Sie sind per definitionem die Feinde. Das weiß auch Paulus. Und so zählt er die Bezeichnungen auf, mit denen Juden die Nichtjuden charakterisieren konnten: Feinde, echthroi, Nichtfürchtende, asebēs, Schwache, asthenēs, Sünder, hamartōloi.
Auf das Wort echthroi {Feinde}, das Paulus erst in Vers 10 im gleichen Sinne wie die anderen Bezeichnungen verwendet, nimmt Jankowski hier schon Bezug, weil er den Abschnitt im Ganzen und nicht Vers für Vers auslegt. Zu allen vier Charakterisierungen äußert er sich im einzelnen (J121f.):
Feind ist jeder Goj, der Israel bedroht. Zur Zeit des Paulus ist diese Feindschaft in Edom, Rom, konzentriert. Der prinzipielle Feind ist Rom und alle, die mit Rom zusammenarbeiten.
Insgesamt gelten die Gojim als Schwache. Sie sind nicht gesät und nicht gepflanzt, können keine Wurzeln schlagen. Und sie sind zu schwach, um selbst die für sie geltenden Gebote anzunehmen.
Asebēs sind die Gojim, sie fürchten eben Gott nicht. Asebeis ist in LXX Übersetzung von raschaˁ, das herkömmlich wie auch asebēs mit gottlos übersetzt wird. Die Schrift aber kennt in einer Welt voller Götter keine Gottlosigkeit. Wohl aber gibt es Menschen, die nicht tun, was Gott verlangt, sondern tun, was die Herrscher von ihnen verlangen. So werden sie zu Frevlern, zu Verbrechern, die vor nichts zurückschrecken. In späterer Zeit wird die römische Herrschaft durchgängig und stereotyp als frevelhaft bezeichnet.
Hamartōloi, Sünder, sind die Gojim, weil sie die Thora nicht haben. Sie gehen ihre eigenen Wege, die ohne Thora ins Verderben führen müssen. Sie verkehren zwangsläufig falsch, sind so von grundauf Sünder.
Jankowski verzichtet darauf (J122), „die Vielzahl von Belegen für diese Qualifizierungen zu benennen“, lässt aber „eine Stimme aus unserer Zeit“ zu Wort kommen, „die unter dem Eindruck der Shoah die jüdische Existenz gegenüber der nichtjüdischen zu fassen sucht“, nämlich Zwi Kollitz <133>, der „den Jossel Rackower vor seinem Tod im Ghetto von Warschau sagen“ lässt:
„Ich bin stolz darauf, ein Jude zu sein! … Ich würde mich schämen, einem jener Völker anzugehören, die Übeltäter geboren und aufgezogen haben wie die, die die Verantwortung der Taten gegen uns tragen …
Ich glaube, ein Jude zu sein, heißt: ein Kämpfer sein. Ein ewiger Schwimmer gegen den schmutzigen, verbrecherischen Menschenstrom. Ihr Feinde sagt, daß wir schlecht seien, gerne hätte ich gesehen, wie ihr euch an unserer Statt ausgemacht hättet …
Ich weiß, daß du mein Gott bist, weil du nicht der Gott derjenigen sein kannst, deren Taten das Ergebnis ihrer kämpferischen Gottlosigkeit sind. Falls du nicht mein Gott bist – wessen Gott bist du? Der Gott der Mörder?“
Da Paulus weder „das, was Jossel Rackower erlebt hat“, noch das, „was nur wenige Jahre nach ihm sein Volk in Jerusalem durch die Gojim erfahren wird“, durchmachen musste,
kann er sich noch ganz auf die Seite der Gojim, der Feinde, stellen. Er zeigt das mit dem ganz und gar solidarischen Wir: wir Feinde, wir Schwache, wir Sünder. Die Solidarität ist möglich und nötig, weil die Gojim Nachkommen Abrahams sind wie die Juden. Aber es ist auch eine messianische Solidarität. Denn was erst für die messianische Zeit erwartet wurde, die Lösung des Problems, das Israel mit den Gojim hatte, ist jetzt in Gang gesetzt durch den Tod des Messias.
Dass Paulus hier vom „Tod des Messias“ spricht, „dazu viermal das Wort sterben“ verwendet, scheint vordergründig „keine Hoffnung“ zu vermitteln:
Das klingt nach Ende. Das ist die letzte Konsequenz des Lebens in der Bedrängnis. Das ist auch immer das letzte Wort, das die Feinde für Israel haben: Tod. Es ist ihr Verständnis von der Lösung des Problems, die „Endlösung“ eben.
Es fällt Jankowski auf, dass in den Versen 5, 8 und 10 vom Messias oder Sohn Gottes noch nicht in Verbindung „mit dem Namen Jesus“ die Rede ist, das wird erst in Vers 11 der Fall sein. Zunächst heißt es: „Der Messias … ist getötet worden“, ein „Sohn Abrahams, Jude“, der sich (J123) „in nichts von den anderen unzähligen Getöteten seines Volkes“ unterscheidet. Einen gewaltigen, unerhörten Unterschied markiert Paulus dann aber doch:
Er starb durch die Hand der Feinde, aber er starb nicht gegen sie, sondern für sie. Das ist ungewöhnlich. Natürlich gibt es das Sterben für eine gute Sache, das Sterben für die Genossen in der als richtig erkannten gemeinsamen Sache. Mehr als fraglich ist das Sterben für das Vaterland. Aber für den Feind zu sterben ist, das ist nicht normal. Normal ist, daß man den Feind tötet oder von ihm getötet wird. Der Tod des Messias ist die Umkehrung des Normalen.
Normal war für Juden die Hoffnung, „daß der Messias bei seinem Kommen die Feinde Israels vernichten wird“, was u.a. aus den „sogenannten Apokalypsen wie Henoch oder Baruch“ klar hervorgeht. In „einer Zeit, in der die Vernichtung Israels erklärtes Ziel ist“, können die „Unterdrückten“ und „zum Kampf Bereiten“ nicht mehr eine „Judaisierung“ der Völker anstreben, sondern ihre „Vernichtung“. Auch diese
radikalste Lösung des Problems Israel und die Völker… ist … eine messianische Lösung, weil die Initiative zur Vernichtung und die Vernichtung selbst immer in den Händen des Messias bleibt. Aber soweit ist man zur Zeit des Paulus noch nicht.
Paulus entwickelt eine in völlig gegensätzlicher Weise ebenfalls radikale Lösung:
Der Tod des Messias hat die Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden getötet. Sie hat keinen Bestand mehr. Sein Blut – hier Synonym für den Tod, aber auch Erinnerung an den Jom Kippur – hat die Feindschaft beseitigt. Das Blut, das am Jom Kippur gerade auch für die Gojim verspritzt wurde, um ihre Sünden und Verbrechen zu bedecken, macht sie annehmbar. Das ist zur Frist, kata kairon, geschehen. Es ist die Frist, die Gott festgesetzt hat, damit es nicht noch schlimmer kommt. Diese Frist ist auch der Beginn der Umkehrung des Normalen. Aus Feinden werden Genossen.
Jankowski vermutet, dass „Paulus als guter Beobachter der politischen Entwicklung geahnt“ haben könnte,
welches Desaster sich abspielen könnte, wenn die Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden in gewaltsamer Auseinandersetzung explodieren würde. Paulus wußte, daß das von einigen Widerstandsgruppen geplant wurde. Gibt ihm und seinem Lösungsversuch die Katastrophe des Jahres 70 nachträglich recht?
↑ Römer 5,9-11: Als wahrgemachte Feinde Gottes sind wir – Gojim mit den Juden – befreit vom Zorn durch Jesu Tod und als Versöhnte befreit in seinem Leben
5,9 Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn,
nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind.
5,10 Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes,
als wir noch Feinde waren,
um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben,
nachdem wir nun versöhnt sind.
5,11 Nicht allein aber das,
sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus,
durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.
[28. Februar 2025] Die Aussage von Römer 5,8b, also der Tod Christi für uns, „eti hamartōlōn ontōn hēmōn {als wir noch Sünder waren}; V. 8b“, bietet Michael Wolter zufolge (W332) die „Grundlage“ für Paulus, um zu „begründen, warum er sich so sicher ist, dass die Hoffnung die Hoffenden ‚nicht beschämen‘ wird (V. 5a).“ Dazu stellt er in Vers 9a – dessen Hauptinhalt in der obigen Lutherübersetzung an das Ende des Satzes verschoben worden ist – der „Vergangenheit der Glaubenden als Sünder … die Gegenwart als Gerechtfertigte (dikaiōthentes nyn) gegenüber“. Mit „en tō haimati autou {durch sein Blut}“ nimmt er außerdem „hyper hēmōn apethanen {für uns gestorben} (V. 8b)“ auf. Dabei ist es kein Widerspruch, dass „Paulus erst von der Rechtfertigung ‚aus Glauben‘ spricht (in V. 1) und jetzt von der Rechtfertigung ‚durch sein Blut‘“, denn „von 3,25 her“ ist klar, dass er „beides in eins setzen“ kann. Es ist nämlich „der Glaube …, der den Tod Jesu als Tod für die Sünder deutet und ihn dadurch zu einer Wirklichkeit werden lässt, die aus Sündern Gerechte macht.“
Im zweiten Teil des Verses, 9b – bei Luther an den Anfang vorgezogen – (W333) „richtet Paulus den Blick in die Zukunft“, indem er „der Hoffnung von V. 5a eine konkrete Gestalt“ gibt: „Die Gerechtfertigten werden ‚vor dem Zorn gerettet‘.“ Sie entgehen also dem „Vernichtungsgericht“ der Endzeit, „mit dem Gott alles ihm Widerstrebende ausschalten wird“, von dem in Römer 1,18 die Rede war.
Interessant ist, dass Wolter zum genaueren Verständnis dieser orgē, dieses von Gott ergehenden Zornes, den 1. Thessalonicherbrief heranzieht. Nur dort (Anm. 69) ist außer im Römerbrief „orgē bei Paulus … belegt“. Auch aus 1. Thessalonicher 1,10 geht hervor (W333), dass „Christus bei seiner Parusie die zu ihm Gehörenden vor der Vernichtung bewahren wird, in der alle anderen umkommen werden.“ Außerdem zitiert Wolter als in „die Nachbarschaft von Röm 5,9b“ gehörig
1Thess 5,9: „Gott hat uns nicht zur orgē {Zorn} bestimmt, sondern zur Erlangung der sōtēria {Errettung} durch (dia) unseren Herrn Jesus Christus“. Demnach kann sich die Erfüllungsgewissheit der christlichen Hoffnung darauf richten, dass alle Glaubenden und Gerechtfertigten durch Christus vor dem endzeitlichen Vernichtungsgericht bewahrt werden.
Eine dritte Fundstelle 2,16 für orgē im 1. Thessalonicherbrief lässt Wolter außer Acht, obwohl sie im Zusammenhang mit der im Römerbrief verhandelten Thematik besondere Aufmerksamkeit verdient, denn Paulus geht dort auf diejenigen seiner Mitjuden ein, die nicht nur Jesus getötet haben, sondern auch seine Hinwendung zu den Gojim verhindern wollen. Es sind solche Juden, über die der Zorn Gottes bereits ergangen ist, während Gojim, die gemeinsam mit Juden auf den Messias Jesus vertrauen, die sōtēria {Befreiung, Rettung} erlangen können.
Auch zu einer weiteren Frage greift Wolter u.a. auf den 1. Thessalonicherbrief zurück:
Wie Paulus sich diese „Rettung“ vorgestellt hat, geht aus den Texten nicht hervor. Möglicherweise hat er sich gedacht, dass sie durch eine Entrückung erfolgt, wie er sie in 1Thess 4,17 beschrieben hat und von der auch Lk 17,34-35 spricht: Dass die zu Jesus Gehörenden bei seiner Parusie der Welt entnommen werden und dadurch vor deren Vernichtung in Sicherheit gebracht werden. Diese Nuance könnte in Röm 5,9 möglicherweise die Präposition apo zum Ausdruck bringen, bei der ein räumlicher Nebenton mindestens mitzuhören ist; vgl. in diesem Sinne Lk 3,7 par. Mt 3,7 („fliehen apo tēs mellousēs orgēs {vor dem zukünftigen Zorn}“); Apk 6,16 („verbergt uns … apo tēs orgēs tou arniou {vor dem Zorn des Lammes}“). Auf der anderen Seite bezeichnet sōzein apo tinos {gerettet werden vor etwas} aber auch häufig einfach nur die Bewahrung vor dem Unheil, ohne dass eine räumliche Konnotation erkennbar ist (z.B. in Num 10,9; 2Chr 30,6; 2Esr 8,22; Ps 29,4LXX; PsSal 13,2; Jer 51,28LXX).
Genau kann man tatsächlich nicht wissen, wie sich Paulus die zukünftige Errettung oder Befreiung vorgestellt hat. Was Wolter hier aber mit den Stichworten „Entrückung“ und „der Welt entnommen“ andeutet, lässt vermuten, dass er Paulus zutraut, sich möglicherweise die Errettung der Glaubenden als die Aufnahme in einen jenseits dieser Welt befindlichen Himmel vorzustellen, wie es in der christlichen Kirche schon bald üblich wurde. Was wäre aber, wenn Paulus nicht einen Weltuntergang vor Augen hätte, wie sich moderne Katastrophenfilme ihn vorstellen, sondern einen Tag der Entscheidung, an dem alle gottfeindlichen Mächte zunichte werden, vor allem in Gestalt der mörderischen und versklavenden Weltordnung des römischen Imperiums, und eine radikal andere Welt des Friedens von Juden und Völkern auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes ins Leben tritt? In diesem Sinne entwickelt Gerhard Jankowski in seiner Auslegung des 1. Thessalonicherbriefes <134> andere Ideen zum Verständnis des Wortes harpazein, das in 4,17 gewöhnlich mit „entrücken“ übersetzt wird. Ihm zufolge ermutigt Paulus diejenigen, die sich fragen,
was mit denen sein wird, die messianisch gelebt haben und dann gestorben sind oder noch sterben werden, bevor die messianische Zeit anbricht…, mit dem Hinweis, daß alle, die Gestorbenen und die Lebenden, wenn die messianische Zeit anbricht, zusammen mit dem Messias bei dem befreienden Gott sein werden. Und sie werden leben.
Zurück zu Wolters Auslegung von Römer 5,9. Er fasst zusammen (W333), dass Paulus in Vers 8b „die christliche Gegenwart also erst von der Vergangenheit her in den Blick“ nimmt,
und dann blickt er vom ‚Jetzt‘ aus in die Zukunft (V. 9b). Beide Blickrichtungen werden zueinander in Beziehung gesetzt, indem Paulus aus Jesu Sterben für Sünder mit Hilfe des Ausdrucks pollō mallon {um wieviel mehr} zu Beginn von V. 9a die Gewissheit einer zukünftigen Rettung der durch seinen Tod Gerechtfertigten ableitet.
Sehr ausführlich widmet sich Wolter (W334) der „Argumentationsfigur“ pollō mallon oder posō mallon {beides: um wieviel mehr}, die er nicht nur in den Versen 9 und 10 verwendet, sondern auch „in Röm 5,15.17; 2Kor 3,9.11; Phil 2,12 sowie in Röm 11,12.24; Phlm 16 (hier jeweils posō mallon)“. Dabei geht es ihm vor allem darum, „die paulinischen pollō-mallon-Argumente“ nicht allein aus „dem rabbinischen Gebrauch“ herzuleiten, nämlich aus der ersten „der sieben Auslegungsregeln Rabbi Hillels (ca. 30 v. Chr. – ca. 9 n. Chr.)“, die „hier ‚Qal Wachomer‘ (… wörtlich: ‚Leichtes und Schweres‘)“ heißt, da „diese Argumentationsfigur auch in der griechischen Literatur weit verbreitet ist“ und zudem seiner Ansicht nach aus letzterem „Sprachgebrauch und nicht aus dem rabbinischen Qal-Wachomer-Schluss … auch Lk 11,13 par. Mt 7,11; Lk 12,28 par. Mt 6,30; Hebr 9,13-14 zu erklären“ sind. In diesem Zusammenhang geht Wolter darauf ein (W334f.), dass
diese Argumentationsfigur … in der antiken Rhetorik … zum locus a comparatione {Ort der Vergleichbarkeit} <135> [gehört], der Ungleichartiges zueinander in Beziehung setzt und aus zwei Hauptteilen besteht: dem argumentum a minori ad maius {Schluss vom Geringeren auf das Größere} (hier könnte z.B. Lk 12,28 genannt werden: „Wenn Gott das Gras … so bekleidet, posō mallon euch“…) und dem argumentum a maiori ad minus {Schluss vom Größeren auf das Geringere} (hierzu gehört z.B. Röm 11,24: „Wenn du gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, pollō mallon werden … die natürlichen Zweige in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden“…).
Es ist nach Wolter (W335) aber gar nicht „möglich, eine eindeutige Abgrenzung zwischen maius und minus zu fixieren“, was „auch für Röm 5,9“ gilt:
Geht man davon aus, dass „Sünder“ weniger wert sind als „Gerechtfertigte“, wird man von einem argumentum a minori ad maius sprechen. Paulus könnte aber auch hervorheben wollen, dass es viel unwahrscheinlicher ist, dass jemand für „Sünder“ stirbt, als dass er „Gerechtfertigte“ rettet. In diesem Fall müsste man von einem argumentum a maiori ad minus sprechen. Analoges gilt auch für alle anderen nichtrabbinischen Texte. In allen Fällen ist nicht deutlich, welche Seite das minus und welche das maius sein soll.
Aus diesem Grund spricht sich Wolter dafür aus , „von einem argumentum a fortiori {Schluss vom Stärkeren her} zu sprechen“, das heißt: „Weil etwas vergleichsweise Unwahrscheinlicheres gilt, gilt auch das vergleichsweise Wahrscheinlichere.“ Die „isolierte Verknüpfung“ eines derart weit verbreiteten und allgemein verwendeten Arguments „mit dem rabbinischen Qal-Wachomer“ hält Wolter für „viel zu eng“.
In Vers 10 wiederholt Paulus „das A-fortiori-Argument von V. 9 und konstruiert um das Scharnier pollō mallon {um wieviel mehr} herum zwei Sätze, die aus drei parallelen Satzgliedern bestehen“ und die Aussagen von V. 8b-9 wiederholen. Zur besseren Übersicht ordne ich den Fließtext von Wolters Übersetzung in nummerierten Zeilen an (W318):
Denn wenn wir,
(1) als wir Feinde waren,
(2) mit Gott versöhnt wurden
(3) durch den Tod seines Sohnes,
um wieviel mehr
(4) werden wir als Versöhnte
(5) gerettet werden
(6) durch sein Leben.
Zum „Vordersatz“ hebt Wolter hervor (W335), dass Paulus in Zeile (1) „die Charakterisierungen astheneis {Schwache} (V. 6a), asebeis {Gottlose} (V. 6b) und hamartōloi {Sünder} (V. 8b) zu echthroi {Feinde}“ fortschreibt, während er mit Zeile (3) die Aussagen aus 8b und 9a über Jesu Tod und Blut wieder aufnimmt. Der „Nachsatz“ ist „sehr weitgehend parallel“ zu Vers 9b formuliert.
Inhaltlich geht Paulus im „Vordersatz … von einem gegebenen Sachverhalt aus“, nämlich dem bereits in Vers 1 erwähnten „Frieden als Folge der Rechtfertigung“, auf den er nun „die Metapher der Versöhnung“ anwendet (W336), „um das neue Gottesverhältnis der Gerechtfertigten zu erläutern.“ Erneut sieht Wolter hier „wieder die urchristliche Bekehrungserfahrung im Hintergrund, die Paulus mit Hilfe der semantisch vertrauten Vorstellung der ‚Versöhnung‘ von ‚Feinden‘ erläutert.“
Wolter erwähnt zwar auch, „dass die Versöhnungsmetapher schon im frühen Judentum auf das Gottesverhältnis übertragen werden konnte“, wozu er (Anm. 79) u.a. auf „2Makk 1,5; 5,20; 7,33; 8,29“ verweist, aber zugleich nennt er Unterschiede (W336):
Während es hier jedoch immer Gott ist, der sich „versöhnt“ oder der „versöhnt“ wird, ist bei Paulus genau das Gegenteil der Fall: Es sind die Menschen – genauer gesagt: die Glaubenden –, die von „Feinden“ zu „Versöhnten“ geworden sind. Paulus kann diese Änderung auf den Tod des Gottessohnes zurückführen, weil der Glaube Christus-Glaube (pistis Christou) ist, der den Tod Jesu als Heilstod deutet und dadurch dessen Heilswirkung erfährt. Es ist darum allererst der Glaube, der die Menschen verändert.
Dass Paulus das Stichwort Versöhnung auch auf die real existierende Feindschaft zwischen Juden und Völkern beziehen könnte, hält Wolter keiner Erwägung wert. Für ihn steht außer Frage, dass sich hier Feindschaft wie Versöhnung ausschließlich in der Beziehung zwischen Gott und den einzelnen Glaubenden abspielt, denn (Anm. 80) Paulus nimmt „mit echthroi ontes {als wir Feinde waren} die Charakterisierungen der Glaubenden als frühere astheneis {Schwache} (V. 6a), asebeis {Gottlose} (V. 6b) und hamartōloi {Sünder} (V. 8b) auf“ und verweist
gleichzeitig auf die Darstellung der universalen Sünde aller Menschen in 1,18 – 3,20 zurück…: Als „Gottlose“ und „Sünder“ haben sich die jetzt Glaubenden einst ‚feindlich‘ gegenüber Gott verhalten und sind von Gott dementsprechend auch als „Feinde“ angesehen worden.
„Wichtig“ ist dabei für Wolter (W336) zum einen, dass das „in den beiden Teilen von V. 10 beschriebene Ergehen der Glaubenden … jeweils von Gott aus[geht] und … von Gottes Liebe her zu denken“ ist. Außerdem hebt er im Blick auf die Versöhnung durch den Tod Jesu hervor, „dass aus dem unspezifischen ‚durch ihn‘ (V. 9b) in V. 10b ‚durch sein Leben‘ wird“, womit er „eine komplementäre Ergänzung zu ‚durch den Tod …‘ (V. 10a) herstellen“ will:
Hinter dieser Ergänzung steht die auch sonst bei ihm belegte Vorstellung, dass das zukünftige Heil der Glaubenden durch die Teilhabe an Christi Auferstehungsleben ermöglicht wird: Alle, die zu Christus gehören, werden auch sein Auferstehungsgeschick teilen (vgl. Röm 6,5.8; 8,11; 1Kor 15,20-22; 2Kor 4,10-11.14; Phil 3,10-11.20-21; 1Thess 4,14).
In Vers 11 schließlich (W337) schließt Paulus wie in Vers 3 „durch ou monon de, alla kai {nicht nur, sondern auch}“ an Vers 10 „eine weitere Feststellung zur Charakterisierung der christlichen Wir in der Gegenwart“ an. Er will sagen:
‚Nicht nur (als Versöhnte werden wir gerettet), sondern auch als solche, die sich Gottes rühmen‘. … Mit der Feststellung, dass die aus Glauben „Gerechtfertigten“ und mit Gott „Versöhnten“ auch kauchōmenoi en tō theō {die sich Gottes rühmen} sind, knüpft Paulus an die Beschreibung des jüdischen Selbstverständnisses in Röm 2,17 an: „Wenn du dich aber Jude nennst … und dich Gottes rühmst (kai kauchasai en theō)“. Er hatte damit das jüdische Erwählungsbewusstsein im Gegenüber zu den Heiden charakterisiert: Israels Freude darüber, dass Gott es sich zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat. Von eben diesem Rühmen hatte er in 3,27 gesagt, dass Gott es dadurch „unmöglich gemacht“ hat, weil er Juden und Heiden ohne Unterschied „durch Glauben“ und „aus Glauben“ gerecht spricht (3,28-30). Wenn Paulus nun die christlichen Wir als kauchōmenoi en tō theō charakterisiert, so überträgt er damit ein Merkmal Israels auf diejenigen Juden und Heiden, die aufgrund ihres Christus-Glaubens gerechtfertigt und mit Gott versöhnt sind. Ihnen schreibt Paulus nun das zu, was das Vorrecht des Gottesvolkes ist: sich Gottes rühmen zu dürfen.
Bezeichnend für die von Wolter in dieser zugespitzten Weise formulierte „Position“ ist nun erneut, dass er von ihr sogleich wieder sagen muss, dass Paulus von ihr „in Röm 9-11 wieder abrücken wird“. Aber zeigt sich hier wirklich „erneut ein Stück von jener Aporie …, die den paulinischen Umgang mit der Israelfrage im Römerbrief insgesamt kennzeichnet und die bis zum Schluss ungelöst bleibt“? Könnte es nicht auch sein, dass Wolter einfach nicht akzeptieren will, in welcher Weise Paulus in das bleibende „Vorrecht des Gottesvolkes“ Israel, „sich Gottes rühmen zu dürfen“, auch Gojim mit einbezieht, die durch das Vertrauen auf den Messias mit dem Gott Israels versöhnen lassen?
Mit dem Ausdruck dia tou kyriou hēmōn Iēsou Christo, „durch unseren Herrn Jesus Christus“, verweist Paulus auf „den Grund, der es den christlichen Wir möglich gemacht hat, sich Gottes zu rühmen“, nämlich
das im Glauben als Heilsgeschehen gedeutete Christusgeschehen, wie er es mit Bezug auf den Tod Jesu in 3,24-25 skizziert und in 4,25 auf die Auferstehung Jesu ausgeweitet hatte.
Im letzten Wort von Vers 11 (W338), elabomen {wir haben empfangen}, das grammatikalisch einen „ingressiven Aorist“ aufweist und sich so auf den Beginn und die Fortsetzung des Empfangs „von ‚Versöhnung‘ und ‚Friede‘“ mit Gott bezieht, kommt nach Wolter
erneut der Bekehrungsvorgang der christlichen Wir in den Blick: Als sie als „Gottlose“ und „Sünder“, mithin also als Gottes „Feinde“, zum Christus-Glauben gekommen sind, wurde ihnen in dem Sinne „Versöhnung“ geschenkt, dass Gott die zwischen sich und ihnen bestehende Feindschaft für beendet erklärt hat.
Zusammenfassend betont Wolter nochmals (W339), dass Paulus mit Römer 5,1-11 beschreiben will,
was sich durch die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes nach 3,21-26 für die aus Glauben Gerechtfertigten gegenüber der Situation von 1,18 – 3,20 geändert hat. Er stellt dabei in den Vordergrund, dass sie nunmehr und im Gegensatz zu ‚einst‘ in einem intakten Gottesverhältnis leben.
Mit der Zukunft verbindet Paulus die Gegenwart „mit Hilfe des Begriffs der ‚Hoffnung‘ (elpis)“, die „nicht lediglich das ‚Noch nicht‘ des noch ausstehenden Heils“, markiert, „sondern sie ist der Modus, in dem das Heil ‚schon jetzt‘ präsent ist.“ Und indem Paulus „die christliche Hoffnung in der Gewissheit“ verankert, von Gott geliebt zu sein“, wird Wolter zufolge die „Liebe Gottes … zu einem anthropologisch beschreibbaren Bestandteil des Wesens eines jeden Glaubenden.“
Gerhard Jankowski (J123) sieht die Aussage von Römer 5,9-11 ganz im Zeichen radikaler Veränderung, die durch den „Tod des Messias“ in Gang gesetzt und in seinem „Leben“ verwirklicht wird (J123f.):
Wenn der Tod des Messias die Umkehrung des Normalen ist, dann ist es sein Leben erst recht. Durch den Tod des Messias kommt die Ablösung der Feindschaft, durch sein Leben die Befreiung. Sie wird dort gelebt, wo Juden und Nichtjuden zusammen den Leib des Messias sehr lebendig verkörpern.
Im Hintergrund dieses Blicks auf das Leben des Messias steht (J124) die „Hoffnung“ auf die „Auferstehung der Toten“, obwohl von ihr hier nicht die Rede ist. Dabei muss nach Jankowski ernst genommen werden, dass „Auferstehung aus den Toten … immer die radikale Veränderung der Zustände und der Verhältnisse“ meint, „in denen Menschen leben.“ Von dieser Einschätzung her gelangt er zu einer eigenwilligen Übersetzung von katallagē, „herkömmlich mit Versöhnung übersetzt“, in der für „Paulus … diese Veränderung gegeben“ ist. In seinen Augen ist das Verb katallagein „etwa im Sinn von durch und durch verändern, umwandeln, umwerten“ wiederzugeben. „Entsprechend ist dann das Nomen am besten mit völlige Veränderung zu übersetzen.“ <136>
Zur Begründung führt er an, dass in den „messianischen Schriften“ beide Wörter nur bei Paulus vorkommen und in der Septuaginta fast nur im 2. Makkabäerbuch. Dafür aber gibt es das „Grundverb allassein“ ohne die verstärkende Vorsilbe kata in der griechischen Bibel
häufig, zum einen als Übersetzung der Wurzel chlf, ändern, wechseln (z.B. Kleider), zum anderen als Übersetzung der Wurzel mwr, eintauschen, austauschen (z.B. Opfergaben). Von dem Verb ist im Griechischen das Adjektiv allos, anders, abgeleitet. Das Kompositum katallassein bzw. katallagein ist dann eine Verstärkung…
Im Blick auf die Verwendung des Wortes katallagein in 1. Korinther 7,11 durch Paulus erläutert Jankowski, warum ihm zufolge die Übersetzung mit „versöhnen … zu schwach“ und diejenige mit „durch und durch verändern“ zu bevorzugen ist:
Da geht es darum, daß sich eine Frau von ihrem Mann getrennt hat. Es geht nicht um eine mehr oder weniger übliche Scheidung. Einer der beiden Partner ist, wie der Kontext vermuten läßt, Jude/Jüdin, der andere Nichtjüdin/Nichtjude. Solche Verbindungen gab es. Sie bereiteten jedoch enorme Schwierigkeiten, so daß meistens nur die Scheidung als Ausweg blieb. Paulus empfiehlt, daß die getrennten Partner, in dem konkreten Fall die Frau, mit dem Mann wieder zusammenleben soll. Das neue Verhältnis kann nie so sein wie das alte vor der Trennung. Es muß eine Veränderung geschehen sein und geschehen. Und deswegen gebraucht Paulus für das Eingehen des neuen, veränderten Verhältnisses das Verb katallagein. Wieder auf andere Weise verbinden, anders wiederhergestellt werden sind in diesem Kontext mögliche Übersetzungen. Versöhnen ist zu schwach. Es ist eben fraglich, ob mit Versöhnung ein an einem Konflikt zerbrochenes Verhältnis wieder geheilt werden kann. Und was wir unter Versöhnung suggeriert bekommen, verwischt nur allzu schnell und meistens sehr oberflächlich die Unterschiede.
Übertragen auf das Verhältnis von Juden und Gojim, das Paulus im Römerbrief vor Augen hat, ergibt sich durch den Tod des Messias nach Römer 5,10a eine wirklich radikale Veränderung:
Feinde, die sich bisweilen bis aufs Blut gegenüberstehen, sind ganz und gar verändert worden. Nach dieser totalen Veränderung können sie eben nicht mehr Feinde sein. Erst in diesem Zusammenhang wird deutlich, daß mit Feinden wirklich die Nichtjuden gemeint sind. Damit die zu Bundesgenossen werden, muß eine völlige Veränderung erfolgt sein. Denn der tödliche Gegensatz zwischen beiden, der ewig Bestand zu haben schien, kann nur durch eine völlige und radikale Veränderung im Verhältnis zwischen beiden aufgehoben werden. Für Paulus ist das durch den Tod des Messias möglich geworden.
Mit Vers 10b will Paulus (J125) auf eine weitere „große Veränderung“ hinaus, die „sich praktisch im Leben“ vollzieht und „durch die Auferstehung des Messias in das Leben“ bewirkt ist, indem nämlich ganz „[p]raktisch … Juden und Nichtjuden … wirklich zusammenleben“ können, „in gutem Sinn versöhnt.“
Erst an dieser Stelle endet der „Midrasch über die Verheißung an Abraham“, wie ihn Jankowski begreift. Ihm zufolge ist „aus diesem Midrasch“ weitaus mehr „zu lernen“ als theologische Wahrheiten über eine angeblich unterschiedslose Rechtfertigung von Christen verschiedener Herkunft, die sowohl auf ihre sündhafte Vergangenheit zurück als auch auf die weiterhin der Verdammnis geweihten nicht-glaubenden Juden und Heiden herabblicken, nämlich:
Daß aus dem Nichts etwas erwacht, aus Zukunftslosigkeit eine Perspektive wird, Fernstehende nahekommen können, Feinde umgewendet und zu Bundesgenossen werden. Was aufgrund der Schrift zu begründen versucht wurde, muß Konsequenzen für das ganz alltägliche Leben haben – für Juden und für Nichtjuden. Für Juden fiel zunächst eine ganze Menge halachischer Vorschriften, die das Leben in einer nichtjüdischen Umwelt regelten. Dennoch blieben sie Juden. Auch Paulus war Jude geblieben. Und ermutigte durch sein Beispiel die aus verständlichen Gründen Zögerlichen, den Schritt zu wagen und die Nichtjuden, die zur messianischen Gemeinde kamen, nicht als Feinde, sondern als Bundesgenossen anzunehmen und mit ihnen zusammenzuleben, sie auszuhalten als das, was sie waren: Nichtjuden, denen die Verheißung an Abraham galt. Wenn auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse so bestehenblieben, wie sie nun mal waren, das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden hatte sich, wenn auch nur punktuell, in den messianischen Gemeinden grundlegend geändert. Wie nirgendwo sonst in den paulinischen Schriften wird an diesem kleinen Midrasch über Abraham deutlich, was Paulus gewollt hat: die Öffnung Israels für die Gojim, ohne sie zu Juden zu machen.
Wie revolutionär dieses Projekt des Paulus war, die „Nähe zu den Gojim hautnah auszuhalten“, zeigt sich nach Jankowski darin, dass es „die nichtjüdische Welt mit den ganz konkreten jüdischen Hoffnungen auf Befreiung“ anstecken musste, „auf wahrhaftige, gelebte Menschlichkeit“. In seinen Augen waren die „messianischen Gemeinden gerade in den Städten der Diaspora … auf dem Weg, Zellen der Veränderung zu werden.“ Trotzdem trifft Jankowski bei „allem Enthusiasmus über diesen Weg, der sich vielfach in den Worten des Paulus zeigt“, eine nüchterne Feststellung, nämlich dass (J125f.)
die meisten Juden sich den messianischen Gruppen nicht angeschlossen haben. Die waren in ihren Augen Häretiker, im günstigen Fall vertraten sie eine Heterodoxie, der zu widersprechen war. Und auch die Zahl der Nichtjuden in diesen Gruppen wird nicht groß gewesen sein. Die da kamen, werden schon vorher Kontakt zu den jüdischen Gemeinden in ihrer Stadt oder anderswo gehabt haben. Dennoch ließ sich Paulus nicht von der Autorität der großen Zahl in Bann schlagen. Israel war erwählt worden, weil es das Mindere in den Augen Gottes war. Warum sollte es mit der messianischen Gemeinschaft, diesem erneuerten Israel, anders sein? Und wie hatte das mit Abraham angefangen?
Voller Trauer betrachtet Jankowski schließlich das (J126), was im Zuge einer schon bald entstehenden heidenchristlich dominierten Kirche „daraus gemacht worden“ ist:
Das, was für Paulus eine völlige Veränderung bedeutete, wurde zu einer individualistisch ausgeformten Versöhnungslehre. Nicht mehr Nichtjuden werden mit Juden versöhnt, sondern versöhnt wird der einzelne Sünder mit Gott. In der gemeindenahen Ausformung der Versöhnungslehre, in den Passionsliedern, heißt es in direkter Anspielung auf Röm 5,11 u.a. macht mich aus Gottes Feinde zu Gottes Freunde (EKG, Nr. 71,4). Friede mit Gott, die Frucht des Glaubens, so überschreibt die Zürcher Bibel diesen Abschnitt. Von Israel kein einziges Wort. Solidarität untereinander, Solidarität zwischen Juden und Nichtjuden kommt nicht vor. Individuelles Leid, „Trübsal“ aufgrund der Sünden, findet sich übermäßig. Bedrängnis und Verfolgung aber sind verdrängt. War es einfach zu viel, daß Paulus bei all seinem Enthusiasmus die Nahegekommenen und Versöhnten auf die Unterdrückung, das Martyrium hinwies, das sie mit den jüdischen Bundesgenossen zu erwarten hatten? Es ist so, daß die Nahegekommenen, die später zu Christen wurden, diese Nähe der Existenz Israels nicht ausgehalten haben. Sie war ihnen zu hautnah. Je weiter sie sich von Israel entfernten, desto mehr wuchs die Feindschaft an, die eigentlich vernichtet sein sollte. Die mit Gott allein durch Christus Versöhnten waren bereit, die zu töten, die sie zu Feinden Christi und bald auch der Menschheit erklärten.
Es ist Jankowskis berechtigtes Anliegen, durch seine Beschäftigung mit den paulinischen und lukanischen Schriften unermüdlich für die Einsicht zu werben, dass für „diese Entwicklung“ nicht bereits Paulus selbst „haftbar zu machen“ ist:
Haftbar zu machen sind die, die hier bewußt anders lasen und sich nur zu eigen machten, was ihnen genehm war. Es ist etwas anderes, Paulus von dem her zu verstehen, was er schreibt, als ihn mit Hilfe der lutherischen Rechtfertigungslehre zu interpretieren. Auch Paulus kann und muß kritisiert werden. Das kann aber nur geschehen, indem man ihn von der Schrift her kritisiert, auf die er sich beruft.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 5,1-11
5,1 Da wir nun wahr gemacht sind aus Vertrauen,
haben wir Frieden auf Gott hin,
durch unseren Herrn Jesus, den Messias,
5,2 durch den wir auch den Zugang haben im Vertrauen
zu dieser Gnade, in der wir stehen,
und rühmen uns der Hoffnung auf die Ehre Gottes.
5,3 Nicht nur aber das, sondern wir rühmen uns auch in den Bedrängnissen,
denn wir wissen, dass die Bedrängnis Ausharren bewirkt,
5,4 das Ausharren aber Erprobtheit, die Erprobtheit aber Hoffnung.
5,5 Die Hoffnung aber bereitet keine Beschämung,
denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen
in Gestalt der heiligen Inspiration, die uns gegeben ist.
5,6 Noch nämlich ist der Messias, als wir Schwache waren,
zu dem Zeitpunkt noch, für Gottlose gestorben.
5,7 Denn kaum stirbt einer für einen Bewährten,
allenfalls nimmt es einer auf sich, für das Gute zu sterben.
5,8 Gott aber stellt seine Liebe zu uns unter Beweis,
weil noch, als wir fehlgingen,
der Messias für uns gestorben ist.
5,9 Um wieviel mehr also werden wir,
die wir jetzt durch sein Blut wahr gemacht worden sind,
durch ihn von dem Zorn befreit werden.
5,10 Denn wenn wir,
als wir Feinde waren,
mit Gott versöhnt wurden
durch den Tod seines Sohnes,
um wieviel mehr
werden wir als Versöhnte
befreit werden
durch sein Leben,
5,11 nicht nur aber das,
sondern auch als solche, die sich Gottes rühmen
durch unseren Herrn Jesus, den Messias,
durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.
↑ Wie wird eine von Adam her der Sünde und dem Tod verfallene Menschheit geeint und neu durch den Messias? (Römer 5,12-21)
[2. März 2025] Für Gerhard Jankowski (J126) führt das „Nachdenken über die eine Nachkommenschaft Abrahams … fast von selbst zu der Frage nach einer geeinten neuen Menschheit“, denn die „messianische“, also durch den Messias Jesus vermittelte „Versöhnung“ zwischen Juden und Völkern, verstanden „als völlige Veränderung im Verhältnis zueinander“, ermöglicht die Aufhebung ihrer Feindschaft und „einen neuen Lebensvollzug“, den Paulus im Rest des Kapitels 5 zu beschreiben versucht. Zur Auslegung dieser Verse teilt Jankowski den ganzen Abschnitt unter den Überschriften (J6) „Adam – Mosche 5,12-14“, „Die Vielen 5,15-17“ und „Alle 5,18-21“ in drei Unterabschnitte auf (J126f.):
Beim Nachdenken über die neue Menschheit hält sich Paulus an das, was in der Schrift über den Menschen, Adam, gesagt ist. Seine Auslegung des Menschenbildes der Schrift ist viel komprimierter als der Midrasch über Abraham. Manches ist nur in Stichworten aus der Diskussion der anderen Lehrer Israels zu diesem Thema angedeutet. Auch die sprachlichen Formulierungen werden bei diesem Thema lehrhafter und damit formelhafter. Es scheint, daß es da, wo es um den Menschen geht, komplizierter wird.
Inhaltlich geht es in diesen Abschnitten (J134) „nach wie vor um die Vielen, die Gojim, und ihre Hineinnahme in die Verheißung, die Abraham gegeben wurde.“ Dabei spannt Paulus den bereits „von Abraham zu Israel“ gespannten Bogen weiter, „von Adam/Mensch zu Mosche und zur Thora und wieder von Adam/Mensch zum Messias und zur wahren Menschwerdung in einer neuen Menschheit.“ Jankowski ist davon überzeugt, dass Paulus auch hier das „Besondere an Juden wie an Nichtjuden“ nicht verschweigt und dass „die Unterschiede nicht eingeebnet“ werden. Vielmehr werden sie sogar „betont, um so das mögliche Gemeinsame hervorzuheben.“ Ein besonderes Augenmerk wird Jankowski der Frage widmen (J135f.), welche Rolle die Tora in diesem Zusammenhang gespielt hat und nach wie vor spielen kann. Ist sie „ein Störfaktor, eine Fehlentwicklung im ganzen Heilsgeschehen“ oder stellt sie „das Angebot des Lebens gegen das System der Sünde“ dar, das jedoch „die vielen Gojim mit Israel zusammen“ eben nicht angenommen haben?
Für Michael Wolter (W341) ergibt sich der Zusammenhang des Abschnitts Römer 5,12-21 vor allem daraus, dass
das Tun eines „Einen“ bzw. „eines Menschen“ mit dem Ergehen von „allen“ bzw. „den Vielen“ … [verbunden wird] (V. 12.15-17.18-19). In V. 14b und in V. 15d.17c sagt Paulus, dass er mit dem „Einen“ oder dem „einen Menschen“ jeweils Adam und Christus meint. Zur Kohärenz des Gesamttextes tragen ebenfalls zahlreiche Rekurrenzen bei: thanatos {Tod} und apothnēskein {sterben} (V. 12.14.15.17.21), Begriffe für Sünde (hamartia und Stammverwandte, paraptōma, parabasis; V. 12-21) und das Verb basileuein {herrschen} (V. 14.17a.b.21a.b).
Durch den gesamten Abschnitt ziehen sich „Vergleiche zwischen Adam und Christus“, die allerdings „uneinheitlich“ ausfallen:
Paulus weist auf Gemeinsamkeiten genauso hin wie auf Unterschiede. Um die Gemeinsamkeiten geht es in V. 12.14c.18-19, während in V. 15-17 die Unterschiede beschrieben werden. ln V. 13-14b sowie in V. 20 schiebt Paulus jeweils auf der Adam-Seite eine Reflexion auf die Tora ein.
Wolter geht davon aus (W362), dass „Röm 5,12-21 … ursprünglich nur als eine kurze Ergänzung zu 5,1-11 geplant“ war, dann aber Paulus „aus dem Ruder gelaufen und zu einer ausführlichen und theologisch gewichtigen Abhandlung über das Verhältnis von Sünde und Gnade angewachsen“ ist. Eigentlich will Paulus herausstellen, dass es sich beim „Christusgeschehen“ wie beim „Adamgeschehen … um ein menschheitsgeschichtliches Ereignis handelt“, das „die gesamte Menschheit“ angeht, aber bevor „Paulus in V. 18-19 die Entsprechungen zwischen den beiden Vorgängen beschreiben kann“, muss er zunächst in V. 15-17 „auf ihre Differenzen aufmerksam“ machen.
Indem Paulus außerdem „erst in V. 13-14 und dann in V. 20 das Gesetzesthema in den Gedankengang von 5,12-21 einbaut“, lässt er erkennen, dass er „bei alledem aber auch den übergreifenden Zusammenhang der Darstellung seiner Theologie nicht aus den Augen verloren hat“. Dabei macht er Wolter zufolge (W362f.)
deutlich, dass das Gesetz, das seit Mose den Unterschied zwischen Israel und den Völkern zu empirischer Darstellung bringt, im Verhängniszusammenhang von Sünde und Tod keine Rolle gespielt hat. Auch der Tod gehört damit zu denjenigen Merkmalen, die Juden und Heiden miteinander gemeinsam haben und die den Unterschied zwischen ihnen bedeutungslos machen. Und wenn Paulus dann in V. 20 gewissermaßen komplementär dazu fragt, wie sich das Gesetz denn nun innerhalb des Zusammenhangs von Sünde und Tod ausgewirkt hat, muss er feststellen, dass es den Menschen nicht aus seinem Verhängnis befreit, sondern alles nur noch schlimmer macht. Paulus gewinnt dem Adamgeschehen damit noch einen weiteren Aspekt ab: Nicht nur erklärt er mit ihm die Bedeutung des Christusgeschehens, sondern er macht es auch zur Grundlage einer theologischen Anthropologie, die den Unterschied zwischen Juden und Heiden unerheblich werden lässt.
Aber ist diese Einschätzung Wolters wirklich der Weisheit letzter Schluss im Blick auf eine paulinische Anthropologie? Das wird von Jankowskis Auslegung her ebenso zu überprüfen sein wie die Annahme, die jüdische Tora sei für Paulus in grundlegender Weise abgetan, worauf Wolters Schlussworte seiner Zusammenfassung von Römer 5,12-21 hinauslaufen (W363):
Auch das Gesetz steht unter der Herrschaft der Sünde. Es kann die Menschen nicht vor der Sünde bewahren, und es kann sie schon gar nicht vom Verhängnis der Sünde befreien. lm Gegenteil: es hat zur Folge, dass die Sünde sich vermehrt und alle Menschen sich nur noch auswegloser in den Zusammenhang von Sünde und Tod verstricken.
↑ Römer 5,12: Durch einen Menschen kamen Sünde und Tod zu allen Menschen
5,12 Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist
und der Tod durch die Sünde,
so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen,
weil sie alle gesündigt haben.
[3. März 2025] Schon die beiden ersten Wörter von Römer 5,12 stellen nach Wolter ein Problem dar (W341), denn mit „dia touto {darum} will Paulus nicht eine Schlussfolgerung aus dem Vorangegangenen ankündigen“, sondern zu weiteren Ausführungen überleiten, deren Absicht sich „erst durch das, was folgt“, ergibt:
Die Fortsetzung hōsper di‘ henos anthrōpou {wie durch einen Menschen} nimmt das viermalige ‚durch Christus‘ zu Beginn und am Schluss von 5,1-11 auf (V. 1.2a.11a.b). Paulus kündigt dadurch an, dass er erläutern will, wie dieses ‚durch Christus‘ zu verstehen ist.
Somit stellt Römer 5,12 den Anfangsteil eines Vergleichssatzes dar, der aber am Ende des Verses abgebrochen und erst in Vers 18 wieder aufgenommen wird (W340):
a) Darum: Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist
b) und durch die Sünde der Tod
c) und somit zu allen Menschen der Tod gekommen ist,
d) weil alle gesündigt haben …
Als Begründung führt Wolter an (W341), dass in dem „Vergleich, zu dem Paulus in V. 12a mit hōsper {wie} ansetzt, … dem ‚Wie‘ … erst einmal kein ‚So‘“ entspricht. Zwar beginnt die dritte Zeile 12c mit kai houtōs, was Wolter aber mit „und somit“ übersetzt und als Fortführung des Vordersatzes in dem Vergleich betrachtet, zu dem Paulus ansetzt, während die Lutherbibel das kai im Ausdruck kai houtōs unterschlägt und in diesem houtōs das vermisste „so“ verortet <137>. Wolter wendet sich auch (W342, Anm. 3) gegen die Argumentation von Haacker <138>, der in der zweite Zeile 12b das Wort kai „im Sinne von houtōs kai {so auch} als Pendant zu hōsper {wie}“ auffassen will, wie das in Johannes 6,57 möglich ist, so dass der Vergleich lauten müsste: „wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, so auch durch die Sünde der Tod…“. Entscheidend ist für Wolter das Argument, dass „schon ab V. 14c und dann vollends in V. 18-19 … erkennbar“ wird, „dass es Paulus von Anfang an auf den Vergleich zwischen Adam und Christus ankommt“, wobei Adam allerdings (W342) „erst in V. 14 namentlich identifiziert wird.“
Inhaltlich spielt Paulus in 12a „auf die Erzählung vom Sündenfall Gen 2,16-17; 3,1-24 an“, aber dass er „von Adam als dem ‚einen Menschen‘ spricht und ihn ganz allein für die Entstehung der Sünde in der Welt verantwortlich macht, widerspricht dem Plot der biblischen Sündenfallgeschichte.“ Zwar sprechen auch schon viele jüdische Texte von der „Sünde Adams“, die Wolter in Anm. 4 und 5 erwähnt, aber (W342) nur
in Röm 5 und nirgendwo sonst ist Adam „der Eine“. Es ist darum wahrscheinlich, dass Paulus diese Charakterisierung von der Christus-Seite des Vergleichs aus vorgenommen hat: Weil Christus „der Eine“ ist, „durch“ den das Heil in die Welt gekommen ist, macht Paulus Adam zu „dem Einen“, der für das Unheil verantwortlich ist.
Wohl gegen gnostische Paulus-Interpretationen wendet sich Wolter folgendermaßen (W342f.):
kosmos ist hier wie auch anderswo nicht die gesamte Schöpfung, sondern die Menschenwelt. eis ton kosmon eiserchesthai bedeutet nicht ‚von außen in die Welt kommen‘, sondern ‚unter den Menschen entstehen / ins Dasein treten‘. Ebenso ist auch die Sünde nicht von außen in die Welt ‚eingetreten‘, indem sie Adam gewissermaßen als Einfallstor nutzte, sondern sie entstand in der Welt: „durch das Sündigen“ eines Menschen.
Durch diese Betrachtung Adams gelangt Paulus schließlich zu seiner Vorstellung von der Sünde als einer „überindividuellen Macht“ (W343):
Weil dieser eine Mensch gleichzeitig der erste Mensch war, der Stammvater der gesamten Menschheit, wurde die Sünde zu einer überindividuellen Macht, die die Herrschaft über alle Nachkommen Adams ergriff und die Unausweichlichkeit des Sündigens als ein Verhängnis über sie brachte, dem niemand entkommen kann. Vor Adams ‚Übertretung“ (V. 14b) gab es keine Sünde – weder „in der Welt“ noch sonstwo. Auf jeden Fall hat Paulus schon hier nicht mehr nur den „einen Menschen“ Adam im Blick, sondern bereits die gesamte Menschheit seit Adam.
In Vers 12b wird vom Tod dasselbe gesagt wie von der Sünde, nämlich dass auch er in die Menschenwelt gekommen ist. Auch, dass „die Sünde Adams den Tod zur Folge hat, steht schon in Gen 2,17; 3,3“, geht auch aus Gen 3,19.22 hervor und ist „Bestandteil der frühjüdischen Interpretation des Sündenfalls.“
Die beiden Versteile 12c und 12d beziehen sich überkreuz auf die ersten beiden Teile 12a-b:
Nachdem Paulus dort zunächst mit Bezug auf den „einen Menschen“ Adam die „Sünde“ und als deren Folge den „Tod“ ins Auge gefasst hatte, überträgt er diesen Zusammenhang nun auf „alle Menschen“, indem er erst die Unheilsfolge (den Tod; V. 12c) und dann die Ursache in den Blick nimmt…
Wie schon gesagt, schließt Paulus durch kai houtōs {und somit} (V. 12c) die „Folgerung“ an, dass durch „Adams Sünde … dessen gesamte Nachkommenschaft“ den Tod erleiden muss (W343f.):
Weil die Sünde seit Adam zur Seinsweise des Menschen gehört, gilt dasselbe auch für den Tod: Seit Adam wird kein Mensch geboren, auf den der Tod nicht immer schon wartete.
Das ist aber nicht etwa (W344) „lediglich in der einen Sünde des einen Menschen Adam“ begründet, sondern ist „für jeden einzelnen Menschen die Unheilsfolge seines je eigenen Sündigens“, was „Paulus in V. 12d“ feststellt (W340): „… weil alle gesündigt haben …“. Das, was Wolter hier mit dem schlichten Wörtlein „weil“ übersetzt, nämlich eph‘ hō {zusammengezogen aus epi + Dativ von hos = das}, hat (W344) „der Auslegung große Probleme bereitet“:
Theologiegeschichtlich am folgenreichsten war die Interpretation, die Augustin auf der Grundlage der lateinischen Übersetzung von eph‘ hō (in quo {in dem}) formuliert hat: Er verstand quo als maskulines Relativpronomen, das er auf den einen Menschen (V. 12a), also auf Adam, bezog: in illo homine peccaverunt omnes {in jenem Menschen haben alle gesündigt} … Auf diese Interpretation gründete sich in der westlichen Kirche die Lehre von der sog. ‚Erbsünde‘ (oder ‚Ursünde‘), dem peccatum originale originatum. Sie besagt, dass die Sünde Adams auf alle Menschen allein schon durch ihre Abstammung von Adam übergeht, d.h. bereits von ihrer Geburt an und ohne dass sie selbst gesündigt hätten … . <139>
Die meisten heutigen Exegeten halten inzwischen den „Bezug von eph‘ hō auf Adam“ für „unhaltbar …, denn dafür steht ‚durch einen Menschen‘ (V. 12a) viel zu weit von ihm entfernt“. Nach Wolter führt „kein Weg an einer kausalen Interpretation von eph‘ hō {aufgrund dem, dass} vorbei“, zumal Paulus eph‘ hō auch in 2. Korinther 5,4 und Philipper 3,12 in der Bedeutung von „weil“ verwendet.
Weiter hebt Wolter hervor (W345), dass für Paulus „das aktive Sündigen aller Menschen als Grund für die in V. 12c formulierte universale Unheilsfolge von Adams Sünde“ keine Einschränkung oder Ergänzung im Blick auf den „Verhängnischarakter der Sünde“ darstellt. Dieser erhält durch
das non posse non peccare {nicht imstande Sein, nicht zu sündigen} aller Menschen, das Paulus in Röm 7,13-25 im Blick auf den jüdischen Umgang mit der Tora beschreiben wird, … vielmehr erst seine erfahrbare Gestalt. Kein Mensch wird als Sünder geboren, und ohne gesündigt zu haben, ist auch kein Mensch ein Sünder.
Außerdem wird Wolter nicht müde zu betonen, dass Paulus mit pantes hēmarton {alle haben gesündigt} noch einmal „wiederholt …, was er schon in Röm 3,23 geschrieben hatte“, um „die Feststellung“ zu erläutern, „dass es zwischen Juden und Heiden keinen Unterschied gibt (3,22), weil die einen genauso wie die anderen vor Gott als Sünder dastehen.“ Wenn Wolter aber sagt, dass „diese Perspektive auch in 5,12 präsent ist und Paulus mit ‚alle Menschen‘ (V. 12c) und ‚alle‘ (V. 12d) ganz gezielt die Unterscheidung der Menschen in Juden und Heiden im Blick hat“, was „die Fortsetzung“ zeigen wird, frage ich mich: Könnte der Konzentration des Paulus auf diese Unterscheidung aber nicht auch zugrundeliegen, dass sie eben doch nicht einfach unerheblich ist und gerade zum Zweck der Überwindung der Feindschaft zwischen Juden und Völkern immer wieder thematisiert werden muss?
Letzteres Anliegen liegt nach Gerhard Jankowski dem Römerbrief des Paulus zugrunde. Ihm zufolge (J127) endete ja der „Midrasch über Abraham … mit einem Ausblick auf radikale Veränderung, Befreiung und auf neues Leben einer neuen Menschheit“, in der Juden und Gojim als mit Gott Versöhnte es auch lernen, als miteinander Versöhnte zu leben. So wie die Dinge in der Gegenwart stehen, kommen dem Paulus im Blick auf die Menschheit aber zunächst „die Hauptstichworte Sünde und Tod“ in den Sinn. Auch in der Schrift war es schon so, dass „da, wo der Mensch in den Blick kommt, Probleme entstehen“, und es ist die „Struktur der biblischen Erzählung über den Menschen“, der Paulus „in Andeutungen“ folgt, um sie „als ein Beispiel für die mögliche völlige Veränderung in seiner Gegenwart“ darzustellen. So gibt Jankowski auch den Beginn von Römer 5,12 mit „Daher wie zum Beispiel, dia touto hōsper“, wieder, womit er eine „Deutung der biblischen Erzählung über den Menschen“ einleitet, die ebenso „nüchtern und fast desillusionierend wie die biblische Erzählung“ selber ist (J127f):
Am Anfang der Mensch, anthrōpos/ˀadam. Nicht ein einzelner, sondern der Mensch oder die Menschheit. Geschaffen, um die Erde und den Boden zu bedienen. Der Mensch übertritt das Gebot, das um des Lebens auf der Erde willen gegeben worden war (Gen 2,16f.; 3,1-7). Durch die Übertretung des Gebotes kommt etwas in die gute Lebensordnung (kosmos sagt Paulus hier und das nicht abwertend, wie sonst bei ihm üblich) hinein, das sie stört und verletzt: die Sünde. Durch sie werden die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch nachhaltig gestört. Denn Sünde ist ja, was Menschen voneinander absondert, um die Bedeutung des deutschen Wortstammes im Wort Sünde hier aufzunehmen.
Nochmals beschreibt Jankowski ausführlich die Rolle des Gebotes, das Gott nicht etwa um seiner Herrschermacht willen aufstellt oder weil er die Menschen für Sklavendienste zum eigenen Wohl heranziehen will:
Das Gebot war um des Menschen willen gegeben worden. Es zeigte die Grenze auf, die zum Schutz des Lebens dient. Eine Überschreitung dieser Grenze bedeutete Tod: Der EWIGE gebot über den Menschen, sprechend: Von all den Bäume des Gartens magst du essen, essen, aber von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von dem sollst du nicht essen, denn an dem Tag, da du von ihm issest, mußt du sterben, sterben (Gen 2,17). Das Nein des Gebotes ist um des Ja zum Menschen willen gesagt (Breukelman <140>). Die Übertretung, die Sünde, nimmt das Nein nicht ernst und negiert so das Leben. Sie hat den Tod zur Folge, nicht nur für den einen Menschen, der sündigte, sondern für alle Menschen. Also für die Menschheit, weil alle sündigten. So gehört die Sünde zur Weltordnung hinzu. Das, was sie sein könnte, eine Lebensordnung, wird zu einer Unordnung, gezeichnet von Gewalt und Sünde.
Dass Paulus im Blick auf die Verfehlung des Guten „ganz der biblischen Anthropologie“ folgt, zeigt sich in „der Erzählung vom Menschen und seinem Bruder“, Kain und Abel, in der „zum ersten Mal in der Schrift das Wort Sünde“ auftaucht (1. Mose 4,7):
Ist es nicht so:
meinst du Gutes, trag es hoch,
meinst du nicht Gutes aber:
vorm Einlaß Sünde, ein Lagerer,
nach dir seine Begier –
du aber walte ihm ob.Der Mensch beherrscht aber die Sünde nicht, sondern läßt sich von ihr beherrschen. Er tötet seinen Bruder. Und so tritt dann auch zum ersten Mal der Tod auf. Der potenziert sich geradezu in einer Kette von Gewalt unter den Menschen. Der Mensch ist in der Gewalt des Todes durch die Sünde, die Übertretung, die er begeht. So wird aus der Mensch-Werdung eine Unmensch-Werdung.
↑ Römer 5,13- 14b: Von Adam bis Mose herrschte der Tod auch über die Menschheit, die ohne Tora und nicht in Entsprechung zu Adam sündigte
5,13 Denn die Sünde war wohl in der Welt, ehe das Gesetz kam;
aber wo kein Gesetz ist, da wird Sünde nicht angerechnet.
5,14a Dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose
b auch über die, die nicht gesündigt hatten
durch die gleiche Übertretung wie Adam…
[4. März 2025] Nach Michael Wolter (W345) erinnert der
Übergang von V. 12 zu V. 13 … an die Übergänge von 2,6-11 zu 2,12, von 3,9-18 zu 3,19, von 3,30 zu 3,31 und von 4,11b-12 zu 4,13, denn hier wie dort kommt Paulus sofort auf das Gesetz zu sprechen, nachdem er zuvor (in 5,12c-d) betont inklusive, Juden und Heiden zusammenschließende Feststellungen formuliert hatte.
Den Inhalt der Verse Römer 5,13-14b interpretiert Wolter von vornherein als eine „Abgrenzung von der Tora, die Paulus … vornimmt“, und er meint diese „auch hier als Abgrenzung von der Unterscheidung zwischen Juden und Heiden“ verstehen zu müssen. Dabei antwortet Paulus nicht etwa auf „einen möglichen Einwand gegen das in V. 12 Gesagte“, sondern er nutzt „die in V. 12 vorgetragene Adam-Interpretation, die sich ganz im Rahmen des im Judentum Üblichen bewegt“, als weiteren „Beleg für seine seit 1,16 immer wieder formulierte These ist: dass Gott zwischen Juden und Nichtjuden keinen Unterschied macht.“
Die Verse 13-14b „unterstreichen“ daher „die universale Dimension der in V. 12c-d formulierten Feststellungen“, indem Paulus bemerkt (W345f.), dass „die Menschen schon vor der Offenbarung der Tora (achri nomou {bis zur Tora} oder apo Adam mechri Mōyseōs {von Adam bis Mose} [V. 14a]) gesündigt haben.“ Damit markiert Paulus Wolter zufolge (W346) den von Günter Klein <141> so genannten „anthropologischen ‚Vorsprung der Sünde vor dem Gesetz‘, der den Unterschied zwischen Juden und Heiden bedeutungslos macht.“ Dennoch muss Wolter aber einräumen:
Von der Sünde Adams und den Sünden seit Mose unterscheiden sich die Sünden zwischen Adam und Mose freilich dadurch, dass sie eine andere empirische Gestalt haben: Es handelt sich bei ihnen nicht um parabasis, d.h. um „Übertretung“ von Geboten. Diese Gestalt hatte die Sünde bei Adam, der das Gebot von Gen 2,16-17 übertrat, und diese Gestalt kann die Sünde erst wieder nach der Offenbarung der Tora am Sinai bekommen, weil erst jetzt wieder Gottes Gebote übertreten werden können. Wenn Paulus diese Gleichartigkeit der empirischen Gestalten von Sünde bei Adam und seit Mose mit dem Begriff homoiōma charakterisiert, so schreibt er ihnen damit sowohl Gemeinsamkeit als auch Unterschied zu: Sie gleichen einander, weil in beiden Fällen Gottes Gebot übertreten wird; sie unterscheiden sich voneinander, weil Adam und die Menschen nach Mose unterschiedliche Gebote übertreten haben.
Nun zu Vers 13b. Da dieser Satz: hamartia de ouk ellogeitai mē ontos nomou {Sünde aber wird nicht verbucht, solange es kein Gesetz gibt} „im Präsens“ steht und „sich dadurch vom Kontext“ unterscheidet, meint Wolter den Schluss ziehen zu können, „dass Paulus hier ein Common-Sense-Argument formulieren will, das für die Tora genauso gilt wie für jedes andere Gesetz.“ In meinen Augen macht das wenig Sinn. Mir erschließt sich hier genau so wenig wie bereits im Blick auf Römer 4,14-15, warum sich Paulus innerhalb desselben Satzes mit nomos einmal auf die Tora und dann allgemein auf jedes Gesetz beziehen sollte. Wollte Paulus hier die Gesetze anderer Völker ins Auge fassen, müsste er dann nicht auch zugestehen, dass den Völkern ihre Sünden nach ihren eigenen Gesetzen angerechnet werden? Darum scheint es ihm aber überhaupt nicht zu gehen.
Was aber heißt nun eigentlich ellogeitai? Wolter übersetzt es mit „verbucht“, weil das Wort ellogein in „Papyri und Inschriften … als terminus technicus des Handels- und Rechnungswesens gebraucht“ wird. Es wird (W346f.)
aus den Worten „en logō (tithēmi) gebildet und bezeichnet mit Dativ (wie in Phlm 18) oder ohne Dativ das In-Rechnung-Stellen einer finanziellen Forderung, aber auch die Anrechnung einer zu zahlenden Summe.
Mit der Metapher (W347) „vom ‚Verbuchen‘ der Sünde“ stellt Paulus Sünde ähnlich wie in Matthäus 6,12; 18,23-35 oder Kolosser 2,14 „in Analogie zu finanziellen Schulden“ dar:
Auf der Sachebene denkt er vermutlich an so etwas wie eine himmlische Buchführung, nach der die menschlichen Taten laufend in Büchern verzeichnet werden.
In Vers 14a stellt Paulus trotz des soeben Gesagten „die Unabhängigkeit der Sünde vom Gesetz fest“, da sie „für die Entfaltung ihrer Unheilswirkung nicht auf das Gesetz angewiesen“ ist:
Auch ohne dass die Menschen zwischen Adam und Mose ein Gebot übertreten haben und so ihre Sünde „registriert“ oder „verbucht“ wurde, haben sie den Tod als die in Gen 2,17 angekündigte Ergehensfolge der Sünde erlitten. Der Tod der Menschen zwischen Adam und Mose wird so zum Erkenntnisgrund für das Vorhandensein von Sünde in dieser Zeit und für ihre Autonomie gegenüber dem Gesetz. Man kann darum gerade nicht sagen, dass das Gesetz „für die universale katastrophale Folge der Sünde … von ausschlaggebender Bedeutung“ ist. <142> Das schafft die Sünde auch alleine.
Wolter begründet diese Sicht der Dinge, indem er „die Stellung des kai {auch} in V. 14b“ betrachtet (W347f.) :
Wenn Paulus hier schreibt, dass der Tod „auch über die regierte“, die nicht durch Gebotsübertretung gesündigt haben, so kommen auf der anderen Seite des kai diejenigen zu stehen, die „nach dem Modell der Übertretung Adams“, d.h. durch Gebotsübertretung, sündigen. Damit führt Paulus eine Unterscheidung ein, die derjenigen von 2,12 sehr nahe kommt: Mit den Worten dieses Verses gesagt, haben die Menschen zwischen Adam und Mose anomōs {ohne Gesetz} gesündigt, während an der Stelle von „nach dem Modell der Übertretung Adams sündigen“ (5,14b) in 2,12 „en nomō {mit Gesetz} sündigen“ steht. In Röm 5 ,13-14 geht es wie in 2,12 darum, die Bedeutung der Tora zu relativieren, weil sie es ist, die den Unterschied zwischen Israel und den Völkern zum Ausdruck bringt. Dem Tod ist dieser Unterschied egal.
Die Frage ist aber, ob dem Paulus dieser Unterschied wirklich so „egal“ ist, wie Wolter das annimmt. Nach Gerhard Jankowski erfolgt die Erwähnung von Mose (er nennt ihn „Mosche“) in diesem Zusammenhang nicht ohne Grund (J129), denn dieser „markiert einen tiefen Einschnitt“ in der Menschheitsgeschichte. Vor Mose, also in der Zeit von Adam bis Mose, wird nach Paulus (J128f.) der Mensch
von dem beherrscht, was nicht zu ihm gehört: von dem gewaltsamen Tod. Der übt Herrschaft aus wie ein König (basileuein), ist die alles bestimmende Macht. Die wird sehr konkret in der Macht der irdischen Könige. Vor allem wohl auch in dem einen, der exemplarisch für jegliche Königsherrschaft steht: Pharao, König von Ägypten. Obwohl der nicht genannt wird, steht er mit im Hintergrund. Denn Paulus läßt die Königsherrschaft des Todes begrenzt sein: Sie dauerte von Adam bis Mosche, so sagt er.
Was geschieht durch Mose? Was Wolter nur als beiläufig-allgemeine Formulierung über jegliches Gesetz versteht, dass Sünde ohne Gesetz nicht verbucht wird, versteht Jankowski (J129) als eine inhaltliche Aussage über die durch Mose vermittelte „Gabe der Thora“:
Die Thora, gegeben zum Leben, macht erst bewußt, was Sünde ist und was sie bewirkt. Sie definiert gleichsam die Sünde. Sie wird erkennbar und benennbar. Das Leben kann nun mit der Thora auch gegen den Tod gestaltet werden. Mit der Gabe der Thora beginnt so gleichsam eine neue Mensch-Werdung. Menschheit kann seit der Gabe der Thora unter anderen, veränderten menschlichen Bedingungen leben. Sie kann die Weltordnung, bestimmt von Sünde und Tod, anders definieren und wieder zur guten Ordnung werden lassen. <143>
Das geschieht nach Jankowski dadurch, dass
mit der Gabe der Thora … ein Teil der Menschheit exemplarisch als befreit anerkannt [wird]. Aus einem unterdrückten Volk wird ein befreites Volk: Israel, Gottes Volk. Nicht herrscht mehr der König Ägyptens oder sonst einer der Könige über dieses Volk. Gott tritt in Israel die Königsherrschaft an. Die Herrschaft des Todes wird abgelöst.
Während also Wolter den durch Adams Sünde heraufbeschworenen Tod auf den natürlichen Tod jedes Menschen bezieht, geht Jankowski davon aus, dass Paulus wie schon die jüdische Tradition, von der her er argumentiert, den durch gesellschaftliche Unterdrückungsstrukturen entstehenden gewaltsamen Tod als Folge des Sündenfalls betrachtet. Die rabbinischen „Lehrer Israels“ bestätigen nach Jankowki diese Sichtweise, denn sie
interpretieren den Satz aus Ex 32,16 „und die Tafeln (mit den Zehn Worten), Werk Gottes sie, und die Schrift, Schrift Gottes sie, gegraben in die Tafeln“ so: „Was bedeutet gegraben/charut? R. Judah sagte: Lies nicht charuth/gegraben, sondern cherut/frei von Gefangenschaft. R. Nehemiah meinte, das bedeute frei vom Engel des Todes. R. Eleazar, Sohn des R. Jose des Galiläers, sagte: Sollte der Engel des Todes gegenüber Gott erklären können: ‚Du hast mich vergeblich in dieser Welt geschaffen.‘ Und er wird antworten: ‚Ich habe dir die Kontrolle über jedes Volk in der Welt gegeben, außer über dieses Volk, dem ich die Freiheit gegeben habe.‘“ <144>
So gesehen müsste seit Mose „der Teil der Menschheit, dem die Thora anvertraut wurde, nicht mehr unter den Bedingungen des Todes“ leben, wenn er denn fähig wäre, die Tora zu befolgen. Die anderen, die „die Thora nicht angenommen“ haben, haben zwar „nicht in der gleichen Art wie Adam gesündigt … (5,14)“, aber über sie „herrscht der Tod weiter“. Um „die Frage ausführlicher beantworten zu können“, was es mit diesem „größeren Teil der Menschheit“ auf sich hat, „muß gerade bei Adam/Menschheit angesetzt werden. Paulus bezeichnet Adam/Menschheit als typos, Bild des Zukünftigen.“ Diese kurze Bemerkung verdient gesonderte Beachtung.
↑ Römer 5,14c: Was bedeutet es, dass Adam der typos des Zukünftigen ist?
[… Adam,] welcher ist ein Bild dessen, der kommen sollte.
[5. März 2025] Nach Michael Wolter (W348) „kehrt Paulus“ mit den letzten Worten von Römer 5,14, hos estin typos tou mellontos {der ist das Muster des Zukünftigen} zu dem in Vers 12a begonnenen „Vergleich von Christus mit Adam“ zurück: „Der mellōn {Zukünftige}, als dessen typos Adam hier bezeichnet wird, soll Christus sein.“ Keinesfalls (Anm. 34) kann mellontos als Neutrum auf ein kommendes „Geschehen“ oder auf „die Realität der Gesetzesübertretung“ bezogen werden, da „Paulus den Typos-Charakte Adams durch die Entsprechung zu Christus bestimmt sieht“, was eindeutig (W348) aus der „Fortsetzung in V. 15-17 und V. 18-19“ hervorgeht. Wolter wendet sich aber auch (Anm. 35) gegen den „Weg namens ‚Typologie‘ oder ‚typologische Schriftauslegung‘“, auf dem L. Goppelt <145> die Paulusforschung nachhaltig in die Irre geführt“ hat, da seines Erachtens (W348) „lediglich zum Ausdruck bringen“ will, „dass es zwischen Adam und Christus so etwas wie eine semantische Schnittmenge gibt, dass die beiden also etwas miteinander gemeinsam haben.“
Das metaphorisch verwendete Wort typos entstammt dem „Vorgang des Prägens durch ‚Schlagen‘ (typtō)“, wobei typos „sowohl für das Prägende … wie für das Geprägte“ stehen kann. Um den Begriff zu verstehen, sind immer „zwei Größen“ im Blick (W349): „auf der einen Seite etwas, das eine Form oder Gestalt gibt, und auf der anderen Seite etwas, das eine Form oder Gestalt empfängt.“ Metaphorisch kann typos demzufolge „sowohl das ‚Muster‘ oder das ‚Vorbild‘ heißen, nach dem etwas angefertigt oder abgebildet werden soll, als auch umgekehrt das ‚Abbild‘, das etwas darstellen soll“. So wird in 2. Mose 25,40 „das himmlische ‚Modell‘ des Tempels, das Mose nach Ex 25,9 ‚gezeigt‘ wurde“, typos genannt, während umgekehrt „die Darstellungen von Göttern bei Josephus <146> … typoi tōn theōn {Bilder der Götter}“ heißen. Schließlich gilt wie in Römer 5,14c auch In 1. Korinther 10,6 „historisch Früheres als typos von historisch Späterem“, indem „Israels Väter in der Wüste als ‚unsere typoi {Vorbilder}‘“ bezeichnet werden. Aus all dem ergibt sich, dass „Paulus … das Adamgeschehen als Modell“ einführt, „um mit seiner Hilfe die Bedeutung des Christusgeschehens zu veranschaulichen. … In beiden Fällen bestimmt das Tun und Ergehen eines Menschen das Geschick Vieler.“ Dieses „typologische Entsprechungsverhältnis von Adam und Christus“ ist allerdings „durchaus nicht ‚ausschließlich und einseitig antithetisch strukturiert‘“, wie D.-A. Koch meint, denn in den Versen 18-19 wird Paulus ausführen,
was Adam und Christus miteinander gemeinsam haben und was Adam zum typos Christi werden lässt. Weil Paulus aber weiß, dass es auch bedeutsame Unterschiede zwischen Adam und Christus gibt, bespricht er erst einmal [in den Versen 15-17], was sie voneinander trennt…
Gerhard Jankowski (J130) äußert sich zum Stichwort typos ganz ähnlich wie Wolter:
Typos ist das Geprägte, Geformte (von typtein, schlagen). Daraus wird dann die Form oder der Umriß, von dem ein Bild gemacht werden kann. Vorbild ist dann eine mögliche Übersetzung. Manchmal kann das Wort auch die Bedeutung von Charakter haben. Das im heutigen Sprachgebrauch gängige Wort Typ kommt der Bedeutung nahe. Wir lassen es bei der schlichten Übersetzung mit Bild.
Und auch er geht auf die kontroverse Diskussion unter den christlichen Exegeten ein (J129f.):
Mit dem Wort typos begegnet uns ein Begriff, der für die weitere christliche Interpretation grundlegend werden sollte. Die Diskussion ist bis heute kontrovers. Weil im weiteren Adam mit dem Christus verglichen oder zu diesem in Beziehung gesetzt wird, faßte man diese Beziehung, ausgehend vom Wort typos, unter der Bezeichnung „Adam-Christus-Typologie“. Kontrovers ist schon die Frage, wie typos zu übersetzen ist. Meint es Vorbild oder Gegenbild? Die Interpretation ist dann immer Folge der entsprechenden Übersetzung. Entweder wird Adam von Christus her interpretiert oder eben Christus von Adam her. Bei dieser gewichtigen Diskussion sind nicht nur Nuancen des Textes übersehen worden, nicht zuletzt deswegen, weil sie der gängigen Interpretation hinderlich und störend waren.
Einmal mehr beruft sich Jankowski hier auf Marquardt [216f. und 232], der
vehement darauf hingewiesen hat, daß hier neben Adam und Christus auch noch Mosche im Spiel ist. Und es ist Mosche, der die Adam-Christus-Typologie hier empfindlich stört. Der Weg von Adam zu Christus, von der Menschheit zu einer neuen Menschheit, führt eben nur über Mosche.
Um zu verstehen, worauf Jankowski hinaus will, ist es hilfreich, noch einmal direkt in die Christologie von Marquardt hineinzuschauen. Grundsätzlich hält dieser es für unbiblisch [218], „das Besondere, also Jesus Christus, vom Allgemeinen her“ zu beleuchten, „also von Adam, von der Menschheit her“, vielmehr muss das „Allgemeine, die Menschheit, … vom Besonderen, von Christus her, beleuchtet und verstanden“ werden. Zudem muss „überhaupt die Verstehenskonstellation“ angegriffen werden,
die uns in dem Ausdruck Adam-Christus-„Typologie“ suggeriert wird. Unter dieser Überschrift sieht es so aus, als ginge es in unserem Abschnitt wirklich nur um die Beziehung Adams, des Menschheitsmenschen, zu Jesus Christus und um die Beziehung Jesu Christi zu Adam, dem Menschheitsmenschen. Das ist aber in unserem Abschnitt gar nicht der Fall. Unterschlagen wird in diesem Titel nämlich der neben Adam und Christus auch auftauchende Mose, der in 5,14 namentlich und überall da, wo in unserem Abschnitt vom „Gesetz“ die Rede ist, auch sachlich genannt wird, besonders in 5,20. Das heißt aber, daß wir es in unserem Abschnitt gar nicht nur mit dem Doppel Adam-Christus zu tun bekommen, sondern mit dem Trio Adam-Mose-Christus. Gerade dies Dreicksverhältnis gehört ja notwendig zu der Grundfrage des Römerbrief-Zusammenhangs: Wie steht es mit der Menschheit, also mit Adam, im Christusverhältnis angesichts des Mose, der Tora, des Gesetzes Israels, das ja die Menschheit heilsgeschichtlich differenziert? Von Mose kann gar nicht geschwiegen werden, wenn in der Bibel die Menschheitsfrage auf dem Tische liegt. Wenn aber Mose verschwiegen wird, zeigt dies schon im Aufbau der theologischen Fragestellung und bei der Wahl der Nomenklatur ein Abirren von dem biblischen Denken des Paulus. Bei ihm können Christus und Adam nicht allein miteinander sein; Mose ist der Dritte im Bunde, er gehört dazu.
Konkret wird sich nach Marquardt [232] die Interpretation von Römer 5,12-21 als einer „Dreiecksgeschichte“ folgendermaßen auswirken:
Lesen wir freimütig, was Paulus sagt, dann dient Mose dem Adam dafür, daß er sich in Christus erkennen kann – nicht idealtypisch, sondern real als Mensch. Und so dient Mose – nach Paulus – dem Adam zu seiner Verwandlung vom wirklichen zum wahren Menschen, zum vere homo.
Wir werden in der Auslegung der folgenden Verse prüfen müssen, ob diese Herangehensweise angemessen ist, oder ob doch Wolter mit seiner Auffassung Recht behält, dass Mose und die Tora angesichts der Einebnung aller Unterschiede in einer an Christus glaubenden Menschheit ihre Bedeutung verloren haben. Jankowski stellt die Frage:
Wer ist der oder das Zukünftige, dessen Bild Adam/Mensch ist? Eine erste Antwort darauf geben die nächsten Sätze.
↑ Römer 5,15-17: Unterscheidungen im Blick auf Adam und Christus, auf den Einen und die Vielen
5,15 Aber nicht verhält sich‘s mit der Gnadengabe wie mit der Sünde.
Denn wenn durch die Sünde des Einen die Vielen gestorben sind,
um wie viel mehr ist Gottes Gnade und Gabe
den Vielen überreich zuteilgeworden
in der Gnade des einen Menschen Jesus Christus.
5,16 Und nicht verhält es sich mit der Gabe
wie mit dem, was durch den einen Sünder geschehen ist.
Denn das Urteil hat von dem Einen her zur Verdammnis geführt,
die Gnade aber hilft aus vielen Sünden zur Gerechtigkeit.
5,17 Denn wenn wegen der Sünde des Einen
der Tod geherrscht hat durch den Einen,
um wie viel mehr werden die,
welche die Fülle der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen,
herrschen im Leben durch den Einen, Jesus Christus.
[6. März 2025] Die drei Verse Römer 5,15-17 enthalten (W349)
auffallend häufig Nomina mit der Endung -ma: paraptōma {Verfehlung} (V. 15b.f.16h.17b), charisma {Gnadengeschehen/-geschenk} (V. 15d.16g), dōrēma {Geschenk} (V. 16c), krima {Urteil} (V. 16d), katakrima {Verurteilung} (V. 16f) und dikaiōma {Gerechtigkeit} (V. 16i). Es handelt sich um sog. nomina rei actae {Hauptwörter einer getanen Sache}, mit denen eine Handlung unter Einschluss ihres Ergebnisses bezeichnet wird.
Vers 15 auf der einen und die Verse 16-17 auf der anderen Seite (W350) verlaufen „über weite Strecken parallel“, eine Struktur, die ich mit Hilfe von Wolters Übersetzung (W340) möglichst übersichtlich darzustellen versuche, indem ich den in normaler Schrift wiedergegebenen Satzteilen von Vers 15 die fett hervorgehobenen Entsprechungen der Verse 16-17 in den jeweils folgenden Zeilen gegenüberstelle:
15a all‘ ouch hōs {Aber nicht wie}
16a kai ouch hōs {Und nicht wie}
15b to paraptōma {die Verfehlung}
16b di‘ henos hamartēsantos {durch einen, der gesündigt hat},
15c houtōs kai {(ist) auch}
15d to charisma; {das Gnadengeschehen}:
16c to dōrēma {(ist) das Geschenk}:
16d to men gar krima {Denn das Urteil (führte)}
16e ex henos {von Einem}
16f eis katakrima {zur Verurteilung},
16g to de charisma {das Gnadengeschenk aber}
16h ek pollōn paraptōmatōn {von vielen Verfehlungen}
16i eis dikaiōma {zur Gerechtigkeit}.
15e ei gar {Denn wenn}
17a ei gar {Denn wenn}
15f tō tou henos paraptōmati {durch des Einen Verfehlung}
17b tō tou henos paraptōmati {aufgrund der Verfehlung des Einen}
15g hoi polloi apethanon {die Vielen gestorben sind},
17c ho thanatos ebasileusen dia tou henos {der Tod die Herrschaft ergriffen hat durch den Einen},
15h pollō mallon {um wieviel mehr}
17d pollō mallon {um wieviel mehr}
15i hē charis tou theou kai hē dōrea en chariti {ist die Gnade Gottes und das Geschenk voll Gnade},
17e hoi tēn perisseian tēs charitos kai tēs dōreas tēs dikaiosynēs lambanontes {werden diejenigen, die die reiche Fülle der Gnade und des Geschenk der Gerechtigkeit empfangen},
15j tē tou henos anthrōpou Iēsou Christou {die (Gott durch) den einen Menschen Jesus Christus (gegeben hat)},
17f en zōē basileusousin {im Leben herrschen}
15k eis tous pollous eperisseusen {den Vielen überreich zuteil geworden}.
17g dia tou henos Iēsou Christou {durch den Einen, Jesus Christus}.
Indem Paulus „beide Teile mit denselben Worten (ouch hōs {nicht wie}; V. 15a.16a)“ eröffnet, stellt er fest, „dass Adamgeschehen und Christusgeschehen sich voneinander unterscheiden (V. 15b-d und V. 16b-c).“ Das Ende der beiden „Argumentationsgänge“ bilden „pollō-mallon-{um-wieviel-mehr-}Argumente“, die „zum Teil auch begrifflich parallel sind“. Ganz zum Schluss hat Paulus allerdings die
Reihenfolge der beiden letzten Zeilen V. 15j-k … in V. 17f-g umgedreht (hier entsprechen sich V. 15j und V. 17g) – vermutlich weil er die gesamte Einheit in Entsprechung zu V. 17c mit einer betonten dia-Christou-Formulierung abschließen wollte.
Der „strukturellen und begrifflichen Entsprechung“ entspricht auf beiden Seiten jedoch keine inhaltliche Parallelität:
Paulus entfaltet den Unterschied zwischen dem Adamgeschehen und dem Christusgeschehen vielmehr unter drei Aspekten. Sie sind dadurch miteinander verbunden, dass in ihnen allen jeweils das Prinzip der Gnade Gottes auf der Heilsseite zum entscheidenden Argument wird (V. 15i.16g.17e).
Beginnen wir mit dem ersten Aspekt in Vers 15 (W351): In Vers 15a-d bezeichnet auf der Adamsseite to paraptōmata {die Verfehlung} „nicht nur die Tat Adams, sondern schließt auch ihre Unheilsfolge für die von ihm abstammende Menschheit ein.“ Ihr stellt Paulus „als antithetischen Korrespondenzbegriff auf der Christusseite to charisma {das Gnadengeschehen} gegenüber“, einen Begriff, der Wolter zufolge allerdings „nicht die Tat des Adam entsprechenden ‚Zukünftigen‘ (V. 14c), sondern deren Heilsfolge“ bezeichnet. Mit dem Begriff charisma bringt Paulus „Gott ins Spiel, denn nur er kommt als Geber der charis und ihrer Heilsfolge in Frage.“ Genau dieses „Gegenüber … von Adams Tat“ und dem „Handeln Gottes“ wird in 15f und 15i wiederholt, wobei in 15j „Christus … lediglich in einer appositiven Näherbestimmung zu en chariti {voll Gnade} erwähnt“ wird:
Die Gnade ist immer die Gnade Gottes, der im Christusgeschehen „den Vielen“ sein Heil gnädigerweise geschenkt hat. Der Geber des Gnadengeschenks bleibt Gott selbst; sein Inhalt ist das Heil, das er durch das Geschick des „einen Menschen Jesus Christus“ den Vielen zueignet.
Interessant finde ich, dass nach Wolter der Ausdruck hoi polloi {die Vielen} in 15g und 15k auf verschiedene Menschengruppen bezogen werden muss. In Vers 15g sind dieselben gemeint wie die in Vers 12 mit „kosmos {Welt} und pantes anthrōpoi {alle Menschen}“ Bezeichneten, während (W352) „die Vielen“ in Vers 15k sich auf „die ‚Gerechtfertigten‘ (V. 1.9) und die ‚Versöhnten‘ (V. 9)“ bezieht, die im Abschnitt 5,1-11 erwähnt wurden:
Derselbe Abschnitt beantwortet auch die Frage, worin denn „die Gnade Gottes und das Geschenk voll Gnade“ (V. 15i) besteht, das den „Vielen“ bereits jetzt (Aorist!) „überreich zuteil geworden ist“: „Gerechtigkeit“ (V. 1.9). „Friede mit Gott“ (V. 1), „Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes“ (V. 2) und „Versöhnung“ (V. 10.11).
Dass „die Heilsfolge des Christusgeschehens die Unheilsfolge des Adamgeschehens bei weitem überbietet“ und beide somit unvergleichbar sind,
umschreibt Paulus in V. 15k mit dem Verb perisseuein {überreich zuteil werden}. Das Heil, das Gott durch die Gnade des Christusgeschehens schenkt, hebt das Unheil, das der eine Mensch Adam über die Menschen gebracht hat, nicht lediglich auf, sondern es geht weit darüber hinaus. Seinen Grund hat dieser Überschuss darin, dass Gott es ist, der im Christusgeschehen durch den einen Menschen zum Heil aller anderen Menschen gehandelt hat.
Als „Voraussetzung dieser Argumentation“ sieht Wolter im Hintergrund den Christus-Glauben, „der nach Röm 3,25 im Tod Jesu das rechtfertigende Heils- und Erlösungshandeln Gottes erkennt“.
Im „neuen Vergleich“, den Paulus in Vers 16a-c eröffnet, „um den Unterschied zwischen Adam und Christus sichtbar zu machen“, verzichtet er gegenüber 15c auf das houtōs kai {so auch} und fasst „beide Vergleichsseiten in einer einzigen Aussage zusammen“. Hier steht mit di‘ henos hamartēsantos {durch einen, der gesündigt hat} und to dōrēma {das Geschenk} „nicht nur eine Person einer Sache gegenüber, sondern auch Unheilsursache (V. 16b) und Heilsfolge (V. 16c).“
In Vers 16d-i arbeitet er „die unterschiedlichen Voraussetzungen heraus, auf denen Unheilsfolge und Heilsfolge basieren.“ Dabei stehen 16d-f und 16g-i einander parallel gegenüber, wobei sich (W353) in „den Zeilen e und h“ zwar wieder „Person und Sache“ entsprechen, aber „das dortige Gegenüber von Unheilsursache und Heilsfolge nunmehr so verändert“ wird,
dass der Ursache des Unheils (ex henos {von Einem}; V. 16e) mit ek pollōn paraptōmatōn {von vielen Verfehlungen} (V. 16h) nunmehr der Ausgangspunkt gegenübergestellt wird, von dem aus es zur Heilsfolge (dikaiōma; V. 16i) kam. pollōn {vielen} in V. 16h ist Adjektiv.
Ausdrücklich kommt hier das „Christusgeschehen … überhaupt nicht vor.“ Stattdessen macht „Paulus den Unterschied zwischen Adam und Christus“ am „Unterschied zwischen krima {Urteil} und charisma {Gnadengeschenk}“ fest:
Auf der Unheilsseite genügte die Verfehlung eines einzigen Menschen, um das Todesverhängnis über die gesamte Menschheit zu bringen (mit katakrima {Verurteilung} umschreibt Paulus das Geschehen von V. 12b-d). Demgegenüber führt auf der Heilsseite eine Vermehrung der Verfehlungen nicht zu noch größerem Unheil, sondern mündet in Heil. Nicht Adam und Christus stehen sich hier also gegenüber – und auch nicht wie in V. 15 Adam und Gott –, sondern Adam und die von ihm abstammende Menschheit, unter der sich die Sünde Adams vermehrt hat.
Diese „Vermehrung der Sünden“, zu der es nicht nur durch die Vermehrung der Sünder, sondern auch „dadurch gekommen“ ist, „dass die Sünden sich bei jedem einzelnen Sünder vervielfacht haben“, so dass Paulus „die eine Sünde des einen Adam mit den vielen Sünden der vielen Sünder“ vergleicht, bringt Wolter letzten Endes mit dem „Gesetzesthema“ in Verbindung, das „zwischen den Zeilen präsent“ ist, „denn nach V. 20a-b ist es das Gesetz, das für die Vermehrung der Übertretungen verantwortlich ist.“
Paulus will also in Vers 16 „den paradoxen Charakter der Heilsfolge (des dōrēma {Geschenk}; V. 16c) sichtbar“ machen, das „ein ‚Geschenk voll Gnade‘ (charisma [V. 15d.16g]; dōrea en chariti [V. 15i])“ ist. Wenn (W353f.) „auf Seiten der Menschen Gottes Rechtfertigung (dikaiōma; V. 16i) angesichts ‚vieler Verfehlungen‘ erfolgte“, wird wie
schon bei der Gegenüberstellung von Adam und Gott in V. 15 … auch in V. 16 erkennbar, dass rein komparativische Kategorien nicht ausreichen, um die Differenz zwischen der Adamseite und der Christusseite zu beschreiben. Die Heilsseite ist nicht lediglich eine Überbietung der Unheilsseite, sondern sie ist von ihr kategorial verschieden. lnsofern sind Adam und Christus in der Tat eigentlich nicht miteinander vergleichbar. Eben das geht auch aus V. 17 hervor.
In Vers 17 schließt „Paulus über V. 16 hinweg an die in V. 15 a-d formulierte Einleitung an“, wofür „vor allem die sehr weitgehende Entsprechung von V. 17 und V. 15e-k“ spricht. Er wiederholt „aber nicht einfach das Argument von V. 15e-k“, sondern
geht in V. 17 über den zuvor beschriebenen Horizont der Heilsfolge des Christusgeschehens hinaus, indem er auf der Christus-Seite nicht mehr zurückschaut, sondern den Blick in die Zukunft lenkt: Er nimmt dafür die in V. 15i-k noch im Rückblick beschriebene Heilsfolge (hē charis tou theou … eperisseusen {die Gnade Gottes … wurde überreich zuteil}) in V. 17e auf und macht sie zum Bestandteil einer Aussage über die Gegenwart, die dann als Ausgangspunkt für den Blick in die Zukunft fungiert: hoi tēn perisseian tēs charitos … lambanontes … basileusousin {die die reiche Fülle der Gnade … empfangen, … werden herrschen}.
Damit geht es „um nicht weniger als um die endgültige Überwindung des Todes, der als Unheilsfolge der Sünde Adams über die Menschen gekommen ist (V. 12a-b).“
Indem „Paulus … dem Christusgeschehen damit eine Perspektive“ gibt, „die derjenigen von 1Kor 15,26 entspricht, wonach bei der Parusie Jesu ‚als letzter Feind‘ der Tod vernichtet wird und seine Herrschaft über die Menschen verliert“, kündigt er für die „Zukunft“ eine „Heilsfolge des Christusgeschehens“ an (W355), die „sich von der Unheilsfolge des Adamgeschehens also nicht nur dadurch“ unterscheidet, „dass es eine Heilsfolge ist, sondern auch dadurch, dass sie von ewiger Dauer ist.“
Wieder passen „die beiden Hälften des pollō-mallon-Arguments“ auf der „Adamseite und Christusseite … eigentlich nicht zueinander“, denn die
Feststellung ho thanatos ebasileusen {der Tod hat die Herrschaft ergriffen} (V. 17c) auf der Adamseite hat auf der Christusseite keine genaue Entsprechung. Ihr steht in V. 17e nicht eine Aussage über die Machtergreifung und die Herrschaft des ‚Lebens‘ gegenüber. Es sind hier vielmehr die Empfänger ‚der reichen Fülle der Gnade und des Geschenks der Gerechtigkeit‘, mithin also die dikaioumenoi {Gerechtfertigten} aus Röm 3,24, die dikaiōthentes ek pisteōs {aus Glauben Gerechtfertigten} aus 5,1.9, die katallagentes {Versöhnten} aus 5,10 oder überhaupt die christlichen Wir aus 5,1-11, von denen Paulus sagt, dass sie „im Leben herrschen werden“.
Erstaunlich ist, dass Wolter weiterhin nicht mehr nur allgemein von einem Heil „von ewiger Dauer“ spricht, das sich auch auf ein jenseitiges Leben nach dem Tod beziehen ließe, sondern ihm ist durchaus klar, dass Paulus „hier eine eschatologische Erwartung des frühen Judentums“ aufnimmt,
derzufolge es im Eschaton zur Umkehr gegenwärtiger Herrschaftsverhältnisse kommen wird: Es werden dann die jetzt unterdrückten Frommen und Gerechten sein, die an Gottes Herrschaft über die Welt teilhaben werden.
Bezeichnend ist allerdings Wolters Wortwahl: Indem er von „jetzt unterdrückten Frommen und Gerechten“ redet, engt er das (Anm. 62) in biblischen Stellen wie Daniel 7,18 und 27 oder Offenbarung 5,10; 20,4.5; 22,5 auf die Befreiung des versklavten Gottesvolkes Bezogene im Sinne einer religiösen Verinnerlichung ein. Im Folgenden wird auch nicht so recht klar, worauf ihm zufolge Paulus überhaupt hinaus will (W355):
Wenn Paulus diese Erwartung hier aufgreift, so will er damit sagen, dass die Gerechtfertigten nicht einfach von der Herrschaft des Todes unter die Herrschaft des Lebens geraten. Das Leben ist vielmehr der Modus des Heils und nicht wie der Tod eine Macht, die sich die Menschen unterwirft. Auch hierin kommt zum Ausdruck, dass Adamgeschehen und Christusgeschehen mit ihren jeweiligen Folgen eigentlich nicht miteinander vergleichbar sind.
Es bleibt offen, was Wolter mit „Modus des Heils“ meint. Wenn es die Art und Weise des Heils nicht ist, sich die Menschen zu unterwerfen, spricht Wolter hier nun doch von der biblischen Vorstellung des Schalom, also von der Hoffnung auf ein zukünftiges Leben auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes in geheilten gesellschaftlichen Verhältnissen, in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden? Immerhin wollte er (W320) unter „Frieden mit Gott“ nicht nur einen „inneren Gemütszustand“ verstehen, sondern das Leben „in einem intakten Gottesverhältnis“. Will Wolter darauf hinaus, dass dieses Gottesverhältnis in der Zukunft ein Leben der Menschen im Schalom ermöglicht?
[7. März 2025] Wie wir es bereits von Gerhard Jankowski kennen, legt er auch die Verse Römer 5,15-17 nicht Vers für Vers oder gar Wort für Wort aus, sondern er beschreibt die Linienführung des Textes im Ganzen (J130f.):
Adam, Mensch, Typos des Zukünftigen. Er ist für Paulus so „typisch“, daß aus dem anthrōpos/ˀadam, dem Adam-Mensch, der Eine, ho heis, wird. Der Eine steht wie Adam pars pro toto {als ein Teil für das Ganze} für den Menschen. Er gehört der Vergangenheit an – die Verben, die seine Tätigkeit schildern, stehen alle im Präteritum –, bestimmt jedoch immer noch die Gegenwart. Dieser Eine nun wird auf den Zukünftigen bezogen. Auch der ist pars pro toto ganz Mensch. Aber er ist der Mensch, wie er sein soll und wie er endlich sein wird. Dieser Mensch ist für Paulus der Messias. Beide, der Eine wie der Zukünftige, bestimmen die Menschheit, für die sie stehen.
Auch nach Jankowski (J131) stehen sich aber nicht einfach beide, der Eine und der Zukünftige, Adam und der Messias, gegenüber, sondern auf besondere Weise setzt „Paulus … die beiden Bilder vom Menschen in Beziehung zueinander“, und zwar „mittels eines sogenannten Kal-wachomer-Schlusses“ <147>, einem „Schluß vom Geringeren aufs Größere“, der aus „der rabbinischen Literatur“ bekannt ist. Mit seiner Hilfe
kann Negatives in Positives gedeutet werden oder konträre Aussagen können aufeinander bezogen werden, wenn sie sich an irgendeinem Punkt berühren und ihr Verhältnis zueinander gesteigert werden kann. Kennzeichnend für diese literarische Figur ist die Formulierung denn wenn – um wieviel mehr.
Was genau „ist nun hier aufeinander bezogen?“ Erinnern wir uns, was Wolter einander gegenübergestellt gesehen hat: in Vers 15 Adam und Gott, in Vers 16 Adam und die „Vielen“ im Sinne der gesamten von ihm abstammenden Menschheit und in Vers 17 die Herrschaft des Todes und die zukünftige Herrschaft der „christlichen Wir“. Für Jankowski dagegen sind es „[g]anz formal die in Parallele stehenden Wendungen ho heis/der Eine und hoi polloi/die Vielen“, die im Bezug miteinander stehen:
Aus dieser rein formalen Beziehung ergibt sich nun vom inhaltlichen her eine neue Perspektive. Sie erschließt sich von der Vergangenheit her. Die Vergangenheit ist bestimmt von dem Einen. Die Perspektive gilt den Vielen. Der Eine, das ist Adam/Mensch. Wer sind die Vielen? In Jes 53,11f. heißt es:
11 … Bewähren sollte die Vielen der Bewährte, mein Knecht,
indem er ihr Fehl sich auflud,
12 darum teile ich die Vielen ihm zu,
die Menge teilt er als Beute,
dafür daß er entblößte seine Seele zum Tode,
unter die Abtrünnigen gerechnet wurde.
Und trug doch, er, die Sünde der Vielen,
für die Abtrünnigen ließ er sich treffen.Jes 53 ist in der messianischen Gemeinde auf den Messias Jesus hin interpretiert worden. Der Knecht, der die Fehler und Sünden der Vielen, hebräisch ha-rabbim, trug, war für sie ein Hinweis auf den Messias. Die Vielen wurden dann zu einem Synonym für die Gojim. So deutet auch schon Jes 52,13, wo die Vielen auf die Wendung gojim rabbim bezogen sind. Die Vielen ist also ein anderer feststehender Ausdruck für die Gojim, die Nichtjuden. In den Vielen die Gojim zu erkennen, wurde nicht zuletzt durch die Ausdeutung des Namens Abraham, daß er Vater vieler Gojim sein sollte, begünstigt.
Im Unterschied zu Wolter geht Jankowski also nicht davon aus, dass Paulus auf der Adam-Seite „die Vielen“ mit der gesamten Menschheit einschließlich der Juden identifiziert und auf der Christus-Seite nur mit dem „christlichen Wir“. Stattdessen meint er beide Male mit den Vielen „die Gojim“ (J131f.):
Paulus bleibt konsequent bei seinem Thema, gerade auch da, wo er über den zukünftigen Menschen nachdenkt. Für ihn ist die zukünftige, neue Menschheit, die mit dem Messias möglich geworden ist, ohne die Gojim, die Vielen, nicht denkbar. Sie gehören mit dazu. Da sie aber in der herkömmlichen Diskussion über die neue Menschheit immer noch ein Problem sind, muß über sie gleichsam von der Wurzel her nachgedacht werden. Und genau das macht Paulus hier.
Es ist das Stichwort hoi polloi {die Vielen} gemeinsam mit der Erwähnung des Mose im vorigen Vers 14, die Jankowski als Indizien dafür betrachtet (J132), dass Paulus gerade in diesen Versen 15-17 die Unterschiede zwischen den Juden und den Gojim eben nicht völlig einebnet, sondern zwischen ihnen differenziert:
Wir müssen zurück zu dem Menschen am Anfang. Der übertrat ein Gebot. Er brachte damit Sünde und Tod in die Verhältnisse der Welt hinein. Davon betroffen waren auch die, die nicht in der gleichen Art wie der Mensch sündigten. Es gab eben verschiedene Formen des Fehlgehens, seit der Mensch gesündigt hatte. So lebte Menschheit mit Sünde, Übertretung und Tod, bis Mosche die Thora empfing und die Sünde erkannt werden konnte. Mit der Gabe der Thora wird aber nicht nur definiert, was Sünde ist. Es wird auch das Verhältnis der Menschheit untereinander neu definiert. Es gibt seit Mosche eben Menschen, die die Thora annahmen, und es gibt ebenso die Vielen, die die Thora nicht angenommen haben. Und es ist die Thora, die das Verhältnis zu den Vielen grundsätzlich definiert. Nun sündigten auch die Vielen. Da sie aber Thora nicht kannten, muß ihr Fehlverhalten anders bestimmt werden, als die Thora es tut.
Ein drittes Indiz dafür, dass Paulus immer noch anders auf die Gojim blickt als auf die Juden, entdeckt Jankowski darin, dass Paulus, um „das Fehlverhalten der Vielen zu charakterisieren, … ein eher seltenes Wort, paraptōma“, gebraucht:
Paulus hat das Wort insgesamt elfmal, davon sechsmal in Röm 5,15-20. Viermal finden wir es in Eph und Kol. Dort ist es – vielleicht in Aufnahme von Röm 5 – auf die Gojim bezogen.
Die Septuaginta verwendet paraptōma „als Übersetzung für insgesamt sechs hebräische Worte“. Jankowski weist insbesondere darauf hin, dass es im Prophetenbuch Ezechiel bzw. Hesekiel „am häufigsten vorkommt“ und dort „Praktiken zu bezeichnen“ scheint, „die sonst nur von Gojim getan werden.“
Außerdem versucht Jankowski der Bedeutung von paraptōma bei Paulus auf die Spur zu kommen, indem er das „dem Kompositum zugrundeliegende Nomen“ betrachtet. Das Wort ptōma, abgeleitet vom Verb piptein {fallen}, bedeutet „Fall, Sturz“, sogar auf gefallene Körper, auf Leichen, kann es sich beziehen:
Das Kompositum ist mit Sicherheit verstärkend. Wie aber ist es zu übersetzen? Fehltritt oder Übertretung wäre möglich. Damit sollte jedoch eher das Wort parabasis übersetzt werden, das Paulus auch kennt. So ist des Menschen Sünde eine Übertretung, weil er tatsächlich über ein Gebot hinausgegangen ist.
Da Gojim die Gebote der Tora jedoch nicht kennen, vermutet Jankowski,
daß paraptōma nichtjüdisches Fehlverhalten umschreiben will. Welche Gebote aber können Gojim übertreten? Ist ihr ganzes Verhalten nicht ein totales Fehlverhalten? Sie sind abgefallen, sind Abfall, wie man durchaus auch übersetzen könnte. Und so, als Abfall, wurden sie von bestimmten jüdischen Kreisen auch gesehen.
Auch auf die lateinische Vulgata geht Jankowski ein; sie „differenziert ebenfalls“ bei der Übersetzung von paraptōma gegenüber anderen Begriffen für Gesetzesverstöße:
Sie hat delictum. Delictum ist nach klassischer Definition die schuldhafte Übertretung der Gesetze oder jedes zurechnungsfähige Vergehen, mit dem man seine Pflichten verletzt hat. Das im Deutschen aus dem lateinischen Wort abgeleitete Delikt bietet sich u.E. als adäquate Übersetzung an.
Nach Jankowski wird also (J133) die „Übertretung des Gebotes zum Leben“ durch Adam als des Repräsentanten aller Menschen
für die Gojim zum Delikt, dem sie ausgeliefert sind bis zum Tod. Verantwortlich für ihre Taten, verantworten sie auch den Tod. Da folgen sie ganz dem einen Menschen am Anfang. Nun ist da der andere Mensch, der Zukünftige, der Messias, von dem die Weisen sagten, daß er all das zurückbringen wird, was durch die Übertretung des Einen verlorenging. Der steht für die Menschheit, wie sie sein soll. Und in diese Menschheit sind die Vielen, die Gojim, mit hineingenommen. Bei dem Einen und denen, die ihm folgten, war das Urteil abzusehen. Zu verurteilen waren und sind die Vielen. In der zukünftigen Menschheit jedoch, die mit dem Messias möglich geworden ist, gilt dieses Urteil nicht. Den Vielen gilt die Solidarität Gottes. Sie wird ihnen mit dem Messias geschenkt. Ihre Delikte, die schuldhaften Vergehen, werden nicht angerechnet. Sie werden vielmehr hingeführt zu dem Rechtsgeheiß, d.h. daß sie angeleitet werden, Recht zu tun. Damit ist wahre Menschwerdung möglich. Die Herrschaft des Todes wird abgelöst durch die Herrschaft des Lebens. Die Vielen, die zum Tod bestimmt waren, sind durch den Einen in das Leben aufgenommen.
Interessant ist hier, dass Jankowski das Wort dikaiōma nicht wie Wolter mit „Gerechtigkeit“ übersetzt und somit auch nicht einfach (W353, Anm. 54) als „Resultat der Rechtfertigung“ betrachtet, sondern (J133) mit „Rechtsgeheiß“, was er auf eine Anleitung, „Recht zu tun“, bezieht. An dieser Stelle tut sich die Frage auf, die in den folgenden Römerbrief-Kapiteln eine entscheidende Rolle spielen wird: Wie ist das zu verstehen, was Paulus mit Vokabeln aus dem mit dikaios zusammenhängenden Wortfeld bezeichnet: Rechtfertigung, Wahrmachung, Zurechtbringung? Ist eine Amnestie für begangene Sünden gemeint und/oder eine Befähigung, sich in der Zukunft nicht mehr zu verfehlen? Nach Jankowski ist jedenfalls die Aufnahme der Gojim in das Leben und ihre Befähigung zur wahren Menschwerdung
nur möglich durch die geschenkte Solidarität Gottes. Sie trägt in diesen kurzen so formelhaften Sätzen den Akzent. Die Vielen, also die Nichtjuden, werden durch diese Solidarität zu wahren Menschen erklärt. Sie, die seit der Gabe der Thora (die sie nicht annahmen) eigentlich nicht als Menschen galten, werden wieder zu Menschen. Darauf läuft der ganze Gedankengang hinaus. Die Juden sind da nicht außen vor. Für sie ist die Thora gegeben. Deswegen steht hier Mosche, und mit ihm die Thora, zwischen Adam/Mensch und dem Einen Jesus Messias. Für sie führt die Menschwerdung aus der Unmenschwerdung heraus über die Thora. Für die Nichtjuden führt die Menschwerdung nur über die Solidarität Gottes. Beide aber zusammen, Juden und Nichtjuden, treffen sich wieder in der neuen Menschheit, für die der Messias steht und die von ihm ausgeht. Diese neue Menschheit, in der die Vielen die Solidarität Gottes zusammen mit den Juden erfahren sollen, ist das Ziel. Sie kann sich schon jetzt verwirklichen und bewähren.
Wolter würde dagegen sagen: Zwar haben die Juden die Tora erhalten, aber da sie diese nicht befolgt haben bzw. nicht befolgen konnten, gilt das, was Paulus hier sagt, nicht nur für Heiden, sondern für die ganze Menschheit einschließlich der Juden.
↑ Römer 5,18-19: Eine Menschheit, die durch das Weghören von Einem ihre Verurteilung verdient, wird durch das Hinhören von Einem zur wahren Menschheit werden
5,18 Wie nun durch die Sünde des Einen
die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist,
so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen
für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt.
5,19 Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen
die Vielen zu Sündern geworden sind,
so werden auch durch den Gehorsam des Einen
die Vielen zu Gerechten.
[8. März 2025] In den Versen Römer 5,18-19 (W355) führt
Paulus … nun den Vergleich zwischen Christus und Adam durch, den er bereits in V. 12a in Angriff genommen, dann aber abgebrochen hatte. Mit houtōs kai {so auch} (V. 18b.19b) kommt jetzt die Entsprechung zu dia touto hōsper {Darum: wie} (V. 12a). Es handelt sich nicht eigentlich um einen Vergleich, sondern Paulus macht die Bedeutung und Wirkungsweise des „durch Christus“, des Christusgeschehens also, mit Hilfe des Adamgeschehens verständlich.
In 15-17 ging es um die Unterschiede zwischen „Adam- und Christusgeschehen“, jetzt stellt Paulus die Gemeinsamkeiten fest, dass nämlich „in beiden Fällen das Verhalten eines einzigen Menschen das Geschick aller Menschen bestimmt – sei es zum Unheil wie bei Adam, sei es zum Heil wie bei Christus.“ Die Verse 18 und 19 verlaufen allerdings nur scheinbar parallel, „denn V. 19 ist als Begründung zu V. 18 konzipiert; er steht also eine Ebene tiefer.“
Vers 18 beginnt (W356) mit der Wendung ara oun {Also nun}, die „typisch“ für Paulus ist und „meistens eine Schlussfolgerung einleitet“. Sie kommt (Anm. 64) in der griechischen Bibel „nur im Corpus Paulinum“ vor („Röm 7,3.25; 8,12; 9,16.18; 14,12.19; Gal 6,10; Eph 2,19; 1Thess 5,6; 2Thess 2,15“).
Wolter übersetzt Vers 18 folgendermaßen, wobei die in Klammern ergänzten Teile im Griechischen fehlen (W340f):
Also nun: wie (es) durch eines (Menschen) Verfehlung
für alle Menschen zur Verurteilung (kam),
so (kam es) auch durch eines (Menschen) Rechtstat
für alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens.
Zum Stichwort katakrima {Verurteilung} ist außerdem (W356) vom Sinn her „thanatou (‚des Todes‘) zu ergänzen“, was „der Antithese zu zōēs {des Lebens} (V. 18b)“ und auch dem Zusammenhang von Sünde und Tod in Vers 12 entspricht.
Das Wort dikaiōma, das Wolter in Vers 16i mit „Gerechtigkeit“ übersetzt hatte, weil es dort „die Heilsfolge des Christusgeschehens für ‚die Vielen‘ bezeichnet“, ist ihm zufolge hier mit „Rechtstat“ zu übersetzen, denn hier „charakterisiert Paulus mit ihm das Tun Jesu, das diese Heilsfolge aus sich heraus entlässt“ und das darin besteht, „dass Jesus im Unterschied zu Adam die Rechtsforderungen Gottes erfüllt hat.“ An dieser Stelle weist Wolter darauf hin, dass diese Rechtsgeheiße „in der Septuaginta auch dikaiōmata heißen (z.B. Ex 21,1; Dtn 4,1; hebr. meistens chuqqim oder mischpatim…)“, was für Jankowskis Auslegung bereits in Vers 16 im Hintergrund stand.
Am Ende von Vers 18 gibt Wolter dikaiōsis mit „Rechtfertigung“ wieder, weil es
den Vorgang der Rechtfertigung der pantes anthrōpoi {aller Menschen} kennzeichnet, der durch Jesu „Rechtstat“ möglich geworden ist. Die universale Perspektive dieser Aussage hat ihre Parallele in dem Horizont, den Paulus mit den Feststellungen in Röm 3,28.30 in den Blick nimmt. Wie er dort eine Aussage zur Charakterisierung von Gottes rechtfertigendem Handeln formuliert hatte, so charakterisiert er hier die „Rechtstat“ Jesu: Sie enthält das Potential zur Rechtfertigung aller Menschen. Eben in dieser Hinsicht ist das Christusgeschehen mit dem Adamgeschehen vergleichbar.
Der „Genitiv zōēs bei dikaiōsis {Rechtfertigung des Lebens}“ ist nach Wolter aus Vers 17 aufgenommen und auf die Zukunft ausgerichtet (W356f.): „Heilsfolge der ‚Rechtstat‘ Christi ist für alle Menschen die ‚Rechtfertigung, die zum Leben führt‘“.
Die (W357) in Vers 18 „formulierte Gegenüberstellung“ wird in Vers 19 „erläutert und begründet“, indem Paulus die eben beschriebenen „Handlungen“ mit Hilfe der Stichworte „parakoē {Ungehorsam} bzw. hypakoē {Gehorsam} … als Ausdruck des Umgangs von Adam und Christus mit der Weisung Gottes“ charakterisiert.
Wichtig ist hier nach Wolter (Anm. 72) das zweifach verwendete Verb „kathistēmi mit doppeltem Akkusativ bzw. – im Passiv – mit doppeltem Nominativ“, das „die Einsetzung in einen Status, in eine Funktion oder in ein Amt“ bezeichnet (z.B. in „Lk 12,14; Apg 7,10.27.35; Hebr 7,28“), wobei es „immer ein Subjekt“ gibt, „das ‚einsetzt‘ und das man auch in Röm 5,19 hinzudenken muss.“ In den Passivformen von kathistēmi ist dieses Subjekt Gott (W357): „Kein Mensch wird von selbst gerecht, sondern immer nur dadurch, dass Gott ihn für gerecht erklärt und dadurch gerecht macht.“ Obwohl man also „die beiden Prädikate darum nicht einfach zum Hilfsverb ‚werden‘ depotenzieren“ darf, hält sich Wolter daran selbst allerdings nicht und übersetzt (W341) mit „wurden“ bzw. „werden“. Bei Jankowski (J133) ist klarer zu erkennen, dass es Gott ist, durch den sowohl hamartōloi katestathēsan hoi polloi, „die Vielen als Sünder hingestellt wurden“, als auch dikaioi katastathēsontai hoi polloi, „die Vielen als Wahrgemachte hingestellt werden“.
Noch einen Punkt hebt Wolter ausdrücklich hervor (W358):
Auch wenn hier weit und breit nicht vom Glauben die Rede ist, ist er doch im Hintergrund unausgesprochen präsent, denn auf der Christusseite werden die Vielen natürlich nicht automatisch zu Gerechten, sondern sie werden aufgrund ihres Glaubens, der den Tod Jesu als einen Akt des Gehorsams deutet, von Gott zu Gerechten gemacht. Man darf den Text darum nicht so interpretieren, als würde Paulus hier etwas anderes sagen als in Röm 3,26c.28.30. Und schließlich war natürlich auch Paulus sich im Klaren darüber, dass nur der Christus-Glaube den Tod Jesu als Ausdruck des „Gehorsams“ gegenüber dem Willen Gottes wahrnehmen kann. Dadurch wird die universale Reichweite von polloi nicht eingeschränkt, denn selbstverständlich steht die Gerechtigkeit durch den Glauben allen Menschen offen.
Damit wird Wolter zufolge bestätigt, was Paulus schon zuvor gesagt hatte. Wie nach Römer 5,12 „[k]ein Mensch … zu einem Sünder“ wird, „ohne dass er selbst gesündigt hätte“, steht auch keinem Menschen die Rechtfertigung offen, ohne dass er zum Glauben an Christus kommt. Wenn das stimmt, geht es Paulus weder um die Zukunft aller Juden bzw. der Völker je für sich noch um die Zukunft der Menschheit im Ganzen, sondern allein um das individuelle Heil einzelner Menschen, das sie durch ihren persönlichen Glauben an Christus gewinnen. Ihre bisherige Identität als Juden oder Gojim ist dann in jeder Hinsicht unerheblich geworden.
[9. März 2025] Nach Gerhard Jankowski (J134) leitet Paulus mit „Nun also … ein Fazit“ ein, womit klar ist, dass
erst hier die Thematik, die mit Abraham und der Verheißung an ihn angeklungen war, zu einem vorläufigen Ende geführt wird. Es geht nach wie vor um die Vielen, die Gojim, und ihre Hineinnahme in die Verheißung, die Abraham gegeben wurde. Dabei war der Bogen weit gespannt, von Abraham zu Israel, von Adam/Mensch zu Mosche und zur Thora und wieder von Adam/Mensch zum Messias und zur wahren Menschwerdung in einer neuen Menschheit. Das Besondere an Juden wie an Nichtjuden wurde nicht verschwiegen, die Unterschiede nicht eingeebnet. Sie wurden im Gegenteil betont, um so das mögliche Gemeinsame hervorzuheben. Das alles wird auch in diesen Schlußsätzen noch einmal angesprochen. Dabei bleibt Paulus bei seinem Ansatz: die Gojim gehören zur erhofften und durch den Messias eröffneten neuen Menschheit. So kann mit einem Satz dieses Fazit zusammengefaßt werden.
Auch wenn Paulus manches zu wiederholen scheint, „sind es auch hier die Nuancen, die dem Ganzen noch einmal einen besonderen Akzent geben.“ Jankowski versucht das, was Paulus „hier äußerst komprimiert“ formuliert, in Sätzen, die „schwer zu übersetzen“ sind, dennoch recht wortgetreu ins Deutsche zu übertragen (J133f.):
18 Nun also:
wie durch des Einen Delikt für alle Menschen Verurteilung kam,
so durch des Einen Rechtsgeheiß für alle Menschen Lebens Wahrmachung.
19 Denn wie durch das Weghören des einen Menschen die Vielen als Sünder hingestellt wurden,
so werden auch durch das Zuhören des Einen die Vielen als Wahrgemachte hingestellt werden.
Besonders geht Jankowski (J133) auf „einzelne Worte“ in den Versen Römer 5,18-19 ein, „die fast nur im Sprachgebrauch des Paulus vorkommen“.
Auf das Wort dikaiōma waren wir schon in der Auslegung zu Römer 5,16 eingegangen, das in der Septuaginta „das einzelne Rechtsgeheiß der Thora“ meint und in „diesem Sinn … schon in Röm 1,23“ (und auch 2,26) vorgekommen war. In 5,18
steht es wie Delikt in einer Genitivkonstruktion (Genitivus objectivus). Des Einen Delikt ist also aufzulösen in der Eine, der das Delikt begangen hat. Des Einen Rechtsgeheiß meint, der Eine, der das Rechtsgeheiß erfüllt hat.
Dass „nur Paulus“ das Wort dikaiōsis „kennt (hier und in Röm 4,25)“, stimmt nicht ganz, da es auch einmal in 3. Mose 24,22LXX als Übersetzung von mischpat {Recht} vorkommt. In Römer 5,18 steht es bei Paulus (J134f.)
im Gegensatz zu katakrima, Verurteilung. Gemeint ist wohl die Freisprechung, die jemand vor Gericht erfährt. Wir versuchen, griechische Wörter der Wurzel dikai- mit deutschen Worten der Wurzel wahr- zu übersetzen. Deswegen übersetzen wir dieses seltene Wort mit Wahrmachung.
Dass Jankowski im Gegensatz zu Wolter davon ausgeht (J135), dass mit hoi polloi {die Vielen} „eindeutig die Gojim“ gemeint sind, hatten wir schon gesehen. Die Wendung hoi pantes, „die Alle“, bezieht er auf „eine bestimmte Gesamtheit von Menschen“, die hier auch „in pantes anthrōpoi, alle Menschen“ anklingt, womit „die Menschheit aus Juden und Nichtjuden“ angedeutet wird.
Die beiden einander gegenübergestellten Worte parakoē und hypakoē, „meistens mit Ungehorsam und Gehorsam übersetzt“, versucht Jankowski, da beide „von akouein, hören, abgeleitet“ sind, „mit Weghören bzw. Zuhören“ wiederzugeben, „da in unserem Zusammenhang davon auszugehen ist, daß hier auf das gehört oder nicht gehört wird, was als Gebot ausgerufen ist.“ In seiner späteren Übersetzung (G18f.) kehrt er allerdings zur üblichen Wortwahl „Ungehorsam“ bzw. „Gehorsam“ zurück.
Zur Aussage von Vers Römer 5,18 kommt Jankowski zu folgenden Ergebnissen (J135), die sich vor allem dadurch von Wolters Schlussfolgerungen unterscheiden, dass er den Schalom innerhalb einer geeinten Menschheit in den Blick nimmt:
Zum Schluß werden nun doch die beiden Menschen in ihrem typischen Handeln miteinander verglichen. Beider Handeln hat jeweils Konsequenzen für die gesamte Menschheit, für alle Menschen, Juden und Nichtjuden. Nach allem, was der Mensch begangen hat, kann Menschheit nur verurteilt werden. Das ist die Konsequenz aus dem Handeln des Adam/Mensch. Auch der Messias/ Mensch handelt. Er jedoch begeht kein Delikt. Er wendet das Rechtsgeheiß an, macht das, was zu tun ist, damit es gerechte Verhältnisse untereinander gibt. Die Konsequenz für die Menschheit aus diesem Handeln ist, daß sie wahr werden wird. Eine wahre Menschheit, die nicht zerstritten ist und in gerechten Verhältnissen lebt, das ist das Ziel.
Was Paulus in Römer 5,19 sagt, bezieht sich nach Jankowski dagegen nicht auf die Menschheit im Ganzen, sondern auf die Gojim im Besonderen, denn hier bewertet Paulus wie
in einem guten Parallelismus membrorum … das Handeln der beiden Menschen. Der eine hörte nicht hin auf das, was ihm als Gebot des Lebens gesagt war. Der andere hat hingehört und dann getan, was als Rechtsgeheiß geboten war. Weghören und Zuhören hat nun Konsequenzen für den „problematischen“ Teil der Menschheit, für die Vielen. Adam/Mensch ist dann wirklich der Typos für alle, die nicht hinhören wollen, die – so müssen wir ergänzen – weder die Thora für die Völker, als Angebot für die Nichtjuden von den Weisen formuliert in den Noachidischen oder Adamitischen Geboten, noch die Thora vom Sinai angenommen haben. Deswegen gelten sie als Sünder. Der zukünftige Mensch, der Messias, wird gerade durch sein Hinhören zum Vorbild für die Vielen. Er bewährt sich in seinem Hinhören und ermutigt die Vielen zum wahren Menschsein. Da ist er ganz der Knecht Gottes aus Jes 53 {Vers 11}, der die Vielen bewährte, indem er ihr Fehl auf sich lud.
Diese differenzierte Rede von pantes anthrōpoi {alle Menschen} auf der einen und hoi polloi {die Vielen} auf der anderen Seite macht dann Sinn, wenn Paulus zwar ganz bestimmt davon ausgeht, dass sowohl Juden als auch Gojim auf die Wahrmachung durch den Messias Jesus angewiesen sind, aber sich zugleich in diesem ersten Teil des Römerbriefs mit aller Kraft dafür einsetzt, seine Mitjuden von der Einbeziehung der Gojim in diese Wahrmachung zu überzeugen.
↑ Römer 5,20-21: Verschlimmert die hinzugekommene Tora die Sünde der Menschheit einfach nur oder macht sie Sünde und die Alternative des Lebens erkennbar?
5,20 Das Gesetz aber ist hinzugekommen,
auf dass die Sünde mächtiger würde.
Wo aber die Sünde mächtig geworden ist,
da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden,
5,21 damit, wie die Sünde geherrscht hat durch den Tod,
so auch die Gnade herrsche durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben
durch Jesus Christus, unsern Herrn.
[10. März 2025] Eine entscheidende Bedeutung hat für Michael Wolter (W358) der Beginn von Römer 5,20: nomos de pareisēlthen, hina pleonasē to paraptōma {Das Gesetz ist aber hinzugekommen, damit die Verfehlung sich vermehrt}. Damit „greift Paulus das Thema Gesetz noch einmal auf“, und zwar auf eine Weise, die im Zusammenhang mit den Versen 13-14 darauf hinausläuft (W358f.),
dass das Gesetz zusätzlich zu Sünde und Tod in die Welt gekommen ist und dort den Zusammenhang von Sünde und Tod schon vorgefunden hat, der sich gänzlich unabhängig vom Gesetz unter den Menschen etabliert hatte.
Ein Verständnis (Anm. 75 und 76) von pareiserchesthai, das auf „ein heimliches, unerkanntes Eindringen“ hinausläuft, „das man sich mit unlauteren Mitteln verschafft und das den Eintretenden verborgen bleiben lässt“, wie es z.B. in Galater 2,4 vorliegt (der einzigen weiteren Stelle, wo das Verb in der griechischen Bibel auftaucht), weist Wolter jedoch zurück: „Vom Gesetz wird Paulus sicher nicht sagen wollen, dass es sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen heimlich und unerkannt eingeschlichen habe“. Zugleich betont er aber auch (W358), „dass Paulus dem Gesetz mit pareiserchesthai {hinzukommen} nicht eine Zwischenstellung zwischen Adam und Christus oder zwischen Sünde und Gerechtigkeit oder zwischen Tod und Leben zuweisen will. <148>“ Als Begründung dafür scheint ihm seine Annahme auszureichen, dass nach den Versen 13 und 14 die Sünde, obwohl sie nicht verbucht wurde, bereits vor der Mose-Tora in der Welt war und zum Tod der Menschen führte.
Aber nicht genug damit, dass Paulus in Wolters Augen dem Hinzukommen der Tora keine positive Rolle zubilligen will, nach Vers 20b tritt er ihm zufolge sogar (W359)
mit der These hervor, dass durch den Eintritt des Gesetzes in den Zusammenhang von Sünde und Tod alles noch schlimmer geworden ist. Die Intention der Feststellung, dass die Verfehlung sich durch das Gesetz „vermehrt“ (pleonazein) <149>, ergibt sich aus V. 14b und V. 16h: Das Hinzukommen des Gesetzes hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Verfehlungen vervielfältigt hat. Während Adam nur ein einziges Gebot übertreten hatte, haben die Menschen im Gesetz eine vielfache Zahl von Geboten vorgefunden und übertreten. Das Gesetz hilft den Menschen also nicht nur nicht, die Sünde zu domestizieren, sondern es verstrickt sie sogar immer noch tiefer in den Verhängniszusammenhang von Sünde und Tod. Aus diesem Grund spricht Paulus hier vom paraptōma {Verfehlung} anders als in V. 16h nicht im Plural, sondern im Singular. Er beschreibt mit diesem Begriff (und dann auch mit dem Singular hē hamartia {die Sünde} in V. 20c) in komprehensiver Weise die Gesamtsituation der Menschheit als ein durch das Gesetz immer weiter zunehmendes Verstricktsein in „Verfehlung“ und „Sünde“.
Für „diesen Gebrauch von pleonazein {vermehren} in Verbindung mit einem Singular“ findet Wolter (Anm. 80)
[s]prachliche Analogien … z.B. in Spr 15,6 (en pleonazousē dikaiosynē ischys pollē [„in anwachsender Gerechtigkeit liegt viel Kraft“]); … Ps 70,21LXX (epleonasas tēn megalosynēn sou [„du hast deine Majestät anwachsen lassen“]); Phil 4,17 („ich suche ton karpon ton pleonazonta {die sich vermehrende Frucht} auf eurem Konto“).
Aus der Verwendung (W359) des „finalen hina“ in Vers 20b, also einer Konjunktion, die auf einen Zweck oder ein Ziel ausgerichtet ist, schließt Wolter, „dass Paulus in dieser Wirkung des Gesetzes Gottes Absicht am Werk sieht.“ Aber ist es wirklich nachzuvollziehen, dass der Jude Paulus es als direkte Absicht des befreienden Gottes Israels angesehen haben sollte, die Tora nur zu dem Zweck dem Volk Israel anzuvertrauen, dass sich dadurch die Situation der Menschheit noch verschlimmert?
Die Zielgerichtetheit „des hina-Satzes“ greift Wolter zufolge aber
nicht auf das Wirken der Gnade über, von dem Paulus in V. 20d spricht. Zwischen den beiden Vorgängen, die in V. 20a und V. 20d beschrieben werden, gibt es insofern keine Verbindung, und man sollte darum auch nicht versuchen, sie zu konstruieren. <150> Mit keinem Wort deutet Paulus an, dass Gott schon an die Gnade gedacht hat, als er das Gesetz sein unheilvolles Werk tun ließ. Das Gesetz dient nicht der indirekten Vorbereitung der Gnade, sondern sein Wirken spielt sich immer nur im Zusammenhang von Sünde und Tod ab. Zwischen ihm und der Gnade gibt es keinerlei Kontinuität.
In Vers 20c wird demzufolge „mit hou de epleonasen hē hamartia {wo aber die Sünde sich vermehrt hat} … die durch das Gesetz geschaffene Unheilssituation des Menschen“ bezeichnet (W360), wie „sie von der Gnade vorgefunden wurde.“ Das Wort hamartia {Sünde} steht dabei nach Wolter „für die Gesamtheit aller sündigen Handlungen“, also nicht wie „in V. 12-13a“ für „die Sünde als Macht, sondern wie in V. 13b die konkrete Sündentat.“
Mit Vers 20d schließlich „wiederholt Paulus einen Gedanken, den er schon in V. 16g-i vorgetragen hatte“ und steigert ihn, indem er „dem pleonazein {sich Vermehren} der Sünde das hyperperisseuein {weit darüber hinaus Gehen} der Gnade antithetisch gegenüberstellt“. Diese „außerordentliche Größe der Gnade im Verhältnis zur Sünde“ war
bereits in V. 15e-k zutage getreten …: Weil sie die „Gnade Gottes“ ist (V. 15i), gehört es zu ihrem Wesen, dass sie die Sünde – wie groß und zahlreich diese auch immer sein mag – überbietet. Inhaltlich konkretisiert wird das paulinische Verständnis von der die Sünde überbietenden Gnade durch das Rechtfertigungsgeschehen, wie Paulus es in 3,23-25 beschrieben hat.
In dem das Kapitel 5 abschließenden Vers 21 sieht Wolter eine Zusammenfassung dessen, was Paulus in den Versen 12-20 gesagt hat:
Diese Intention wird daran erkennbar, dass in diesem Vers nicht nur die ‚Wie-so‘-Struktur aus V. 12.18-19 aufgenommen wird, sondern auch andere Begriffe und Motive in leicht veränderter Konfiguration wiederkehren…
Mit dem Begriff basileuein {herrschen} stellt Paulus heraus, dass sowohl „Unheil“ als auch „Heil“ für „Herrschaftssysteme“ stehen, womit Wolter allerdings nicht etwa gesellschaftliche Analysen verbindet, sondern in metaphorischer Rede von der Herrschaft überindividueller Mächte redet. Schon zuvor hatte er beide Seiten „als ein basileuein“ charakterisiert, nämlich
in V. 14a.17c für die Unheilsseite, in V. 17f für die Heilsseite. Ebenso war auch vorher schon die Unheilsseite genauso durch „Sünde“ und „Tod“ gekennzeichnet wie die Heilsseite durch „Gnade“, „Gerechtigkeit“ und „Leben“. Nicht zu übersehen sind aber auch die Veränderungen: Während Paulus mit Bezug auf die Unheilsseite in V. 14a.17c noch davon gesprochen hatte, dass der Tod herrschte, und zwar aufgrund der Sünde, ist es in V. 21a die Sünde, die „durch den Tod“ ihre Herrschaft ausgeübt hat. Hier ist also die Sünde als eine überindividuelle Macht verstanden. Analoges gilt auch für die Heilsseite: Während nach V. 17e-f die Empfänger der „Gnade und des Geschenks der Gerechtigkeit“ „im Leben herrschen werden“, ist es in V. 21b die Gnade, die „durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben herrscht“. Auch die dikaiōsis zōēs {Rechtfertigung des Lebens} (V. 18b) wirkt in V. 21b nach: Die „Rechtfertigung“ heißt so, weil sie „Gerechtigkeit“ vermittelt, aus der ewiges Leben folgt.
Wolter sieht (W361) in diesen „Differenzen auf jeder Seite“ nicht etwa Widersprüche, „denn sie wollen sich gegenseitig interpretieren.“ So stellt er in Vers 21a „die Sünde als die eigentliche Herrscherin dar, die den Tod lediglich als Werkzeug ihrer Herrschaftsausübung benutzt“, während er in Vers 21b mit der „Herrschaft … der Gnade … Gott als Geber der Gnade ins Spiel“ bringt, dem allein „die zum ewigen Leben Gerechtfertigten ihren Status … verdanken“.
Eine Unsymmetrie sieht Wolter auf beiden „Seiten des Vergleichs“, weil der Ausdruck en tō thanatō {durch den Tod} (V. 21a) „in V. 21b zwei Entsprechungen“ hat, und zwar vom Satzbau her dia dikaiosynēs {durch die Gerechtigkeit}, aber von der Sinnentsprechung her eis zōen aiōnion {zum ewigen Leben}. Paulus beschreibt also in Vers 21a „die Vergangenheit“ aus der Sicht „der ‚zum ewigen Leben‘ Gerechtfertigten“, während er „in V. 21b die Linie von der Gegenwart in die Zukunft“ auszieht:
Die Herrschaft der Gnade hat mit der Rechtfertigung der Glaubenden bereits begonnen, und sie wird ins ewige Leben hineinführen (vgl. dann auch 6,22-23).
Mit dem „Ausdruck ‚durch Jesus Christus, unseren Herrn‘“ nimmt Paulus „Formulierungen aus V. 1 und V. 11“ wieder auf und bindet dadurch
das ab V. 12 Gesagte noch einmal ausdrücklich an den vorangegangenen Abschnitt und von ihm aus an das in 3,24-25 angesprochene Geschehen. Textsemantisch {von der Bedeutungsqualität des Textes her} fasst er hier die tou-henos-{durch Einen-}Formulierungen zusammen, mit denen er in V. 15j.17g.18b. 19b den Charakter des Christusgeschehens nach dem Modell des Adamgeschehens erklärt hatte – freilich immer unter Hinweis auf den Unterschied zwischen ihnen: Durch den einen Einen ist Unheil in die Welt gekommen, durch den anderen Einen Heil.
Auf Wolters Zusammenfassung des gesamten Abschnitts Römer 5,12-21 war ich schon in der Einleitung eingegangen. Ich wiederhole nur noch einmal das allerletzte Fazit, auf das ihm zufolge die Ausführungen des Paulus über Adam und Christus hinauslaufen (W363):
Auch das Gesetz steht unter der Herrschaft der Sünde. Es kann die Menschen nicht vor der Sünde bewahren, und es kann sie schon gar nicht vom Verhängnis der Sünde befreien. Im Gegenteil: es hat zur Folge, dass die Sünde sich vermehrt und alle Menschen sich nur noch auswegloser in den Zusammenhang von Sünde und Tod verstricken.
[12. März 2025] Gerhard Jankowski (J135) teilt Wolters Einschätzung nicht, dass Paulus dermaßen grundlegende Vorbehalte gegenüber der jüdischen Tora hegt. Vielmehr geht er davon aus, dass Paulus gute Gründe dafür haben muss, überhaupt mit Worten wie „Weghören, hinhören, Rechtsgeheiß“ die Tora aufzurufen (J135f.):
Sie ist das Recht zum wahren Leben, sie will gehört und getan werden, sie ist Israel gegeben und unterscheidet so dieses Volk von den vielen Gojim. Was also ist mit der Thora, wenn die vielen Gojim auch wahr werden können? Die Antwort ist: die Thora kam gerade hinzu, nomos pareisēlthen.
Wie beurteilt Jankowski (J136) die Verwendung des Wortes pareiserchesthai, das in der Bibel „nur von Paulus gebraucht wird“?
In Gal 2,4 verwendet er es, um das Vorgehen seiner Gegner zu beschreiben: sie kamen hinzu, nebenbei, um die messianische Praxis nach den strengen Geboten der Thora kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dieses Vorgehen wird von allen Auslegern negativ interpretiert. Das Hinzukommen ist ein Eindringen, ein Einschleichen. Von daher wird dann auch unsere Stelle durchgängig negativ verstanden: die Thora „schleicht“ sich ein, ist ein Störfaktor, eine Fehlentwicklung im ganzen Heilsgeschehen. Die theologische Deutung verdrängt die philologische Mühe. Wieder ist es Marquardt [222ff.], der das Verb aus seiner ideologischen Überfremdung befreit, indem er schlicht der griechischen Bedeutung des Wortes folgt. Pareiserchesthai, ein Kompositum aus para, eis und erchesthai, meint nichts anderes als ein verstärktes hinzukommen. Und das macht dann auch „theologisch“ einen Sinn.
An dieser Stelle füge ich einen langen Ausflug in die hochinteressanten Ausführungen von Friedrich-Wilhelm Marquardt ein, um den Hintergründen der Argumentation Jankowskis auf die Spur zu kommen. Marquardt [221] fragt nämlich danach, inwiefern Paulus dem Messias Jesus das „Übergewicht“ gegenüber „Adam“ zumisst:
Das Übergewicht hat Jesus Christus deswegen, weil er dem Adam das Gewicht seines Handelns und Wırkens abgenommen hat. Adam bringt Sünde und Tod in das Kollektiv der Menschheit. Genau das, was Adam der Menschheit gegeben hat, das nimmt Christus von ihr, nimmt beide auf sich – die Sünde mit ihrer Todesfolge; so wird die „Übertretung“ Adams in ihren Folgen verdrängt durch die gerechte Tat Jesu (5,17). Daß Jesus Christus die Adamsgeschichte auf sich nimmt, das macht ihn adamsgemäß. Daß Adam durch Christus von seiner geschichtlichen Last befreit wird, das macht ihn christusgemäß.
Weiter spielt Marquardt die Vorstellung durch, auf welche Weise sich Christus und Adam „ineinander erkennen“ könnten [222], indem er es mit dem „ersten zwischenmenschlichen Erkennen“ von Adam und Eva vergleicht: Ein solches Erkennen geht „nicht ab ohne einen Schmerz des Erkennens“, denn:
So ungetrübt, wie Adam Eva erkannte, erkennt Christus den Adam nicht, kann also auch Adam sich in Christus nicht wiedererkennen… Der Schmerz der Last Adams zeichnet Jesu Züge und entstellt wohl auch sein „edles Angesichte“. Erblickt Adam sich in Christus, so eignen ihm nicht mehr Gestalt und Schöne, die ihn an Eva so begeisterten. Der Schmerz des Erkennens ist das Un-Ideale, das wirkliche Geschichtliche am Adam-Christus-Verhältnis.
Zu „diesem Schmerzensverhältnis zwischen beiden“ kommt es nun nach Marquardt, indem „Adam und Christus … geschichtlich verbunden“ sind, und zwar sind sie
dies durch Israel, durch Mose und das Gesetz, das er von Gott her in die Welt gebracht hat. Bildlich gesagt: Zwischen Adam und Christus hat Gott den Mose gesetzt. Mose ist mit seinem Gesetz „zwischen hineingekommen“ (5,20): nomos de pareisēlthen.
Damit kann Paulus Marquardt zufolge keineswegs meinen, was viele Exegeten annehmen, „Mose und das Gesetz haben sich (aus welchen Gründen auch immer) zwischen Adam und Christus hineingedrängt, eingeschlichen“. Denn wäre das der Fall,
dann hörte er tatsächlich auf, der gute Jude Paulus zu sein, als den wir ihn bisher erkennen konnten, – dann stünden wir hier in der Tat an der Bruchstelle, wo Judentum und Christentum sich nun wirklich voneinander trennen, – dann wäre an dieser Stelle tatsächlich Adam als Typos Christi wichtiger als Mose und die Tora geworden…
Zwar ist es Marquardt durchaus bewusst [224], dass man auch bei Paulus „immer mit Gedanken rechnen“ muss, „denen ein noch so gutwilliger Jude wirklich nicht mehr folgen kann.“ Aber da „das Christentum so bedenkenlos, so forciert das Neue Testament antijüdisch gelesen“ hat und weiterhin liest, will er „lieber etwas zu viel als zu wenig versuchen, um eine antijüdische Bedeutung eines neutestamentlichen Satzes in Frage zu stellen.“ Darum fragt er eingehend nach der wirklichen Bedeutung von pareiserchesthai. Ist es „mit ‚zwischenhineinkommen‘ richtig übersetzt“ oder könnte „es nicht einfach auch ‚dazukommen‘ heißen“? Muss man es wirklich so verstehen, also ob sich das Gesetz „zwischen Adam und Christus hineingedrängt hätte“, ist es nicht in Wirklichkeit „etwas, was zu dieser Beziehung dazugekommen wäre“?
Ausgehend [225] von einer Bemerkung „in Otto Michels Kommentar“ <151>, dass das Wort pareiserchesthai „die Bedeutung beider darin enthaltener Präpositionen para und eis“ bewahre, geht Marquardt auf die Beobachtung ein, dass „eiserchesthai, ohne Hinzufügung von para, … in unserem Abschnitt schon einmal … in 5,12“ vorkommt:
Durch Adam ist die Sünde in die Welt gekommen: hē hamartia eis ton kosmon eisēlthen; wollen wir hier auf die Präposition eis achtgeben und also genau übersetzen, müßten wir sagen: Durch Adam ist die Sünde hineingekommen in die Welt (das unterstreicht den räumlichen Sinn des Kommens der Sünde: Die Welt ist zu ihrem Wirkraum geworden). Zweifellos spielt der stilistisch bewußt schreibende Paulus mit dem Wort pareiserchesthai in 5,20 an das eiserchesthai in 5,12 an: Das Gesetz ist genauso in die Welt hineingekommen, die Welt ist genauso zum Raum des Gesetzes Mose geworden, wie zuvor durch Adam die Sünde in die Welt hineingekommen ist und dort ihren Wirkungsraum gefunden hat.
Zwei Möglichkeiten erwägt Marquardt nun, was „die Präposition para dem eis der räumlichen Bestimmung des Kommens“ hinzufügt. Michel sagt an der genannten Stelle: „para bedeutet an sich eine Fehlentwicklung“, wozu er auf Galater 2,4 verweist, auf „subversives Eindringen“ falscher Brüder „in die galatische Gemeinde“. Auch [226] im „klassischen Griechisch“ kann „para ‚gegen‘ heißen …, z. B. in der Wendung para physin, gegen die Natur (Röm 1,26…)“. Von daher
würde Paulus in der Spannung zwischen eiserchesthai in 5,12 und pareiserchesthai in 5,20 sagen: Mose ist mit der Tora gekommen para, also in Gegenbewegung und Gegenwirkung gegen die Sünde, die mit Adam in die Welt gekommen ist. Daß damit Mose nur als eine Episode im Handelns Gottes bezeichnen würde, läßt sich beim besten Willen nicht sagen. Das para meint eine inhaltliche Gegenläufigkeit des Mose gegen Adam, der Tora gegen die Sünde. Es bildet keinen weltgeschichtlichen Phasenbegriff, sondern beansprucht theologisch-inhaltliche Bedeutung.
Eine zweite Verständnismöglichkeit von para liegt für Marquardt jedoch näher, denn
im eigentlichen Sinne heißt para „bei“ und „neben“ in keineswegs negativer Bedeutung. Rein philologisch ließe sich das Wort pareiserchesthai durchaus seines feindlichen (und antijüdischen) Untertons berauben: Das Gesetz ist hineingekommen in die Welt wie die Sünde, und es ist zu ihr dazugekommen. Nach klassischem Griechisch schwingt im Gebrauch von para keineswegs notwendig der Gedanke eines Entgegen, einer „Fehlentwicklung“, eines Querschlags mit; im Gegenteil lesen wir in unserem alten Schulgriechischbuch (Kappus-Walther), daß para die Grundbedeutung „nahe bei, bei, neben“ habe, so daß Röm 5,20 auch so verstanden werden könnte: Das Gesetz ist der Welt Adams und seinem Sündigen sehr nahe gekommen – und keineswegs: in die Quere.
Versteht man „in diesem Sinn das paulinische Wort pareiserchesthai“, dann gewinnt man nach Marquardt „eine biblische Substanz zurück“, denn nach 5. Mose 30,14 gilt vom Gesetzeswort: „Ganz nahe ist dir das Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tun kannst.“
Was aber ist nun [227] über die „Fortsetzung unseres Satzes 5,20“ zu sagen, dass Gott „mit dem Gesetz die Übertretung, also die Sünde, ‚größer machen‘, sich mehren lassen“ soll? Ist das, wie zum Beispiel Wolter meint, die einzige Aufgabe des Gesetzes? Spielt Mose „zwischen Adam und Christus“ in den Augen des Paulus eine ausschließlich verhängnisvolle Rolle? Marquardt schließt aus, dass „Gott ein Interesse daran haben“ kann, „daß in der Welt Adams die Sünde sich mehrt.“ Stattdessen „bezieht sich die Aussage“ auf den Vers 5,13b:
[O]hne Gesetz sind Sünder nicht zurechnungsfähig. Das heißt positiv: Mose und die Tora machen Adam und alle Adamsmenschen überhaupt erst zurechnungsfähig, verantwortlich, also: eigentlich erst zu geschichtlich richtigen Menschen und so erst: zu wahren Menschen, vere homines.
Zwar war schon Adam „schuldig vor Gott“, gerade er hatte „Gottes Weisung … nahe seinem Munde und seinem Herzen gehabt wie sonst niemand“, aber indem
er die Befolgung dieses Wortes nicht durchhielt, wurde er schuldig und verlor die ursprüngliche Gottesnähe, … geriet aus der Herrschaft des lebendigen Gottes unter die Herrschaft des tötenden Todes. Die anderen vor-mosaischen Menschen nach ihm waren davon mitbetroffen, selbst wenn sie „nicht mit der gleichen Übertretung gesündigt hatten wie Adam“ (5,14). … Eine Differenz des Sündigens wird also auch hier genauso behauptet, wie wir es im Verhältnis der Sünde der Juden und der Sünde der Gojim gehört hatten.
Entscheidend ist hier für Marquardt [226f.]: „Alle sündigen, aber nicht sündigen alle gleich.“ Alle „Kinder Adams“ taten es „faktisch (ohne dies zwanghaft zu müssen) … und forcierten so das Todesverhängnis in der Menschheit.“ Indem [227] das 1. Mosebuch vom „rapide abnehmende[n] Lebensalter der Väter Israels“ erzählt, wird „das Sich-Vorwärts-Fressen des Todes in der Lebenszeit der Menschen vor Mose“ in seiner ganzen Härte in den Blick genommen. Auch ihnen, den „Adamsmenschen“ muss die „Tora … mindestens ebenso nahe auf den Leib rücken wie der fressende Tod“. Allerdings: „abschaffen kann Mose den Tod sowieso nicht mehr; an die Wurzeln der Todesmacht wird erst Jesus mit seinem Sterben herankommen.“
Mose hat eine andere Aufgabe, nicht als „Erlöser von der Sünde, aber ihr Logiker.“ Das hatten wir schon in Vers 13 gesehen: „Mose und die Tora“ machen
Adam für seine Sünde zurechnungsfähig; das griechische Wort heißt ellogeisthai; … Sünde bekommt ihre Logik; Gott gibt sie ihr, indem er uns Mose und die Tora nahekommen läßt. Wenn etwas „logisch“ wird, wird es erkennbar, durchschaubar, kann man es verallgemeinern, kann man damit etwas anfangen, ein Verhältnis dazu einnehmen, sich dem stellen. Diese Möglichkeit gibt Gott dem Adam, indem er ihm den Mose sendet.
Vor Mose waren für jeden Menschen sein „Sündigen und Sterben … mindestens so unfaßbar, unbegreiflich und widersinnig, wie für Adam selbst“. Marquardt [228f.] betrachtet dies als den
Einbruch des Chaos in die Schöpfung, ohne Sinn, ohne Logik. Und von Adam an bis hin zum Kommen des Mose hat Gott dieser Menschheit nicht anders helfen wollen, als durch immer neue Anläufe, das Leben der urgeschichtlichen und frühgeschichtlichen Menschen zu bewahren, zu fördern durch wunderbare Rettungen, immer neue wunderbare Zeugungen, die der menschlichen Unfruchtbarkeit, dem Ausdörren und Aussterben entgegenwirken sollten; das erzählt das Buch Bereschit {1. Buch Mose – Genesis}.
An dieser Stelle lese ich bei Marquardt einen kühnen Satz, der darauf hinauslaufen wird, dass Gott auf „tiefgreifenden Vertrauensbruch“ der Menschheit damit reagiert, dass er selbst „an der Vertrauensbasis von sich aus festgehalten und … immer wieder auch ihm trauende Menschen gefunden hat“ [229]:
Aber Sünde und Tod zu logifizieren, Regeln zu ihrer Vermeidung zu geben, sie gegeneinander zu Ursache und Folge zu quantifizieren, sie so, kurz gesagt: berechenbar zu machen – auf die Idee wäre Gott nie gekommen. Er wollte den Menschen ihre einzelnen Übertretungen nicht „anrechnen“ und hat dies auch nicht getan. So waren Gott und Adam miteinander nicht dran. Ihr Verhältnis war auf emuna, Vertrauen, gebaut, auf freies Reden des einen und ein ebenso freies, zwangloses und unverkrampftes Hören und Antworten des anderen.
Von dieser Argumentation her zieht Marquardt für das Hinzukommen der Tora in die Welt den Schluss: „Aus diesem adamitischen Chaos der Gottesbeziehung wird eine mosaische Kultur der Gottesbeziebung.“ Das läuft ihm zufolge zugleich darauf hinaus, dass die Tora nicht nur eine ziemlich nebensächliche vorübergehende Bedeutung für ein einzelnes Volk besitzt, vielmehr [230] erschafft erst das
Gesetz des Mose … die Gattung Mensch, die Adamsmenschheit als Einheit. War sie bis zu Mose noch getrennt in den paradiesischen Adam und in die Adamskinder jenseits von Eden, in den guten Menschen, der gefallen ist, und in die gefallenen Menschen, die an ihre ursprüngliche Güte nicht mehr heranreichen, so wird dieser Unterschied durch Mose aufgehoben. Mose spricht der Menschheit den Adam zu und dem Adam die Menschheit, der massa perditionis {Menschheit oder wörtlich: Masse der Verderbtheit} die ursprüngliche Güte ihres Stammvaters, dem Stammvater aber auch die Last der Verantwortung für die Lage der massa perditionis jenseits von Eden. So entsteht die Gattung Mensch: durch Mose.
Erst dadurch kann auch „eine Menschheitsbedeutung Jesu Christi“ entstehen, nämlich, „indem er Adam begegnet.“ Dieses Ergebnis seiner Ausführungen spitzt Marquardt in dem Satz zu [231]: „Jesus Christus hat seine Universalität nicht im Gegensatz zu Mose, sondern durch Mose bekommen.“ Damit ist und bleibt es „Mose, der Adam christusgemäß macht“ und der Adam und Christus „miteinander in Blickkontakt und in eine erwachsene Beziehung bringt.“ Die Vermehrung der Sünde durch die Tora ist also nicht als Verschlimmerung der menschheitlichen Situation zu bewerten:
Natürlich wiegt Sünde nun schwerer, wenn Gott sie anrechnet; sie verliert, wenn man so will, den Charme ihrer Urwüchsigkeit, und es fällt schwerer, sich an ihr zu freuen als an einem Ausdruck vitalen, freien Menschentums, gar als der größten Selbstbefreiungsleistung der Gattung Mensch, als die unsere neuzeitlichen Philosophen die Schlangen-Gefolgschaft Adams gefeiert haben und bis zu Ernst Bloch hin weiter feiern. Aber dadurch, daß Adam durch Mose nun zurechnungsfähig für seine Sünde gemacht wird, wird er aus dem bis dahin nur vital-wirklichen nun zum wahren Menschen, kann also Adam zum typos tou mellontos {Muster des Zukünftigen} werden, behaftbar-schuldig, wissentlich- und willentlich-schuldig und darin dann allererst auch christusgemäß, nämlich: der Mensch, der sich jetzt so kennt, daß er weiß, wer er ist, und schreien kann: „Ich elender Mensch! wer wird mich befreien von dem Leib dieses Todes“ (7,24 – diese Selbsterkenntnis ist dort die Spitze der Erfahrung, die Adam mit Mose macht). In dieser Selbsterkenntnis wird er zu dem Menschen, der frei und bereit dazu wird, Christus für sich leben zu lassen.
Schließlich fragt Marquardt nach den Unterschieden von Adam und Christus innerhalb des Dreiecks „Christus- Adam-Mose“. Mose kann [231f.]
die Wurzel von Adams Sünde und Tod … bewußt machen, eindämmen, in ihrer progredierenden Schädlichkeit begrenzen; er kann sie aber nicht aufheben, abschaffen, aus der Welt schaffen… Mose kommt, wie Paulus sagt, an die paraptōmata heran, an die Übertretungen, an die akuten Äußerungsformen der Sünde, nicht an die hamartia selbst. … Es gibt kein jüdisches Mose- und Tora- Verständnis, das Mose als Befreier von diesen adamitischen Versklavermächten, ihn also als „Erlöser“ deutete; das jüdische Zutrauen zur Willensfreiheit der Menschen, die mit der Haftbarmachung Adams durch Mose gegeben ist, schließt das aus. Insofern muß die Formel vom pollō mallon {um wieviel mehr}, vom Übergewicht Christi nicht als antijüdische Meinung vertreten und aufgefaßt werden – zumal ja Christus dem Adam, nicht dem Mose, als überlegen beschrieben wird.
Jankowski legt diese Überlegungen Marquardts nicht im einzelnen dar, setzt sie jedoch voraus, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, die den die jüdische Tora grundsätzlich abwertenden Überzeugungen Wolters entschieden widerspricht (J136):
Die Thora ist kein Zwischenfall, erst recht kein Störfall. Im Gegenteil. Sie ist geradezu notwendig. „Die Sünde kam hinein (eiserchesthai) in das Weltsystem“, so heißt es zu Beginn des Abschnitts. „Die Thora kam gerade dazu hinein (pareiserchesthai)“, heißt es jetzt. Die Sünde hat im Weltsystem ein Gegenüber. Die Thora macht die einzelnen Delikte als Sünde erkennbar. Gleichzeitig bietet sie einen Entwurf von Leben, das nicht beherrscht ist von Sünde und Tod. Thora macht deutlich, wo Sünde in der Welt ist, wie Sünde funktioniert. Sie macht erst recht deutlich, daß das ganze System total von Sünde, von Irrungen und Wirrungen, von Verbrechen bestimmt ist. Es fließt gleichsam davon über. Die Thora ermöglicht es, zu beurteilen, daß das ganze Weltsystem der Vielen durch und durch falsch geortet ist.
Es ist also nicht die Tora als ein in sich überflüssiges oder sogar schädliches Gesetz, das zur Vermehrung der menschheitlichen Verfehlung führt; vielmehr ist sie ein von Gott gegebenes gutes Gesetz, das aufdeckt, worin die menschheitliche Verfehlung besteht. Das Problem, das Paulus nun dennoch im Blick auf die Tora erkennt, besteht darin, dass weder Juden noch Gojim dazu imstande waren, die Tora zu befolgen:
Wenn denn die Thora das Angebot des Lebens gegen das System der Sünde ist, hätten die vielen Gojim mit Israel zusammen dieses Angebot annehmen müssen. Sie haben es nicht getan. Deswegen stehen sie unter der ausufernden Herrschaft der Sünde. So verhindern sie im Grunde auch eine wahre Menschheit, sie perpetuieren die Unmenschwerdung.
Weil es den Juden nicht gelungen ist und unter der römischen Weltordnung auch gar nicht gelingen kann, getrennt von den Völkern nach der Tora zu leben, hat Gott, wovon Paulus fest überzeugt ist, durch die Sendung des Messias Jesus in die Welt und durch seinen Tod am römischen Kreuz einen neuen Weg eingeschlagen (J136f.):
Begonnen hat eine neue Menschwerdung im Messias. Diese Menschwerdung ist gottgewollt von Anfang an. Die Fehlentwicklung der Unmenschwerdung wird überwunden durch die Solidarität Gottes zu der Menschheit, die von den vielen Gojim geprägt ist. Der Totalität der Sünde, von der sie beherrscht ist, steht die Solidarität gegenüber, die ihr gewährt wird. Mit dieser gewährten und zu bewährenden Solidarität kann neue Menschheit werden. Sie wird die tödlichen Ordnungsstrukturen des Weltsystems aufbrechen und heilen. Für Paulus ist das eine Perspektive auf Weltzeit hin, eröffnet von Gott her in einem Strom von anerkennender Gnade.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 5,12-21
5,12 Darum: Wie durch einen Menschen
die Verfehlung in die Weltordnung hineingekommen ist
und durch die Verfehlung der Tod
und somit zu allen Menschen der Tod durchgekommen ist,
deswegen, weil alle fehlgegangen sind …
5,13 Denn bis zur Tora war Verfehlung in der Weltordnung,
Verfehlung wird aber nicht angerechnet, wenn die Tora nicht da ist.
5,14 Der Tod aber herrschte von Adam bis Mose auch bei denen,
die nicht nach dem Modell der Übertretung Adams fehlgegangen sind.
Der ist das Muster des Zukünftigen.
5,15 Aber nicht wie der Fehltritt so auch die Gnadengabe:
Denn wenn durch des Einen Fehltritt die Vielen gestorben sind,
um wieviel mehr ist die Gnade Gottes und das Geschenk voll Gnade,
der des einen Menschen Jesus, des Messias,
auf die Vielen hin überreich geworden.
5,16 Und nicht wie durch Einen, der fehlgegangen ist, (ist) das Geschenk:
Denn zwar (führte) das Urteil von Einem zur Verurteilung,
die Gnadengabe aber von vielen Fehltritten her zu wahr machendem Tun.
5,17 Denn wenn aufgrund des Fehltritts des Einen
der Tod die Herrschaft ergriffen hat durch den Einen,
um wieviel mehr werden die, die den Überfluss der Gnade
und das Geschenk der Bewährtheit empfangen,
im Leben herrschen durch den Einen, Jesus, den Messias.
5,18 Also nun: Wie (es) durch des Einen Fehltritt
für alle Menschen zur Verurteilung (kam),
so auch durch das wahr machende Tun des Einen
für alle Menschen zur Zurechtbringung des Lebens.
5,19 Denn wie durch das Weghören des einen Menschen
die Vielen als Fehlgehende hingestellt worden sind,
so werden auch durch das Zuhören des Einen
die Vielen als Bewährte hingestellt werden.
5,20 Die Tora aber ist daneben hinzugekommen,
damit der Fehltritt anwuchs.
Wo aber die Verfehlung angewachsen ist,
ist die Gnade überreich geworden,
5,21 damit, wie die Verfehlung geherrscht hat in dem Tod,
so auch die Gnade herrsche durch Bewährtheit
zum Leben in die Zeitalter hinein
durch Jesus, den Messias, unseren Herrn.
↑ Wer auf den Tod des Messias hin getauft ist, ist der Verfehlung gestorben, um den Weg eines neuen Lebens zu gehen (Römer 6,1-11)
[15. März 2025] Am Anfang der Auslegung von Römer 6 stellt Michael Wolter heraus (W364), „dass jetzt ein neuer thematischer Zusammenhang beginnt“, und zwar trotz der engen Verklammerung von „Röm 6,1 … mit dem Ende von Kap. 5“. Paulus konzentriert sich jetzt nicht mehr auf das durch Christus erreichte Heil, sondern auf
die Situation derjenigen, die „die reiche Fülle der Gnade und des Geschenks der Gerechtigkeit empfangen“ (5,17). Dementsprechend richtet sich die Eingangsfrage auf die Folgen, die sich daraus für ihre Lebensgestaltung ergeben. Nach hinten ist dieser Briefteil durch den Wechsel zum Israel-Thema ab 9,1 deutlich abgegrenzt.
Anders als im großen Zusammenhang von Römer 1,18 – 5,21 vermisst Wolter in den Kapiteln 6-8 allerdings einen „in sich geschlossenen Gedankengang, der durch einen theologischen Spannungsbogen zusammengehalten würde“. Stattdessen ist die „Abfolge von einzelnen Erörterungen“ über das „neue Leben der von der Herrschaft der Sünde Befreiten“, wie er diesen Abschnitt seiner Auslegung überschreibt, einerseits „durch Stichwortverknüpfungen miteinander verbunden“, andererseits aber auch „durch eine Reihe von Leitwörtern“, von der „Sünde“ über „die anthropologischen Begriffe sōma {Leib} … und sarx {Fleisch}“ über „Gerechtigkeitsbegriffe“ und „die Antithese von ‚Tod/sterben‘ und ‚Leben/leben‘“ bis hin zur „Metapher der ‚Sklaverei‘“ und der „Rede vom Geist“:
Davon abgesehen gibt es aber auch ein Thema, das Paulus schon vorher ständig beschäftigt hat und das auch in dem nun folgenden Briefteil nicht nur präsent bleibt, sondern zeitweise sogar im Vordergrund steht: das Thema „Gesetz“ (nomos)…
Der erste Abschnitt dieses Zusammenhangs von Römer 6,1 – 8,39 umfasst Wolter zufolge (W367) die Verse 6,1-11, denn bis dahin geht es um „die Identität der Getauften“ und ihre „Ergehensgemeinschaft … mit Christus“, während er mit Vers 12 in den Ton der Ermahnung wechselt und „das Verhalten seiner Adressaten in den Blick“ nimmt. Worum es inhaltlich geht, fasst Wolter folgendermaßen zusammen (W383f.):
Paulus arbeitet in diesem Abschnitt den radikalen Bruch heraus, der die Getauften von ihrer Existenz vor der Taufe trennt. Vorausgesetzt ist dabei, dass das Christentum in paulinischer Zeit noch eine Bekehrungsreligion war. Theologisch qualifiziert wird dieser Bruch als Befreiung von der Macht der Sünde, unter deren Herrschaft Adam alle von ihm abstammenden Menschen gebracht hat. Diese Befreiung ist durch die Taufe erfolgt, die in paulinischer Zeit immer eine Bekehrungstaufe war und christliche Biographien in ein Davor und ein Danach getrennt hat.
Diese Ausführungen stellen natürlich massiv die von mir favorisierte Auslegung Jankowskis in Frage, dass keineswegs bereits Paulus das Christentum als Bekehrungsreligion in Abkehr von der Religion des Judentums begriffen hat. Es wird zu prüfen sein, ob Wolters Einschätzung tatsächlich auf unumstößlichen Grundlagen beruht.
Zum Stichwort „Taufe“ betont Wolter, dass sie hier „nicht als Interpretationsgegenstand im Zentrum“ steht, sondern als „Interpretationsmittel.“ Sein „Taufverständnis“ muss Paulus allerdings zu diesem Zweck dennoch ansatzweise darlegen:
Er deutet die Taufe „auf Christus Jesus“ in V. 3 als Taufe „auf seinen Tod“ und kann sie dadurch als ‚Tod‘ der vorchristlichen Existenz der Getauften erklären. Aus diesem metaphorischen Verständnis der Taufe als Tod gewinnt Paulus die zentrale Aussage dieses Abschnitts (V. 6-7): Durch den ‚Tod‘, den die christlichen Wir bei ihrer Taufe gestorben sind, hat die Sünde bekommen, was sie seit Adam von allen Menschen verlangt: den Tod des Sünders und der Sünderin. Sie ist durch den Tauf-Tod der christlichen Wir gewissermaßen abgefunden und hat keine Ansprüche mehr an sie. Umgekehrt sind die Getauften von der Herrschaft der Sünde und so auch vom Zwang zum Sündigen befreit. Aus diesem Grunde wird die Taufe auch nicht nur in V. 3-4 in den Blick genommen, wo sie expressis verbis erwähnt wird, sondern sie ist mit der Deutung, die Paulus ihr in diesen beiden Versen gibt, auch in V. 5-11 präsent, wo er die christlichen Wir mit Jesus Christus in der Ergehensgemeinschaft von Tod und Leben verbindet.
Gerhard Jankowski (J6) behandelt das Kapitel Römer 6 unter der Überschrift „Auf Tod und Leben“ mit den Unterabschnitten „Taufe 6,1-5“, „Vom Tod zum Leben: der Messias 6,6-10“, „Vom Tod zum Leben: eine Ermutigung 6,11-14“ und „Vom Dienst zum Dienst 6,15-23“. Weiter geht es dann in Römer 7,1 – 8,17 grundsätzlich um „die Thora“ und in 8,18-39 um das Thema „Neue Epoche, neue Welt, neuer Mensch“.
Ganz anders als Wolter erkennt Jankowski (J137) in dieser Abfolge „eine annähernd ähnliche Struktur“ wie in „der Erzählung von der Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens“. Das beginnt damit, dass Paulus seit „dem Midrasch über Abraham“ zunehmend „von Herrschaft des Todes, von Leben, von der Thora“ spricht, und setzt sich folgendermaßen fort:
Herrschaft und Unterdrückung – der Schrei aus der Unterdrückung – die Befreiung – die Gabe der Thora – mit der Thora neues Leben lernen…
Die Hauptstichworte dieser Kapitel sind zunächst Tod/sterben. Allein in Röm 6 finden wir fünfzehnmal das Wort Tod. Auch der Sklavendienst wird in Röm 6 direkt angesprochen. Das Motiv der Befreiung wird bei der Rede von der Auferweckung des Messias aus den Toten erkennbar. Die Thora spielt vor allem im 7. Kapitel eine überragende und geradezu dramatische Rolle. Und schließlich hören wir im 8. Kapitel von der Vision eines neuen Lebens in einer neuen Epoche.
Erneut stützt sich Jankowski mit diesem Gedankengut auf Friedrich-Wilhelm Marquardt. Diesem zufolge [234f.] hat
es sachlichen Sinn, daß vor der Besinnung auf das Leben mit dem Gesetz in Kapitel 7-8 von den Daseinsdimensionen von Knechtschaft und Befreiung in Kapitel 6 gesprochen wird. …
Von Tod und Auferstehung Christi her erscheint die „Herrschaft der Sünde“ als das neue Ägypten. Sie ist die große Versklavermacht, der wir alle unterworfen sind; ihr hat sich auch Jesus von Nazareth unterworfen. Das hatte seinen Tod zur Folge, aus dem er aber am dritten Tage herausgerettet wurde; Ostern ist demnach der neue Exodus. Durch diese österliche Befreiung hat mit dem Tod auch die Sünde ihre Letztwirklichkeit verloren. Die christliche Verkündigung hat von Anfang an ausgerufen: Jesus war nicht allein in Ägypten, und er ist da nicht allein herausgekommen; er hat das alles gelebt „für uns“, sich „für uns“ unter die Macht der Sünde gebeugt, ist daran „für uns“ gestorben, und Gott hat ihn aus seinem Tode herausgerissen um unseretwillen – nicht um seiner selbst willen. Indem sie sich taufen lassen, bejahen und beantworten ein Jude oder ein Goj ihre Lebensteilnahme am Leben, Sterben und Auferstehen Jesu, also am neuen Exodus.
Interessant ist bei Marquardt [232], dass er seinen Ausführungen zu Römer 6 zwar die Überschrift „Christen“ gibt, aber das damit Gemeinte ganz anders akzentuiert sieht als Wolter. Marquardt fragt sich nämlich [233]:
Was ist eigentlich unter Juden und Gojim, Beschnittenen und Unbeschnittenen, ein Christ? Bildet er, wie es in der alten Kirche und in der Geschichte mehr als einmal gesagt worden ist, ein eigenes „drittes Geschlecht“? Ist der Christ, sofern er – glaubend – weder Jude noch Grieche ist, eine Art Mensch sui generis, eigener Geschöpflichkeit und Herkunft, sind Christen gar ein anderes Volk zwischen dem jüdischen Volk und den anderen Völkern?
Im Gegenteil: Kirche hat darin ihr Wesen, daß sie derjenige Zusammenkunftsort ist, diejenige synagōgē, in der mit gleichem Recht die Juden wie die Nichtjuden geeint beieinander sind. Sie bildet also keine dritte Säule der biblischen Ontologie neben der Säule der Juden und der der Griechen. Kirche ist nur eine bestimmte Realisierungsform oder Aktualisierungsform der biblischen Grundbeziehung von Juden und Gojim.
Zurück zur von Marquardt skizzierten „Exodusstruktur“ im Römerbrief. Ein „Stichwort“ scheint nach Jankowski (J137) kaum in sie hineinzupassen, obwohl es „in den Kapiteln 6-8 beherrschend“ wird:
Es ist das Wort Sünde. Wir hatten es bereits häufig gehört. Jetzt aber tritt es besonders hervor. Allein in Röm 6-7 hören wir es 36mal (von insgesamt 47mal im gesamten Römerbrief). Sünde, das scheint der große Störfaktor zu sein. Sie steht dem Befreiungsgeschehen immer wieder im Wege, behindert und verhindert das Leben – und das nicht in einer fernen Vergangenheit, sondern überaus schmerzhaft spürbar in der Gegenwart. Sklaverei, das scheint die Beherrschung der Menschen durch die Sünde zu sein. Natürlich ist das ein unerträglicher Zustand. Genauso unerträglich scheint es zu sein, daß trotz der Thora die Zustände sich nicht verändern lassen, sondern nur noch tiefer ins Elend kommen. So scheint es. Erkennbar aber wird auch, daß Sünde in diesem Zusammenhang keine moralische Kategorie sein kann, sondern gesellschaftlich zu bestimmen ist.
Anscheinend knüpft Jankowski zwar an Marquardt an, geht aber an diesem Punkt von dessen metaphorischer Einschätzung der Sünde als „Versklavermacht“ her einen etwas anderen Weg, auf dem er sich des Umgangs mit realer Versklavung und ihrer Überwindung in den Büchern der jüdischen Tora erinnert. Dabei greift er in diesem Zusammenhang nicht auf die „Befreiungserzählungen“ im 2. Buch Mose {Exodus} zurück, sondern auf das darauf folgende, uns Christen eher weniger vertraute Buch, „in dem das Wort Sünde im Verhältnis zu den anderen Büchern“ ebenfalls (J137f.)
gehäuft vorkommt. Das ist das Buch Leviticus {3. Buch Mose}. Auch dieses Buch steht im Zusammenhang der Befreiungserzählungen der Thora. In ihm geht es im wesentlichen um die Einübung der Thora in der Gemeinschaft der Befreiten. In jüdischen Lehrhäusern beginnt deswegen das Studium der Thora mit der Lektüre dieses Buches. Die häufige Verwendung des Wortes Sünde könnte ein Hinweis darauf sein, daß Paulus sich von diesem Buch bei seinem Versuch, die Gemeinschaft aus Juden und Nichtjuden zu begründen, leiten läßt. Ein zentrales Stück dieses Buches, die Haggada des Jom Kippur, hat er bereits für seine Praxis ausgelegt. Andere, wie z.B. die Heiligung, werden noch folgen. Schließlich waren zur Zeit des Paulus die Kapitel Lev 19-20 die Grundlage für die Bestimmungen über die Proselyten.
Da Jankowski also davon ausgeht, „daß dieses für uns so fremde Buch Leviticus auf weite Strecken den Gedankengang des Paulus in den nun folgenden Kapiteln bestimmt“, versucht er dem „bei der Auslegung Rechnung zu tragen“.
↑ Römer 6,1-2: Wer Gnade erfahren hat, ist der Verfehlung gestorben und bleibt nicht in ihr
6,1 Was wollen wir hierzu sagen?
Sollen wir denn in der Sünde beharren,
damit die Gnade umso mächtiger werde?
6,2 Das sei ferne!
Wir sind doch der Sünde gestorben.
Wie können wir noch in ihr leben?
[16. März 2025] Am Ende von Kapitel 5 hatte Paulus in Vers 20b die These vertreten (W341): „Wo … die Sünde sich vermehrt hat, ist die Gnade noch weit darüber hinaus gegangen“. In Römer 6,1 fragt er (W366) „danach, welche Konsequenzen für die Lebensführung“ sich daraus ergeben, und „der Beantwortung dieser Frage“ wird bis Römer 7,6 alles, was folgt, „unmittelbar oder mittelbar“ dienen. Nach Michael Wolter besteht die Konsequenz im Leben der „durch Christus und aus Glauben ‚Gerechtfertigten‘ (3,24; 5,1.9)“ darin, „dass zwischen dem ‚Einst‘ und dem ‚Jetzt‘ der christlichen Existenz ein tiefgreifender Bruch liegt“, der (W367) von „Paulus am Anfang und am Ende … als ein ‚Sterben‘ … (6,2-11; 7,4-6)“ beschrieben werden kann.
Paulus formuliert in zwei Fragen (W368) einen „Einwand gegen das in 5,20b Gesagte“, der auch an Römer 3,8 erinnert und
das in 5,20b Gesagte ad absurdum führen will: Wenn es denn so wäre, dass Gott auf die Vermehrung von Sünde mit der Potenzierung seiner Gnade reagiert, folge daraus dann nicht, dass die Menschen mit dem Sündigen bedenkenlos weitermachen könnten, weil sie ja zuverlässig mit Gottes Gnade rechnen dürften?
Damit blickt man aber „auf das Christusgeschehen“ nicht „aus der Perspektive des Glaubens … zurück“, sondern (W369) aus der „Blickrichtung … der Sünder … auf das Heilshandeln Gottes voraus“, und zwar indem der „fiktive Fragesteller … das Verhältnis von Sünde und Gnade… formal … bzw. … kata sarka {nach dem Fleisch}“ versteht:
Er tut so, als hätte er die Heilserfahrung des Christusgeschehens noch vor sich; nur darum kann er seinem Sündigen eine Heilsfolge zuschreiben und meinen, die paulinische Darstellung in 5,15-17.20-21 dadurch ad absurdum führen zu können (V. 1c). Hierbei handelt es sich jedoch um eine erkenntnistheoretische Unmöglichkeit, denn nur wer im Christusgeschehen das Heilshandeln Gottes erkannt hat, kann wissen, dass Gottes Gnade die Sünde überbietet. Wer das aber weiß, befindet sich schon auf der anderen Seite; er steht nicht mehr unter der Herrschaft der Sünde, sondern bereits unter der Herrschaft der Gnade. Nicht als Sünder, sondern nur als Begnadigter kann man wissen, wie Gottes Gnade funktioniert. Der Fragesteller vermischt also zwei miteinander unvereinbare Perspektiven: die des Sünders mit der des Glaubenden und Begnadigten.
Wolter betont, dass es sich hier „nicht um einen speziell jüdischen Einwand gegen die paulinische Interpretation des Christusgeschehens“ handelt; jeder, „der nicht glaubt“, könnte so fragen.
Paulus weist die „fiktive Frage …, die in eine falsche Schlussfolgerung mündet“, auch hier wieder mit „dem Ausruf mē genoito {keinesfalls}“ entschieden zurück und bestreitet „mit einer rhetorischen Frage … die Voraussetzung“ des Einwands:
Christen (sie sind mit dem Wir in V. 2b.c gemeint) stehen bereits auf der anderen Seite. Für sie kann sich die Frage, ob sie „bei der Sünde bleiben sollen“, überhaupt nicht mehr stellen, denn sie haben mit der Sünde nichts mehr zu tun. Anders als in V. 1 versteht Paulus die Sünde jetzt als Macht, von der die christlichen Wir losgekommen sind. Das Wir in V. 2 ist darum ein anderes Wir als in V. 1b: Es blickt auf den Bruch mit der Sünde zurück, während das Wir der fiktiven Frage ihn noch vor sich sieht.
Genauer betrachtet Wolter die Metapher, mit der Paulus dieses „Getrenntsein von der Sünde umschreibt“, nämlich „apothnēskein {sterben} + Dativ“, mit der „auch sonst zum Ausdruck“ gebracht wird, „dass eine Beziehung definitiv beendet wurde.“ Ebenso „bedeutet zēn {leben} + Dativ das Bestehen einer engen und unauflöslichen Verbundenheit.“ Später, nämlich in den Versen 10-11, „finden sich beide Seiten im Gegenüber von Sünde und Gott: ‚der Sünde gestorben bzw. tot sein‘ und ‚Gott leben‘.“ Ganz ähnlich sagt Paulus in Galater 2,19 „von der Bekehrung des christlichen Ich, dass es ‚durch das Gesetz … dem Gesetz gestorben ist (dia nomou nomō apethanon)‘, und ähnlich heißt es in Röm 7,4: ‚Ihr seid dem Gesetz gestorben (hymeis ethanatōthēte tō nomō)‘“. Außerdem verweist Wolter auf „Lk 20,38; 2Kor 5,15; 1Petr 2,24“ sowie auf eine Reihe außerbiblischer Quellen.
Indem Paulus durch die „rhetorische Frage in Röm 6,2c“ die „Unterstellung von V. 1b“ zurückweist, spricht er Wolter zufolge „nicht von der Lebensführung …, sondern von der anthropologischen Verbundenheit mit der Sünde und der Bestimmtheit durch sie“. Diese „Zeit des Lebens ‚in‘ der Sünde“ ist für „die christlichen Wir“ zur „Vergangenheit“ geworden, und das wird Paulus in den nächsten Versen „unter Rückgriff auf die Taufe“ erklären.
Auch Gerhard Jankowski (J138) betont zur Auslegung von Römer 6,1-2 zunächst, wie diese Verse an Vers 5,20 anknüpfen:
Wo die Sünde reichlich wirkt, da ist Annahme und Solidarität noch reichlicher am Werk. Das ist ein gefährlicher Satz. Er könnte so ausgelegt werden: Laßt uns kräftig sündigen, damit wir erst recht den Überschuß der Solidarität Gottes erfahren.
Anders als Wolter erwägt Jankowski jedoch, dass „Paulus in seiner Auseinandersetzung mit der Orthodoxie diesen Satz oft genug zu hören bekommen“ haben mag, nämlich „als Kritik an seiner Praxis“. Konnte man nicht (J138f.)
fast eine Rechnung daraus aufmachen: Wer mit möglichst vielen Gojim zusammenlebt, erzwingt immer größere Solidarität Gottes den Gojim gegenüber. Mit Gojim zusammenleben hieß in der Orthodoxie: die Thora übertreten. Die Thora übertreten bedeutete, Sünder zu sein. Mit den Gojim konnte man nicht zusammenleben, weil sie prinzipiell als unrein galten. Man wurde dadurch selbst unrein, sündig. Laßt uns in der Sünde bleiben, damit die Solidarität einen Überschuß habe – so kann der Umgang des Paulus und anderer mit den Gojim bewußt falsch verstanden werden.
Das von Paulus dagegen angeführt Argument nennt Jankowski (J139) „auf den ersten Blick verblüffend einfach“. Paulus behauptet:
Wir sind der Sünde gestorben, wir können nicht in ihr leben (6,2). Über Gestorbene hat niemand Macht. Gestorbene werden begraben. Niemand kann auf sie Einfluß nehmen. Auch die Sünde kann das nicht.
Im Widerspruch dazu steht allerdings, dass „alle die, die Paulus als Gestorbene bezeichnet“ und die er „auch noch Tote nennen“ wird, sogar „Begrabene“, in einer herausgehobenen Weise leben. Obwohl „die Sphäre des Todes in diesen Sätzen fast dominant wird“, ist Paulus „dennoch … nicht in den Tod verliebt.“ Er muss sich aber mit ihm auseinandersetzen, da es „die Sünde … in ihrer zerstörerischen Breite mit dem Tod zu tun“ hat und „weitgehend auch das gesellschaftliche Leben“ bestimmt:
Mit dem Tod ist zu rechnen. Aber das Leben ist zu gestalten auch gegen den Tod. Die Paulus Gestorbene nennt, kennen ein Leben, das nicht mehr bestimmt ist von Sünde und Tod. Dieses Leben ist definiert durch die Taufe auf den Messias Jesus hin.
↑ Römer 6,3-5: Auf den Tod des Messias hin getauft, mit ihm begraben, verwachsen, gehen wir den Weg in Lebensneuheit, ihm gleich auch künftig in der Auferstehung
6,3 Oder wisst ihr nicht,
dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
6,4 So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten
durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln.
6,5 Denn wenn wir mit ihm zusammengewachsen sind,
ihm gleich geworden in seinem Tod,
so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.
[17. März 2025] Indem Paulus in Römer 6,3 auf die Taufe zu sprechen kommt, will er Michael Wolter zufolge (W370) „nicht die Bedeutung der Taufe erklären, sondern mit Hilfe der Taufe erklären, warum die christlichen Wir der Sünde gestorben sind“. Allerdings muss er zu diesem Zweck zugleich sein „Verständnis der Taufe“ darlegen. Denn seine Argumentation ist nur dann plausibel, wenn es erstens „keinen Christen gibt, der nicht getauft wäre“, und zweitens
die Taufe in paulinischer Zeit immer eine Bekehrungstaufe war. Durch sie wurden die Lebensgeschichten der Getauften in ein nichtchristliches Davor und ein christliches Danach geteilt, und jedem Getauften war sie Zeit seines Lebens als ein biographischer Einschnitt erinnerlich.
Aufgegeben wurde unter den Exegeten inzwischen die „früher verbreitete Annahme, Paulus würde in V. 3 eine Tauftradition zitieren“. Zur Bedeutung von (W371) baptizesthai eis Christon Iēsoun {auf Jesus Christus getauft werden} hebt Wolter hervor, „dass er das Verb baptizein nicht mehr nur mit der ursprünglichen Bedeutung ‚eintauchen‘ oder ‚waschen‘ verwendet“, die (Anm. 22) in „Mk 7,4 und … Jos 3,15; 2Kön 5,14; Jdt 12,7; Sir 34,25“ vorkommt, sondern stattdessen als „Bezeichnung für das gesamte rituelle Handlungsgefüge, das wir ‚Taufe‘ nennen.“
Zur (W371) „rhetorischen Frage ē agnoeite hoti … {oder wisst ihr nicht, dass …}“ sagt Wolter, dass „Paulus nicht an bereits Bekanntes erinnern“, sondern im „Gegenteil … die erstmals hier vorgetragene Taufdeutung als selbstverständlich“ erscheinen lassen will. Dabei setzt er in Vers 3b voraus, „dass alle Christen ‚auf Christus Jesus‘ getauft sind“ und verdichtet damit die „Rede vom ‚Taufen auf den Namen (eis to onoma) Jesu‘, die in Mt 28,19; Apg 8,16; 19,5 ihre Spuren hinterlassen hat“ und mit der „ die ersten Christen nach Ostern den Unterschied zwischen ihrer eigenen Taufpraxis und der Taufe Johannes des Täufers zum Ausdruck gebracht“ haben. Indem nach Vers 3c (W372) jede „Taufe ‚auf Christus Jesus‘ … eine Taufe ‚auf seinen Tod‘“ ist, macht Paulus darauf „aufmerksam, dass die Zugehörigkeit zu Christus, die durch die Taufe hergestellt wird, die Getauften auch mit Jesu Tod verbindet.“
In Vers 8a wird deutlich werden, wie „Paulus die Veränderung verstanden wissen will, die sich an den Getauften vollzieht“, nämlich „als ein ‚Mit-Christus-gestorben- sein‘.“ Was damit gemeint ist, dass man „gewissermaßen“ mit Jesus stirbt, wird in Vers 5 mit dem Wort homoiōma {Gleichheit} angedeutet werden. „Eine Deutung des Todes Jesu als Heilstod ‚für uns‘ oder ‚für unsere Sünden‘ im Sinne von Röm 3,24-25; 4,25a; 5,6.8-10; 1Kor 15,3 etc.“ schließt Wolter allerdings für unseren Text aus. In seinen Augen passt diese „Taufinterpretation“ des Paulus zu seiner „Bekehrungsmetaphorik aus V. 2“: seine zum Christus-Glauben bekehrten Leser können ihre Taufe „als eine Art Tod interpretieren: als ‚Tod‘ ihres vorchristlichen Lebens.“
In Vers 4a weitet Paulus die Vorstellung, eis ton thanaton Christi Jesu {auf seinen Tod} getauft zu sein, insofern aus, als er (W373) „die gesamte Taufhandlung… hier auch als ein Begrabenwerden mit Christus interpretiert.“ Üblicherweise bezieht sich das Wort synthaptein {Mitbegraben} auf „die Bestattung in einem Grab …, in dem schon eine andere Person liegt“; oft „ist das Mitbegrabenwerden darum ein Zeichen besonders enger Verbundenheit mit einem Verstorbenen“. Metaphorisch will Paulus daher in Vers 4a „die enge Zusammengehörigkeit der Getauften mit Jesus zum Ausdruck bringen“, während (Anm. 34) er sich wohl kaum auf „die alttestamentliche Formel vom Begraben-Werden ‚mit‘ (meta) oder ‚bei (para) den Vätern‘ (z.B. Gen 49,29; 1Kön 14,31; 15,24; 22,51; 2Kön 8,24; 12,22; 13,9)“ bezieht.
In Vers 4b kommt Paulus (W374) „nach dem Tod (V. 3c) und dem Begrabenwerden Christi (V. 4a) … nun auch noch auf seine Auferstehung zu sprechen“, was „den Stationen des Todes- und Auferstehungsgeschicks Jesu von 1Kor 15,3-4“ entspricht: apethanen, etaphē, egēgertai {gestorben, begraben, auferweckt}. Da es Gott „war, der Jesus von den Toten auferweckt hat“, bezeichnet „der Ausdruck dia tēs doxēs tou patros {durch die Herrlichkeit des Vaters} … den begleitenden Umstand“ dieser „Auferweckung“, in der sich „Gottes Herrlichkeit“ manifestiert und „als solche für die Menschen wahrnehmbar“ wird. Zwar weiß nach Wolter „schon das Alte Testament“, dass „Gott in seinem Handeln seine ‚Herrlichkeit‘ zu erkennen gibt“, und er verweist exemplarisch auf „Ex 16,7; Num 14,22; Dtn 5,24; Ps 97,6; Jes 35,2; 40,5“, aber er erwägt nicht, ob sich die doxa, hebr. kavod {Herrlichkeit, Ehre} des Gottes Israels, die sich in aller Regel im Befreiungshandeln an seinem Volk verwirklicht, nicht auch im auferweckenden Handeln Gottes an seinem Messias auf die Befreiung Israels in Gemeinschaft mit den Völkern beziehen könnte, statt sich nur auf glaubende Individuen auszuwirken.
Was meint Paulus in Vers 4c mit der Wendung en kainotēti zōēs peritapein {wörtlich: in Lebens Neuheit wandeln}? Er sagt „nicht, dass die Getauften bereits mit Jesus auferstanden wären“, das wird er in den Versen 5b und 8b „erst für die Zukunft in Aussicht“ stellen: „In der Gegenwart entspricht der Auferstehung Jesu auf Seiten der Getauften ein ‚Wandeln‘ (petipatein) ‚in der Neuheit (kainotēs) des Lebens‘.“ Wolter meint nun nicht, dass Paulus damit „ein durch Bekehrung und Taufe erneuertes Leben im Gegenüber zum vorherigen Leben“ bezeichnet:
Der Ausdruck ist vielmehr genauso zu verstehen wie kainotēs pneumatos {Neuheit des Geistes} in Röm 7,4: Es ist das „Leben“ selbst, das die Getauften vorher nicht hatten und das sie jetzt neu gewonnen haben. Sie „wandeln“ jetzt also nicht lediglich in einem anderen Leben als vorher, sondern dass ihr peripatein jetzt durch „Leben“ gekennzeichnet ist, das ist das Neue.
Auch aus „der außerneutestamentlichen Literatur“ zieht Wolter den Schluss, dass mit „dem von kainotēs {Neuheit} abhängigen Genitiv … immer das bezeichnet“ wird, „was es vorher nicht gab.“ Damit bezieht sich Paulus (W375)
auf die Aussagen über die Verbreitung des Todes unter allen Menschen (Röm 5,12c) und seine Herrschaft über sie (5,17a.21a) … Die Taufe bringt für die Getauften also nicht nur „Tod“ (V. 2-3); sie schenkt ihnen auch „Leben“. Es ist ein Leben, das nicht mehr unter der Herrschaft und im Schatten des Todes steht, sondern ewig bleibt und darum im Sinne von 5,17b.21b von eschatischer {auf die Endzeit bezogener} Qualität ist.
Dieses „Leben, das ihnen aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Auferstandenen bereits in der Gegenwart gehört“, hat „natürlich … mit den alltäglichen Vorstellungen von ‚Leben‘ nichts zu tun“. Vielmehr führt Paulus nicht nur in Vers 2 einen „neuen, metaphorischen Begriff von ‚sterben‘“ ein, sondern hier nun auch „einen neuen Begriff von ‚Leben‘“. Dass „dieses ‚Leben‘ auch existentiell dargestellt und erfahren werden kann“, stellt Paulus „mit dem Finalsatz hina … peripatēsōmen {damit … wir wandeln} fest“. Wolter hält das deswegen für
wichtig, weil das Getauft-Sein der Christen als solches ganz unanschaulich ist. Keinem Getauften kann man von außen ansehen, dass er getauft ist. Es ist darum einzig und allein die Lebensführung, die zum Ausdruck bringen kann, dass der Getaufte nicht mehr derselbe Mensch ist wie vorher. Darum wird es dann in V. 12-23 gehen.
Bezeichnend für Wolters Auslegung ist, dass er (Anm. 41) dieses bedeutungsmäßige „Profil von peripatein {wandeln} … im Neuen Testament vor allem bei Paulus (vgl. noch Röm 8,4; 13,13; 14,15; 1Kor 3,3; 7,17; Gal 5,16; Phil 3,17; 1Thess 2,12; 4,1.12) und in der johanneischen Literatur (Joh 8,12; 11,9.10; 12,35; 1Joh 1,6.7; 2,6.11; 2Joh 4.6; 3Joh 3.4)“ belegt sieht, während in „den Schriften des hellenistischen Judentums … peripatein nur ganz selten diese Bedeutung“ hat, wozu er u.a. auf „2Kön 20,3; Spr 8,20; Pred 11,9“ verweist. Dass Paulus an eine jüdische Halacha denken könnte, in die im Vertrauen auf den Messias Jesus auch Nichtjuden einbezogen werden, was Jankowki annimmt (siehe unten), liegt außerhalb des Vorstellungshorizontes, den Wolter exegetisch voraussetzt.
In Vers 5a greift Paulus (W375) eine andere „metaphorische Umschreibung“ aus dem „Bildfeld der Biologie“ auf, um noch einmal zu umschreiben, „was bei der Taufe ‚auf Christus Jesus‘ (V. 3b) als einer Taufe auf seinen Tod geschehen ist (V. 4a)“, nämlich symphytoi gegonamen {wir sind zusammengewachsen}. Diese Metapher stellt „bestimmte Eigenschaften“ von Menschen „als Bestandteil ihres Wesens bzw. ihrer ‚Natur‘“ heraus; dazu verweist Wolter (Anm. 44) u.a. auf Josephus <152>, der von Samuels symphyton dikaiosynēn {angeborener Gerechtigkeitsliebe, wörtlich: mit ihm zusammengewachsener Gerechtigkeit} spricht und davon, „dass die Römer … den Eindruck [machen], ‚als ob sie mit den Waffen zusammengewachsen sind (hōsper sympephykotes tois hoplois)‘“. Wolter hält es daher für möglich (W376), dass „Paulus mit der etymologischen Verwandtschaft von symphytos {zusammengewachsen} und physis {Natur} spielt.“
Aber womit genau sind die „christlichen Wir … bei ihrer Taufe … zusammengewachsen“? Paulus wählt auch hier eine neue Formulierung, nämlich dass sie „mit dem homoiōma des Todes Jesu zusammengewachsen“ sind, so dass „dieser Zustand … seitdem zu ihrem Wesen“ gehört.
Die Bedeutung von homoiōma tou thanatou autou {Abbild, Gleichheit, Ähnlichkeit seines Todes} ist aber sehr umstritten. Wolter meint, sie am „einfachsten … von Röm 5,14 her“ erschließen zu können, weil Paulus in der grammatischen Konstruktion von „homoiōma … mit Genitiv … hier wie dort … ein Zugleich von Gemeinsamkeit und Differenz zum Ausdruck bringen“ will. Dort (Anm. 47) unterscheiden sich die „Sünde Adams und die Sünden nach Mose … zwar voneinander“, weil „die Menschen zwischen Adam und Mose … keine Gebote übertreten haben, die es erst ab Mose wieder gab“, und „doch haben sie gemeinsam, dass es sich um ‚Übertretungen‘ von Geboten handelt.“ Ein entsprechendes (W376)
Ineinander besteht in Röm 6,5a darin, dass Paulus von den Getauften sagt, sie seien bei ihrer Taufe wie Jesus ‚gestorben‘, obwohl sie anders als Jesus physisch überlebt haben. Mit homoiōma markiert Paulus darum die semantische {bedeutungsmäßige} Differenz zwischen dem alltagssprachlichen Verständnis von Sterben und Tod und der metaphorischen Charakterisierung der Taufe auf Jesus Christus als einen ‚Tod‘, den die Getauften ‚gestorben‘ sind. Analog unterscheidet er dann auch zwischen Jesu gegenwärtigem Leben (V. 10) und dem gegenwärtigen Leben der Getauften (V. 11): Die Getauften leben nach wie vor in demselben Leib wie vor ihrem ‚Tod‘, denn sie tragen immer noch ein thnēton sōma {einen sterblichen Leib} mit sich herum (V. 12). Eben das gilt nach V. 9 für Jesus nicht mehr.
Die „eigentliche Information“ von Römer 6,5 steht aber erst in Vers 5b, wofür Vers 5a „nur der Ausgangspunkt“ ist, nämlich: „Wer ‚auf Christus Jesus‘ getauft ist (V. 3b) und Jesu Todesgeschick teilt, wird auch an dessen Auferstehungsgeschick teilnehmen.“ Vom Satzbau her muss in diesem zweiten Teil des Verses „zu tēs anastaseōs esometha {werden wir es auch der Auferstehung sein} aus V. 5a“ entweder der gesamte Ausdruck symphytoi tō homoiōmati {mit ihrem Abbild zusammengewachsen sein} ergänzt werden oder nur das Wort symphytoi, womit dann ein Zusammenwachsen mit Jesu Auferstehung selbst bezeichnet wäre, was grammatikalisch auch möglich ist. „Das Futur esometha {wir werden sein}“ versteht Wolter (W377f.) als
ein ‚echtes‘ Futur …, das in die Zukunft blickt und auf der Linie von Röm 5,17f.21b die Realisierung der Teilhabe an Jesu Auferstehung als ein noch ausstehendes Geschehen in den Blick nimmt. … [D]ie paulinische Schlussfolgerung … will nichts weiter als die Gewissheit vermitteln, dass die zukünftige Teilhabe am Auferstehungsgeschick Jesu den Getauften sicher verbürgt ist. An eine Auferstehung von den Toten muss Paulus dabei nicht notwendig gedacht haben. Die hier zum Ausdruck gebrachte Erwartung könnte sich auch auf Verwandlungsvorstellungen richten, wie sie in Phil 3,21 formuliert sind: „… der verwandeln wird den Leib unserer Niedrigkeit, gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit“ (s. auch Röm 8,11.23; 1Kor 15,51-54).
[18. März 2025] Gerhard Jankowski geht zur Auslegung von Römer 6,3-5 von völlig anderen Voraussetzungen aus als Michael Wolter. Wir haben gesehen, dass Wolter zufolge Paulus die Taufe praktisch als eine Bekehrungstaufe zum christlichen Glauben versteht, ohne auf jüdische Wurzeln des Rituals einzugehen, und auch zum peripatein en kainotēti zōēs {Wandeln in Lebensneuheit} kommt er nicht auf die Idee, nach Parallelen in der jüdischen Halacha zu fragen.
Jankowski dagegen betont (J139), nicht zuletzt unter Rückgriff auf ein „Begriffspaar, das auf weite Strecken auch das Buch Leviticus bestimmt“, nämlich „[r]ein und unrein“:
Taufe, taufen, griechisch baptismos, baptizein ist keine christliche Erfindung. Was wir Taufe nennen, hat seinen Ursprung im jüdischen Tauchbad, hebräisch tɘbilah. Überall da, wo die Gemeinschaft Israels nachhaltig gestört war, mußte sie geheilt oder die Störung bereinigt werden. Es gab eine Unzahl von Möglichkeiten, wodurch der oder die einzelne die Gemeinschaft stören konnte. Der größte Bereich dieser Möglichkeiten war der Bereich des sogenannten Unreinen. Unrein konnte jemand werden durch Aussatz, durch Berührung von Leichen, durch Menstruation oder Samenfluß, durch Kontakt mit allem sonstigen, das als unrein galt. Um rein zu werden, mußten die, die unrein geworden waren, durch ein Tauchbad gehen. Nachdem sie im Wasser des Bades untergetaucht waren, wurden sie als rein erklärt.
Im Zusammenhang mit der Thematik, die dem Paulus besonders am Herzen liegt, stellt Jankowski fest:
Grundsätzlich als unrein galten die Gojim. Ihre Unreinheit war die gleiche wie die Unreinheit der Toten. Das ergibt sich aus den halachischen Bestimmungen über die Proselytentaufe. Wollte ein Goj Jude werden, mußte er sich beschneiden lassen, für ihn mußte am Jom Kippur das Blut des Bundes gespritzt werden, und er mußte durch ein Tauchbad. Denn: „Das Haus Hillel sagt: Wer sich von der Vorhaut scheidet, ist wie einer, der vom Grab scheidet“ (mEd {Mischna ˁEduyot} 5,2). Er galt also wie jemand, der aufgrund von Berührung mit Gräbern (Toten) unrein geworden war und der, um wieder rein zu werden, durch ein Tauchbad mußte.
Wenn Paulus die Taufe analog zur Proselytentaufe begreift, dann muss nicht schon er an eine Bekehrungstaufe zu einer neuen Religion denken (J139f.):
Die Proselytentaufe ist vor allem eine Reinigungstaufe. Sie ist aber auch zusammen mit Beschneidung und Blutspritzung ein Initiationsakt. Denn wer getauft wird, ist aufgenommen in den Bund Gottes mit seinem Volk. bKer {Traktat Keritot im babylonischen Talmud} 9a sagt: „Wie eure Väter in den Bund eingetreten sind durch Beschneidung, Tauchbad und Blutbesänftigung, so sollen auch diese (sc. die Proselyten) durch Beschneidung, Tauchbad und Blutbesänftigung in den Bund eintreten.“
Indem Paulus sagt (J140): „Wir sind auf den Messias hin getauft worden“, erinnert er daran, dass „[e]r und andere … durch ein Tauchbad gegangen“ sind. Allerdings ist dieses „messianische Tauchbad“ nicht identisch mit einem „Proselytentauchbad, auch wenn es Ähnlichkeiten zwischen beiden gibt.“ Denn es gehört ja nach zur festen Überzeugung des vom Messias Jesus zu den Gojim gesandten Apostels Paulus, dass die Gojim nicht zu Juden gemacht, sondern als Gojim in die Gemeinschaft mit den Juden aufgenommen werden sollen:
Mit Sicherheit begründet die messianische Taufe, mit der Juden und Nichtjuden (wir alle) getauft wurden, den Eintritt in eine Gemeinschaft. Aber diese Gemeinschaft soll erst noch werden. Denn getauft wird auf den Messias hin (eis m. Akk). Und das meint ein Ziel. Menschen werden getauft, damit sie im Messias Jesus werden. Die messianische Taufe hat es mit einer Einigung zu tun, die werden soll. Und es geht um die Einigung der vielen, wie der Plural, der hier vorherrschend ist, zeigt. Die messianische Taufe hat genau dieses Ziel.
Trotzdem bleibt es nach Jankowski dabei, dass „die messianische Taufe auch reinigend“ ist. Zwar mussten „Nichtjuden, die zur messianischen Gemeinschaft kamen, sich nicht beschneiden lassen“, und durch den Tod Jesu am Kreuz war auch für sie
die Blutbesänftigung am Jom Kippur vollzogen worden, wie wir bereits gehört haben. Sie müssen sich aber taufen lassen, damit sie rein werden. So können die Juden überhaupt erst in der Gemeinschaft mit ihnen verkehren. Juden, die messianisch getauft werden, werden dadurch nicht zu Gojim. Sie bleiben Juden. Aber sie leben mit den Nichtjuden zusammen, damit eine messianische Gemeinschaft wird.
Was für Jankowski außerdem noch „die Nähe zur Proselytentaufe“ anzeigt, das sind „die deutenden Worte des Paulus wie Tod, sterben, begraben werden“:
Tod und Auferweckung des Messias durchdringen diese Gemeinschaft. Tod, sterben, begraben werden sind Kennzeichen für das Ende eines Lebens. Auferweckung aus den Toten meint Neuschöpfung, neues Leben, neue Menschen, neue und geheilte Verhältnisse. Die auf den Messias hin getauft sind, sind mit ihm gestorben und begraben, obwohl sie natürlich leben. Für sie ist aber ein Leben zu Ende gekommen, das aus gegenseitiger Abgrenzung, Konfrontation und Feindschaft bestand, ein Leben in unheilen Verhältnissen, in Sünde eben. Dieser wirklichen Ursünde des Menschen sind die auf den Messias hin Getauften gestorben. Der Messias aber ist aus Toten erweckt worden. Für die auf ihn Getauften heißt das, daß sie einen neuen Weg gehen können.
In welcher außergewöhnlichen Weise Paulus „das Neue der messianischen Praxis“ in Vers 4c hervorhebt, wird in dem „sehr seltenen Wort kainotēs, Neuheit“, deutlich, „das er in den messianischen Schriften nur hier und in Röm 7,6 verwendet.“ Aber inwiefern ist das alltägliche Tun und Handeln derer, die als Juden und Nichtjuden gemeinsam mit dem Messias metaphorisch gestorben und begraben sind, nun so grundsätzlich anders geworden? Jankowski beschreibt dieses „Ungewöhnliche und … Besondere“ in Anknüpfung und Unterscheidung von der jüdischen Halacha (J141):
Die Praxis wird im Judentum mit den Weg machen, gehen, hebräisch halakh, umschrieben. Aus dem hebräischen Verb ist Halacha abgeleitet. Halacha, das sind die verbindlichen Gebote und Anordnungen für diesen Weg. Paulus umschreibt die Praxis meistens mit dem Verb peripatein, umhergehen, miteinander verkehren. Auch ihm geht es um eine Halacha, die für ihn aber nicht wie die herrschende trennend sein kann. Es ist eben das ungewöhnlich Neue der messianischen Praxis, daß da Juden und Nichtjuden miteinander verkehren und gemeinsam ihren Weg machen.
Zu Vers 5a bringt Jankowski das in seiner Einmaligkeit „in den messianischen Schriften“ auffällige „Wort symphytos, zusammengepflanzt, verwachsen“, in einen Zusammenhang mit der im Jahr 1999 noch frischen Erinnerung an die deutsche Wiedervereinigung, indem er schreibt: „Durch Tod und Auferstehung des Messias kann zusammenwachsen, was zusammengehört.“
Noch einmal betont Jankowski ausdrücklich, dass die „Taufe auf den Messias“ der „Startpunkt“ für eine neue „messianische Praxis“ ist und damit zugleich „das Ende eines Weges“. Aber ebenso „deutlich“ sagt er:
Es ist nicht das Ende des jüdischen Weges. Es ist das Ende der gegenseitigen Abgrenzung, der Feindschaft zwischen Juden und Gojim. Sie können und werden auf völlig neue Art miteinander verkehren, sich auf den Weg machen. Dieser gemeinsame Weg ist so ungewöhnlich neu wie die Neuschöpfung, die Auferstehung aus den Toten, die möglich geworden ist durch die Auferweckung des Messias aus den Toten. Verwachsen mit seiner Auferweckung werden zusammenwachsen, die zusammengehören, Juden und Gojim.
So plädiert Jankowski dafür, weniger zu fragen, wie „Auferstehung aus den Toten“ im Sinne einer Aushebelung der Naturgesetze „möglich“ ist, sondern sich von einer existentiell viel bedeutsameren Frage leiten zu lassen:
Gefragt wird nicht, was jetzt möglich ist im Leben derer, die darauf vertrauen, daß die Auferstehung der Toten sein wird und damit eine neue Welt mit neuen Menschen. Wer sich auf den Messias taufen läßt, läßt sich auch taufen auf seinen Tod und seine Auferstehung. Das aber macht ihn zum Genossen der neuen Welt schon jetzt. Und das zeigt sich in der messianischen Praxis, die möglich wird und die gegen die Welt der Sünde und des Todes gelebt wird.
↑ Römer 6,6-7: Mitgekreuzigt mit dem Messias sind wir wahre Menschen, weg von der Verfehlung
6,6 Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist,
damit der Leib der Sünde vernichtet werde,
sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen.
6,7 Denn wer gestorben ist,
der ist frei geworden von der Sünde.
[19. März 2025] In den Versen Römer 6,6-7 kehrt Paulus Michael Wolter zufolge (W378) zum Thema der Verse 2-4a zurück, nämlich
dass der Tod, den die „auf Christus Jesus“ Getauften gestorben sind, diese von der Herrschaft der Sünde befreit, weil sie „auf seinen Tod getauft wurden“. Auch hier ist also immer noch die in V. 3-4a vorgetragene Taufinterpretation präsent.
Nach dem Verb esometha {werden wir sein} am Ende von Vers 5 bezieht sich der Beginn von Vers 6 mit den Worten touto ginōskontes hoti … {denn wir wissen doch, dass…, wörtlich: dies wissend, dass <153>}
auf das, was in V. 6b-d folgt. Hier nimmt Paulus nun eine weitere Deutung der Taufe als Taufe eis Christon Iēsoun {auf Christus Jesus} (V. 3b) vor. Er setzt dabei wieder voraus, dass es sich um eine Bekehrungstaufe handelt, die einen radikalen Bruch rnit dem früheren Leben zur Folge hatte. Das ‚Wissen‘, das Paulus mit ginōskontes anspricht, ist darum nur einer christlichen Enzyklopädie zugänglich.
Dieses christlich-enzyklopädische Wissen lautet in Wolters Übersetzung der Verse 6b-7 (W366):
6b Unser früherer Mensch wurde mitgekreuzigt,
6c damit der Leib der Sünde beseitigt wird,
6d so dass wir nicht mehr der Sünde dienen.
7 Denn wer gestorben ist, ist von der Sünde freigesprochen.
Dabei bezeichnet (W378) in Vers 6b der „Ausdruck palaios hēmōn anthrōpos {unser alter Mensch} … „die Existenz vor der Bekehrung“, während das „‚Mitgekreuzigtwerden‘ der Christen mit Christus“, von dem „Paulus schon in Gal 2,19 gesprochen“ hatte, „die Radikalität des Bruchs zwischen einst und jetzt zum Ausdruck bringen“ soll.
Umgekehrt wiederholt in Vers 6c dieselbe Aussage im Blick auf to sōma tēs hamartias {den Leib der Sünde}. Dieser Leib ist „nicht etwas am Menschen, von dem der Mensch durch die Taufe befreit würde“, denn „wer getauft ist, lebt immer noch in einem thnēton sōma {sterblichen Leib} (Röm 6,12)“. Vielmehr meint der „Ausdruck ‚Leib der Sünde‘ … erneut … die gesamte vorbaptismale Existenz der Getauften.“ Daher darf man das „hellenistische Gegenüber von Leib und Seele … hier … nicht einmal ansatzweise eintragen.“
Allerdings scheint Wolter im unmittelbar folgenden Exkurs (W379) dann doch genau das zu tun. Dafür, „dass Paulus die vorchristliche Existenz, die die Getauften hinter sich gelassen haben, als ‚Leib‘ (sōma) bezeichnet“, hält er es nicht nur für „aufschlussreich“, dass die von Paulus für „die Wirkung der Taufe“ verwendeten Metaphern „bildweltliche Widerfahrnisse des menschlichen Leibes“ beschreiben, sondern er nimmt hier auch „eine hellenistische Tradition“ wahr, „die eine Trennung von der Bestimmung durch das Leibliche zur Voraussetzung von philosophischer Erkenntnis macht“, und verweist dazu u.a. auf
SapSal {Weisheit Salomos} 1,4: „In eine arglistige Seele wird die Weisheit nicht einziehen, und nicht wird sie wohnen in einem Leib, der von der Sünde bestimmt [?] ist (oude katoikēsei en sōmati katachreō hamartias)“…
Der „substantivierte Infinitiv“ in der griechischen Konstruktion von Vers 6d: tou mēketi douleuein hēmas tē hamartia kann nur unbeholfen {des uns nicht mehr der Sünde Dienens} wörtlich ins Deutsche übersetzt werden und
beschreibt die bis in die Gegenwart hineinreichende Folge der Beseitigung des sōma tēs hamartias {Leibs der Sünde} . Paulus formuliert hier eine Feststellung und keine Aufforderung; es handelt sich um eine Seins-Aussage und nicht um eine Sollens-Aussage. Sollens-Aussagen folgen erst ab V. 12. Die Wir sind die Getauften, deren „Leib der Sünde“ (V. 6c) – um die paulinische Metaphorik aufzunehmen – mit Christus gekreuzigt und begraben wurde. Paulus wiederholt hier darum mit anderen Worten, was er bereits in V. 2b gesagt hatte: ‚Wir sind der Sünde gestorben‘. Ebenso sind auch „der Sünde nicht mehr dienen“ (V. 6d) und „in der Neuheit des Lebens wandeln“ (V. 4c) semantisch isotop {gleichbedeutend}: Für die Getauften ist ‚neu‘, dass sie dem Zwang zum Sündigen als dem Verhängnis, das Adam über sie gebracht hat, entnommen sind.
Vers 7 soll sodann „die Feststellung von V. 6“ begründen, und zwar indem Paulus „eine allgemein gültige Feststellung formuliert“, wie es sie ähnlich auch „im rabbinischen Judentum“ gibt, nämlich dass „der Tod einen Menschen von seinen Sünden befreit“. Zum hier verwendeten (W380) „Ausdruck apo hamartias dikaiousthai {von der Sünde freigesprochen sein}“ zitiert Wolter u.a. die folgenden Parallelen:
Sir 26,29: „… ein Händler wird nicht von der Sünde freigesprochen (ou dikaiōthēsetai … apo hamartias)“; … Apg 13,38-39: „von allem (apo pantōn), wovon ihr durch das Gesetz des Mose nicht freigesprochen werden (dikaiōthēnai) konntet, wird jeder, der glaubt, durch diesen gerechtfertigt (dikaioutai)“…
Anders als in diesen Texten nimmt Paulus jedoch mit
apo tēs hamartias {von der Sünde} … nicht die konkrete Sündentat in den Blick, sondern wie in V. 6c.d (und in V. 2) die Sünde als personifizierte Macht. Das lässt der Zusammenhang mit V. 6 deutlich erkennen. Es geht ihm nicht um die Lossprechung von den Sünden, sondern um die Befreiung von der Herrschaft der Sünde.
Diese Befreiung ist durch die Taufe „auf Jesu Tod“ erfolgt, indem „jeder, der auf Jesus getauft wurde, jenen Tod gestorben“ ist, „den die Sünde vom Sünder einfordert.“ Wenn ich das richtig sehe, ergibt sich nach Wolter daraus hier bei Paulus eine besondere Form der Satisfaktionslehre, die sich nicht unmittelbar auf die Genugtuung Gottes für den Ungehorsam der Menschen durch den Gehorsam Christi in seinem Tod am Kreuz bezieht, sondern auf den metaphorischen Tod der Christen, den sie in ihrer Taufe mit Christus sterben, womit
dem Anspruch der Sünde auf den Tod des Sünders Genüge getan wurde und … die Sünde … abgefunden ist: Sie hat bekommen, was ihr zusteht – den Tod des Sünders –, und sie hat darum keinen Anspruch mehr an diejenigen, die auf Jesus Christus getauft sind. Wer getauft ist, ist in ein Leben eingetreten, das nicht mehr der Todesforderung der Sünde unterworfen ist. Damit hat Paulus erklärt, wie er das apethanomen tē hamartia {wir sind der Sünde gestorben} von V. 2 gemeint hat und worin es seinen Grund hat.
[20. März 2025] Gerhard Jankowski (J142) betrachtet die am Anfang von Römer 6 verwendeten Formulierungen des Paulus zunächst einmal als „Insidersprache“, die „sehr verschlüsselt“ klingt:
Die messianisch leben, sind für die Sünde gestorben, existieren für die Sünde nicht mehr. Woran ist das zu erkennen? Daran, daß der alte Mensch mitgekreuzigt wurde. Die erste Folge dieser Erkenntnis: Dem Leib der Sünde wurde Einhalt getan. Zweite Folge: Wir, die messianisch leben, sind nicht mehr der Sünde versklavt.
Als den „Schlüssel, der den Zugang zu diesen Sätzen eröffnet“, nennt Jankowski den „Messias, genauer: sein Tod und sein Leben.“ Es ist ja bezeichnend für Paulus, dass
durchgängig … nicht das Leben des Messias Jesus von seiner Geburt bis zu seinem Tod ihn interessiert, sondern eben nur der Tod und das Leben nach diesem Tod. Die Vita des Jesus als Vorbild interessiert ihn nicht. Für ihn ist der Tod, diese große und einzige Veränderung, die keinen Sinn macht, der Beginn der einzig wirklichen Veränderung. Dieser Tod hat ihn zu seiner Erkenntnis geführt.
Um die Erkenntnis des Paulus angemessen zu verstehen, ist es Jankowski zufolge aber unerlässlich, die Art und Weise des Todes Jesu nicht außer Acht zu lassen:
Der Messias Jesus ist gekreuzigt worden. Die Kreuzigung ist eins der Zeichen der repressiven Herrschaft der Feinde. Mit der Kreuzigung versuchen sie ihre Herrschaft zu sichern. Je mehr Kreuze mit daran Gehenkten errichtet werden, desto verhaßter wird die Herrschaft und desto mehr wächst die bestehende Feindschaft.
Aus dieser Tatsache „Der Messias ist gekreuzigt worden“ hätte nun eigentlich die Konsequenz gezogen werden müssen:
Der Messias ist unterlegen, gescheitert, und mit ihm alle, die auf ihn gesetzt haben. Nicht so für Paulus. Für ihn wird durch die Kreuzigung des Messias erledigt, was in letzter Konsequenz immer nur zu Kreuzigungen führen muß. In seiner Sprache heißt das: „Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt“ (6,2).
Die Formulierung ho palaios anthrōpos {der alte Mensch} darf nach Jankowski nun nicht einfach individualistisch auf die Vergangenheit jedes einzelnen Menschen bezogen werden, vielmehr ist der
alte Mensch… auch hier Adam, Menschheit: alte Menschheit, bestimmt von Fehlern, Verbrechen, Unsolidarität, Konfrontation, Feindschaft, Tod und anderen Absonderheiten, kurz: von Sünde. Das alles ist mit dem Messias mitgekreuzigt worden. Mitgekreuzigt wurde, was wirklich allen Grund hatte, gekreuzigt, vernichtet zu werden. Damit aufhört, was die Menschheit immer noch bestimmt. Mit den Worten des Paulus: „damit dem Leib der Sünde Einhalt getan wird“ (6,2).
Ebenso ist nach Jankowski die Metapher „Leib der Sünde, sōma tēs hamartias“ – analog zur Bedeutung der an anderen Stellen von Paulus verwendeten Rede vom „Leib des Messias“ <154> – nicht auf das einzelne menschliche Individuum zu beziehen (J142f.):
Sie bezeichnet den Zusammenhalt der alten Menschheit oder das, was diese verkörpert. Es ist die Gemeinschaft, besser die Gesellschaft der Menschen, die heillos zerfallen ist, weil in ihr Sünde und nicht Menschlichkeit dominant ist. Dieser Gesellschaft soll durch die Kreuzigung des Messias und durch die Kreuzigung des alten Menschen Einhalt getan werden.
„Einhalt tun“, so übersetzt Jankowski (J143) das Wort katargein, das uns „schon in Röm 3,3.31 und 4,14 begegnet“ ist und das im Zweiten Testament „an 22 von insgesamt 27 Stellen“ bei Paulus vorkommt:
Abgeleitet ist es von der griechischen Wurzel arg-. Deren Grundbedeutung ist, wie das Adjektiv argos zeigt, unbenutzt, brach, wirkungslos. Das Verb argein hat dementsprechend die Bedeutung von aussetzen, ruhen lassen, nicht beschäftigen. Das Kompositum, wie Paulus es hat, ist verstärkend.
Im Ersten Testament kommt das Wort katargein außerdem viermal im Buch Esra vor, und zwar „als Übersetzung von batal im Piel“. Hier ergibt sich aus „dem Zusammenhang … die Übersetzung jemand von etwas abhalten“. Es ist die Verdeutschung des Wortes von Buber „mit Einhalt tun“, auf die Jankowski letzten Endes zurückgreift: „Wem Einhalt getan wird, der kommt nicht weiter, der ist zur Ruhe gezwungen.“ Interessant ist für ihr weiter, dass das „Verb batal“ auch „in einer rabbinischen Diskussion“ auftaucht,
auf die Paulus zumindest in Röm 7,1 anspielt. In bSchab {Traktat Schabbat des babylonischen Talmud} 30a heißt es: „… David, der gesagt hat: ‚nicht die Toten rühmen den Herrn‘, meint es wie folgt: Stets befasse sich der Mensch mit der Thora und den Geboten, bevor er stirbt, denn sobald er gestorben ist, hat für ihn die Thora aufgehört (batal), haben die Gebote für ihn aufgehört und der Heilige, gepriesen sei er, wird durch ihn nicht mehr gelobt. Das ist, was R. Jochanan gesagt hat: Es heißt: ‚mit den Toten frei‘ (Ps 88,6); sobald der Mensch gestorben ist, ist er von der Thora und den Geboten frei (batal min).“ Batal min wird hier durch chafschi, frei, losgeschickt, aus Ps 88,6 interpretiert. Gemeint ist, daß der Gestorbene Thora und Gebote nicht mehr zu tun braucht, obwohl natürlich Thora und Gebote weiter in Geltung sind.
Im folgenden Römerbriefkapitel (7,2) wird „Paulus das Verb katargein mit der Präposition apo“ verwenden. Wegen der „Nähe von Röm 7 zu der zitierten Talmudstelle“ vermutet Jankowski, „daß Paulus damit batal min übersetzt“, und deswegen muss man an „dieser Stelle, und nur da, … katargein apo wohl mit ledig von übersetzen“, während er an „den anderen Stellen … in Anlehnung an Buber Einhalt tun“ <155> sagt:
Dem Leib der Sünde ist Einhalt getan. Wirkungslos ist geworden, was die Verhältnisse beherrscht und zerstört hat. Es ist natürlich noch existent, aber es hat keine Macht mehr. Deswegen kann Paulus sagen: Wir sind nicht mehr Sklaven der Sünde, wir, die wir messianisch getauft sind und messianisch leben. Wir existieren nicht mehr für die Sünde. Wir sind befreit, um wahre Menschen zu werden. Wir leben messianisch.
↑ Römer 6,8-10: Mit dem Messias gestorben, den Tod und Sünde nicht beherrschen, werden wir auch mit ihm leben
6,8 Sind wir aber mit Christus gestorben,
so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden,
6,9 und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt;
der Tod wird hinfort nicht über ihn herrschen.
6,10 Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal;
was er aber lebt, das lebt er Gott.
[21. März 2025] Mit Römer 6,8 wiederholt Paulus Michael Wolter zufolge (W380) „im Wesentlichen den Inhalt von V. 5“, wobei er mit „apethanomen syn Christō {wir sind mit Christus gestorben} … ebenfalls das Taufgeschehen“ bezeichnet, aber (W380f.)
den Zusammenhang von apethanomen syn Christō und syzēsomen autō {wir werden ihm leben} durch pisteuomen {wir glauben} unterbricht. Es sieht dadurch so aus, als wäre nicht das „Mit-Leben“ die Folge des „Mit-Gestorbenseins“, sondern das „Glauben“. Diese Anordnung der Verben (apethanomen – pisteuomen – syzēsomen) und der Abfolge ihrer temporalen Ausrichtung (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft) stellt sicher, dass syzēsomen nichts anderes sein kann als ein echtes Futur und dass Paulus hier von einem Geschehen spricht, das noch aussteht: die leibliche Teilhabe an Jesu Auferstehungsleben. Demgegenüber ist die Gegenwart der Getauften durch „glauben“ gekennzeichnet.
Im Unterschied zu Römer 10,9 und 1. Thessalonicher 4,14, wo (W381) der „Ausdruck pisteuein hoti {glauben, dass} … auf Ereignisse der Vergangenheit“ gerichtet eine „Wirklichkeitsgewissheit“ bezeichnet, blickt er hier „in die Zukunft“ in Gestalt einer „Hoffnungsgewissheit“. Außerdem kann nach Wolter „die Parallelität von ‚Hoffnung‘ und ‚Glaube‘ zwischen“ zwei anderen Texten, nämlich „Röm 8,24b-25 und 2Kor 5,7“,
zum Verständnis von Röm 6,8 beitragen: Wie in 2Kor 5,7 markiert auch hier der Glaube das ‚Noch nicht‘ der leiblichen Teilhabe an Jesu Auferstehungsleben. Nach 2Kor 5,6 ist es die Leiblichkeit der Glaubenden (endēmountes en tō sōmati {als im Leib Einwohnende}), die dafür verantwortlich ist, dass sie „vom Herrn entfernt sind“ (ekdēmoumen apo tou kyriou). Analoges wird man auch für Röm 6,8 voraussetzen können, denn nach V. 12 leben die Getauften auch jetzt noch in einem thnēton sōma {sterblichen Leib}. Dementsprechend bezieht sich syzēsomen {wir werden leben} auf die noch ausstehende leibliche Gemeinschaft mit dem Auferstandenen (vgl. auch 1Thess 5,10). Sie wird erst dann möglich sein, wenn Gott die „sterblichen Leiber“ der Getauften „lebendig machen wird“ (zōopoiēsei; Röm 8,11; vgl. auch 8,23; 1Kor 15,51-54; Phil 3,21). An eine Auferstehung von den Toten muss dabei nicht notwendig gedacht sein; Paulus kann auch eine Umwandlung der bei der Parusie noch Lebenden in eine „unvergängliche“ Leiblichkeit im Blick haben.
Bevor ich auf Wolters Auslegung der folgenden Verse Römer 9-10 eingehe, stelle ich diesen Ausführungen zunächst gegenüber, was Gerhard Jankowski, der sich zu den Versen 9-10 gar nicht äußert, zu Römer 6,8 zu sagen hat. In seinen Augen muss die Vorstellung von einem Leben mit Christus, mit dem Messias, jedenfalls nicht auf ein zukünftiges jenseitiges Leben hinauslaufen (J143f.):
Messianisches Leben, das ist einmal Leben des Messias, aber nicht sein irdisches Leben. Das interessiert Paulus überhaupt nicht. Das Leben des Messias nach Tod und Auferweckung aus den Toten, das Leben für Gott und vor Gott, das allein ist wichtig. Denn dieses Leben nach dem Tod wird zum Leben vor dem Tod und darüber hinaus für alle, die getauft worden sind und vertrauen, daß sie mit dem Messias leben werden. Messianisches Leben erwächst aus dem Tod des Messias, es wird aber nicht mehr vom Tod beherrscht. Messianisches Leben aber wird erkennbar, wo im Zusammenleben von Juden und Nichtjuden das Leben des Messias verkörpert, leibhaftig wird. Dem Leib der Sünde ist Einhalt getan. Die kaputten Verhältnisse unter den Menschen setzen sich nicht fort. Der Leib des Messias kommt zum Leben.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Jankowski zwölf Jahre später auf die Stellen aus dem 2. Korintherbrief <156> eingeht, auf die sich Wolter eben bezogen hat. Jankowski zufolge [35] verwendet Paulus die „Bildsprache“ in 2. Korinther 5,1-10 nicht bereits mit der Absicht, „ein besseres, himmlisches Jenseits auszumalen, um so das erlebte irdische Elend erträglicher zu empfinden“. So ist [36] das in 2. Korinther 5,1 erwähnte „irdische Zelthaus“, das „mit Händen gemacht“ ist, nicht als der „menschliche Leib“ zu interpretieren, „der beim Sterben gleichsam abgebrochen wird, und dessen Seele dann in einem Haus irgendwo im Jenseits eine ewige Wohnung findet“, vielmehr zielen diese Worte des Paulus wie in der „Tempelkritik der Propheten Israels“ „auf den Tempel“, der in seinen Augen „ausgedient“ hat und „aufgelöst werden“ wird:
Aber es ist da ein anderer Bau vorhanden, ein nicht mit Händen gemachtes Haus auf Weltzeit in den Himmeln. Die Hoffnung, ja Sehnsucht des Paulus richtet sich auf die Behausung von Gott her, in neuer, nicht aufzulösender Gestalt. Und das kann nur die Ekklesia {messianische Gemeinde} sein. Sie ist die Behausung, in der Juden und Nichtjuden definitives Wohnrecht haben. In ähnlicher Weise kann Paulus von dem Gemeinwesen, politeuma, im Himmel reden, das für Juden und Nichtjuden bereits in der Welt gegründet ist, die kommen wird und kommen muß (Phil 3,20).
Ausdrücklich hat Wolter bisher allerdings nirgends ausdrücklich gesagt, dass er paulinische Zukunftshoffnungen jenseits dieser Welt verortet; immerhin denkt Paulus ihm zufolge (W381) in Römer 6,8 „nicht notwendig“ an „eine Auferstehung von den Toten“, sondern er „kann auch eine Umwandlung der bei der Parusie noch Lebenden in eine ‚unvergängliche‘ Leiblichkeit im Blick haben“, und eine solche Vorstellung könnte sich bei Paulus auch mit einer Hoffnung auf die kommende Weltzeit des Friedens auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes verbinden.
[22. März 2025] Eng miteinander verknüpft sind nach Wolter die Verse Römer 6,9-11, in denen „Paulus zunächst noch einmal auf das Geschick Christi zu sprechen (V. 9-10)“ kommt, „um mit seiner Hilfe das Geschick derjenigen zu veranschaulichen, die mit ihm durch die Taufe verbunden sind (V. 11)“. Da Jankowski den Vers 11 erst zu Beginn des folgenden Abschnitts betrachtet, widme ich diesem Vers einen eigenen Unterabschnitt und schaue zuvor die Auslegung der Verse 9-10 durch Wolter an.
Mit dem Partizip eidotes {wörtlich: als Wissende} führt Paulus „den Gedankengang“ von Vers 8 weiter <157>, indem er aufgrund der Auferstehung Christi folgert, „dass Christus ‚nicht mehr stirbt‘ (V. 9b)“, womit er (381f.)
erklärt …, dass die Auferstehung Jesu auch in leiblicher Hinsicht ein eschatisches Geschehen war, weil sie Jesus ewiges Leben geschenkt hat.“
Mit V. 9c wiederholt Paulus denselben Gedanken in den Kategorien von Röm 5,14.17: Christus ist der Herrschaft des Todes entnommen, die dieser seit Adams Sünde über alle Menschen ausübt. Diese Befreiung haben die auf Christus Getauften noch vor sich, denn sie leben wie alle anderen Menschen immer noch in einem „sterblichen Leib“ (6,12; 8,11; s. auch 1Kor 15,53-54; 2Kor 5,4).
So gesehen scheint Paulus ein Leben nach dem Tode jenseits dieser irdischen Welt im Sinn zu haben, was auch nicht ausgeschlossen werden kann. Begreift man aber Jesu Auferweckung als den Auftakt einer neuen Schöpfung, die mit dem Zusammenleben von Juden und Völkern im Leib des Messias als einer messianischen Gemeinde beginnt und darauf hinausläuft, dass es genau diese Welt unter dem Himmel Gottes ist, die anders werden soll, dann muss das nicht die einzig mögliche Auslegung sein.
Schauen wir uns nun Wolters Auslegung von Römer 6,10 genau an. Hier nimmt Paulus (W382) in einer Aussage „von Tod und Auferstehung Jesu“ schon vorweg, was er in Vers 11 „über die doppelte Wirkung der Taufe sagen will“, die auf eine „Ergehensgemeinschaft mit Jesus Christus“ hinausläuft. Vers 10 übersetzt er so (W366):
a Denn was er gestorben ist,
b ist er der Sünde ein für allemal gestorben;
c was er aber lebt,
d lebt er Gott. …
Interessant ist nun, dass Paulus Wolter zufolge (W382)
[i]n V. 10a-b … mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen von „sterben“ und in V. 10c-d mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen von „leben“ [arbeitet]: In V. 10a bezieht sich apethanen {gestorben} auf Jesu physischen Tod, und in V. 10c spricht zē {lebt} von dem Leben, das er durch die Auferstehung gewonnen hat. Demgegenüber lassen die Dative tē hamartia {der Sünde} (V. 10b) und tō theō {dem Gott} (V. 10d) erkennen, dass Paulus hier dieselbe metaphorische Redeweise von ‚sterben/leben‘ + Dativ verwendet wie in V. 2b, um endgültige Trennung (ein solches ‚Sterben‘ kann auch stattfinden, ohne dass man physisch stirbt) und unauflösliche Verbundenheit zu umschreiben.
Wenn Paulus hier aber metaphorische Rede im Blick auf Sterben und Leben verwendet, könnte er diese Metaphorik doch auch auf das gemeinschaftliche Leben von Juden und Nichtjuden im Leib des Messias als einer messianischen Gemeinde beziehen, durch die diese irdische Welt eine grundlegende Veränderung erfährt.
Seine Auslegung von Römer 6,10 beschließt Wolter mit Erwägungen zum Stichwort ephapax {ein für allemal}:
Die doppelte Bedeutung von apothnēskein {sterben} findet ihren Ausdruck auch darin, dass Paulus Jesu „der Sünde Sterben“ mit dem Adverb ephapax charakterisiert (s. auch Hebr 7,27; 9,12; 10,10): weil das „Ein-für-allemal“ der Trennung Jesu von der Sünde in seinem leiblichen Tod gründet. Das unterscheidet ihn von den auf ihn Getauften, und aus V. 12-14 geht dann auch hervor, dass dieses ephapax der Trennung von der Sünde für sie nicht in gleicher Weise gelten kann.
Jankowski geht auf die Bedeutung des Wortes ephapax in Römer 6,10 nicht ein, aber bei Ton Veerkamp <158> finde ich im Anschluss an seine Auslegung [414-417] von Johannes 20,17 (obwohl das Wort ephapax selbst dort gar nicht vorkommt) einen Exkurs zur Frage [417]: „Tod und Auferstehung des Messias: ein für allemal?“ Seine Ausführungen laufen darauf hinaus [418], dass der „Tod des Messias“ und seine Auferstehung „ein für allemal“ eine neue „Perspektive für alle Völker“ eröffnet, und zwar
nicht irgendeine Befreiung, sondern die Befreiung Israels aus dem Sklavenhaus: Der Gott der Christen ist der Gott, dessen NAME nur ausgesprochen werden kann als der, „der Israel hinausführte aus dem Land Ägypten, aus dem Haus des Sklaventums“, Exodus 20,2. Die Eröffnung dieser Perspektive ist „ein für allemal“ geschehen. Hinter dieses „ein für allemal“ können und dürfen wir nicht zurück.
Zugleich aber bleibt es nach Johannes 20,17 dabei, dass Jesus so lange „noch nicht“ endgültig zum VATER aufgestiegen ist, so lange er erst noch dabei ist, diesen Aufstieg zu vollziehen, so lange also „die Befreiung der Welt“ durch die verwandelnde Kraft der agapē als der von Jesus geforderten solidarischen Liebe noch nicht erreicht ist. Insofern ist nach Veerkamp [417] das ephapax {ein für allemal}
wie die Befreiung Israels. Wenn das Volk einmal und einmalig aus der Hand des Pharaos befreit wurde, bestimmt dieses einmalige Geschehen die ganze Geschichte des Volkes. Gleichzeitig musste diese Befreiung immer wieder erkämpft werden, und damit sie erkämpft werden kann, muss ihrer immer wieder gedacht werden.
Für uns Christen als Menschen, die auf den Messias Jesus vertrauen, bedeutet das [419]:
Weil alles entschieden ist, müssen und können wir immer wieder von vorne anfangen. Der Messias ist da als der und die von ihm Inspirierte. Sie leben, weil und insofern sie vom Messias inspiriert sind. Ihr Leben ist jetzt schon und noch nicht das „Leben der kommenden Weltzeit“. Es ist nicht offenbar, es ist verborgen, wie der Messias verborgen ist.
Trotz aller Unterschiede könnte sich von hier aus durchaus ein Bogen zur Auslegung von Wolter ziehen lassen, demzufolge (W381) in Römer 6,8 „der Glaube das ‚Noch nicht‘ der leiblichen Teilhabe an Jesu Auferstehungsleben“ markiert.
↑ Römer 6,11: Von der Logik des Messias Jesus her seid ihr tot für die Verfehlung und Lebende für Gott
6,11 So auch ihr:
Haltet euch für Menschen, die der Sünde gestorben sind
und für Gott leben in Christus Jesus.
[23. März 2025] Mit Römer 6,11 beendet Paulus Michael Wolter zufolge (W364) den Abschnitt „Die Taufe bringt Tod und Leben (6,1-11)“. Es ist (W382) die „Formulierung houtōs kai hymeis {so auch ihr}, die in synoptischen Gleichnissen und Bildworten mitunter die sog. Anwendung einleitet (vgl. Mt 23,28; Mk 13,29 parr.; Lk 17,10; s. auch 1Kor 14,9.12; Gal 4,3; Kol 3,13)“, mit der „Paulus das Ergehen Jesu auf diejenigen, die auf ihn getauft sind“, überträgt und alles zusammenfasst (W382f.), „was er ab V. 2 vorgebracht hatte, um den hypothetischen Einwand von V. 1 zurückzuweisen.“ Dass Paulus (W383) mit den Versen 2 und 11 „einen Rahmen um die Argumentation in V. 2-11 legt“, wird an „den terminologischen Überschneidungen mit V. 2 („tē hamartia gestorben/tot“, „leben“) … erkennbar“.
Was ist neu in Vers 11 gegenüber „der rhetorischen Frage in V. 2“? Die „Getauften“ haben „nicht nur mit der Sünde nichts mehr zu tun“, sondern stehen „auch wie Jesus (V. 10d: zē tō theō {er lebt dem Gott}) ganz auf der Seite Gottes“.
Trotzdem unterscheidet Paulus „zwischen Jesus und den auf ihn Getauften“, denn nur
Jesus ist leiblich gestorben und auferstanden, nicht hingegen die Getauften. Sie sind gewissermaßen ‚relational‘ gestorben (nämlich gegenüber der Sünde), und dementsprechend besteht auch das Leben, das sie nach V. 4c neu gewonnen haben, in einer Relation: in der engen Verbundenheit mit Gott. Dass sie ihre leibliche Teilhabe an Jesu Auferstehung noch vor sich haben, ist aus V. 5b.8b hervorgegangen.
Das heißt: „Nach einem alltagsweltlichen Wirklichkeitsverständnis sind die Christen in der Taufe nicht gestorben, sondern haben sie überlebt.“ Aber Paulus fordert mit dem Imperativ logizesthe heautous … {haltet euch für …} „seine Leser“ dazu auf, „eine bestimmte Wirklichkeitswahrnehmung zu teilen und sich ein bestimmtes Selbstverständnis zuzuschreiben“, nämlich die „Überzeugung, dass die Getauften von der Sünde getrennt und mit Gott verbunden sind“, denn diese „erschließt sich nur der Wirklichkeitsgewissheit des Christus-Glaubens und bleibt allen anderen Wirklichkeitsannahmen unzugänglich.“ Der Imperativ zielt also in diesem Vers noch nicht auf „eine bestimmte Lebensführung“, zu der Paulus seine Leserschaft ermahnen würde; damit beginnt er Wolter zufolge erst ab Vers 12. Zur Begründung sagt Wolter:
en Christō Iēsou am Ende des Verses ist nicht räumlich gemeint. Die Formulierung bezeichnet vielmehr diejenige symbolische Sinnwelt, die dem Christus- Glauben als Wirklichkeit gewiss ist. Einen solchen Gebrauch des Ausdrucks en Christō etc. gibt es mindestens auch in Röm 12,5; 1Kor 11,11; Gal 2,4; 3,2628; 5,6; Phlm 16.
Anders als für Wolter gehört für Gerhard Jankowski (J144) der Vers Römer 6,11 bereits zum folgenden Abschnitt „Vom Tod zum Leben: eine Ermutigung 6,11-14“ hinzu. Seine Begründung ist der „Wechsel in den Personalpronomina. Nicht mehr das Wir der messianischen Gemeinschaft ist vorherrschend, sondern das Ihr.“ Bisher hatte Paulus vom messianischen „Wir“ gesprochen:
Wir, Juden und Nichtjuden, wir leben messianisch. Wir praktizieren, was Leben aus den Toten bedeutet. Wir überwinden Feindschaft. Wir gestalten die Verhältnisse zwischen uns neu. Das ist nun den jüdischen Brüdern und Schwestern in Rom genügend dargetan worden.
Mit dem Wechsel zum „Ihr“ werden nun die „jüdischen Brüder … direkt angeredet und eingeladen, messianisch zu leben.“ So sieht das jedenfalls Jankowski, obwohl er dafür außerdem bisher keine Indizien aus dem unmittelbaren Umfeld zum Beleg angeführt hat. Im Hintergrund gründet seine Argumentation auf der in meinen Augen nachvollziehbaren Annahme, dass sich Paulus im gesamten Anfangsteil des Römerbriefs bis zum Kapitel 8 zum Anwalt der Gojim bei seinen von ihm hier vorwiegend angeredeten Mitjuden macht. Da allerdings das „auch“ in der Aufforderung (6,11): „Rechnet auch ihr euch zu, daß ihr selbst Tote seid für die Sünde, Lebende aber für Gott im Messias Jesus“, sich in Verbindung mit houtōs {so} auf einen Vergleich mit dem in Vers 10 erwähnten Messias und nicht mit dem messianischen „Wir“ bezieht, müssen mit dem, was den „Ihr“ in Vers 11 gesagt wird, nicht unbedingt nur die jüdischen Römer angeredet sein. Nach Jankowski schreibt Paulus hier: „Lebt messianisch, und ihr seid nicht mehr behaftbar für die Sünde“, das „ist eigentlich konsequent und logisch für euch – logizesthe… Macht das verbindlich für euch, so könnten wir auch übersetzen.“
Da jedoch Paulus es für notwendig hält, in den folgenden Versen noch allerhand mehr „zu diesem Stichwort“ der „Sünde“ zu sagen, holt Jankowski zu einer Entfaltung dieser Problematik aus, die das, „was Sünde genannt wurde, … für jeden“ darstellte (J144f.)
der mit vollem Ernst Jude sein wollte. Die Welt war voller Sünde. Es war so gut wie unmöglich geworden, in dieser Welt als Jude zu leben. Auch wenn die Thora beachtet wurde, die Verhältnisse gerade in der Diaspora zwangen einen dazu, die Thora zu übertreten und zu sündigen. Zwar gab es immer noch die Möglichkeit zur Umkehr und damit die gnädige Annahme bei Gott, aber dennoch blieb das Problem weiter bestehen und schien unlösbar zu sein. Auch die messianische Lösung, die Paulus anbot, konnte bei aller schlüssigen Argumentation zumindest von der Orthodoxie nur skeptisch betrachtet werden. Denn gerade das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden, das Paulus propagierte, war schlicht und einfach Sünde, weil es dem widersprach, was die Thora dazu sagte und forderte.
So gesehen, stellt Römer 6,11 nun doch ganz besonders für von Paulus angesprochene Juden eine von Grund auf befreiende Entlastung dar (J145):
Diese Sünde ist keine Sünde mehr. Ihr könnt für euch verbindlich damit rechnen, daß ihr Tote für die Sünde seid, wenn ihr messianisch lebt. Ihr seid nicht existent für die Sünde, seid also auch nicht behaftbar.
Vor diesem Hintergrund will Jankowski nun auch die folgenden Verse interpretieren:
Und um den jüdischen Brüdern den Zugang nicht zu erschweren oder endgültig zu verbauen, versucht er, sie mit einem ihnen bekannten Lehrstück zu ermutigen. Es ist das breit diskutierte Lehrstück vom guten und bösen Trieb, vom Jezer tov und Jezer ha-rav. Auch dieses rabbinische Lehrstück ist ja ein Versuch, das Problem der Sünde und des Sündigens zu erklären und zu begreifen.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 6,1-11
6,1 Was wollen wir nun sagen?
Sollen wir bei der Verfehlung bleiben,
damit die Gnade anwachse?
6,2 Das geschehe nicht!
Wir, die wir der Verfehlung gestorben sind,
wie werden wir noch in ihr leben?
6,3 Oder wisst ihr nicht,
dass wir alle, die wir auf den Messias Jesus hin getauft wurden,,
auf seinen Tod hin getauft wurden?
6,4 Mit ihm begraben also wurden wir
durch die Taufe auf den Tod hin,
damit, wie der Messias aus Toten erweckt wurde
durch die Ehre des Vaters,
so auch wir in Lebensneuheit den Gang gehen.
6,5 Denn wenn wir zusammengewachsen sind,
mit dem Abbild seines Todes,
werden wir es auch mit dem der Auferstehung sein,
6,6 da wir dies erkennen:
Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt,
damit der Leib der Verfehlung zunichte werde,
so dass wir nicht mehr Sklaven der Verfehlung sind.
6,7 Denn wer gestorben ist,
ist wahr gemacht, weg von der Verfehlung.
6,8 Wenn wir aber mit dem Messias gestorben sind,
vertrauen wir, dass wir auch mit ihm leben werden,
6,9 weil wir wissen,
dass der aus Toten erweckte Messias nicht mehr stirbt.
Tod ist nicht mehr sein Herr.
6,10 Denn was er gestorben ist,
ist er der Verfehlung gestorben, ein für allemal,
was er aber lebt,
lebt er Gott.
6,11 So auch ihr:
Haltet euch für Tote im Verhältnis zur Verfehlung,
aber für Lebende im Verhältnis zu Gott im Messias Jesus.
↑ Wer von der Verfehlung befreit ist, wird Sklave dessen, was wahr macht (Römer 6,12-23)
[25. März 2025] Michael Wolter (W384) legt die das Römerbriefkapitel 6 abschließenden Verse 12-23 unter der Überschrift „Die neue Freiheit“ in engem Zusammenhang mit den Anfangsversen 1-6 von Kapitel 7 aus. Beide beschreiben „die Eigenart der christlichen Existenz vor dem Hintergrund ihrer vorchristlichen Vergangenheit“, dabei geht es (W384f.) im ersten um die „Befreiung von der Sünde“, im zweiten um die „Befreiung vom Gesetz“. Zugleich betont Wolter (W385):
Diese Freiheit kommt nach beiden Texten freilich nur dadurch zustande, dass die Befreiten einer neuen Herrschaft und Dienstbarkeit unterworfen werden.
Dass die „beiden Abschnitte“ zusammengehören, ist nach Wolter „auch daran erkennbar, dass Paulus in ihnen zum Teil dieselben sprachlichen Bausteine verwendet“: von der Herrschaft der Sünde bzw. des Gesetzes und der Freiheit von beiden über das Fruchtbringen „zum Unheil“ bzw. „Heil“ bis hin zur Entsprechung der Neuheit „des Lebens“ bzw. „des Geistes“ gegenüber unserem „palaios anthrōpos {alten Menschen}“ bzw. der „palaiotēs {dem Alter} des Geschriebenen“.
In Römer 6,12-23 unterscheidet Wolter wiederum drei Unterabschnitte:
In V. 12-14 fordert Paulus seine Leser auf, ihre neugewonnene Identität auch in einer ihr entsprechenden Lebensführung darzustellen. … In V. 15-18 macht Paulus seine Leser darauf aufmerksam, dass Menschen immer unter einer Herrschaft stehen und dass die Herrschaftsverhältnisse, die seine Leser bei ihrer Bekehrung gewechselt haben, einander ausschließen. ln V. 19-23 steht dann wieder die Pragmatik im Vordergrund: Paulus fordert die Adressaten auf, dieses antithetische Gegenüber von ‚einst‘ und ‚jetzt‘ in ihrem Leben auch ethisch sichtbar zu machen.
Durch diese „drei Abschnitte“ zieht sich Wolter zufolge eine bedeutungsmäßige „Achse“ (W387), „die auf der einen Seite aus Sündenbegriffen und auf der anderen Seite aus Heilsbegriffen besteht“. Dazu „[p]arallel … verläuft die Antithese von ‚einst‘ und ‚jetzt‘, wobei stets das ‚Einst‘ auf der Seite der Sünde steht und das ‚Jetzt‘ auf der Seite ihrer Gegenbegriffe“. Außerdem gibt es weitere „Begriffsreihen“, die auf „beiden Seiten“ dieser Achse stehen, nämlich „die Antithese doulos {Sklave} etc. / eleutheros {frei} etc., das Begriffsfeld hypakoein {gehorchen} und „die Metapher vom parhistanein der melē {zur-Verfügung-Stellen der Glieder}.
Wolters „Analyse“ des Gesamtzusammenhangs von 6,12-23 läuft darauf hinaus,
dass Paulus die Wirkung der (Bekehrungs-)Taufe nicht als Wechsel von der Sklaverei in die Freiheit, von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung beschreibt. Das ‚Einst‘ war vielmehr genauso von Freiheit bestimmt wie das ‚Jetzt‘ eine Sklavenexistenz ist. Die „Neuheit des Lebens“ der Getauften (V. 4) besteht dementsprechend darin, dass sie von dem einen Herrschaftsverhältnis in ein anderes, von der einen Fremdbestimmung in eine andere gewechselt sind. Der Mensch muss immer irgendwem „gehorchen“, er ist seinem Wesen nach ein Gehorchling.
In seinem Fazit der Auslegung (W405) weist Wolter auf die „außergewöhnliche Redundanz“ dieses Textes hin und hält Paulus sogar vor, dass ihm der Text ab Vers 14b „aus dem Ruder läuft“. Warten wir ab, was davon zu halten ist.
Von Gerhard Jankowski (J145) hatten wir schon gehört, dass er die Verse 6,12-14 als eine Ermutigung des Paulus versteht, die besonders „den jüdischen Brüdern“ gilt, um ihnen den Zugang zu seiner Verkündigung „nicht zu erschweren oder endgültig zu verbauen“. Dazu greift er auf das rabbinische „Lehrstück vom guten und bösen Trieb, vom Jezer tov und Jezer ha-rav“, zurück.
In den weiteren Versen 6,15-23 interpretiert Jankowski (J149) die Freilassung von der Sünde vor dem Hintergrund der „Befreiung aus Ägypten“, die „nicht in willkürlich gelebte Freiheit führte“, sondern „durch die Thora ihre Disziplin“ bekam.
↑ Römer 6,12-13: Sind „Begierden des Leibes“ und „Gerechtigkeit“ hellenistisch oder vom rabbinischen bösen oder guten Trieb her zu verstehen?
6,12 So lasst nun die Sünde nicht herrschen
in eurem sterblichen Leibe,
und leistet seinen Begierden keinen Gehorsam.
6,13 Auch gebt nicht der Sünde eure Glieder hin
als Waffen der Ungerechtigkeit,
sondern gebt euch selbst Gott hin
als solche, die tot waren und nun lebendig sind,
und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit.
[26. März 2025] Nach Michael Wolter (W387) hatte Paulus in Römer 6,1-11 dargelegt, dass „nicht mehr unter der Herrschaft der Sünde“ steht, wer „auf Christus Jesus getauft ist“. Aber
er hat damit nicht die Sünde selbst beseitigt. Es gibt sie immer noch als Macht, die danach strebt, wieder die Herrschaft über die Getauften zu gewinnen. Eben dies nicht zuzulassen, ist der Inhalt des einleitenden Imperativs (V. 12a). Paulus … fordert seine Leser auf, die Heilsfolge der Taufe nicht wieder preiszugeben.
Indem Paulus (W388) nun den thnēton sōma {sterblichen Leib} erwähnt, macht er ausdrücklich klar, dass er zuvor von Tod und Leben metaphorisch geredet hatte, denn „wer ‚der Sünde gestorben ist‘ (V. 2.11) und ‚Gott lebt‘ (V. 11), trägt immer noch denselben ‚sterblichen Leib‘ mit sich herum wie vorher.“ Mit thnēton sōma „verwendet Paulus hier und in Röm 8,11 einen weit verbreiteten Ausdruck der hellenistischen Anthropologie“, der in der griechischen Bibel sonst nicht vorkommt. Allerdings weiß Wolter auch um die Unterschiede in seiner Verwendung:
Anders als dort ist er bei Paulus aber nicht Bestandteil eines dualistischen Menschenbildes, demzufolge die unsterbliche Seele im „sterblichen Leib“ eingesperrt ist und erst mit dem Tod von ihm befreit wird … Es ist vielmehr gerade ihr sterblicher Leib, durch den die Getauften deutlich machen sollen, dass sie der Sünde gestorben sind. Darüber hinaus stellt die Verwendung dieses Ausdrucks auch sicher, dass Paulus hier in der Tat vom menschlichen Leib spricht und nicht von der menschlichen Existenz im Allgemeinen.
Da die Sünde, wie es in Römer 5,12.21 hieß, „ihre Herrschaft durch den Tod“ ausübt, ist die Präposition en {in} nicht einfach nur räumlich zu verstehen, sondern
vor allem instrumental …: Die Sünde benutzt den Leib und die wesensmäßig zu ihm gehörenden „Begierden“, um wieder die Herrschaft über die Getauften zu ergreifen. Diese Interpretation ergibt sich daraus, dass „herrschen“ (basileuein) und „gehorchen“ (hypakoein) aufeinander bezogen sind: Wer den ‚Begierden des Leibes‘ gehorcht, macht die Sünde zur Herrscherin über sich.
Bezeichnend ist, dass Wolter auch den Ausdruck epithymiai tou sōmatos {Begierden des Leibes} ausschließlich vom „Rahmen der hellenistischen Anthropologie“ begreift. Diese „weiß, dass es zum Wesen des menschlichen Leibes gehört, ‚Begierden‘ zu haben“, wobei epithymia „nicht nur das sexuelle Begehren“ bezeichnet, sondern (W389) in manchen Texten sogar „als Ursprung und Quelle aller Sünden“ gilt. Weitere Texte griechischer Autoren einschl. Philo und Josephus führt Wolter an, um zu belegen, dass es auch „die Herrschafts- und Unterwerfungsmetaphorik, mit der Paulus in diesem Vers das Verhältnis zur Sünde und den epithymiai des Leibes beschreibt, … bereits in seiner Umwelt“ gibt.
Dass „jeder Mensch“ Begierden „in seinem ‚sterblichen Leib‘ vorfindet“, ist normal, aber ob man ihnen
gehorcht und sich dadurch der Herrschaft der Sünde unterwirft, wird in der Lebensführung erkennbar. … Paulus verlangt von den Getauften, dass sie ihnen widerstehen, weil sie sich sonst wieder unter die Herrschaft der Sünde begeben und damit in den Zustand vor ihrer Bekehrung zurückfallen. Es geht ihm also nicht darum, dass die Getauften die „Neuheit des Lebens“, in dem sie jetzt „wandeln“ (V. 4), „in eigener Entscheidung nachvollziehen“ <159>, sondern sie sollen diese „Neuheit“, die als solche ja prinzipiell unanschaulich ist (niemand kann einem Getauften ansehen, dass er getauft ist), ethisch zur Anschauung bringen.
Ob es letzten Endes aber einen großen Unterschied macht, wie Wilckens von „eigener Entscheidung“ zu reden oder wie Wolter davon, dass man die unanschauliche Taufe „ethisch zur Anschauung“ bringt, erschließt sich mir nicht. Mein Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre, wie sie sich mir durch Theologen wie Helmut Gollwitzer und Karl Barth erschlossen hat, ging davon aus, dass es eine durch das Vertrauen auf Gottes Liebe radikal veränderte Lebenshaltung ist, die ethisches Handeln erst ermöglicht. Da der Indikativ des göttlichen Handelns allerdings nicht wirklich automatisch ethisches Handeln hervorruft, muss letzten Endes doch eine eigene menschliche Entscheidung für das Zustandekommen des Letzteren vorausgesetzt werden. Auf einem noch einmal anderen Blatt ist immer wieder die Frage zu stellen, ob Paulus überhaupt schon in genau den Bahnen gedacht hat, die spätere christliche Theologen in ihren Konstruktionen der Rechtfertigungslehre auf den Aussagen des Paulus aufgebaut haben. Dazu weiter unten, wenn wir zur Auslegung von Römer 6,12-13 durch Jankowski kommen.
Aber zunächst zu Wolters Auslegung (W389) von Vers 13, mit dem Paulus „die zuvor formulierten Mahnungen fortschreibt.“ Dabei unterscheidet Wolter den in die Vergangenheit gerichteten „Imperativ Präsens mēde parhistanete … (V. 13a)“ von dem auf die Zukunft gerichteten „Imperativ Aorist alla parastēsate (V. 13b)“. Zwar übersetzt er beide Male (W385f.) mit „stellt … (nicht) … zur Verfügung“, aber (W389) im ersten Fall geht es darum, „mit etwas aufhören zu sollen“, also etwas „nicht mehr“ zu tun (wie auch etwa in „Mk 9,39; Lk 7,13; 23,27f“), während im zweiten Fall gefordert wird, etwas „ab jetzt“ zu tun (W389f.):
Die antithetische Anordnung der beiden Imperative würde dann einmal mehr den Bekehrungsbezug der ethischen Weisung hervortreten lassen. Die Leser werden aufgefordert, ihre Bekehrung auch in ihrer Lebensführung abzubilden: Sie sollen ab jetzt lassen, was ihr Leben vorher gekennzeichnet hat, und tun, was ihre neugewonnene Identität erkennbar macht.
Das klingt alles plausibel, nur impliziert die Vokabel „Bekehrung“ – in meinen Augen zu Unrecht –, dass die „neugewonnene Identität“ der von Paulus Angesprochenen in einer Art von Religionswechsel besteht, also einem Abschied vom Judentum, während im Hintergrund der Aussagen des Paulus ebenso eine veränderte Haltung angeredeter Juden in ihrem Verhältnis zu den von Paulus in den Leib Christi als der messianischen Gemeinde mit aufgenommenen Gojim stehen kann.
Inhaltlich (W390) enthalten die „beiden Aufforderungen in V. 12a und in V. 13a“ die gleiche Aussage:
Wer nicht zulässt, dass die Sünde mit Hilfe der Glieder Unrecht tut, erlaubt ihr nicht, durch seinen Leib zu herrschen. Im Klartext: Wer getauft ist und kein Unrecht tut, macht auf diese Weise deutlich, dass er nicht mehr unter der Herrschaft der Sünde steht, und hält die Sünde von sich fern.
Mit dem Wort hopla {Waffen} „meint Paulus hier vermutlich nicht lediglich ‚Werkzeuge‘, sondern tatsächlich ‚Waffen‘“, denn auch an anderen Stellen greift er auf eine „entsprechende Metaphorik“ zurück (z.B. in Röm 13,12; 2Kor 6,7; 2Kor 10,4; 1Thess 5,8):
Am Tun – entweder von adikia {Ungerechtigkeit} oder von dikaiosynē {Gerechtigkeit} – kann man darum erkennen, wem man seine „Glieder“ als „Waffen“ zur Verfügung gestellt hat: der Sünde oder Gott.
Die Wendung (W391) hōsei ek nekrōn zontas {gleichsam als Lebende aus den Toten} bezeichnet die angeredeten heautous {euch} näher, die sich Gott zur Verfügung stellen sollen. Dazu betont Wolter, dass Paulus jetzt „nicht mehr die Bekehrung… als ‚Tod‘ des Lebens vor der Bekehrung versteht“, wie er das in Römer 6,3-11 getan hatte, sondern „auf traditionelle Bekehrungssprache“ zurückgreift, „die die Zeit vor der Bekehrung als Tod und die Bekehrung selbst als Gewinn von Leben deutet“, wie das u.a. in Lk 15,24.32; Eph 2,1; Kol 2,13 der Fall ist. Dass Paulus hier „metaphorisch redet“, zeigt schon die „Vergleichspartikel hōsei {gleichsam}“, denn für
ein alltagsweltliches Verständnis von Tod und Leben waren die Getauften vor ihrer Bekehrung natürlich nicht tot, und dementsprechend sind sie durch ihre Taufe auch nicht zum Leben erweckt worden. Demgegenüber kann innerhalb eines Wirklichkeitsverständnisses, das Paulus in V. 11 mit „in Christus Jesus“ gekennzeichnet hatte, das Gegenüber von ‚einst‘ und ‚jetzt‘, von vor und nach der Bekehrung, als Gegenüber von Unheil und Heil gedeutet werden sowie – in Aufnahme der vorerwähnten Bekehrungssprache – als Gegenüber von ‚Tod‘ und ‚Leben‘.
Da Paulus den Begriff dikaiosynē {Gerechtigkeit} in Vers 13c als „Gegenbegriff zu adikia (‚Ungerechtigkeit‘; V. 13a)“ verwendet, ist er „hier nicht als soteriologische {auf das Heil bezogene}, sondern als ethische Kategorie“ zu verstehen. Wie „in Röm 14,17 und Phil 1,11 (s. auch Phil 4,8; Eph 4,24; 5,9; 1Tim 6,11; 2Tim 2,22)“ ist damit Wolter zufolge „jene Grundtugend“ gemeint, „wie sie in der ethischen Tradition der Antike als eine der vier Kardinaltugenden überliefert ist“, und zwar (W391f.) „vielfach auch als übergeordnete Haupttugend“. Zum dritten Mal in diesem Text, wie schon beim thnēton sōma {sterblichen Leib} und den epithymiais tou sōmatos {Begierden des Leibes} erklärt Wolter also einen von Paulus verwendeten Begriff von einem griechisch-philosophischen und diesmal sogar römischen Hintergrund her (unter Rückgriff auf Aeschylus, Plato, Aristoteles und Cicero), statt seinen jüdisch-biblischen Wurzelgrund ernst zu nehmen.
Kommen wir nun demgegenüber zu Gerhard Jankowski (J145), der „das Problem der Sünde und des Sündigens“, wie Paulus es in Römer 6,12-13 entfaltet, vom rabbinischen „Lehrstück vom guten und bösen Trieb“ her „zu erklären und zu begreifen“ sucht. Er wählt dazu aus „der Fülle des rabbinischen Materials“ den Traktat Nedarim aus dem babylonischen Talmud heraus (bNed 32b), in dem „ein Rabbi Ami ben Abba“ die Stelle Prediger Salomo 9,14-15 auslegt (J145f.):
Der auszulegende Text lautet:
14 Eine kleine Stadt, wenig Menschen darin,
da kam ein großer König hinzu
und umzingelte sie
und baute wider sie große Bollwerke.
15 Nun fand sich darin ein Mann, ein armer Weiser,
der hat mit seiner Weisheit die Stadt gerettet.
Aber nicht gedachte ein Mensch jenes armen Weisen.R. Ami legt das so aus: „Eine kleine Stadt, das ist der Leib; wenig Menschen, das sind die Glieder. Da kam ein großer König, das ist der böse Trieb; und baute Bollwerke, das sind die Sünden. Es fand sich darin ein armer Weiser, das ist der gute Trieb. Und rettete die Stadt durch seine Weisheit, das sind Umkehr und gute Werke. Aber nicht gedachte, zur Zeit des bösen Triebs gedenkt niemand des guten Triebs.“
Nach Meinung der Weisen und Lehrer gehört der böse Trieb von Natur aus zum Menschen. Der Trieb versucht, die 248 Glieder des menschlichen Leibes zu beeinflussen, daß sie allem Begehren nachgehen und den Menschen zu Verfehlung und Sünde treiben. Der gute Trieb beginnt den Kampf gegen den bösen Trieb im Menschen, wenn der so viel Thora gelernt hat, daß er dem guten Trieb in sich zum Sieg in diesem Kampf verhelfen kann. Auch wenn der böse Trieb zeitweilig wie der Gewinner aussieht, ist es doch der gute Trieb, der den Menschen zur Umkehr und zu guten Taten anleitet. Es gilt auch, daß dem Zaddik, also dem, der sich im Tun der Thora bewährt hat, der böse Trieb genommen und der gute Trieb völlig gegeben wird. <160>
Auch wenn Paulus (J146) den „guten und den bösen Trieb … nicht wörtlich“ nennt, ist von diesem Lehrstück her jedenfalls klar, dass die die „Stichworte sterblicher Leib, begehren, hörig sein, Glieder“ nicht ausschließlich von hellenistischen Traditionen her interpretiert werden können:
Paulus wendet sie auf das an, was der böse Trieb im Menschen bewirkt, nämlich ihn zum Sündigen zu bringen. Die Stichworte Bewährtheit, nicht mehr Herr sein beziehen sich auf die Wirkungen des guten Triebes.
In den folgenden Sätzen argumentiert Jankowski allerdings weniger überzeugend:
Paulus interpretiert auch hier eindeutig das vieldiskutierte Lehrstück vom guten und bösen Trieb messianisch. Für ihn sind die Menschen im Leib des Messias nicht mehr existent für das, was der böse Trieb auslöst: die Sünde. Der böse Trieb hat seine Herrschaft verloren. Sich fast kämpferisch auf die Seite des guten Triebes zu schlagen und sich von ihm leiten zu lassen ist eine Ermutigung, wieder des armen Weisen zu gedenken.
Worin genau besteht für Jankowski hier die messianische Interpretation des genannten Lehrstücks? Setzt er, indem er von den „Menschen im Leib des Messias“ spricht, die für die Sünde nicht mehr existieren, ein metaphorisches Verständnis des Wortes sōma {Leib} in Vers 12 im Sinne der messianischen Gemeinde voraus? Aber spricht nicht sowohl die Verbindung von sōma mit dem Adjektiv thnēton {sterblich} als auch der Bezug der rabbinischen Auslegung von Prediger 9,14-15 auf den menschlichen Leib und seine Glieder dagegen, sōma hier auf den Leib des Messias zu beziehen?
Was ich verstehe, ist, dass „die messianische Praxis des Paulus“ darin bestand, Nichtjuden, die auf den Messias Jesus vertrauen, in die Gemeinschaft der Juden mit hineinzunehmen. Und Paulus kannte „die Argumente nur zu gut“, die aus der Sicht der Juden dagegen sprachen: „War er nicht vom bösen Trieb beherrscht, wenn er so lebte und handelte, wie er es tat?“ Verstieß er nicht gegen die „Thora und vor allem die halachischen Gebote“? So stellt sich Jankowski die Frage, ob „Paulus, das Lehrstück vom guten und bösen Trieb auslegend, den jüdischen Brüdern“ wirklich Mut machen konnte, ihren Widerstand gegen seine „messianische Praxis“ aufzugeben:
Er geht nicht aggressiv gegen sie vor. Er lädt vielmehr mit bekannten, oft genug diskutierten Argumenten ein, zunächst an diesem so zentralen Punkt nicht als Sünde anzusehen, was keine sein konnte und auch nicht mehr sein sollte, und mit Leib und Seele für die Wahrhaftigkeit zu kämpfen. Und dieser Kampf wurde geführt, wo Juden und Nichtjuden zusammenlebten. Deswegen ist die Ermutigung auch an die Juden in der messianischen Gemeinschaft gerichtet, sich nicht provozieren zu lassen, weder von außerhalb noch von innen, den eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Es war eben keine Sünde, so zu leben, wie sie lebten.
↑ Römer 6,14: Wer unter Gnade statt unter Tora ist, den wird Verfehlung nicht beherrschen
6,14 Denn die Sünde wird nicht herrschen über euch,
weil ihr ja nicht unter dem Gesetz seid,
sondern unter der Gnade.
[27. März 2025] Zu Römer 6,14 hebt Michael Wolter hervor (W392), dass sich in dem „Futur ou kyrieusei {wird nicht herrschen} … kein verdeckter Imperativ“ versteckt, „sondern es beschreibt einen gegenwärtigen Zustand, der in die Zukunft hinein fortdauert.“ Die „Aufgabe“ solcher „Seins-Aussagen“ besteht in der Begründung von „ethischen Sollens-Aussagen“, wie Paulus sie zuvor geäußert hat. Das heißt:
Paulus macht den Indikativ (V. 14a) zur Begründung des Imperativs (V. 12a), indem er seinen Lesern dessen soteriologische {auf das Heil bezogene} Ausrichtung verdeutlicht: Die Freiheit von der Herrschaft der Sünde ist ein eschatischer {auf die Endzeit bezogener} status quo (sein Zustandekommen hat Paulus in V. 1-11 erklärt), der nicht erst noch erreicht werden muss, sondern den es zu bewahren und nicht zu verlieren gilt. Hierauf, die Freiheit von der Herrschaft der Sünde nicht wieder aufzugeben, richtet sich die paränetische {ermahnende} Weisung.
Anders ausgedrückt (W392f.) hat sich damit das „Machtverhältnis zwischen Sünde und Mensch … für die Getauften umgekehrt. Die Sünde kann über sie nur noch herrschen, wenn sie es zulassen: dadurch, dass sie sündigen.“ Ab Vers 16 wird dieser Gedanke „entfaltet“.
Die Feststellung von Vers 14a begründet Paulus mit Vers 14b, indem er „auf seine Argumentation in 5,15-17.20-21 zurückgreift“.
Dabei verwendet er den „Ausdruck hypo (ton) nomon“, den es „in der griechischen Bibel nur bei Paulus“ gibt, nämlich „in Röm 6,14.15; 1Kor 9,20 (4 mal), Gal 3,23; 4,4.5.21; 5,18.“ In „der gesamten außerchristlichen griechischen Literatur der Antike“ kommt er nur „noch zwei Mal“ vor, und wenige andere Male gibt es die Formulierung hypo tous nomous {unter den Gesetzen} mit demselben Sinn, „einer gesetzlichen Forderung zu unterliegen, die den Menschen sagt, was sie zu tun haben“. Einmal bezieht sich Josephus <161> damit wie Paulus auf „die Tora“, indem er „über die Proselyten“ schreibt:
„alle, die mit uns unter denselben Gesetzen leben wollten [ethelousin hypo tous autous hēmin nomous zēn]“).
Wolter meint nun, dass Paulus „[d]as ‚Nicht-unter-dem-Gesetz-Sein‘ der Adressaten … an dieser Stelle als Argument verwenden“ kann,
weil er das in 5,20a-b Gesagte voraussetzt: dass gerade die Tora die Menschen immer noch tiefer in den Unheilszusammenhang von Sünde und Tod verstrickt hatte (vgl. 1Kor 15,56: das Gesetz als die dynamis tēs hamartias {Kraft der Sünde}). Hierbei handelt es sich um eine Situation, in der sich die hier angeredeten Ihr nicht befinden, denn deren Heils- und Existenzorientierung basiert nicht auf der Tora, sondern auf der „Gnade“. Mit charis ist die Gnade Gottes gemeint, von der zuletzt in 5,15-17.20d-21 die Rede war.
Näherhin (W394) meint Gnade „ein Handeln Gottes“, das „für das Christusgeschehen“ steht, das wiederum „der Glaube als Gottes gnädiges Handeln deutet und das der Glaubende als solches erfährt.“ Der außer an dieser Stelle (Anm. 35) in der griechischen Antike nirgends belegte Ausdruck hypo charin {unter der Gnade}, der vermutlich von Paulus selbst analog zu hypo nomon geprägt wurde (W394) weist „darum auf 3,24-25 zurück“, wo von der Rechtfertigung tē autou chariti {aus seiner Gnade}, nämlich der Gnade Gottes, die Rede ist.
Für Michael Wolter birgt Römer 6,14 kaum Probleme, da sich Paulus in seinen Augen an römische Heidenchristen wendet, denen er bescheinigt, dass sie unter den Bedingungen ihrer Glaubensdeutung des Christusgeschehens als Gottes gnädiges Handeln unter der Gnade stehen und mit der jüdischen Tora nichts zu tun haben müssen.
Gerhard Jankowski dagegen geht von ganz anderen Voraussetzungen aus, nämlich dass Paulus bei römischen Juden für die Aufnahme von auf den Messias vertrauenden Gojim in eine messianische Gemeinschaft mit ihnen wirbt, weil auch diese durch die Taufe auf dessen Tod hin für die Sünde gestorben sind und deren Sünde also genauso wenig wie ihre eigene noch über sie herrschen kann. Aber (J146) war es wirklich „keine Sünde, so zu leben, wie sie lebten“, in enger Gemeinschaft von Juden mit Nichtjuden? Jankowski hat den Eindruck (J146), dass es „für jüdische Ohren alles andere als eine Ermutigung“ ist, sondern auf jeden Fall „beim ersten Hören eine Provokation“, wenn Paulus als Begründung dafür schreibt: „Denn sie waren nicht unter Thora, sondern unter Solidarität“, wie er charis übersetzt <162>:
Denn wird hier nicht die Thora außer Geltung gesetzt und damit verabschiedet? So scheint es, und so ist es auch immer wieder ausgelegt worden.
Gegen diese Auslegung, die auch Wolter vertritt, kämpft Jankowski an. Er stellt die Frage: „Was aber sagt die Thora zu der messianischen Praxis des Paulus?“ In „dem Midrasch über die Verheißung an Abraham“ hat Paulus herausgearbeitet (J147), dass „die Thora nichts gegen die Gojim sagt, aber sehr viel für sie.“ Trotzdem weiß Paulus natürlich, dass es außerhalb der jüdischen heiligen Schriften auch noch „die mündliche Thora“ gibt, und diese gebietet,
den Kontakt mit den Gojim möglichst zu meiden. Oder sie stellt so hohe Bedingungen für den Verkehr mit den Gojim, daß er praktisch unmöglich ist. Diesen Druck der Thora, und hier geht es ihm wohl allein um die halachischen Gebote zum Verhältnis mit den Gojim, sieht Paulus aufgehoben. Er ist aufgehoben durch die freie, solidarische Zuwendung Gottes zu seinem Volk und zu den Gojim.
Wir wissen, dass Wolter bei Paulus immer wieder eine Aporie feststellt, einen ausweglosen Widerspruch zwischen seinem angeblichen Abschied vom Judentum und seiner Tora und dann wieder unvermittelt positiven Äußerungen über seine Mitjuden und auch die Tora. Vielleicht basiert dieser Widerspruch u.a. auch darauf, dass Paulus die Tora differenziert betrachtet, dass er unterscheidet zwischen einer Tora, die strikt auf der Trennung von den Völkern beharrt, und einer durch den Messias für die Solidarität mit den Völkern geöffneten Tora. Im Grunde wendet sich Paulus dagegen, einen „Zaun um die Tora“ <163> zu errichten, mit dessen Hilfe es dem rabbinischen Judentum in den Jahrhunderten nach der Zerstörung des Zweiten Tempels auf ihre Weise gelingen wird, die Identität des Volkes Israel gegen alle Widerstände zu erhalten. Aber das heißt für Paulus
noch lange nicht, daß die Thora überhaupt zu streichen ist. Unter Thora sein, das hieß und heißt, solidarisch zuallererst mit den Bundesgenossen sein und sich von denen, die nicht zum Bund gehören, möglichst fern zu halten. Unter Solidarität sein heißt, die Bundesgenossenschaft auch mit denen zu halten, die von vornherein nicht dazu gehören. Und dazu will Paulus ermutigen. Von einer Verabschiedung der Thora kann keine Rede sein. Gerade solidarisches Handeln und Leben hat seine Pflichten.
↑ Römer 6,15-16: Wer statt unter Tora unter Gnade ist, macht sich nicht zu Sklaven der Verfehlung, sondern des Gehorsams zur Bewährtheit
6,15 Wie nun? Sollen wir sündigen,
weil wir nicht unter dem Gesetz,
sondern unter der Gnade sind?
Das sei ferne!
6,16 Wisst ihr nicht?
Wem ihr euch zu Knechten macht,
um ihm zu gehorchen,
dessen Knechte seid ihr und dem gehorcht ihr
– entweder als Knechte der Sünde zum Tode
oder als Knechte des Gehorsams zur Gerechtigkeit.
[28. März 2025] Da Gerhard Jankowski in der Auslegung der restlichen Verse des 6. Römerbriefkapitels noch mehr als sonst den gesamten Abschnitt im Blick hat, beginne ich diesmal mit seinen Ausführungen, die sich auf Stichworte des Paulus bis zum Anfang vom Römer 6,19 beziehen.
Zunächst vermutet Jankowski (J148), dass es „für viele eine Erleichterung gewesen sein“ mag, „solidarisch mit Gojim zu leben, guten Gewissens, obwohl sie halachische Anweisungen nicht mehr beachteten“, denn dafür ist „Paulus selbst … das beste Beispiel“, dem „andere gefolgt“ sind. In Römer 6,15 spricht Paulus trotzdem den Verdacht aus, ob nicht „fast notwendig der Gedanke hochkommen“ muss,
daß der Willkür Tor und Tür geöffnet sind. Denn daß da Juden mit Nichtjuden zusammenleben ist ein Sonderweg, im Blick auf die Thora sogar ein absonderlicher Weg. Die ihn gehen, folgen nicht der Thora, sie sündigen. Wo aber Thora nicht mehr gilt, da gibt es keine Bindungen mehr, alles löst sich in Beliebigkeit auf. Die ganze Absonderlichkeit, die Sünde, die eingedämmt werden sollte, nimmt überhand. Da es also keine Bindung mehr gibt, wird alles Tun zur Sünde. Wäre nicht die Konsequenz: Laßt uns sündigen?
Während Wolter meint, dass die von Paulus Angeredeten dabei sind, sich in der Gewissheit ihres neu erworbenen Christus-Glaubens einzurichten, muss nach Jankowski die hier von Paulus aufgenommene Frage, „die mit Sicherheit gestellt wurde“, vor allem die von ihm angesprochenen Juden existentiell umgetrieben haben. In ihr
steckt die Angst vor dem Neuen und Ungewöhnlichen, das in der messianischen Gemeinde sichtbar wurde. Es war die Angst, sich von der Thora verabschieden zu müssen, die einem ja die Chance gab, sich als Mensch zu bewähren. War Thora nicht mehr gültig, wie konnte denn überhaupt noch verantwortlich gelebt werden?
Jankowski meint nun nicht wie Wolter (W387), Paulus gehe in den folgenden Versen einfach davon aus, dass der Mensch „seinem Wesen nach ein Gehorchling“ sei, der immer irgendwem als Sklave gehorchen muss, vielmehr (J148) nimmt er die Frage seiner konkreten Leserschaft in Rom sehr ernst, indem er „die messianische Praxis“ noch einmal auf andere Art und Weise „zu umschreiben“ versucht,
dieses Mal mit Worten, die einen großen Sektor der damaligen Gesellschaft markierten, nämlich den der Sklaverei. Doulos, Sklave, eleutheros, freigelassen, hypakoē, Hörigkeit, sind solche Worte.
Sicher konnte Paulus „davon ausgehen“, dass „diese Begrifflichkeit … bestens bekannt war“, vielleicht weil „seine Adressaten in Rom Freigelassene“ waren oder einfach weil sie wussten, dass „in Rom ohne die Arbeit von Sklaven nichts funktionieren konnte.“ Tatsache war auf der einen Seite: „Sklave zu sein bedeutete, in totaler Abhängigkeit zu sein. Sklaven waren Besitz.“ Aber es gab auch „Möglichkeiten, aus diesem Hörigkeitsverhältnis herauszukommen“, eine davon war „die Freilassung durch den Besitzer.“ In Vers 19 wird Paulus (J149) „es halt ‚menschlich‘“ sagen,
damit er richtig verstanden wird. Die Realität ist von Sklaverei bestimmt. Ob jemand einem Sklavenhalter oder der Sünde hörig ist, macht da kaum einen Unterschied. Sünde, das wird noch einmal deutlich, ist Teil menschlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Deswegen zieht gerade hier auch das Beispiel der Sklaverei.
Soweit zunächst zu Jankowski – was er zu den Versen ab Römer 6,19 zu sagen hat, darauf werde ich unten in der Auslegung zu Römer 6,19-22 eingehen. Aber nun zur jeden Vers akribisch genau betrachtenden Auslegung von Michael Wolter (W394).
Zur „fiktiven Frage“ in Römer 6,15: hamartēsōmen, hoti ouk esmen hypo nomon all‘ hypo charin? {Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz sind, sondern unter der Gnade?} hebt Wolter hervor, in welcher Weise sie sich von „der in 6,1 formulierten Frage“ unterscheidet. Sie werden in seinen Augen
von zwei ganz unterschiedlichen fiktiven Fragestellern vorgebracht …: Das Wir von V. 15 ist ein christliches Wir, denn Paulus positioniert es mit den Worten von V. 14 „unter der Gnade“ und „nicht unter dem Gesetz“. Demgegenüber fragt das fiktive Wir von V. 1 so, als hätte es die Gnade noch vor sich. Es steht gegebenenfalls noch „unter dem Gesetz“, und es handelt sich darum eindeutig nicht um ein christliches Wir.
Bestätigt wird das durch die „Konjunktionen …, die Paulus die jeweiligen Fragesteller verwenden lässt“. In Vers 1 wird „mit dem finalen hina {damit} auf die Gnade“ vorausgeblickt, in Vers 15 „mit dem kausalen hoti {weil}“ danach gefragt, ob dem „Sündigen nunmehr nichts entgegensteht, ‚weil‘ es … von keinem Gesetz verboten wird.“ Natürlich weist Paulus „auch diese Schlussfolgerung“ mit der von ihm gewohnten knappen Formulierung mē genoito {natürlich nicht} zurück.
Obwohl Wolter tatsächlich zutreffend einen Wechsel des Blickwinkels in den Versen 1 und 15 beschreibt, belegt dieser nicht unbedingt, dass Paulus hier von gänzlich verschiedenen „fiktiven Fragestellern“ ausgeht. Wenn er in den ersten acht Kapiteln des Römerbriefs vor allem um das Verständnis jüdischer Adressaten für seine Sendung zu den Gojim und ihre Einbeziehung in die Gemeinschaft des Gottesvolkes wirbt, dann gibt es noch nicht, wie Wolter unterstellt, die von Paulus angeredeten Christen, die sich fein säuberlich von Juden unterscheiden ließen, die nach wie vor an der inzwischen überholten Tora und damit an der Sünde festhalten.
In Römer 6,16 leitet Paulus mit der „Formulierung ouk oidate hoti {wisst ihr nicht}“ ähnlich wie in Vers 3 „eine Suggestivfrage“ ein, „mit deren Hilfe er einen neuen Gedanken als selbstverständlich ausgeben will.“ Er greift dabei „auf das begriffliche Inventar von V. 12-13“ zurück: „parhistēmi {zur Verfügung stellen}, hypakoē {Gehorsam}, hamartia {Sünde}, dikaiosynē {Gerechtigkeit}“, und ergänzt „die Herrschaftsmetaphern der vorangegangenen Verse 12 und 14 (basileuein und kyrieuein) um die ihnen komplementäre Unterordnungsmetapher douloi {Sklaven}“.
Den Satzbau (W395) „der Erklärung in V. 16b-c“ findet Wolter „recht verworren“. Er will ihn (Anm. 42) „in Ordnung bringen“, indem er „vor douloi {Sklaven} … ein Demonstrativum ergänzt“, nämlich das Wort toutou {dessen}
im Genitiv …: Diesen Kasus verlangen die Genitive hamartias {der Sünde} und hypakoēs {des Gehorsams} in V. 16c-d, von denen douloi jeweils genauso abhängig ist wie von dem zu ergänzenden Pronomen.
Außerdem weist er darauf hin, dass die jeweils einen Relativsatz einleitenden Pronomen hō {wem bzw. dem}, die beide im Dativ stehen, „in V. 16b von parhistanete {ihr zur Verfügung stellt} und in V. 16c von hypakouete {ihr gehorcht} abhängig“ sind. Daraus ergibt sich die Übersetzung von Vers 16 (W386):
a Wisst ihr nicht:
b wem ihr euch als Sklaven zum Gehorsam zur Verfügung stellt,
c (dessen) Sklaven seid ihr, dem ihr gehorcht
d – entweder der Sünde zum Tod
e oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit?
Auch wenn, wie Wolter meint (W395), „Paulus die Plausibilität des metaphernspendenden Bereichs arg strapaziert“, ergibt sich doch „deutlich …, was er sagen will: dass sich jeder, der sündigt, eben dadurch wieder unter die Herrschaft der Sünde begibt.“ Der Mensch ist eben „immer in das Gegenüber von ‚Gott‘ und ‚Sünde‘ eingespannt“ und kann
gar nicht anders als ein Sklave sein und „gehorchen“ (V. 16c). Das gehört zu seinem Wesen. Für die Getauften besteht dabei immer noch die Gefahr, wieder unter die Herrschaft der Sünde zu geraten – wenn sie wieder mit dem Sündigen anfangen.
Leicht zu verstehen ist Wolter zufolge, dass Paulus in Vers 16d-e eis thanaton {zum Tod} und eis dikaiosynēn {zur Gerechtigkeit} einander gegenüberstellt,
denn hier geht es um die Folgen der jeweiligen Bindung: „Tod“ ist die Unheilsfolge für die ‚Sklaven der Sünde‘ (s. auch V. 21c.23a sowie Röm 1,32; 5,12.17.21; 7,13; Jak 1,15), während „Gerechtigkeit“ die Heilsfolge bezeichnet, die das Tun der ‚Sklaven des Gehorsams‘ nach sich zieht.
„Überraschend ist demgegenüber“ für Wolter, dass Paulus außerdem „den douloi hamartias {Sklaven der Sünde} die douloi hypakoēs {Sklaven des Gehorsams} gegenüberstellt“, denn „an der Stelle von hypakoē {Gehorsam}“ müsste „eigentlich Gott stehen.“ Da Paulus in Römer 1,5 von der hypakoē pisteōs {Gehorsam des Glaubens} gesprochen hatte, kann hier (wie auch später in 15,18) das Wort hypakoē hier „den Glauben“ umschreiben (W395f.)
und „Sklaven des Gehorsams“ würde Paulus all diejenigen nennen, die sich in ihrer Lebensführung konsequent und kompromisslos von ihrem Christus-Glauben bestimmen lassen, wie das bei Sklaven in Bezug auf die Weisungen ihrer Herren der Fall ist (vgl. auch Röm 10,4.10). In die gleiche Richtung weist nicht nur die paulinische Rede von der hypakoē seiner Gemeinden in Röm 16,19; 2Kor 7,15; 10,6, sondern auch die in 1Petr 1,14 formulierte Weisung, die Leser des Briefes sollten „als Kinder des Gehorsams (tekna hypakoēs) sich nicht den früheren … Begierden anpassen“. Darüber hinaus geht aus dieser Redeweise hervor, dass der Glaube-Rechtfertigungsdiskurs auch in Röm 6 im Hintergrund noch präsent ist.
Ein kurzer Blick sei Jankowskis Übersetzung vom Römer 6,16b-e gewidmet (J147):
Wem ihr euch selbst zu Sklaven auf Hörigkeit hin überstellt,
dem seid ihr Sklaven und hörig.
Entweder der Sünde auf Tod hin,
oder der Hörigkeit auf Bewährtheit hin.
In der Wiedergabe von hypakoē mit „Hörigkeit“ klingt durch, wie ernst Paulus nach Jankowski den Hintergrund des realen Problems der Sklaverei unter der römischen Weltordnung nimmt, während die schon vertraute Übersetzung von dikaiosynē mit „Bewährtheit“ vom jüdisch-biblischen Kontext dessen zu verstehen ist, wozu das Vertrauen auf den Messias Jesus die auf ihn Vertrauenden befreit, nämlich einer Disziplin der Freiheit, durch die sie die ihnen geschenkte Befreiung bewahren können.
↑ Römer 6,17-18: Von Herzen gehorsam dem Typ einer neuen Lehre, euch übergeben, seid ihr frei von der Verfehlung und versklavt für die Bewährtheit
6,17 Gott sei aber gedankt:
Ihr seid Knechte der Sünde gewesen,
aber nun von Herzen gehorsam geworden
der Gestalt der Lehre, an die ihr übergeben wurdet.
6,18 Denn indem ihr nun frei geworden seid von der Sünde,
seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit.
[29. März 2025] Was Paulus bereits (W396) in den Versen 13 und 16d-e einander gegenübergestellt hat, betrachtet er in den Versen 17-18 als „ein Nacheinander von einst und jetzt“, womit er Michael Wolter zufolge „gleichzeitig eine weitere theologische Deutung des Bekehrungsgeschehens“ vornimmt.
Der „Ausruf ‚Gott sei Dank!‘ (charis tō theō; V. 17a)“, den „es in der griechischen Bibel nur bei Paulus“ gibt, wozu Wolter auf „Röm 7,25; 2Kor 8,16; 9,15 sowie 1Kor 15,57 und 2Kor 2,14: jeweils tō theō charis“ verweist, bezieht sich hier „natürlich nicht“ auf
die frühere Existenz der Adressaten als Sklaven der Sünde (V. 17b), sondern dass sie diesen Status aufgegeben und sich einer anderen Herrschaft unterworfen haben, um ihr zu gehorchen (V. 17c). Der Aorist von hypēkousate {ihr seid gehorsam geworden} ist darum ingressiv und umschreibt das Bekehrungsgeschehen des Zum-Glauben-Kommens. Paulus gebraucht hypakouein {gehorchen} hier genauso wie in Röm 10,16 oder wie hypakoē {Gehorsam} in Röm 1,5; 15,18; 2Kor 10,5 (s. auch 2Thess 1,8) zur Bezeichnung des Glaubens-Gehorsams.
Indem Wolter die Wendung ek kardias {von Herzen} als „möglicherweise bis wahrscheinlich“ vom „alttestamentlichen ‚aus ganzem Herzen‘ (LXX: ex holēs tēs kardias)“ abgewandelt herleitet, „das vorzugsweise in Bekehrungszusammenhängen Verwendung findet und hier die Aufrichtigkeit der Hinwendung zum Gott Israels hervorhebt (Dtn 4,29; 30,2.10; 2Chr 15,12; Joel 2,12; Jer 3,10 [‚nicht aus ganzem Herzen zu mir umgekehrt, sondern zum Schein‘]; 24,7)“, macht Wolter indirekt deutlich, dass das, was er als Bekehrung bezeichnet, nicht zwangsläufig den Abschied von der jüdischen Religion meinen muss, sondern im Gegenteil gerade eine von Paulus im Vertrauen auf den Messias Jesus neu verstandene Umkehr zum Gott Israels.
Umstritten ist unter den Exegeten die Bedeutung des Ausdruck in Vers 17c: hypēkousate … eis hon paredothēte typon didachēs. Mit seiner Übersetzung (W386): „ihr seid … gehorsam geworden dem Kern der Lehre, der euch übergeben wurde“, weicht Wolter nicht nur von der oben zitierten Lutherbibel ab, sondern (W397) von der Mehrheit deutscher Bibelübersetzungen und Exegeten, die so tun,
als hätte Paulus geschrieben: ‚hypēkousate … tō typō didachēs, eis hon paredothēte (‚ihr seid dem typos didachēs gehorsam geworden, an den ihr übergeben wurdet‘). Diese Interpretation … jedoch … impliziert vor allem die Konsequenz, dass eis mit paredothē verbunden werden muss, woraus sich dann die merkwürdige Vorstellung ergibt, dass die Getauften einem typos didachēs „übergeben“ sein sollen. Es verwundert nicht, dass es bisher nicht gelungen ist zu erklären, was Paulus damit wohl gemeint haben könnte.
Zur Begründung seiner abweichenden Übersetzung verweist Wolter darauf, dass die „Wendung hypakouein eis … mit den Bedeutungen ‚annehmen‘ oder ‚Folge leisten‘ oder auch ‚sich einlassen auf‘ in der antiken Literatur gar nicht einmal selten belegt ist“. Wenn man aber „eis … typon didachēs {dem Kern der Lehre} in Röm 6,17 einmal als Objekt von hypēkousate {ihr seid gehorsam geworden} identifiziert“ hat (W397f.),
muss die Präposition eis nicht mehr mit paredothēte {ihr seid übergeben worden} verbunden werden. hon paredothēte {der euch übergeben wurde} kann dann als attributiver Relativsatz zu typon didachēs {Kern der Lehre} interpretiert werden. … Nicht die Adressaten wurden dem typos didachēs übergeben, sondern umgekehrt der typos didachēs den Adressaten. paradidōmi {übergeben} ist hier in demselben Sinn gebraucht wie innerhalb des Neuen Testaments in Mk 7,13; Lk 1,2; Apg 6,14; 16,4; 1Kor 11,2.23; 15,3; 2Petr 2,21; Jud 3.
Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich die Wendung typos didachēs? Wolter zufolge greift Paulus damit – wie (Anm. 57) später auch in Römer 16,17 – (W398) „einen Sprachgebrauch“ auf, der „für typos in der antiken Literatur häufig belegt ist…, in dem typos die vereinfachte, aber wesentliche ‚Grundgestalt‘ einer ‚Lehre‘ oder eines Buches o.ä. bezeichnet.“ Daher hält es Wolter für
wahrscheinlich, dass Paulus mit typos didachēs so etwas wie eine Verdichtung der Christus-Botschaft auf ihren wesentlichen Gehalt bezeichnen will, wie er sie z.B. in 1Kor 15,1-5 als „Evangelium“ wiedergibt. Dass er hier vom paradidonai {Übergeben} des Evangeliums genauso sprechen kann wie in Röm 6,17 vom paradidonai des typos didachēs, spricht ebenso für diese Interpretation wie dass hypēkousate {ihr seid gehorsam geworden} (Röm 6,17) und episteusate {ihr seid zum Glauben gekommen} (1Kor 15,2) semantisch isotop {bedeutungsgleich} sind. Ob Paulus hier an so etwas wie einen Katechismus denkt, der bei der Taufe vorgetragen wurde, oder an ein Credo, das bei dieser Gelegenheit nachgesprochen wurde, muss offen bleiben.
Immerhin hält Wolter wenigstens die Annahme für unbeweisbar, Paulus hätte das Vertrauen auf Jesus bereits im Sinne des Fürwahrhaltens von Glaubenssätzen verstanden, die man aus einem Katechismus lernen kann. Die Möglichkeit, dass Paulus die traditionelle rabbinische Lehre der Trennung von den Völkern durch den neuen Typ einer Lehre ersetzt, derzufolge der Messias des Gottes Israels auch Gojim, die auf ihn vertrauen, in die Gemeinschaft mit den Juden hineinnimmt, kommt jedoch in seinen Erwägungen nirgends vor.
Den Vers Römer 6,18 legt Wolter als Erläuterung von Vers 17b-c aus und zugleich als eine bedeutungsgleiche Parallele „zu dem in V. 11 festgestellten Gegenüber von ‚der Sünde sterben‘ und ‚Gott leben‘“:
Mit eleutherōthentes de apo tēs hamartias {Als ihr aber von der Sünde befreit wurdet} und edoulōthēte tē dikaiosynē {seid ihr der Gerechtigkeit als Sklaven unterworfen worden} bezeichnet Paulus nicht zwei verschiedene, aufeinander folgende Vorgänge, sondern ein und denselben: Man wird nur dadurch von der Sünde befreit, dass man sich der Gerechtigkeit als Sklave unterwirft. … Die ‚Freiheit‘, von der Paulus hier spricht, gibt es nicht ohne neue ‚Sklaverei‘.
Dass Paulus (Anm. 59) „das Gegenüber von ‚Sünde(n)‘ und ‚Gerechtigkeit‘ … bereits“ aus den biblischen Schriften und Propheten vertraut sein konnte, belegt Wolter mit dem Verweis auf „Spr 13,6; 14.34; Sir 26,28; Ez 33,14.16.“
Bezeichnend ist, dass Wolter die Rede des Paulus von der Freiheit immer wieder dadurch relativiert, dass der Mensch als Gehorsamstier angeblich nicht anders kann, als sich unter eine neue Sklaverei zu begeben, wenn er von einer alten Sklaverei befreit ist. Ihm fehlt die Einsicht, dass das Volk Israel seine Indienstnahme durch den befreienden NAMEN grundlegend anders erfahren hat als jede Versklavung durch beliebige andere Unterdrückergötter. <164> Wer dem Gott Israels als Sklave dient, ist in Wahrheit zu dem aufrechten Gang befreit, von dem in 3. Mose 26,13 die Rede ist. Und von daher ist auch die Rede des Paulus von Befreiung und Freiheit zu begreifen.
↑ Römer 6,19-22: Statt eure Glieder der Toralosigkeit zur Toralosigkeit zu überstellen, stellt sie der Bewährtheit zur Verfügung, zur Heiligung
6,19 Ich muss menschlich davon reden
um der Schwachheit eures Fleisches willen:
Wie ihr eure Glieder hingegeben hattet
an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit
zu immer neuer Ungerechtigkeit,
so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit,
dass sie heilig werden.
6,20 Denn als ihr Knechte der Sünde wart,
da wart ihr frei von der Gerechtigkeit.
6,21 Was hattet ihr nun damals für Frucht?
Früchte, derer ihr euch jetzt schämt;
denn ihr Ende ist der Tod.
6,22 Nun aber, da ihr von der Sünde frei
und Gottes Knechte geworden seid,
habt ihr darin eure Frucht,
dass ihr heilig werdet;
das Ende aber ist das ewige Leben.
[30. März 2025] Indem Paulus (W386) in Römer 6,19a sagt: „Menschliches rede ich wegen der Schwäche eures Fleisches“, fügt er (W399) eine „Zwischenbemerkung“ ein, mit der er „sich und seinen Lesern bewusst“ macht, „dass die von ihm beigezogene Metaphorik den darzustellenden Sachverhalt nicht genau trifft.“ Sie kann sich Michael Wolter zufolge sowohl „auf das in V. 18 Gesagte … oder auf das Folgende“ beziehen. Dabei nimmt also der
Verweis auf die ‚Schwäche eures Fleisches‘ … nicht die ethische Labilität der Adressaten in den Blick, sondern erklärt die metaphorische Darstellungsweise als Konzession an die eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit der Leser. <165> Diese Einschränkung hat ihren Grund wiederum darin, dass die Getauften weiterhin in einem Leib existieren, der auch ihrem Erkennen Grenzen setzt. Die ‚Schwäche des Fleisches‘, von der Paulus hier spricht, ist eine anthropologische Grundbefindlichkeit.
Die doppelte Ermahnung aus Vers 13 greift Paulus in den Versen 19b-c noch einmal auf, und zwar einschließlich ihrer „metaphorische[n] Begrifflichkeit (parastēsate ta melē hymōn {eure Glieder zur Verfügung stellen} + Dativ).“ Er stellt allerdings passend zur „Metaphorik“ der Verse 16-18 „[d]ie ‚Glieder‘ … jetzt … nicht mehr als ‚Waffen‘ dar, sondern als ‚Sklaven‘“, und er stellt passend zur veränderten „Blickrichtung“ in den Versen 17-18 die beiden alternativen Verhaltensweisen auch nicht einfach in der Gegenwart einander gegenüber. Stattdessen formuliert er eine „‚Wie (einst)-So (jetzt)‘-Antithese“, die „parallel aufgebaut“ ist, was aus Wolters Übersetzung (W386) klarer hervorgeht als aus der Lutherbibel:
Denn wie ihr eure Glieder
— — — der Unreinheit und der Gesetzlosigkeit {tē akatharsia kai tē anomia}
als Sklaven zur Verfügung gestellt habt,
— — — zur Gesetzlosigkeit {eis tēn anomian},
so stellt eure Glieder jetzt
— — — der Gerechtigkeit {tē dikaiosynē}
als Sklaven zur Verfügung,
— — — zur Heiligung {eis hagiosynēn}.
Aus den linksbündigen Zeilen geht hervor, dass es auf beiden Seiten, damals wie heute, um ta melē hymōn {eure Glieder} geht, die als doula {Sklaven} zur Verfügung gestellt werden. In den zur Verdeutlichung von mir nach rechts eingerückten Zeilen wird das Wem und das Wozu gegensätzlich beantwortet: In der Vergangenheit führte die Versklavung unter Unreinheit und Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit, in der Gegenwart fordert Paulus die Hingabe an Gerechtigkeit zur Heiligung.
Zu den Stichworten akatharsia und anomia hebt Wolter erstens hervor, (W399) dass es sich wie bei hamartia {Sünde} in Vers 13 „um metaphorische Personifizierungen“ handelt, zweitens (W400),
sind „Unreinheit“ und „Gesetzlosigkeit“ aber auch alte Bekannte, denn Paulus benutzt sie hier in derselben Weise, wie sie schon in der Septuaginta Verwendung fanden: als Sammelbegriffe für alle möglichen Übertretungen von Gottes Weisung, die Heillosigkeit und Gottesferne begründen (vgl. z.B. Dtn 31,29; Klgl 1,8f; Mi 2,10; Nah 3,6; Jes 27,9; Ez 9,9: Jerusalem wurde angefüllt mit adikia und akatharsia; 36,17).
Wolter benutzt diesen Sachverhalt als Argument gegen Exegeten, die davon ausgehen, dass „akatharsia und anomia … Verhaltensweisen bezeichnen, wie sie aus jüdischer Perspektive für Heiden typisch sind“. Dazu verweist er insbesondere auf die
Kombination von akatharsia und anomia in Ez 22,5 …, wo es über Jerusalem heißt: „Die in deiner Nähe und die von dir weit entfernt sind, werden über dich spotten: ‚akarthos {unrein} ist die Berühmte und voll von anomiai {Gesetzlosigkeiten}“ (s. auch Ez 39,24 über Israel: „nach ihren akatharsiai {Unreinheiten} und nach ihren anomēmata {Übertretungen} habe ich ihnen getan“; 1/3Esr 1,47: „Die Obersten des Volkes und der Priester handelten oftmals gottlos und gesetzwidrig [ēsebēsan kai ēnomēsan] – über alle Unreinheiten aller Völker hinaus [hyper pasas tas akatharsias pantōn tōn ethnōn]“).
Wolter hatte sich ja auch in seiner Auslegung von Römer 1,21-32 dagegen gewandt, die dort erwähnten Verfehlungen nur auf die Völkerwelt zu beziehen; auf genau diesen Abschnitt bezieht er sich jetzt, um zu erklären, warum in Römer 6,19 die Versklavung unter die anomia {Gesetzlosigkeit} wiederum zur Gesetzlosigkeit führt, denn auch dort blieb die anomia „nicht mit sich allein, sondern verstrickt die Sünder in immer neue anomia. ‚Gesetzlosigkeit‘ ist nicht nur Untat, sondern auch Unheil.“
Der Einschätzung von Wolter, dass Paulus alle Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden einfach nur einebnet, hatte ich bereits wiederholt widersprochen. Hier sei hinzugefügt: Gerade seine Hinweise auf Ezechiel (= Hesekiel) 22,5; 39,24 und 3. Esra 1,47 sind ein Beleg dafür, dass nicht erst Paulus auch die Unreinheit und Toralosigkeit des eigenen Volkes im Rahmen einer Gegenüberstellung zu den Völkern brandmarkt, und zwar ohne dass dabei diese Unterscheidung einfach gegenstandslos wird.
So viel zur Vergangenheit. Für die Gegenwart
stellt Paulus wie bereits in V. 13a/c. 18a/b und dann in V. 20a/b den Sündenbegriffen die „Gerechtigkeit“ (dikaiosynē) gegenüber und nennt als Ergehensfolge die „Heiligung“ (hagiasmos; vgl. bereits 1Thess 4,3: „Denn das ist der Wille Gottes: eure Heiligung [ho hagiasmos hymōn]“; s. auch V. 7). … Paulus will mit ihm aber nicht zum Ausdruck bringen, dass die zu Jesus Christus Gehörenden allererst noch selbst dafür zu sorgen hätten, dass sie heilig werden, denn das sind sie schon. Vielmehr soll ihre Teilhabe an Gottes Heiligkeit, die ihnen durch Gottes Ruf und seinen Geist bereits zuteil geworden ist (Röm 1,7a; 5,5c), auch auf ihre Lebensführung übergehen. Der Sache nach entspricht die paulinische Weisung darum der in 1Thess 2,12 ausgesprochenen Aufforderung, „dass ihr axiōs tou theou {würdig vor Gott} wandelt, der euch in sein Reich und (in seine) Herrlichkeit ruft“.
Wolter versteht die „Kategorie der Heiligkeit“ also folgendermaßen: Christen sind heilig, indem sie eine neue „Identität als ‚Tote im Verhältnis zur Sünde‘ und ‚Lebende im Verhältnis zu Gott‘ (6,11)“ gewonnen haben und diese „nun auch in ihrer Lebensführung ethisch“ darstellen sollen. Interessant ist, dass ihm zufolge (W400f.) das
theologische Argumentationsgefälle, das von Röm 6,1-11 auf eis hagiasmon {zur Heiligung} (V. 19c) zuläuft, … der Begründung [entspricht], mit der z.B. in Lev 11,44f; 19,2f; 20,7f Israel zur Erfüllung der Tora aufgefordert wird. Weil Israel allein mit ihrer Hilfe seine Teilhabe an Gottes Heiligkeit, die ihm durch die Erwählung aus den Völkern geschenkt wurde, bewahren und zur Anschauung bringen kann, ist es gehalten, die ihm von Gott durch Mose gegebenen Weisungen zu erfüllen.
Wolter unterstellt offenbar, dass Paulus zwar wie die Tora im 3. Buch Mose (Leviticus) zur Heiligung aufruft, aber dass diese Heiligung für Israel und für die Christen grundlegend unterschieden ist. Für Israel bestand sie in der „Erwählung aus den Völkern“, die aber durch das Kommen Jesu Christi gegenstandslos geworden ist; stattdessen gibt es Heiligung jetzt zwar unterschiedslos für alle Völker einschließlich der Juden, aber nur für diejenigen, die an Jesus Christus glauben. Zur Art und Weise, wie die jeweilige Heiligung „zur Anschauung“ zu bringen ist, nennt Wolter für Israel die Tora. Für die Christen unterstellt er wohl unausgesprochen, dass für sie die Tora ihre Verbindlichkeit verloren hat, ohne dass Paulus bis jetzt auf Alternativen zu sprechen kommt.
In den Versen 20-22 folgen „den Sollens-Aussagen von V. 19b-c“ noch einmal „Seins-Aussagen“. Mit ihnen setzt „Paulus … die Gegenüberstellung von ‚einst‘ und ‚jetzt‘ fort“, und zwar erneut auf eine Weise, „die der Antithese eine recht weitgehende parallele Gestalt gibt“ und deren Parallelität ich innerhalb von Wolters Übersetzung (W386) auf meine Weise hervorzuheben versuche:
20 Denn als
— — ihr Sklaven der Sünde wart,
— — — wart ihr ‚frei‘ von der Gerechtigkeit.
— — — 21 Was für eine Frucht habt ihr denn damals hervorgebracht?
— — — — — Über die schämt ihr euch jetzt!
— — — — — — Denn ihre Folge (ist) der Tod.
22 Jetzt aber,
— — da ihr von der Sünde befreit,
— — — Gott aber versklavt seid,
— — — — habt ihr eure Frucht
— — — — — zur Heiligung,
— — — — — — als Folge aber das ewige Leben.
Dass Paulus in Vers 20 (W401) die „Begrifflichkeit von V. 18“ absichtlich aufnimmt, indem er sie dabei vertauscht, ist nach Wolter daran erkennbar, dass er sogar die grammatischen Fälle der einander „gegenüberstehenden Begriffe … (tēs hamartias {von der Sünde} und tē dikaiosynē {der Gerechtigkeit}“ beibehält. Damit nimmt er in Kauf, dass „das Wovon der Freiheit“ regelwidrig mit dem Dativ tē dikaiosynē {wörtlich: ihr wart frei der Gerechtigkeit} ausgedrückt wird und dass er (W402) „die beiden positiv konnotierten Werte ‚Freiheit‘ und ‚Gerechtigkeit‘ zu einer ironischen und inhaltlich absurden Sachverhaltsaussage“ verknüpft:
Die Intention dieser Darstellungsweise ist leicht zu verstehen: Paulus will seine paränetische {ermahnende} Weisung dadurch unterstützen, dass er die Adressaten seines Briefes davor warnt, ihre neugewonnene Identität nicht in ihrer Lebensführung ethisch erkennbar werden zu lassen. Er qualifiziert eine solche Unterlassung als Rückfall in den Zustand vor der Bekehrung.
Was aus der Freiheit von der Gerechtigkeit durch die Versklavung unter die Sünde damals folgte, beschreibt Paulus in Vers 21a-b mit einem
rhetorischen Hin und Her von Frage und Antwort …: ‚Damals habt ihr Sachen gemacht, derer ihr euch heute schämt‘. „Frucht‘ (karpos) ist eine in der gesamten Antike verbreitete Metapher für menschliche Taten und deren Auswirkungen. In V. 21a steht karpon echein {Frucht haben, bringen} nicht für das Ergehen, das dem Tun folgt (das ist in V. 21c dann der Tod), sondern für die Gesamtheit aller Taten.
Da Paulus in Vers 21a den Singular karpos „als Kollektivum“ für viele Taten verwendet, kann er in 21b und c „durch die pluralischen Pronomina hois {über die} und ekeinōn {ihre} aufgenommen werden“.
Zum Stichwort „epaischynesthe {ihr schämt euch} in Verbindung mit der Präposition epi {für, über}“ bemerkt Wolter, dass sie „verstärkende Bedeutung“ hat, im Grunde sogar doppelt, da schon das Wort epaischynomai aus dem Grundwort aischynomai und der Vorsilbe epi- zusammengesetzt ist.
Mit dem Wort telos {meist mit Ziel oder Ende übersetzt} benennt Paulus hier „die Unheilsfolge der Verfehlungen …, die unter der Herrschaft der Sünde begangen werden“ <166>, was er zuletzt in Vers 16 gesagt hatte (W402f.):
Hier wie dort spricht er vom eschatischen {endzeitlichen} ‚Tod‘, von dem er in Röm 1,32 gesagt hatte, dass er nach der „Rechtsordnung Gottes“ als Strafe für alle Vergehen verhängt wird, in der die „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ (1,18) konkrete Gestalt gewinnt. Wenn man also wissen will, was Paulus mit der „Frucht“ meint, derer die Leser sich „jetzt schämen“, muss man nur in 1,19-32 nachlesen.
In Vers 22 (W403) bedient sich Paulus erneut „aus dem Inventar seiner bisherigen Darstellung“, um im Gegenüber zur in 20-21 geschilderten Vergangenheit die Gegenwart zu beschreiben:
V. 22a wiederholt V. 18 nahezu wortgleich, nur dass tē dikaiosynē {der Gerechtigkeit} (V. 18) durch tō theō {dem Gott} aus V. 13b.d ersetzt wird. V. 22b spiegelt die Beschreibung des ‚Einst‘ aus V. 21a-b ins ‚Jetzt‘ und charakterisiert die Eigenart der jetzigen Lebensführung unter Aufnahme von eis hagiasmon {zur Heiligung} aus V. 19c als Gottes Heiligkeit gemäß.
Erneut betont Wolter, dass
Paulus mit eis hagiasmon {zur Heiligung} nicht sagen [will], dass die Leser noch etwas werden sollen, was sie noch nicht sind, sondern es geht ihm darum, dass auch die Lebensführung in die Teilhabe an Gottes Heiligkeit einbezogen wird.
Und mir geht auch nach mehrfacher Wiederholung nicht auf, wie der Automatismus dieses Vorgangs vorstellbar sein soll. Was genau wäre der Unterschied zwischen dem Zustand einer Heiligkeit, die man durch Unterlassen ethischen Handelns verliert, und einer Heiligkeit, die man durch ethisches Handeln erst gewinnt? Wenn nicht das, was Wolter „die Teilhabe an Gottes Heiligkeit“ nennt, die Kraft, Befähigung oder Motivation verleihen würde, ethisch zu handeln, müsste jede Ermahnung ins Leere laufen.
An das Ende von Vers 21c und von Vers 22c stellt Paulus „das Gegenüber von ‚Tod‘ und ‚(ewiges) Leben‘ als Unheilsfolge und Heilsfolge“, das uns „schon aus 5,17.21“ vertraut ist. Daraus meint Wolter folgende Schlussfolgerung ziehen zu können:
Paulus überträgt damit das menschheitsgeschichtliche Gegenüber von Adam und Christus auf das Gegenüber von ‚einst‘ und ‚jetzt‘, das den individualgeschichtlichen Verlauf christlicher Bekehrungsbiographien kennzeichnet. Hieran wird erkennbar, dass Paulus immer noch mit der Abwehr des in 6,1 formulierten Einwands beschäftigt ist.
Nach Gerhard Jankowski (J149) darf nicht übersehen werden, dass das „Beispiel der Sklaverei“ in den Versen Römer 6,16-22 „auch eine der großen Erzählungen Israels“ aufruft:
In Ex 3,12 wird dem Mosche eröffnet, daß das Volk nach der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens Gott an dem Berg dienstbar werden soll. Befreiung heißt demnach: aus dem Sklavendienst Ägyptens zum Sklavendienst Gottes. Die Versklavung in Ägypten wurde bitter erfahren. Die Befreiung daraus führte aber nicht in willkürlich gelebte Freiheit. Sie bekam durch die Thora ihre Disziplin. Die war zu lernen, einzuüben im Dienst für Gott an den Menschen. Israel kam aus einem unselbständigen Dienst zu einem selbstbestimmten, befreienden Dienst.
Wenn Paulus jetzt davon spricht, von „der Sünde freigelassen“ zu sein, dann ist das „wie Befreiung aus Ägypten“, zugleich „aber auch Verpflichtung zum Dienst.“ Das ist etwas, das „alle in Israel gelernt“ haben:
Das war die Überlieferung, die Tradition, die in den Lehrhäusern weitergegeben wurde. In ihnen wurde nicht nur die Erinnerung an die Befreiung wachgehalten, in ihnen wurde auch der verpflichtende Dienst der Befreiten eingeübt. Für Paulus gilt das nach wie vor auch in der messianischen Gemeinde. Auch dort wird die Freiheit nicht grenzenlos ausgelebt. Es wird gelernt, aus Thoralosigkeit und Unreinheit wegzukommen hin zu dem, was jüdisches Leben in letzter Konsequenz ausmacht: die Heiligung.
Mit dem Wort „Heiligung, hagiasmos“, das bei ihm „außer in Röm 6 nur noch in 1. Kor 10,30 und dreimal in 1. Thess“ und auch „in den anderen messianischen Schriften“ nur „sehr selten“ vorkommt, greift Paulus, was ja auch Wolter nicht übersehen konnte, einen Begriff auf, der (J149f.)
wie kaum ein anderer jüdisches Leben in seiner ganzen Konsequenz umfaßt. Heiligung heißt hebräisch kiddusch ha-schem, wörtlich übersetzt Heiligung des NAMENS. Ausgangspunkt für das, was Heiligung umschreibt, ist Lev 22,31-33. Dort heißt es:
31 Wahrt meine Gebote,
tut sie.
Ich der Ewige.
32 Gebt nicht preis den Namen meiner Heiligung,
geheiligt will ich werden
inmitten der Söhne Israels.
lch der Ewige heilige euch,
33 der euch führte aus dem Land Ägypten
euch Gott zu sein.
Ich der Ewige.Zur Heiligung des Namens gehören das Tun der Thora, das Gebet und schließlich auch das Martyrium. Kiddusch ha-schem wird dann zum Synonym für Martyrium. Was Heiligung des Namens bedeuten kann, ist aus bBer {Traktat Berakhot aus dem babylonischen Talmud} 61b zu lernen, dem Bericht über das Martyrium Rabbi Akibas…
Heiligung des Namens heißt also in letzter Konsequenz: das eigene Leben hingeben, um das von der Thora verheißene wahre Leben zu erlangen.
Dass Paulus mit dem Stichwort „Heiligung“ (J150) „auf den konsequenten Vollzug jüdischen Lebens“ hinweist, den er „aus dem Buch Leviticus“ gewinnt, ist auch Wolter bewusst. Während aber Wolter allein die formale Parallele hervorhebt (W401), dass die Israel von Gott geschenkte „Teilhabe an Gottes Heiligkeit“ durch die „Erfüllung der Tora … zur Anschauung“ gebracht werden muss, was Paulus ebenso (W400) für die „neugewonnene Identität“ der Christen geltend macht, die „in ihrer Lebensführung ethisch dazustellen“ ist, geht Jankowski davon aus (J150), dass Paulus auch inhaltlich an das 3. Buch Mose (Leviticus) anknüpft. Auch für ihn als messianischen Juden ist und bleibt es das
Buch, das das befreite Leben einüben lehrt, damit unterschieden werden kann zwischen Barbarei und wahrer Menschlichkeit. Dieses Leben besteht im heiligen Dienst. Heiliger Dienst heißt, die Welt heilen mit bewährten Taten der Gerechtigkeit. Heiliger Dienst kann auch Martyrium heißen, wenn er in ungerechten Verhältnissen und gegen sie getan wird. Und darauf läßt sich niemand ein, der nur seine gewonnene Freiheit egoistisch ausleben will.
Mit diesen Worten umschreibt Jankowski im Wesentlichen das „befreite Leben“, auf das die Erfüllung der Tora hinausläuft, wobei er nicht davon ausgeht, dass Paulus die Geltung der so verstandenen Tora als für seine Adressaten außer Kraft gesetzt ansehen würde. Vielmehr antwortet Paulus auf mögliche „Einwände“ gegen die von ihm propagierte „messianische Praxis“ hin, die Gemeinschaft mit Gojim sei „im Grunde eine sündhafte und deswegen abzulehnende Praxis“, dass gerade sie eine wirkliche Erfüllung der von Gott geschenkten Tora als einer Disziplin der Freiheit ermöglicht:
Messianisches Leben ist nie nur unverbindliche Spielerei. Mit dem ganzen Leben auf das Leben aus sein, so kann die Befreiung aus dem einen Dienst, der in letzter Konsequenz Todesdienst ist, zu dem Dienst, der als Ziel das wahre Leben hat, das versprochen ist und kommen wird, umschrieben werden. Dieses Leben gewinnt schon jetzt seine Konturen im Leib des Messias Jesus, in der solidarischen Gemeinschaft aus Juden und Nichtjuden.
↑ Römer 6,23: Verfehlung hat Tod als Lohn, Gott schenkt Leben in die Zeitalter hinein
6,23 Denn der Sünde Sold ist der Tod;
die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.
[31. März 2025] In Römer 6,23 (W403) „schließt Paulus diesen Abschnitt seines Briefes ab“, indem er aus den Versen 21c und 22c „das Gegenüber von ‚Tod‘ und ‚ewiges Leben‘“ aufnimmt und es mit zwei „weiteren Antithesen“ anreichert,
so dass sich drei antithetische Paare gegenüberstehen: opsōnia {Lohn} und charisma {Gnadengabe}, hamartia {Sünde} und theos {Gott} sowie thanatos {Tod} und zōē aiōnios {ewiges Leben}.
Von diesen Gegensatzpaaren hatte Paulus (W404) „Gott und die Sünde … bereits in V. 10-11.13.22 miteinander konfrontiert.“ Mit diesem „Leitparadigma für den gesamten Abschnitt“ wird „eine bipolare Machtstruktur“ gekennzeichnet:
Entweder werden die Menschen von der einen Macht beherrscht oder von der anderen. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. In V. 1-11 hat Paulus gezeigt, dass alle, die auf Jesus Christus getauft wurden, vom Machtbereich der Sünde in den Machtbereich Gottes versetzt wurden. In V. 12-23 will er seinen Lesern erklären, dass es nun darauf ankommt, ihre Lebensführung so zu gestalten, dass sie mit ihr im Machtbereich Gottes bleiben und sich nicht wieder unter die Herrschaft der Sünde begeben.
Indem Paulus zusätzlich das „Gegenüber von ‚Tod‘ und ‚ewiges Leben‘… aus 5,21; 6,21c.22c übernimmt“, zeigt er „noch einmal die unterschiedlichen Folgen der beiden Existenzweisen“ auf, „um bei seinen Lesern die beiden rhetorischen Leitaffekte der ‚Furcht‘ (metus) und der ‚Hoffnung‘ (spes) zu mobilisieren und dadurch sein paränetisches {ermahnendes} Anliegen zu unterstützen.“ <167>
Mit dem dritten „Gegenüber von charisma {Gnadengabe} und opsōnia {Lohn}“ drückt Paulus aus, dass „Gott und die Sünde … ihre jeweilige Herrschaft in unterschiedlicher Weise ausüben“, denn für „Gott gilt, dass er das Heil ‚gnädigerweise schenkt‘“, während
das Unheil, das die Sünde zuteilt, der redlich ‚verdiente‘ „Lohn“ für die Arbeits- und Dienstleistungen [ist], die man dadurch für die Sünde erbracht hat, dass man ihr seine „Glieder“ als hopla {Waffen} (V. 13a) oder als doula {Sklaven} (V. 19b) „zur Verfügung gestellt hat“. Die Ironie, die in dieser Metaphorik steckt, ist nicht zu überhören.
In diesem Zusammenhang hebt Wolter hervor, dass der Begriff opsōnion nicht auf eine „militärweltliche“ Bedeutung eingeschränkt „und mit ‚Sold‘ wiedergegeben“ werden darf, da er „in der Umwelt des Neuen Testaments … ein sehr viel breiteres Bedeutungsspektrum“ aufweist und (W405) „ganz allgemein die Entlohnung oder Vergütung für geleistete Arbeit oder Dienste“ bezeichnet. Als Parallele weist Wolter auf Römer 4,4 hin: „Die Sünde teilt den Tod kata opheilēma {aus Schuldigkeit} zu, Gott aber das ewige Leben kata charin {aus Gnade}.“
Indem Paulus mit „dem solennen {feierlichen} Abschluss ‚in Christus Jesus, unserem Herrn‘ … zurück auf Röm 6,1-11“ verweist, wo er die Versetzung aus dem Machtbereich der Sünde in den Machtbereich Gottes auf die Ergehensgemeinschaft zurückgeführt hat, die die Getauften mit Jesus Christus verbindet“, kehrt er zugleich mit dem „letzten Wort des Abschnitts“ von der Anrede Ihr zum „christlichen Wir (hēmōn)“ zurück, das abgesehen von der fiktiven Frage in Vers 15
letztmals in V. 8 Verwendung gefunden [hatte]: „Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden“. Dieser Vers kann auch erklären, wie Paulus sich den Vorgang vorgestellt hat, auf den er in V. 23 mit en Christō Iēsou verweist.
Damit ist allerdings noch nicht erklärt, ob Paulus sich unter einem Leben mit Christus eine Auferstehung in ein jenseitiges ewiges Leben nach dem Tod hinein vorstellt oder ob er die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten wie die jüdischen Propheten mit der Erwartung einer kommenden Weltzeit des Friedens in Freiheit und Gerechtigkeit auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes verbindet.
Gerhard Jankowski (J148) übersetzt in letzterem Sinne Römer 6,23 folgendermaßen:
Denn der Sold der Sünde: Tod,
das solidarische Geschenk Gottes aber:
Weltzeitleben im Messias Jesus unserem Herren.
In seiner späteren Übersetzung (G20) ersetzt er „Weltzeitleben“ durch die Formulierung „ein Leben im Messias Jesus, unserem Kyrios, in die Zeitalter hinein.“
In der abschließenden Zusammenfassung seiner Auslegung von Römer 11,12-23 hebt Michael Wolter (W405) die „außergewöhnliche Redundanz“ dieses Abschnitts hervor, also seine Überladung mit im Grunde überflüssigen und sich ständig wiederholenden Formulierungen. Nachdem Paulus in den Versen 12-14a „schon alles gesagt“ hat, indem er „seine Leser“ dazu auffordert, „ihre durch die Taufe gewonnene Trennung von der Sünde (V. 14a) nun auch ethisch darzustellen“, läuft ihm „der Text … danach aus dem Ruder“. Das wiederum führt Wolter auf die „Begründung (‚denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade‘)“ zurück, die Paulus in Vers 14b für das zuvor Gesagte unter Rückbezug auf 5,20-21 hinzufügt. Dazu fällt ihm (W405f.)
ein neues mögliches Missverständnis ein… (V. 15a-c), für dessen Zurückweisung er dann bis V. 18 braucht. Weil dadurch aber sein ursprüngliches Darstellungsziel aus dem Blick geraten ist, wiederholt er zunächst noch einmal sprachlich nur notdürftig variiert die Aufforderung von V. 13 in V. 19b-c. Danach schließt er seine Argumentation in V. 20-23 mit einer Reihe von Antithesen so ab, dass er sie mit der Wiederaufnahme des Gegenübers von thanatos {Tod} und zōē aiōnios {ewiges Leben} wieder an ihren Ausgangspunkt zurückführt.
Zum Inhalt dieser in Wolters Augen (W406) auf eine Bekehrung bezogenen Mahnrede, die „aus einer Mischung von Aufforderungen (‚Imperativ‘ oder ‚Sollensaussagen‘) und Feststellungen (‚Indikativ‘ oder ‚Seins-Aussagen‘)“ besteht, weist er darauf hin,
dass zwischen Indikativ und Imperativ in Röm 6,12-23 (und anderswo bei Paulus) derselbe Zusammenhang besteht wie zwischen Erwählung und Tora im Judentum: Wie die Tora Israel in die Lage versetzen will, seine Identität als Gottesvolk zur Anschauung zu bringen, fordert auch Paulus seine Leser auf, dass sie ihre Identität, die sie durch die Taufe gewonnen haben, in ihrer Lebensführung darstellen.
In einer Anmerkung zum Stichwort „darstellen“ (Anm. 94) verrät Wolter nun auch, dass er diese Formulierung Schleiermacher <168> verdankt,
der hier „zwei Hauptarten“ christlichen Handelns voneinander unterscheidet: das „wirksame Handeln“ und das „darstellende Handeln“, „durch welches der Mensch … die innere Bestimmtheit des Selbstbewusstseins äußerlich fixieren“ wolle und das nichts anderes sei „als der Ausdruck unseres gemeinsamen christlichen Zustandes“.
Ich frage mich allerdings, ob Wolter nicht möglicherweise Schleiermacher missversteht, indem er die Ermahnungen des Paulus auf das von diesem als „darstellend“ bezeichnete christliche Handeln bezieht, denn nach Schleiermacher <169> ist „[d]arstellendes (symbolisierendes) Handeln“ nicht etwa auf das gerichtet, was in aller Regel als ethisches Handeln verstanden wird, sondern auf ein gottesdienstliches „Handeln, das zweckfrei in sich ruht und sich in einem ‚erhöhten Bewusstsein‘ zeigt“. Bei Schleiermacher wäre es eher die Kategorie „Wirksames (organisierendes) Handeln“, also ein „Handeln, das auf einen ‚Effect‘ außerhalb seiner selbst aus ist“, auf das die Ermahnungen des Paulus ausgerichtet sein dürften, wie Wolter sie versteht (W406f.):
Denn wie man Israels Erwählung aus den Völkern nicht erkennen könnte, wenn es sie nicht durch die Erfüllung der Tora darstellen würde, könnte man das Getauft-Sein der Getauften nicht erkennen, wenn es nicht durch ein bestimmtes Tun zum Ausdruck gebracht würde. Und wie die Erfüllung der Tora Israels Bleiben in der Erwählung sicherstellt, so ist auch Paulus daran gelegen, dass die Getauften ihr ‚Der-Sünde-Gestorben-Sein‘ durch eine entsprechende Lebensführung auf Dauer stellen.
Schließlich betont Wolter auch noch ausdrücklich (W407), dass „Paulus im Unterschied zur Tora“ nicht sagt, „[d]urch welche bestimmten Handlungen diese ethische Darstellung der neugewonnenen Identität erfolgen soll“. Nicht einmal „ab Röm 12,1“, wo Paulus „konkreter“ wird, erreicht er „die ethische Bestimmtheit der Tora“, aber in unserem Abschnitt
Röm 6,12-23 fehlt allen ‚Imperativen‘ demgegenüber jegliche material-ethische Konkretion. An keiner einzigen Stelle erreichen die paulinischen Weisungen die Ebene einer bestimmten ethischen Praxis. „Gerechtigkeit“, welcher Begriff in Röm 6,12-23 immerhin fünfmal vorkommt (V. 13d.16e.18.19c.20b; vgl. auch V. 13a mit der Aulforderung zur Abgrenzung von der „Ungerechtigkeit“), dieses ethische Universale, bleibt die einzige handlungsorientierende Norm.
Aus zwei Gründen „schiebt“ Paulus Wolter zufolge wahrscheinlich gerade diese Norm „in den Vordergrund“:
Zum einen passt diese Tugend hervorragend in den Zusammenhang des Römerbriefes, weil sie mindestens begrifflich Soteriologie und Ethik (oder ‚Rechtfertigung‘ und ‚Gerechtigkeit‘) miteinander verknüpft. Darüber hinaus ist ‚Gerechtigkeit‘ eine ethische Norm, der Juden wie Nichtjuden gleichermaßen und ohne jede Einschränkung zustimmen können. Gerechtigkeit findet jeder gut. Da gibt es zwischen Juden und Heiden keinerlei Dissens.
So formuliert Wolter erneut seine Behauptung, Paulus habe alle Unterschiede zwischen Juden und den nichtjüdischen Völkern restlos eingeebnet. Wahrscheinlicher ist es in meinen Augen, dass Paulus gerade darum allein die dikaiosynē als eine die gesamten Befreiungs- und Rechts-Impulse der jüdisch-biblischen Tora umfassende ethische Kategorie der Bewährtheit zur Sprache bringt, weil die so verstandene Wegweisung Gottes inhaltlich eben nicht durch eine neue Ethik ersetzt werden darf. Worauf Paulus nach Wolter hinaus will, klingt dagegen sehr nach einer völlig beliebigen Allerweltsethik mit der „Gerechtigkeit“ als einer dünnen, fast inhaltsleeren Kategorie, die irgendwie „jeder gut“ findet:
Damit würde der ethische ‚Imperativ‘ die programmatische lnklusivität des soteriologischen ‚lndikativs‘, um deren Aufweis Paulus sich in den ersten Kapiteln seines Briefes so intensiv bemüht hat („alle“ Menschen, Juden wie Heiden gleichermaßen, werden aus Glauben gerechtfertigt), sehr präzise abbilden. Mit der gemeinsamen Orientierung ihrer Lebensführung am Prinzip der Gerechtigkeit bringen die Christen jene gemeinsame Identität zur Anschauung, die ihnen durch den Christus-Glauben und die Taufe zuteil geworden ist. Welche bestimmten Handlungen von ihr gefordert werden, müssen die Getauften dann aber immer wieder neu herausfinden.
Zwar ist es richtig, was Wolter „für die paulinische Ethik generell“ behauptet (W407f.), dass sie nämlich „kein spezifisch christliches Ethos im Sinne eines lnventars von institutionalisierten Handlungen bereitstellen will, das zeit- und kulturübergreifende Verbindlichkeit beansprucht“, sondern „von den Christen vielmehr“ verlangt, „immer wieder neu danach zu fragen, in welchen Handlungen zum Ausdruck kommt, dass sie bei ihrer Taufe ‚der Sünde gestorben sind und Gott leben‘ (Röm 6,11)“. Dennoch hat Paulus die Tora als befreiende und Recht schaffende Wegweisung Gottes keineswegs abgeschrieben. Was an der Tora unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter eine widergöttliche Weltordnung nicht mehr durchführbar und zielführend ist, darauf wird Paulus im folgenden Römerbriefkapitel 7 ausführlich eingehen. Aber zugleich wird dieses Kapitel auch sein Bekenntnis zur Tora und ihrem Gebot enthalten (J158), dass es „heilig, bewährt und gut ist“.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 6,12-23
6,12 Also herrsche nicht die Verfehlung in eurem sterblichen Leib,
um seinen Begierden hörig zu sein.
6,13 Auch überstellt eure Glieder nicht als Waffen des Unrechts der Verfehlung,
sondern überstellt euch Gott,
gleichsam als Lebende aus den Toten,
und eure Glieder Gott als Waffen der Bewährtheit.
6,14 Denn Verfehlung wird nicht über euch Herr sein.
Denn ihr seid nicht unter der Tora, sondern unter der Gnade.
6,15 Was nun?
Sollen wir fehlgehen,
weil wir nicht unter der Tora sind, sondern unter der Gnade?
Das geschehe nicht!
6,16 Wisst ihr nicht:
wem ihr euch als Sklaven überstellt auf Hörigkeit hin,
dem seid ihr Sklaven und hörig,
entweder der Verfehlung auf Tod hin
oder der Hörigkeit auf Bewährtheit hin?
6,17 Gott aber sei Dank:
Ihr wart Sklaven der Verfehlung,
hörtet aber von Herzen hin
auf den Typ der Lehre, der euch übergeben wurde.
6,18 Befreit aber von der Verfehlung
seid ihr als Sklaven unterworfen worden der Bewährtheit.
6,19 Menschliches rede ich wegen der Schwäche eures Fleisches.
Denn wie ihr eure Glieder überstellt habt
als Sklaven der Unreinheit und der Toralosigkeit
auf Toralosigkeit hin,
so überstellt jetzt eure Glieder
als Sklaven der Bewährtheit
auf Heiligung hin.
6,20 Denn als ihr Sklaven der Verfehlung wart,
wart ihr ‚frei‘ von der Bewährtheit.
6,21 Was für eine Frucht hattet ihr denn damals?
Über die schämt ihr euch jetzt!
Denn ihre Folge ist der Tod.
6,22 Jetzt aber, da ihr von der Verfehlung befreit,
Gott aber versklavt seid,
habt ihr eure Frucht zur Heiligung,
als Folge aber ein Leben in die Zeitalter hinein.
6,23 Denn der Lohn der Verfehlung ist der Tod,
die Gnadengabe Gottes aber ein Leben in die Zeitalter hinein
im Messias Jesus, unserem Herrn.
↑ Was die Tora über die Freiheit von der Tora im Todesfall sagt – oder sind Christen grundsätzlich frei von der Tora? (Römer 7,1-6)
[3. April 2025] Mit dem 7. Römerbriefkapitel gelangen wir zu den Aussagen des Paulus, die im Blick auf seine Stellung zur jüdischen Tora am umstrittensten sind. Während Michael Wolter (W409) den Abschnitt Römer 7,1-6 unter der Überschrift „Freiheit vom Gesetz“ abhandelt, geht Gerhard Jankowski auch hier entschieden andere Wege.
Nach Wolter geht Paulus nach der Beschäftigung mit der „Befreiung von der Herrschaft der Sünde“ in Römer 6,12-23 nun auf „die Befreiung von der Herrschaft des Gesetzes“ ein. Auf die Parallelen zwischen beiden Abschnitten war ich bereits oben in der Einleitung zur Auslegung von Römer 6,12-23 eingegangen. Allerdings räumt Wolter ein, dass es „in diesem Abschnitt auch Elemente“ gibt, „die ihn mit dem Folgenden verbinden“, was „vor allem für die Gesetzesthematik“ gilt,
die vorher nur ganz punktuell vorkam (6,14-15), jetzt aber in den Vordergrund tritt und dann ab 7,7 zum Gegenstand einer intensiven Reflexion wird. Neu gegenüber 6,12-23 sind auch der Bezug auf Tod und Auferstehung Jesu (7,4b.c), „Fleisch“ (sarx) als Kennzeichen der vorchristlichen Existenz (7,5a) sowie der Bezug auf den „Geist“ (pneuma), von dem bisher nur in Röm 2,29 und 5,5 die Rede war. Aus 2,29 übernimmt Paulus auch das Gegenüber von pneuma und gramma.
Als zusammengehörig betrachtet Wolter die Verse 7,1-6 vor allem wegen des Begriffs nomos, der „in jedem Vers und insgesamt achtmal vorkommt“, und weil
die Formulierung katargeisthai apo tou nomou {vom Gesetz losgekommen} in V. 2 und in V. 6… so etwas wie einen Rahmen um die beiden Geschichten legt, die Paulus in V. 2-6 erzählt.
Zusammenfassend wird Wolter am Ende urteilen (W422), dass Paulus „sich auch in Röm 7,1-6 noch in der Auseinandersetzung mit dem in 6,1 formulierten Einwand“ befindet und wie in Kapitel 6 argumentiert:
Er stellt das helle Jetzt der christlichen Existenz vor die dunkle Folie ihres Einst und betont den Bruch, der die gegenwärtige Situation der Christen von ihrer Vergangenheit trennt. Während es in Kap. 6 um den Bruch mit der Sünde ging, stellt Paulus in 7,1-6 den Bruch mit dem Gesetz in den Vordergrund.
Dabei ist „in beiden Fällen die Befreiung von der Herrschaft der Sünde und von der Herrschaft des Gesetzes“, womit „spätestens ab V. 4 die Tora“ gemeint ist,
nur dadurch möglich …, dass die Befreiten unter eine andere Herrschaft geraten. Nach 6,12-23 war das die Herrschaft Gottes und der Gerechtigkeit, nach 7,4 die Zugehörigkeit zu dem von den Toten auferstandenen Christus. Hier wie dort wird die Heilserfahrung als ein Befreiungsgeschehen dargestellt, das nicht nur in eine neue Sklaverei führt (douleuein etc. in 6,18.19.22 und in 7,6), sondern auch nur dadurch möglich ist.
Interessant ist nun, dass Wolter auch für den vorliegenden Abschnitt annimmt, dass Paulus in ihm „Heidenchristen“ anspricht und demzufolge aus Vers 7,4a den Schluss ziehen muss, dass er auch „ihr Heilsgeschick … als Befreiung von der Tora“ darstellt. Auch „die nichtchristlichen Heiden“ sieht Paulus daher
unter der Herrschaft der Tora stehen …, obwohl sie nach 2,13-14 keine ‚Hörer des Gesetzes‘ sind und ‚das Gesetz nicht haben‘. Diese Sicht kann jedoch mit dem Verweis darauf erklärt werden, dass nach 1,18 – 3,20 natürlich auch die Heiden sich der Rechtsforderung der Tora gegenüber zu verantworten haben. Dieser Briefteil endet darum nicht ohne Grund in 3,20 mit dem betonten Hinweis auf die sündendiagnostische Funktion der Tora im Endgericht, die sich gegen „alles Fleisch“ wendet, d.h. gegen Juden und Heiden gleichermaßen.
So ganz vertragen sich diese Ausführungen nicht mit der Einschätzung, Paulus verträte im vorliegenden Abschnitt einen klaren „Bruch mit dem Gesetz“.
Insgesamt behauptet also Wolter zwar, dass Paulus in Römer 7,1-6 „die Befreiung vom Gesetz“ als Bestandteil des „Bruch[s] mit der Sünde“ betrachtet, womit „das Gesetz … eine neue Funktion“ erhält,
die bisher noch nicht zur Sprache gekommen war: Es ist nun nicht mehr nur diagnostisches Mittel zur Erkenntnis der Sünde im Gericht (3,20), und es dient auch nicht mehr – obwohl auch das schon schlimm genug war – der Vermehrung der Sünden (5,20), sondern es ruft sogar die „Leidenschaften der Sünden“ hervor (7,5b).
Aber auch für Wolter würde es zu weit führen, wenn Paulus „das Gesetz … mit der Sünde… so eng zusammenrücken“ lassen würde (W422f.), „dass der Eindruck entstehen könnte, als wolle er das Gesetz für die Sünden der Menschen verantwortlich machen.“ Und genau diesem „Eindruck“ will „Paulus mit der erschrockenen Frage …, die den nächsten Abschnitt eröffnet“, entgegentreten.
Ganz anders geht Gerhard Jankowski an die Auslegung von Römer 7,1-6 heran. Für ihn beginnt hier (J6) unter der Überschrift „Um die Thora“ eine ausführliche Auseinandersetzung des Paulus mit der Bedeutung der Tora für eine aus Juden und Völkern zusammengesetzte Gemeinde, die unter den Unterabschnitten „Ein Beispiel 7,1-3“, „Einem anderen werden 7,4-6“, „Die Thora und das Gebot 7,7-13“ und „Vom Tun der Thora 7,14-25“ bis hin zu den Anfangsabschnitten im 8. Römerbriefkapitel reicht: „Die inspirierte Thora des Lebens 8,1-11“ und „Erben 8,12-17“.
Zur Einführung in seine Auslegung unseres Abschnitts blickt Jankowski (J151) noch einmal zurück auf den „langen Weg“, auf dem „wir Paulus folgen“ mussten,
um zu lernen, warum Juden und Nichtjuden zusammen hoffen und leben können. Der Weg war begleitet von den Erzählungen vom Werden Israels unter den Völkern. Bei einigen mußten wir länger zuhören, so, als es um Abraham und die Verheißung an ihn ging, so, als es um Adam, den Menschen, ging. Geduldig mußten wir zuhören, wie diese Erzählungen überraschend neu ausgelegt und auch aktualisiert wurden. Und dennoch bleibt eine große Frage offen. Denn wer mit Juden über messianische Perspektiven diskutieren will, wer nachdenkt, was jüdische Identität ausmacht oder nicht ausmacht, der kommt nicht an der Thora vorbei. Ab und zu brach dieses Thema schon auf. Aber noch ist nicht deutlich geworden, welchen Stellenwert die Thora für Paulus noch hat, wenn er sich weit über die Grenzen hinauswagt, die die Thora absteckt.
„Überraschend“ ist es für Jankowski, dass Paulus ausgerechnet beim Thema der Tora „den strengen Stil eines Lehrschreibens verläßt“ und sich „als Mensch, als Person, mit allen Gefühlen“ zeigt, so dass „zum ersten Mal … auch das Ich, die erste Person Singular“, überwiegt. Paulus
macht es sich nicht leicht; vor allem aber, er macht sich und den anderen nichts vor. Er bleibt ehrlich und in dieser Ehrlichkeit auch angreifbar. Gerade darin liegt die ganze Dramatik dieses Briefteils.
Dass Paulus das Thema „mit einem Beispiel aus der rabbinischen Diskussion über das Zusammenleben von Mann und Frau in der Ehe“ einleitet, hat Jankowski zufolge
in der christlichen Auslegung zu verheerenden Behauptungen geführt. Fast alle Ausleger bis in unsere Zeit hinein stellen fest, daß Paulus an dieser Stelle konsequent die Trennung von einem „gesetzestreuen“ Judentum vollzieht. „Freiheit vom Gesetz“ wird zum Thema aller Auslegung. <170> Diese Verengung aber birgt die Gefahr in sich, daß mit der Verabschiedung der Thora auch der Bruch zum Judentum von christlicher Seite aus endgültig vollzogen ist.
Genau das ist ja auch der Tenor der Auslegung von Michael Wolter. Aber Jankowski ist davon überzeugt, dass „das Beispiel in Röm 7,1-6 bei Paulus nicht die Bedeutung“ hat, „die ihm die Ausleger zumessen.“ Vielmehr „verknüpft Paulus“ anhand dieses Beispiels (J151f.),
wie die Hauptstichworte zeigen, seine Überlegungen zur Thora mit den vorhergehenden Ausführungen zum befreienden Dienst. Erst danach wird die Thora zum beherrschenden Thema. Röm 7,1-6 ist nichts anderes als ein gutes Zwischen- oder Auftaktstück. Die Hauptmelodie ertönt an einer ganz anderen Stelle und sollte auch dort gehört werden.
Es kann spannend werden, zu überprüfen, welche der beiden so gegensätzlichen Interpretationsmöglichkeiten sich im Zuge der Einzelauslegung bewähren werden.
↑ Römer 7,1: Paulus diskutiert mit Kennern der Tora einen Satz aus der rabbinischen Diskussion über die Tora
7,1 Wisst ihr nicht, Brüder und Schwestern
– denn ich rede mit denen, die das Gesetz kennen –,
dass das Gesetz nur herrscht über den Menschen,
solange er lebt?
[4. April 2025] Auf doppelte Weise will Paulus nach Michael Wolter in Römer 7,1 „zum Ausdruck bringen, dass seine in V. 1c formulierte Feststellung einen allgemein bekannten Sachverhalt beschreibt“, erstens in V. 1a „mit der rhetorischen Frage ē agnoeite … hoti …? {oder wisst ihr nicht, … dass …}“ und zweitens mit dem Einschub in V. 1b – „(‚als Gesetzeskenner wisst ihr natürlich ganz genau Bescheid‘)“ –, der „die Suggestivität der rhetorischen Frage von V. 1a verstärken“ soll. Es verwundert nicht, dass Wolter diesen Ausdruck als „eine captatio benevolentiae {Haschen nach Wohlwollen}“ betrachtet, „die durchaus eine ‚leere Schmeichelei‘ sein darf“, wie Zahn <171> meint, und dass er (Anm. 3) es ablehnt, aus ihm „historisierende Rückschlüsse auf die Adressaten des Briefes“ zu ziehen, also etwa an die „Gottesfürchtigen“ zu denken, „die früher die jüdischen Synagogengottesdienste besucht hätten“, oder wie „Zahn selbst“ an eine „judenchristliche Gemeinde“. Da Wolter selbst (W410) hier wie überall im Römerbrief Heidenchristen adressiert sieht, hält er es sogar für „wahrscheinlich, dass Paulus mit nomos nicht die Tora bezeichnen will, sondern ganz allgemein von der Gattung Gesetz spricht“, obwohl er weiß (Anm. 4), dass nach Ansicht der meisten Exegeten „Paulus hier von der Tora spricht“.
Zur Begründung seiner abweichenden Auffassung behauptet er erneut (W410), dass „nomos ebenfalls in Röm 4,15b und Gal 5,23“ ganz allgemein jedes Gesetz meint, obwohl das meines Erachtens keineswegs eindeutig der Fall ist (vgl. dazu die Auslegung von Römer 4,15b), und er fügt hinzu:
Das gilt auch unbeschadet der Tatsache, dass Paulus dann in V. 2-6 von der Tora spricht. Obwohl die Tora viele Regelungen enthält, die sich in keinem anderen Gesetz finden, ist sie für Paulus genauso ein Gesetz wie alle anderen Gesetze. Außerdem kann er kaum erwarten, dass seine Leser nur an die Tora denken, wenn er sie ginōskontes nomon {Gesetzeskenner} nennt.
Letzteres gilt jedoch nur, wenn seine Leser tatsächlich ausschließlich Heidenchristen wären, und genau das schließt unsere Stelle aus. Es wäre doch unsinnig, angeredeten Nichtjuden als Kennern irgendwelcher römischen Gesetze zu schmeicheln, und ihnen in den unmittelbar folgenden Versen ein Beispiel aus der jüdischen Tora vorzulegen, von dem sie gerade keine ausgewiesene Kenntnis besitzen, es sei denn, es handle sich eben doch um gottesfürchtige Angehörige der Völker. Die Unterstellung, dass die Tora „für Paulus genauso ein Gesetz wie alle anderen Gesetze“ sei, kann sich jedenfalls nur der Annahme verdanken, er habe sich endgültig vom Judentum gelöst.
In Vers 1c wird der „rechtliche Grundsatz“ genannt, „auf den Paulus seine Leser mit seiner rhetorisch so opulenten Einleitung aufmerksam machen will“, nämlich „dass das Gesetz die Menschen nur zu ihren Lebzeiten zur Befolgung verpflichtet.“ Mit eph‘ hoson chronon {solange; wörtlich: auf welche Zeit} drückt Paulus die „zeitliche Begrenzung der Verbindlichkeit des Gesetzes“ aus. Dass Paulus hier die „Bezeichnung ‚der Mensch‘ (ho anthrōpos)“ verwendet, sieht Wolter als weiteren Beleg dafür, dass Paulus, da er „von jedem Menschen spricht und nicht nur von Juden“, so „auch von jedem Gesetz“ spricht,
nicht nur von der Tora. Die ist natürlich mitgemeint, und auf eine Regelung der Tora bezieht Paulus sich dann auch in V. 2-3. In V. 1c formuliert er aber einen Rechtsgrundsatz, den die Tora mit anderen Gesetzen gemeinsam hat: dass der Mensch einem Gesetz nur so lange Folge leisten muss, wie er lebt.
Aber auch wenn Paulus mit ho anthrōpos {Mensch} auf Juden und Nichtjuden Bezug nimmt, kann er hier trotzdem allein von der Tora reden, zumal auch Wolter an späterer Stelle sagen wird (W422), dass „natürlich auch die Heiden sich der Rechtsforderung der Tora gegenüber zu verantworten haben.“
Ausführlich geht Wolter (W410) auf die „rabbinischen Texte“ ein, „die üblicherweise genannt werden, um diese Rechtsregel zu illustrieren“ <172>. So überträgt etwa im Traktat Schabbat des babylonischen Talmud (bShab 30a)
R. Joḥanan (gest. 279)… Ps 88,6 (bammethim chaphschi [„unter den Toten frei“]) auf das Verhältnis der Menschen zum Gesetz …: „Sobald der Mensch gestorben ist, ist er frei von der Tora und von den Geboten“ … Nach bShab 151b darf man wegen eines kleinen Kindes das Sabbatgebot übertreten, weil es in seinem Leben noch viele Sabbate halten wird; wegen des toten Königs David dürfe man das aber nicht tun, weil der ja keine Sabbate mehr halten würde, „denn“, lautet die Begründung, „sobald der Mensch tot ist, ist er frei von den Geboten (batal min hamizoth). Das ist es, was R. Joḥanan gesagt hat: ‚Es heißt: ‚unter den Toten frei‘ (Ps 88,6), sobald der Mensch gestorben ist, ist er von den Geboten frei‘.“ bNid {Traktat Nidda} 61b beruft sich auf denselben Ausspruch, um darzutun, dass das Verbot des Tragens von Mischgewebe (Lev 19,19) nicht für die Toten gilt. Es sei darum ohne weiteres erlaubt, einen Toten in einem Leichenhemd aus Mischgewebe zu bestatten. Ob aber auch Paulus diese Tradition schon gekannt hat, muss offen bleiben.
Auch Gerhard Jankowski (J152) interpretiert den Satz des Paulus in Römer 7,1: „Die Thora ist Herr des Menschen in der Zeit, die er lebt“, vor dem Hintergrund der rabbinischen Tradition, innerhalb derer er in „der schriftlich fixierten Form … später z.B. in bSchab30a so lauten [kann]: ‚Wenn ein Mensch stirbt, ist er ledig von Thora und Mizwoth.‘“ Indem Paulus sich anschickt, diesen Satz zu diskutieren, setzt er sich Jankowski zufolge eindeutig
[m]it Thorakennern … auseinander. Alles, was bis jetzt gesagt wurde, ist also an Juden gerichtet, die die Thora genau kennen. Wer Thora kennt, kennt sich auch aus in der von den Lehrern geführten Diskussion über die Auslegung der Thora. Und auf diese Diskussion, freilich zu einem ganz speziellen Fall, geht Paulus nun ein. Es ist eine der ganz seltenen Stellen, an denen erkennbar wird, wie tief der ausgebildete Rabbi Paulus in die aktuelle rabbinische Diskussion verflochten ist. Gleichzeitig wird erkennbar, daß es in der Auslegung der Thora schon zu verbindlichen Anweisungen gekommen ist, auch wenn diese vielleicht noch nicht schriftlich fixiert waren. Mit Paulus steigen wir gleichsam in eine aktuelle Diskussion ein.
↑ Römer 7,2-3: Was die Tora über die Befreiung einer Ehefrau von der Tora sagt, die sie an ihren Mann bindet
7,2 Denn eine Ehefrau ist an ihren Mann gebunden durch das Gesetz,
solange der Mann lebt;
wenn aber der Mann stirbt,
so ist sie frei von dem Gesetz, das sie an den Mann bindet.
7,3 Wenn sie nun bei einem andern Mann ist,
solange ihr Mann lebt,
wird sie eine Ehebrecherin genannt;
wenn aber ihr Mann stirbt,
ist sie frei vom Gesetz,
sodass sie keine Ehebrecherin ist,
wenn sie bei einem andern Mann ist.
[5. April 2025] Die Auslegung von Römer 7,2-3 beginnt Michael Wolter (W411) mit dem Satz: „Zur Erläuterung bringt Paulus ein Beispiel aus dem jüdischen Eherecht. Ab jetzt spricht er also von der Tora.“ In seinem Beispiel zieht Paulus aus einer Bestimmung der Tora zwei logische Schlüsse, wobei er „vom Allgemeinen zum Konkreten“ fortschreitet:
V. 2: 1. Prämisse: Solange der Mann lebt, ist die Frau gebunden.
— — 2. Prämisse: Der Mann ist gestorben.
— — Also: Die Frau ist nicht mehr gebunden.
V. 3: 1. Prämisse: Solange der Mann lebt, gilt die Frau als Ehebrecherin, wenn sie …
— — 2. Prämisse: Der Mann ist gestorben.
— — Also: Die Frau gilt nicht mehr als Ehebrecherin, wenn sie …
Auffällig ist nach Wolter, dass Paulus in der zweiten Schlussfolgerung (Vers 3) mit den zusätzlichen Worten „eleuthera estin apo tou nomou {ist sie frei vom Gesetz} (V. 3d)“ die erste Schlussfolgerung (Vers 2) „noch einmal in abgewandelter Gestalt“ wiederholt, „obwohl sie hier überflüssig ist.“ Daran ist zu „erkennen, worauf es ihm ankommt“, wie Wolter meint, nämlich die beiden bedeutungsgleichen Ausdrücke „katargeisthai apo tou nomou {vom Gesetz loskommen} (V. 2c) und eleuthera einai apo tou nomou {frei vom Gesetz sein} (V. 3d)“ dem Ausdruck „ho nomos kyrieuei {das Gesetz herrscht} (V. 1c)“ entgegenzusetzen. Außerdem hebt Wolter hervor, dass nirgends im antiken griechischen Schrifttum außer bei Paulus (in Römer 7,2.3.6; 8,2) die Formulierungen „katargeisthai apo {loskommen von} und eleutheros/eleutheroō apo {frei/befreien von} mit dem Gesetz“ verbunden werden.
Nun passt allerdings Wolter zufolge die Logik der in den Versen 2-3 vorgebrachten Argumentation gar „nicht zu dem in V. 1c formulierten Grundsatz“, da ja nicht „der Gestorbene selbst … ‚vom Gesetz frei‘ geworden“ ist und die Frau nicht „durch ihren eigenen Tod“, sondern „durch den Tod ihres Mannes frei geworden“ ist, während (Anm. 8) „sich V. 2-3 und V. 4 inhaltlich sehr viel näher“ stehen. Viele Versuche (W411) sind „seit altkirchlicher Zeit“ mit Hilfe von „allerlei allegoretischen Erklärungsversuchen“ unternommen wurden, um
die gedankliche Kohärenz der paulinischen Argumentation doch noch irgendwie zu retten. Keiner dieser Versuche hat das Problem aber lösen können. Rebus sic stantibus {wie die Dinge stehen} wird man der Intention der paulinischen Argumentation darum nur gerecht, wenn man die logische Unschärfe akzeptiert und ganz streng nur das eine formale tertium comparationis als semantische {bedeutungsmäßige} Schnittmenge nimmt, die V. 1c und V. 2-3(4) miteinander gemeinsam haben: dass ein Tod – wessen Tod das auch immer sei – Freiheit vom Gesetz herstellt. Argumentativ ist das natürlich suboptimal.
Zum „Beispiel von der Frau, die nur solange ‚gebunden‘ ist, wie ihr Mann lebt“, stellt Wolter weiter fest, dass es sich „vermutlich dem Rückgriff auf 1Kor 7,39“ verdankt, „wo Paulus es schon einmal verwendet hatte.“ Im Vergleich zur dortigen Verwendung (W412) „kommt in Röm 7,1-3 lediglich der Bezug auf das Gesetz hinzu.“
Zum „Satzbauplan von V. 2a“ geht Wolter darauf ein, dass man ihn unterschiedlich interpretieren kann
- Die meisten Exegeten verbinden das Wort dedetai {ist gebunden} mit tō zōnti andri {dem lebenden Mann} und verstehen das Wort nomō instrumental, so dass sie übersetzen: „die verheiratete Frau ‚ist durch das Gesetz an den lebenden Mann gebunden‘.“ Diese Interpretation entspricht auch 1. Korinther 7,27.
- Schon die „Vulgata“ versteht „tō zōnti andri als einen temporalen Dativ“ und bezieht „dedetai auf nomō“, was Luther in seine deutsche Übersetzung von 1522 so aufgenommen hat: „die weyl der man lebt, ist sie verpunden an das gesetz“. Seit 1912 greift auch die Lutherbibel auf Möglichkeit (a) zurück.
- Der Exeget R. Jewett <173> verwendet eine Mischung beider genannter Optionen, indem er „dedetai wie 1Kor 7,39 intransitiv“ und „tō zōnti andri ebenfalls als einen temporalen Dativ“ versteht, aber „nomō mit der Mehrheitsmeinung instrumental“ interpretiert. Er übersetzt: „durch das Gesetz gebunden, solange der Mann lebt“.
Wolter hält die „Interpretation (a)“ für am „unwahrscheinlichsten …, obwohl sie partiell dem paulinischen Sprachgebrauch von 1Kor 7,27 entsprechen würde“, denn in seinen Augen passt
die postulierte Bindung der Frau an den Mann (tō zōnti andri dedetai) nicht zu V. 2c.3d …, denn hier betont Paulus, dass die Frau durch den Tod des Mannes vom Gesetz (und nicht von ihrem Mann) frei wird. Auch die Anwendung in V. 4b stellt die Trennung vom Gesetz in den Vordergrund. Beides spricht dagegen, dass Paulus in V. 2a die Bindung an den Mann zur Pointe macht.
Die Frage ist aber gerade, ob es Paulus hier wirklich um „die Trennung vom Gesetz“ im Sinne einer Abkehr von der gesamten Tora geht, wofür die Übersetzung (b) ein klarer Beleg wäre. Aber diese Option zieht auch Wolter nicht in Betracht. Stattdessen entscheidet er sich auf ziemlich dünner zusätzlicher Argumentationsbasis (W413) für Jewetts Minderheitsoption (c), für die er nur die ebenfalls intransitive Verwendung von dedetai in 1. Korinther 7,39 ins Feld führen und zusätzlich auf einen Beleg bei Plato und auf Sprüche 15,7 verweisen kann, wo es ebenfalls ein „intransitives dedetai + dativus instrumentalis gibt … (cheilē sophōn dedetai aisthēsei [„die Lippen der Weisen sind gebunden durch Verständigkeit“])“.
Mit „hypandros gynē {wörtlich: dem Mann unterworfene Frau} (V. 2a)“ für eine „verheiratete Frau“ bringt Paulus „die rechtliche Ehewirklichkeit der Antike zum Ausdruck.“ Damit greift Paulus „möglicherweise“ auf die Septuaginta zurück, wozu Wolter u.a. auf „Spr 6,24.29; Sir 9,9; 41,23“ und „Num 5,19.20.29“ verweist.
Indem Wolter den Ausdruck „katargeisthai apo {loskommen von} (V. 2c)“ als „die Antithese zu dedetai {ist gebunden} (V. 2a)“ versteht, meint er ihm zufolge „die Aufhebung der Bindung an die Tora.“ Analog dazu heißt es in Galater 5,4:
Wer durch das Gesetz gerechtfertigt werden will, ‚fällt aus der Verbindung mit Christus heraus‘ (katērgēthē apo Christou). Der Ausdruck nomos tou andros {Gesetz des Mannes} (V. 2c) verweist auf V. 2a zurück. Paulus bezeichnet mit ihm ganz konkret jene gesetzliche Vorschrift, von der er dort gesprochen hatte: dass sie die Frau bindet, „solange der Mann lebt“. Das entspricht auch der Mehrheitsmeinung.
In dieser Argumentation fällt erst auf den zweiten Blick die Widersprüchlichkeit auf, dass Wolter zufolge Paulus in Römer 2,7c angeblich von der „Aufhebung der Bindung an die Tora“ spricht, obwohl er sich mit dem „Ausdruck nomos tou andros“ ausdrücklich gerade nicht auf die Tora insgesamt bezieht, sondern auf einen Teilbereich der Tora. Darauf weist Wolter in seiner Anm. 17 sogar selbst hin, indem er auf sprachliche Analogien verweist, die sich u.a. in der Septuaginta finden:
z.B. Ex 12,43: nomos tou pascha {Tora des Passa}; Lev 12,7: ho nomos tēs tiktousēs {Tora des Gebärens}; Lev 14,2: ho nomos tou leprou {Tora über den Aussätzigen}; … Vgl. auch Lev 6,2.7.18; 7,1.11; 14,57; Num 5,29; 6,13…
Indem Paulus in Vers 3 „den Rechtsgrundsatz von V. 2 auf einen konkreten Fall“ überträgt, nämlich „die Bewertung des Handelns einer Frau, die sich mit einem ‚anderen Mann‘ verbindet“, verwendet er (W414) die aus dem Hebräischen stammende Formulierung hajah lɘˀisch {dem Mann werden}, die z.B. in „Lev 22,12; Num 30,7; Dtn 24,2; Rut 1,12.13; Jer 3,1; Hos 3,3“ vorkommt. Damit ist „deutlich, dass Paulus hier nicht lediglich von einem Seitensprung spricht, sondern vom Eingehen einer anderen Ehe.“ Der von Paulus „konstruierte Fall“ ist zwar „hypothetisch“, aber nach Wolter
kann man ihn z.T. bis in die Begrifflichkeit hinein auf das Verhalten der Herodias anwenden, wie es bei Josephus, Ant. 18,136 <174> berichtet wird: Demnach ist Herodias mit Herodes Boethos verheiratet (ginetai Hērōdē) und „verheiratet sich mit Herodes (Antipas), dem Bruder des Mannes, nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, obwohl er noch lebte“ (Hērōdē gameitai tou andros tō … adelphō diastasa zōntos).
Zwar sagt Wolter, Paulus setze „hier jüdisches Eherecht voraus“, zugleich hebt er hervor, dass „er mit seinem Urteil aber auch nicht allzu weit von der Bewertung eines solchen Verhaltens in seiner nichtjüdischen Umwelt entfernt ist“.
Mit dem Wort chrēmatisei {wird genannt} in Vers 3a drückt Paulus aus, „dass die sich so verhaltende Frau von Gesetzes wegen wirklich eine Ehebrecherin ist.“ In Vers 3d meint der
Ausdruck „frei vom Gesetz“ … wieder „das Gesetz des Mannes“ (V. 2c), denn nur an den Teil der Tora, der das Verhältnis von Mann und Frau regelt, ist die Frau nach dem Tod ihres Ehemannes nicht mehr gebunden. Von der Pflicht zur Erfüllung der anderen Gebote ist sie selbstverständlich nicht befreit.
Damit entzieht Wolter allerdings seiner Entscheidung gegen die Interpretations-Option (a) von Vers 2a die entscheidende Grundlage.
Nach Gerhard Jankowski (J152) „legt Paulus“ den in Römer 7,1c genannten Satz „[g]ut rabbinisch durch ein Beispiel aus dem Eherecht aus, das wiederum auf den Anweisungen zur Ehe aus Num 5 fußt.“ Zu diesen Bestimmungen im 4. Buch Mose (Numeri) 5,11-31 erläutert er „im einzelnen“ (J152f.):
Es gilt, daß eine verheiratete Frau ihrem Mann gegeben, ihm verbunden ist. Sie untersteht ihm. So ist es Weisung der Thora. Der Fachausdruck dafür ist hypandros. Das Wort ist ein Hapaxlegomenon {ein Wort, das nur einmal vorkommt} in den messianischen Schriften. LXX hat es in Num 5,20 als Übersetzung von tachat ˀisch.
Die Bibelstellen in der Weisheitsliteratur der Septuaginta (Sprüche und Sirach) lässt Jankowski also für den Hintergrund des Wortes hypandros außer Acht; stattdessen konzentriert er sich (J153) auf sein Vorkommen im 4. Buch Mose, wo es allerdings die Form hyp‘ andros {unter dem Mann} hat, von der das zusammengezogene Adjektiv abgeleitet ist. Außer in 5,20 findet man dieselbe Form dort noch in 5,29, und in 5,19 wird die Frau als eine hypo ton andra ton seautēs {die du unter deinem Mann bist} angeredet. Auf den Abschnitt 4. Mose (Numeri) 5,12-31, der „akribisch fast alle Fälle von Ehebruch“ erklärt, bezieht sich also Paulus, denn „um Ehebruch geht es auch“ in dem von ihm angeführten Beispiel:
Lebt der Mann, mit dem die Frau gemäß der Thora verbunden ist, gilt sie, wieder gemäß der Thora, als Ehebrecherin, wenn sie sich mit einem anderen Mann einläßt. Sie hat eine durch die Thora geschützte Bindung gebrochen. Ist der Mann, mit dem sie rechtlich verbunden war, gestorben, ist sie von der durch die Thora geschützten Verbindung frei. Das ist verbindlich z. B. in mQid {Mischna Qidushin} 1,1 so geregelt: „Die Frau erwirbt sich selbst durch Scheidebrief und Tod des Mannes.“ Sich selbst erwerben bedeutet hier rechtlich ledig sein. Ledig ist also eine geschiedene oder eine verwitwete Frau. Eine ledige Frau aber ist gemäß der Thora keine Ehebrecherin, wenn sie sich mit einem anderen Mann einläßt. Sie gilt dann als eine von der Thora Freigelassene, wie Paulus es ausdrückt.
Besonders hebt Jankowski hervor, dass sich Paulus fast „bis in die wörtlichen Formulierungen hinein … an die rabbinische Diskussion dieses Falles“ hält:
Hebräisch heißt ledig sein von, batal min. Paulus übersetzt das mit katargazesthai apo. Wie wir weiter oben gesehen haben, deuten die Rabbinen batal min mit einem Verweis auf Ps 88,6 als chaphschi, freigelassen, frei. Bei Paulus heißt das dann eleutheros apo, freigelassen von.
Dass Paulus nicht an „eine grundsätzliche Freiheit von der Thora“ denkt, steht für Jankowski außer Frage, vielmehr geht es „um eine von der Thora geschützte Bindung und um die Erledigung dieser Bindung, die ebenfalls von der Thora geregelt ist.“ Geht die „von der Thora Freigelassene, Geledigte, …eine andere Bindung“ ein,
steht die neue Partnerschaft selbstverständlich wieder unter dem Schutz der Thora. Aber auch als Ledige steht die Frau unter Thora. So schützt sie ja die Frau, indem sie erklärt, daß die keine Ehebrecherin ist, wenn sie sich mit einem anderen Mann einläßt.
Da Jankowski annimmt, dass sich Paulus in den ersten acht Römerbriefkapiteln vor allem an römische Juden wendet, vermutet er zugleich, dass sein Beispiel „wahrscheinlich … den Kennern der Thora aus ihren Entscheidungen über Ehe und Ehebruch“ bekannt war, wenn sie „zu entscheiden“ hatten, „ob es rechtens war, wenn eine Frau, ein Mann, einem/einer anderem/anderen wurde.“
↑ Römer 7,4: Getötet für die Tora gehört ihr einem anderen an, dem aus Toten erweckten Messias, damit wir Gott Frucht bringen
7,4 Also seid auch ihr, meine Brüder und Schwestern,
dem Gesetz getötet durch den Leib Christi,
sodass ihr einem andern angehört,
nämlich dem, der von den Toten auferweckt ist,
damit wir Gott Frucht bringen.
[6. April 2025] Nach Michael Wolter (W414) wird in Römer 7,4 „das Beispiel auf die Adressaten“ übertragen. Zwar behaupten Exegeten (Anm. 21) wie Dodd oder Kümmel <175>, „die Erläuterung ist hoffnungslos in die Irre gegangen“ bzw. „Der Anschluß von 7,4 an 7,1-3 ist typisch orientalische, assoziierende Logik“, aber Wolter zufolge (W414f.)
gibt es zwischen V. 2-3 und V. 4 keine inhaltliche Spannung: Der Frau und den Ihr ist gemeinsam, dass sie durch den Tod eines anderen vom Gesetz befreit werden: die Frau durch den Tod ihres Mannes, die Adressaten durch den Tod Christi. ethanatōthēte tō nomō {ihr wurdet dem Gesetz getötet} (V. 4a) bezeichnet dabei die Folge des Todes Christi.
Insbesondere hebt Wolter hervor:
In V. 4a ist ethanatōthēte tō nomō {ihr wurdet dem Gesetz getötet} parallel zu katērgētai apo tou nomou {sie ist vom Gesetz losgekommen} (V. 2c) und eleuthera … apo tou nomou {sie ist frei vom Gesetz} (V. 3d). Umgekehrt hätte Paulus in V. 2c und V. 3d auch sagen können, dass die Frau ‚dem Gesetz gestorben ist‘. V. 6a wird das katargeisthai apo tou nomou {wir sind losgekommen vom Gesetz} auch für die Christen postulieren und mit ihrem ‚Dem-Gesetz-Sterben‘ parallelisieren.
Daher steht es für Wolter außer Frage, dass nach Paulus die angeredeten Heidenchristen genauso für das Gesetz wie nach Römer 6,2.11 für die Sünde gestorben sind, dass also für sie „eine bestehende Beziehung definitiv und endgültig beendet wurde.“ Das alles klingt verführerisch überzeugend – bis auf einige Einzelheiten, die Wolter eben doch glattbügelt, z.B. dass im Beispiel die Frau eben nicht von der Tora insgesamt, sondern von der Tora des Mannes losgekommen ist. Außerdem stimmt es es im Blick auf die von Wolter angenommenen heidenchristlichen Adressaten des Paulus gerade nicht, dass ihre „bestehende Beziehung“ zur Tora insgesamt durch den Tod des Messias „endgültig beendet wurde“. Wolter nimmt doch eher an, dass die Tora, die für Nichtjuden in ihrer Gesamtheit schon bisher keine Rolle spielte, nun auch für Juden ihre Bedeutung verloren hat, aber sowohl nichtchristliche Juden als auch Judenchristen schließt er als Adressaten ja kategorisch aus.
Als zusätzliches Argument zur Stützung seiner Ausführungen verweist Wolter auf eine parallele Formulierung des Paulus in Galater 2,19. Dort
hatte Paulus vom christlichen Ich gesagt, dass es „dem Gesetz gestorben“ ist, um auf diese Weise den Unterschied zwischen dem ‚Einst‘ und dem ‚Jetzt‘ der christlichen Existenz zu kennzeichnen.
Aber auch hier unterschlägt Wolter einen wesentlichen Teil des Zitats. Paulus sagt nämlich von sich selbst: egō gar dia nomou nomō apethanon, hina theō zēsō, was Gerhard Jankowski in seiner Auslegung des Galaterbriefs <176> mit „Ich starb durch Thora für Thora, damit ich Gott lebe“ übersetzt und womit keineswegs „die Trennung vom ‚gesetzestreuen Judentum‘ erfolgt. Auf diese Weise gelangt Jankowski zu einer Deutung, dass der „Dativ nomō in dem Satz … als Dativ commodi zu verstehen“ ist,
bei dem gefragt werden muß „zu wessen Nutzen geschieht etwas?“. Übertragen hieße das denn: Paulus starb zum Nutzen der Thora, er starb ihr aber nicht ab, so daß sie keine Geltung mehr für ihn hatte. Das Ziel dieses Sterbens ist: „damit ich für Gott lebe“. Und das geht nun einmal nicht ohne Thora.
Aber selbst wenn diese Deutung des Dativs nomō zu weit geht, geht Jankowski zu Recht davon aus, dass sich Paulus im Galaterbrief mit jüdischen Gegnern auseinandersetzt, die ihm vorwerfen, dass durch seine „messianische Praxis, deren höchster Ausdruck u.a. die Tischgemeinschaft zwischen Juden und Nichtjuden ist, … der trennende Zaun“ zwischen den sündigen Gojim und dem Volk Israel „eingerissen ist.“ Es sind diese Gegner, denen gegenüber Paulus darauf pocht, dass dieser Zaun um die Tora nicht „wieder erbaut“ wird, denn dadurch würde
die Trennung wieder in Geltung gesetzt, und gleichzeitig wird anerkannt, daß die vorher geübte Tischgemeinschaft falsch war. Wer daran teilnahm, hat Thora übertreten – wie etwa Kephas in Antiochien.
Auch wenn Paulus also einreißt, „was die Thora zum Trennenden zwischen Juden und Nichtjuden macht“, wird sie „nicht erledigt“ als insgesamt geltende Weisung Gottes: „die Thora bleibt bestehen.“
Zurück zur Auslegung von Römer 7,4 durch Wolter. Mit dem Ausdruck dia tou sōmatos tou Christou {durch den Leib Christi} bezieht sich Paulus auf den Tod Jesu, „durch den die Ihr vom Gesetz losgekommen sind“, und er meint damit sowohl „den Tod Jesu“ auch auch „die von ihm ausgehende Heilswirkung“, also
dasselbe wie in Röm 3,25 und 5,9 „durch sein Blut“ oder in Röm 5,10 „durch den Tod seines Sohnes“. „Leib Christi“ hat hier also weder ekklesiologische noch sakramentale Bedeutung, und Paulus spricht auch nicht von der Teilhabe am Tod Jesu, die durch die Taufe „auf seinen Tod“ zustande kommt (Röm 6,3). Die Berührung mit Röm 3,25 spricht vielmehr dafür, dass Paulus hier auch das dortige „durch den Glauben“ mitgelesen wissen will: Er ist es, der Jesu Tod als ein Heilshandeln Gottes wahrnimmt und dadurch die Befreiung vom Gesetz herbeiführt.
Dass hier ein „Ineinander von Christusgeschehen und dessen Wahrnehmung als Heilsgeschehen durch den Glauben“ vorliegt, wird Wolter zufolge durch „die sprachliche Gestalt des Prädikats ethanatōthēte {ihr wurde getötet}“ unterstrichen, denn das
Passiv bezeichnet das Handeln Gottes im Christusgeschehen (passivum divinum) und der Aorist den Vorgang des Zum-Glauben-Kommens wie in Röm 10,14; 13,11; 1Kor 3,5; 15,2.11; Gal 2,16. Anders als durch den Glauben kann die Heilswirkung des Todes Jesu sowieso nicht die hier geschilderten Folgen für eine menschliche Existenz haben.
Erneut fällt auf, dass Wolter das von Paulus Gesagte strikt auf eine religiöse Bekehrung einzelner Individuen gleich welcher Herkunft vom Juden- oder Heidentum zum Christus-Glauben bezieht, ohne in Erwägung zu ziehen, dass es Paulus in seiner Sendung zu den Gojim darum gehen könnte, die Trennung Israels von den Völkern als durch den Tod des Messias überwunden anzusehen.
Indem Paulus (W416) in Vers 4b „dann auch den anderen Teil der Geschichte der Frau auf die Adressaten“ überträgt und mit „der Formulierung genesthai hymas heterō {ihr werde einem anderen zu eigen} … das zweimalige ginesthai andri heterō {sie wird einem anderen Mann zu eigen} in V. 3b.e“ aufnimmt, beschreibt Paulus
das Loskommen vom Gesetz durch den Glauben, der den Tod Jesu als Heilstod erkennt, und das Übergehen in die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen [als] zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs. Freiheit vom Gesetz gewinnt nur, wer sich an Jesus Christus bindet.
Wolter weigert sich jedoch, in Vers 4b „eine Ehemetaphorik mit[zu]hören“, wie das z.B. Zeller, Fitzmyer, Haacker und Jewett <177> tun.
Indem Paulus am Ende von Vers 4 mit den Worten hina karpophorēsōmen tō theō {damit wir Gott Frucht bringen} „von der 2. in die 1. Person Plural“ wechselt, will er nach Wolter ausdrücken, „dass alles hier Gesagte nicht nur für die Adressaten des Briefes gelten will, sondern generell für alle Christen.“ Inhaltlich nimmt er mit der
Metapher vom ‚Frucht bringen‘ … die parallele Aussage in 6,22 wieder auf. … Wie im Aufbau von Röm 6 die Beschreibung der christlichen Identität (V. 2-11) in die Reflexion auf ein christliches Ethos mündete (V. 12-23), so auch in 7,4a-b (Identität) und 7,4c (Ethos).
Der „Dativ tō theō“ entspricht nicht nur der Verwendung in Römer 6,13, wo es darum geht, „sich bzw. seine Glieder ‚Gott zur Verfügung [zu] stellen‘“, sondern (W416f.)
auch dem Dativ, mit dem in der Septuaginta davon gesprochen wird, dass Gott Opfer oder Weihegaben „gebracht“ werden (z.B. Gen 4,3; Ex 30,20; 35,21; Lev 2,11; 17,4; Num 18,12). Der Zusammenhang von Identität und Ethos, den Paulus in Röm 7,4 herstellt, steht damit in einer Tradition, die eine ethisch einwandfreie Lebensführung als eine Handlung darstellt, die opferkultischen Darbringungen nicht nur äquivalent ist, sondern ihnen auch überlegen sein kann (vgl. nur Sir 35,1-2: „Wer das Gesetz bewahrt, vermehrt die Opfer; ein Heilsopfer bringt dar, wer sich an die Gebote hält; wer Dankbarkeit (charis) vergilt, bringt feines Mehl dar; wer Barmherzigkeit praktiziert, opfert ein Lobopfer“… Bei Paulus gibt es diese Vorstellung auch noch in Röm 12,1.
Interessant ist, dass alle Stellen aus der Tora, die Wolter hier zitiert, gar nicht den Dativ tō theō {dem Gott} enthalten, sondern sich mit (tō) kyriō {dem HERRN} auf den NAMEN des Gottes Israels beziehen. Indem Wolter darauf aufmerksam macht, dass Paulus opferkritische Tora-Auslegung aus den biblischen Schriften aufnimmt, entzieht er indirekt und ungewollt seiner Auffassung, Paulus verträte einen grundsätzlichen Abschied von der Tora, weitere Glaubwürdigkeit.
[7. April 2025] Für Gerhard Jankowski (J154) ist die Formulierung „Einem anderen werden, genesthai heterō“, die wir in Römer 7,1-6 „dreimal hören“, für die Auslegung des Beispiels „von der ledigen Frau“ zentral:
Wie ist es möglich, einem anderen zu werden, ohne eine Bestimmung der Thora zu übertreten, also zu sündigen, oder um im Bild zu bleiben: Wie kann man einem anderen werden, ohne daß der Vorwurf des Ehebruchs erhoben werden kann und muß?
Während Wolter es ablehnt (W416), in dem Ausdruck genesthai heterō {einem anderen werden} irgendeine „Ehemetaphorik“ mitzuhören, hat Paulus ihn nach Jankowski (J154) als „wörtliche Übersetzung“ der hebräischen Wendung hajah lɘˀisch acher {einem anderen Mann werden} „nicht zufällig, sondern sorgsam gewählt“, um eine Redeweise aufzurufen, die ihm zufolge vor allem der „Prophet Hoschea … mehrmals“ gebraucht. Hier irrt Jankowski allerdings, denn ganz wörtlich kommt lɘˀisch acher {einem anderen Mann} nur an drei Stellen in der Tora und den Propheten vor (1. Mose 29,29; 5. Mose 24,2; Jeremia 3,1), und sogar an der von Jankowski ausdrücklich angeführten Stelle Hosea 3,3 fehlt das hebräische acher {anderer}. Inhaltlich geht es in diesem Vers jedoch durchaus metaphorisch um das Volk Israel, das mit dem Gott Israels wie eine Frau ihrem Mann verbunden war und ihm untreu geworden ist, indem es sich ˀel ˀelohim ˀacherim {anderen Göttern} zugewandt hat, wie es im Hosea 3,1 heißt. Dazu schreibt Jankowski:
Gerade dieser Prophet umschreibt das Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott mit dem Eheverhältnis. Israel begeht Ehebruch, wenn es anderen Göttern nachläuft, nachhurt, wie Hos sagt. Wurde dem Paulus und der messianischen Gemeinde vorgeworfen, sie handelten ehebrecherisch, wenn sie Nichtjuden in die Gemeinden hinzunahmen und Juden dazu ermutigten, mit diesen zusammenzuleben? Für Paulus jedoch liegt in diesem Fall kein Rechtsbruch vor. Das Verhältnis zum Gott Israels hat durch die messianische Praxis nur eine Aktualisierung erfahren. Denn wohl sind die in der messianischen Gemeinde „einem anderen geworden“, aber sie haben dabei keinen „Ehebruch“ begangen. Sie waren „ledig“ und konnten so „einem anderen werden“.
Hat diese Logik aber nicht einen erheblichen Haken? Denn wenn man danach fragt, wer denn „nun gestorben“ ist, „damit man diesem anderen werden kann, ohne in den Verdacht zu geraten, ehebrecherisch gehandelt zu haben“, mit anderen Worten, wer „der gestorbene Mann“ ist , „durch dessen Tod das neue Verhältnis erst möglich wurde“, dann wäre das der „Logik des Beispiels zufolge … Gott. Den aber für tot zu erklären ist unlogisch und undenkbar. Das wäre in der Tat dann höchst ‚ehebrecherisch‘.“ Sagt Paulus nicht deutlich, wer „dieser ‚andere‘“ ist, nämlich „der aus den Toten Erweckte, also der Messias“? Das kann Paulus Jankowski zufolge nicht meinen, denn (J154f.)
dann würde der aus den Toten auferweckte Messias zu einem Gott werden und die messianische Gemeinde wäre eine abartige Gemeinde, die mit Israel nun wirklich nichts mehr zu tun hat.
Auf die Frage (J155): „Wer aber ist es nun?“ gibt Jankowski die überraschende Antwort:
Ihr seid es, sagt Paulus. Wer das ist, war auch deutlich gesagt worden. Es sind die Thorakenner, mit denen Paulus den Dialog führt, die jüdischen Brüder. Die sind nun nicht gestorben, sondern der Thora getötet worden, ethanatōthēte, durch den Leib des Messias. Das heißt, sie sind für die Thora nicht existent, wenn sie messianisch leben. Die Thora jedoch bleibt bestehen. Nur wird sie eben nicht übertreten, wenn Juden beginnen messianisch zu leben. Was die Thora nicht erlaubt, nämlich das enge Zusammenleben von Juden und Nichtjuden, im Leib des Messias ist es möglich. Und dieses Zusammenleben ist nicht gegen die Thora gerichtet, es bedeutet auch keinen Ehebruch oder götzendienerische Hurerei. lm Gegenteil: Es wird gerade dazu führen, daß das getan wird, was die Thora verlangt. Und das ist, sich ganz in den Dienst Gottes zu stellen und ihm Frucht zu bringen.
Auf den ersten Blick wirkt diese Auslegung weit hergeholt, aber wir kennen von Paulus auch an anderen Stellen ähnliche kühne Deutungen der Tora, wenn er etwa in Galater 4,24-25 einen Bundesschluss, der in die Versklavung führt, mit Hagar und dem Berg Sinai verknüpft. Jankowski schreibt selber:
Es scheint nicht logisch zu sein, was Paulus sagt. Aber messianisches Denken hat sehr wenig mit logischem Denken zu tun. Es durchbricht immer überraschend und befreiend die Logik. Hier ermutigt Paulus seine jüdischen Brüder, auf dem Hintergrund der Tradition, sich auf messianisches Leben einzulassen.
Um Jankowskis Auslegungsvorschlag noch etwas gründlicher zu bedenken, lohnt wieder einmal ein Ausflug in Friedrich-Wilhelm Marquardts Buch über „Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden“. Seine Auslegung von Römer 7,1-6 überschreibt er [243] mit „Die Christen und der Bund“, womit er deutlich machen will, dass es in diesem Abschnitt [248] nicht etwa um das „Ende der Tora“, sondern um den Bund mit dem Gott Israels geht, der hier „das Grundmodell der Überlegungen“ des Paulus ist:
Der Skopus von 7,1-6 zielt auf einen Partnerwechsel. Ihr seid durch den Leib Christi dem Gesetz getötet worden, eis to genesthai hymas heterō, „damit ihr einem anderen angehört, nämlich dem, der von den Toten auferweckt worden ist“ (7,4). Dies ist auch die Spitze des Ehebildes: „Stirbt aber der Mann, so ist sie (die Frau) frei von dem Gesetz, tou mē einai autēn moichalida, „so daß sie keine Ehebrecherin ist, wenn sie einem anderen Mann zu eigen wird“ (7,3). Der Ton beim Ehebild liegt also nicht auf dem Tod des Mannes, der Befreiung der Frau von ihrer bisherigen Bindung, er liegt auf der rechtmäßigen Befähigung der Frau, eine andere Bindung einzugehen.
Dass der Abschnitt Römer 7,1-6 also eine Überschrift erhalten müsste, in der „vom ‚Recht zu einer neuen Bindung‘ zu sprechen“ wäre, hatte nach Marquardt nur Karl Barth <178> „in der 1. Auflage seines Kommentars … mit der Überschrift ‚Das neue Wesen‘“ angedeutet [248f.]
und damit das Verständnis des ganzen Abschnitts geleitet gesehen von seinem letzten Wort: „Wir können nun dienen im neuen Wesen des Geistes, und nicht im alten des Buchstabens“: Auf den Gewinn des Neuen, nicht auf den Verlust des Alten zielt alles hin.
Weiter schreibt Marquardt [250] über die „Erfahrungen einer bürgerlichen Ehe“ als „sprechende Bilder für das biblische Verständnis von Gesetz und Bund“ und weist darauf hin, dass [250f.] die „gegenseitige Erwählung der Bundesgenossen …, wie in der Ehe, so in der Israelgeschichte“, voransteht [251],
ehe es zu einer gesetzlichen Durchformung der Beziehung am Sinai kommt. Wechseln aber die Zustände der Partnerschaft zwischen Israel und Gott, muß deswegen nicht das Gesetz disqualifiziert werden. Israels Propheten haben niemals das Gesetz, sondern die Treulosigkeit des Volkes oder seiner Führer angeklagt. Ehebruch war wie von selbst ein Bild für das mißlingende Gott-Israel-Verhältnis, aber niemals wurde deswegen der Tora abgeschworen. Es besteht aller Anlaß, Röm 7,1-6 analog zu dieser alten biblischen Thematik zu verstehen. Der Tod Jesu wird ausgelegt als Abschied von einer Bundesform, die durch nichts anderes mehr als ein Gesetz zusammengehalten ist, das gegen die Leidenschaften und Leiden, die die Bundespartner einander zufügen, nicht aufkommt, – wo es nur noch als Gesetz einer dauernden Negation der gelebten Wirklichkeit wirken kann und seinen ursprünglichen, einenden, schützenden, helfenden Sinn nicht durchsetzen kann. Die Auferweckung Jesu aber bietet nach dieser Auslegung eine neue Bindung an (denn ungebunden kann kein Mensch leben und lebt auch wirklich kein Mensch). Christen sind nicht etwa solche Menschen, die in Gesetzlosigkeit ausbrechen, sind nicht Anarchisten. Sie sind nur übergegangen aus einer Bindung, die allein durch das Gesetz konstituiert ist, ohne Stützung durch andere soziale, religiöse, seelische Bindungskräfte, in die Bindung an Jesus, die als eine lebendige, bewegte, freie Geistesbeziehung erfahren werden kann – solange nicht auch sie zu einer reinen Buchstabenbeziehung verdorben ist.
Obwohl Marquardt mit Jankowski insofern einig ist, dass Paulus nicht von der Tora Abschied nimmt, scheint er mit Wolter die Einschätzung zu teilen, bereits Paulus habe die Hinwendung zu Christus als den Abschied aus der bisherigen Form des Bundes der Juden mit Gott betrachtet. Wenn man allerdings den Abschnitt Römer 7,1-6 [252] „wirklich zentral als ‚Freiheit vom Gesetz‘ verstehen will, dann kann diese Radikalität nur auf Heiden gemünzt werden“, denn sie gehören einem Bund an, wie Paulus in Römer 2,14 gesagt hatte,
in dem die Genossen „sich selbst Gesetz“ sind: einer dem anderen. Im Bund zwischen Gott und Israel ist die Tora ein Drittes; die Gott-Israel-Beziehung bietet einen Spielraum, sich frei zu ihr zu verhalten; Israel hat die Freiheit der Gesetzesauslegung. Im Sozialgefüge der Heiden gibt es – so wie Paulus es schildert – solchen Spielraum gegenüber dem Gesetz nicht, eben weil die Sozietät selbst das Gesetz ist; „das Gesetz“ fällt zusammen mit den jeweiligen Zuständen der Sozietät; man kann kein anderes, freieres Verhältnis zum Gesetz durch Partnerwechsel suchen, weil es der bestimmten Form der Partnerschaft immanent ist und weil man in einer anderen Partnerschaft nicht unter ein anderes Verhältnis zum Gesetz tritt, sondern unter ein anderes Gesetz. Hier erst recht ist nur der Tod die letzte Chance der Freiheit: Das Abgetötetwerden jener sozialen Bindung, die in sich selbst Gesetz ist.
Zugleich spricht Paulus aber nach Marquardt im Römerbrief auch Judenchristen an [253], „auch in diesem Abschnitt: die Juden zuerst und auch die Griechen“. Und für diese gilt:
Der Christ werdende Jude aber stirbt niemals der Tora ab, wenn er sich frei einem „neuen Wesen des Geistes“ anschließt, einem Bund, in dem wie im Israelbund Vertrauen, emuna, pistis, die geschichtliche und sachliche Bedingung der Möglichkeit der Tora, das Gesetz also das Gesetz des Bundes, nicht aber umgekehrt, wie im Heidentum, der Bund der Bund des Gesetzes ist.
Ich stelle Marquardts Auslegung so ausführlich dar, weil auch sie der üblichen Paulus-Exegese widerspricht und weil Jankowski von ihr beeinflusst argumentiert. Anders als Marquardt sieht Jankowski in Römer 7,1-6 aber in erster Linie Juden angeredet, die durch ihre enge Gemeinschaft mit Gojim einer Tora absterben, die ihre Trennung von den Gojim befiehlt, so dass Paulus nicht etwa eine neue christliche Bundesform von Juden- und Heidenchristen mit Gott begründen, sondern als jüdischer Messianist Menschen aus den Völkern in den Bund mit Israel hineinrufen will.
↑ Römer 7,5-6: Durch die Tora in Leidensverstrickung der Verfehlungen geraten, aber von ihr ledig geworden, dienen wir in neuer Inspiration statt altem Buchstaben
7,5 Denn als wir im Fleisch waren,
da waren die sündigen Leidenschaften,
die durchs Gesetz geweckt wurden,
kräftig in unsern Gliedern,
sodass wir dem Tode Frucht brachten.
7,6 Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden
und dem gestorben, was uns gefangen hielt,
sodass wir dienen im neuen Wesen des Geistes
und nicht im alten Wesen des Buchstabens.
[8. April 2025] Mit den Versen Römer 7,5-6 (W417) beendet Paulus Michael Wolter zufolge
diesen Abschnitt, indem er noch einmal (nach 6,20-22) Einst und Jetzt der christlichen Existenz einander gegenüberstellt (V. 5: hote gar ēmen {denn als wir waren} // V. 6: nyni de {jetzt aber}). Im weiteren Verlauf des Briefes wird V. 5 dann in 7,7-25 entfaltet und V. 6 in 8,1-17.
Dabei beleuchtet Paulus den Unterschied im „Gegenüber von einst und jetzt“ von der Stellung „zum Gesetz“ her „(V. 5b: dia tou nomou {durch das Gesetz}; V. 6a: katērgēthēmen apo tou nomou {wir sind losgekommen vom Gesetz})“ und bringt ihn „auf den Begriff“ mit dem „Paradigma … ‚Geist und Geschriebenes‘ (V. 6b)“.
Sehr ausführlich geht Wolter auf den „Ausdruck ‚im Fleisch sein‘ {einai en tē sarki}“ in Vers 5a ein, der „von derselben Art“ ist
wie die Aussagen vom „ln-Christus-Sein“ der Glaubenden z.B. in Röm 8,1; 16,7.11; 1Kor 1,30; 2Kor 5,17; 12,2 oder wie die Bezeichnungen hoi en tō nomō {die im Gesetz sind} (Röm 3,19) oder einai en pistei {im Glauben sein} (2Kor 13,5).
Zu bedenken ist, dass en sarki {im Fleisch} in einem doppelten Sinn verwendet werden kann, auch von Paulus. Hier meint Paulus (W417f.)
nicht lediglich die leibliche Existenz, die nach 2Kor 10,3; Gal 2,20; Phil 1,22.24 (s. auch 1Petr 4,2) auch das Leben der Glaubenden und Getauften noch kennzeichnet, sondern etwas, das sie früher waren und jetzt hinter sich gelassen haben. … „Im Fleisch sein“ bedeutet dasselbe wie sarkinos („fleischern“) oder sarkikos („fleischlich“) sein (Röm 7,14; 1Kor 3,1.3; 2Kor 1,12; 10,4) oder wie kata sarka {nach dem Fleisch} „wandeln“ bzw. „sein“ (Röm 8,4.5).
In all diesen Fällen (W418) meint sarx „die existentielle Bestimmtheit des menschlichen Wesens durch das ‚Fleisch‘.“ Dabei steht das Wort „nicht lediglich für die kreatürliche Schwäche und Hinfälligkeit der menschlichen Existenz“ wie (Anm. 36) in „Ps 78,39; Spr 5,11; SapSal {Weisheit Salomos} 7,1; Jes 40,6“, sondern es meint (W418)
eine Gott feindlich gegenüberstehende Macht, deren Wirken durch eben jenes semantische {bedeutungsmäßige} Feld charakterisiert wird, auf das Paulus auch in Röm 7,5 zurückgreift (vgl. auch 7,14, wo er die Feststellung: sarkinos eimi durch „verkauft unter die Sünde“ erläutert): Es ist das „Fleisch“, das in den Menschen die „Leidenschaften“ (pathē, pathēmata) hervorruft und dadurch zum Ursprung der „Sünden“ (hamartiai, hamartēmata) wird.
Hervorzuheben ist aber nach Wolter (W419), dass Paulus
die Trennung von der vergangenen Existenz „im Fleisch“ nun aber nicht im Rahmen einer dualistischen Anthropologie [versteht], d.h. als Befreiung der Seele aus dem Gefängnis des Fleisches, wie sie nach hellenistischer Vorstellung durch den Tod erfolgt, oder als ekstatischen Auszug der körperlosen Denkseele aus dem Fleisch wie z.B. Philo, Somn. 2,232 <179>. Er charakterisiert die neue Situation der christlichen Wir, wie sie durch das in Röm 7,4 beschriebene Geschehen zustande gekommen ist, vielmehr als Trennung des ganzen Menschen und dessen gesamter Existenz von ihrer vormaligen Bestimmtheit durch das dem Heil Gottes feindlich gegenüberstehende Fleisch. Diese Trennung erfolgt durch den Glauben, der im Tod Jesu (nach Röm 7,4: im sōma tou Christou {im Leib des Christus}) das Heilshandeln Gottes erkennt.
Zum „Ausdruck ta pathēmata tōn hamartiōn“ erwägt Wolter, ob er als „ein Hebraismus“ mit „die sündigen Leidenschaften“ übersetzt werden oder „die Sünden als äußerlich wahrnehmbare Geschehensfolge der Leidenschaften bezeichnen“ sollte; ihm zufolge macht der „Plural von tōn hamartiōn {der Sünden} … Letzteres wahrscheinlicher.“ Interessant ist hier (W418, Anm. 37), dass das Wort pathēmata außer in Galater 5,24 „bei Paulus sonst immer für Leidenserfahrungen“ steht, nämlich in „Röm 8,18; 2Kor 1,5.6.7; Phil 3,10“. Das regt mich dazu an, für das Subjekt pathēmata tōn hamartiōn im Neutrum Plural, das nach der griechischen Grammatik das Prädikat enērgeito {wirksam war} im Singular nach sich zieht, auch die Übersetzung Leidensverstrickung in die Verfehlungen in Erwägung zu ziehen.
Jedenfalls (W419) „will Paulus in 7,5 die menschlichen Affekte“ wie schon in 1,26 nicht etwa „generell als sündhaft abstempeln“, sondern er nimmt „nur solche Affekte in den Blick, aus denen Sünden entstehen.“ Indem Paulus sie mit ta dia tou nomou {wörtlich: die durch das Gesetz} attributiv näher bestimmt (W420),
sind die „Leidenschaften der Sünden“ keine anthropologische Gegebenheit, sondern sie entstehen erst „durch das Gesetz“. Wie Paulus sich die Mitwirkung des Gesetzes bei der Entstehung der pathēmata tōn hamartiōn vorgestellt hat, wird er seinen Lesern in V. 7-8 erklären.
Mit den melesin {Gliedern} meint Paulus „wie in Röm 6,13.19 und in 7,23… diejenigen Teile des Leibes, mit deren Hilfe die Menschen handeln“; das Wort enērgeito {war wirksam} drückt aus, „dass die ‚Leidenschaften der Sünden‘ durch die ‚Glieder‘ in konkreten Handlungen empirisch wahrnehmbare Gestalt gewinnen; die Wendung eis to karpophorēsai tō thanatō {um dem Tod Frucht zu bringen}
bezeichnet die Unheilsfolge des von den „Leidenschaften der Sünden“ bestimmten menschlichen Handelns. Die Formulierung will die Antithese zu hina karpophorēsōmen tō theō {damit wir Gott Frucht bringen} (V. 4c) sein und nimmt inhaltlich auf, was Paulus schon in 6,21a.c über die vorchristliche Existenz der Getauften gesagt hatte.
In Römer 7,6 beschreibt Paulus Wolter zufolge „nun die Gegenwart derjenigen, die von der Herrschaft von Sünde und Gesetz befreit sind.“ Insbesondere betont er, dass Paulus mit
katērgēthēmen apo tou nomou {wir sind losgekommen vom Gesetz} und dem elliptischen {etwas auslassenden} apothanontes {wörtlich: gestorben seiend}, zu dem ein toutō {dem} o.ä. zu ergänzen ist, das ebenfalls auf das Gesetz verweist, … in V. 6a diejenigen beiden Begriffe wieder auf[nimmt], die er in V. 2 und in V. 4 benutzt hatte, um die Befreiung vom Gesetz durch den Tod eines anderen zu beschreiben. Zu ihnen war „frei sein“ in V. 4 parallel, dessen Semantik sich in douleuein {als Sklave dienen} (V. 6b) spiegelt. Damit wird deutlich, dass für die Freiheit vom Gesetz dasselbe gilt, was Paulus in 6,12-23 über die Freiheit von der Sünde gesagt hatte: Sie ist nur dadurch zu gewinnen, dass man sich in eine neue Sklaverei begibt – hier in die ‚Sklaverei des Geistes‘.
Das Verb kateichometha {wir wurden niedergehalten} nimmt das Verb enērgeito {wurde wirksam} aus dem vorigen Vers wieder auf; beide stehen im Imperfekt, beide beziehen sich mit dia tou nomou {durch das Gesetz} bzw. en hō {durch das} auf das Gesetz, so dass nach Wolter deutlich wird,
wie Paulus sich das katechesthai {Niederhalten} durch das Gesetz vorgestellt hat. Auch hierzu folgt die Erläuterung in V. 7-11. Zum Verständnis dieser Vorstellung trägt auch Röm 5,20b bei, denn hiernach ist das Gesetz für den Menschen im Kampf gegen die Sünde nicht nur keine Unterstützung, sondern es verstärkt sogar noch seine Verstrickung in den Verhängniszusammenhang von Sünde und Tod.
Demgegenüber nimmt Paulus (W421) in Vers 6b „die Sklavendienst-Metapher (douleuein) aus Röm 6,6.16-20.22“ wieder auf und
übernimmt aus diesen Versen auch das Gegenüber von jetzt (kainotēs {Neuheit}) und einst (palaiotēs {Vergangenheit}), so dass das douleuein en kainotēti pneumatos {Dienen in der Neuheit des Geistes} für die Leser als derjenige ‚Sklavendienst‘ erkennbar wird, den die zum Auferstandenen Gehörenden (7,4c-d) nach 6,18f.22 „für die Gerechtigkeit“ und „für Gott“ ableisten.
Den „Geist Gottes“, von dem „Paulus zuletzt in 5,5 gesprochen“ hatte, und der Wolter zufolge „als Grundausstattung der christlichen Existenz sowohl allen Christen als auch nur ihnen ‚ins Herz gegossen wurde‘ <180>“, macht Paulus hier
zum Genitiv-Attribut von kainotēs {Neuheit} und gibt damit zu erkennen, dass er nicht von einer Erneuerung des Geistes sprechen will. Es ist vielmehr der Geistbesitz selbst, der den Bekehrungsgewinn bzw. die „Neuheit“ ausmacht, weil es ihn vorher nicht gab.
In diesem Zusammenhang macht Wolter darauf aufmerksam, dass Paulus das „Gegenüber von ‚Geist‘ und ‚Geschriebenes‘ … nach 2Kor 3,6 im Römerbrief bereits in 2,29“ verwendet hatte. In 2,29 hat es aber einen „teilweise anderen Sinn“, denn dort bezeichnete es „die unterschiedlichen Wirklichkeiten von Mensch (gramma) und Gott (pneuma)“. Das „klingt hier nach“, aber hauptsächlich
charakterisiert die Antithese in 7,6b ein Nacheinander: die unterschiedlichen Existenzweisen nach und vor der Bekehrung. … Vor allem aber steht gramma in 7,6b im Unterschied zu 2,29 als metonymische Umschreibung für das Gesetz.
Einen engeren Zusammenhang stellt Wolter im Blick auf „die Antithese von Geist und Geschriebenem“ in Römer 7,6b und 2. Korinther 3,6.14 fest:
Um die Überlegenheit seiner diakonia {Dienst} gegenüber derjenigen des Mose deutlich zu machen, bringt er hier die Antithese von kainē diathēkē {neuer Bund} und palaia diathēkē {alter Bund} mit derjenigen von pneuma und gramma {Geist und Buchstabe} zur Deckung. <181>
[9. April 2025] Es ist keine geringe Herausforderung, Wolters Auslegung in Frage zu stellen, derzufolge Paulus in Römer 7,1-6 das Ende der jüdischen Tora besiegelt, als ob bekehrte Christen nicht mehr an den Buchstaben der Tora gebunden seien, sondern als etwas völlig Neues den Geist Gottes exklusiv in Besitz genommen hätten. Es gibt Momente, in denen ich mich seiner Argumentation kaum entziehen kann und mich frage, ob es denn sein kann, dass die kirchliche Tradition, die bereits ab dem 2. Jahrhundert und bis ins 21. Jahrhundert hinein die Briefe des Paulus genau so interpretiert hat, sich gegen einige wenige exegetische Außenseiter wie Jankowski und seine Gewährsleute im Irrtum befindet. Einen dieser Momente erlebe ich gerade jetzt, indem ich Gerhard Jankowskis nun folgende Auslegung von Römer 7,5-6 zumindest auf den ersten Blick als äußerst gewagt empfinde. Aber wer weiß, ob nicht ein zweiter oder dritter Blick gerade in diesem Wagnis gegenüber einer allzu glatten und vielleicht sogar bequemen christlich üblichen Interpretation eine Menge an Körnchen exegetischer Wahrheit finden mag.
Jankowskis Ausgangspunkt ist ja (J155), dass in seinen Augen „Paulus seine jüdischen Brüder … auf dem Hintergrund der Tradition“ dazu ermutigt, „sich auf messianisches Leben einzulassen“, mit anderem Worten: auf ein Leben in Gemeinschaft mit Nichtjuden, die zum Vertrauen auf den Messias Jesus gekommen sind. Paulus selbst hat sich darauf bereits eingelassen, indem er „dem anderen“ geworden ist, „dem aus den Toten Erweckten“, und blickt nun „[v]on daher … zurück auf das, was vorher für ihn bestimmend war.“ Das stellt zwar einen gewaltigen Bruch mit jüdischer Tradition dar, aber eine Bekehrung vom Judentum zum Christentum ist es nicht.
Womit Paulus hier gebrochen hat, das umschreibt er mit der Wendung „als wir im Fleisch waren“, die nach Jankowski „offenkundig im Gegensatz zu der Wendung im Leib des Messias“ steht, wobei „[b]eide … eine soziale Konnotation“ haben und „je für eine bestimmte Gemeinschaft“ stehen. Um zu erläutern, worauf er damit hinaus will, holt er zunächst zu einer ausführlichen Analyse des Stichworts sarx aus:
Das Wort Fleisch, sarx, wird uns ab jetzt häufig begegnen. Bei Paulus finden wir es insgesamt 72mal, 26mal allein im Römerbrief, davon 11mal allein in Röm 8. Das Wort ist fast typisch für ihn.
Sarx ist zunächst nichts anderes als ein Substanzbegriff, eine Bezeichnung für die Substanz Fleisch. So wird es jedoch in der biblischen Literatur in den wenigsten Fällen verwendet.
Als eine für das Verständnis von sarx sehr wesentliche Stelle kommt Jankowski zunächst auf die Schöpfungserzählung im 2. Buch Mose zu sprechen:
In Gen 2,23-24 begegnet es in der Schrift zum ersten Mal. Schon an dieser Stelle aber wird erkennbar, daß das Wort nicht nur bloße Substanzbezeichnung sein kann. Sie (Mann und Frau) werden zu einem Fleisch, so heißt es da. Das könnte als eine Umschreibung für die sexuelle Vereinigung gesehen werden. Jedoch hat es gerade damit wenig zu tun. Markiert wird die Einheit des Menschen als Mann und Frau. Nur als Mann und Frau ist der Mensch eine Einheit, eben ein Fleisch.
Das Wort „Fleisch“ kann aber auch „verwandtschaftliche Beziehungen“ bezeichnen, z.B. ist nach Römer 4,1 „Abraham Vater der Juden nach dem Fleisch, kata sarka“. Wo wir sagen „blutsmäßig verwandt“, da sagt die Schrift: „Juden sind durch die Generationen dem Fleisch nach verwandt“. In diesem Sinne (J155f.) werden in Römer 9,1 „auch die Juden die Verwandten des Paulus kata sarka“ genannt, wobei (J156) „Fleisch immer die Einheit“ ist, „wie sie in einer Gruppe durch Abstammung und Verwandtschaft gegeben ist.“
Für die besondere Gruppe der Juden kommt außerdem hinzu, dass „mit Abraham … alle seine Nachkommen auch verbunden“ sind
durch die Beschneidung, die am Fleisch geschieht. Und von der Beschneidung heißt es in Gen 17,11: „Mein Bund sei an eurem Fleisch zum Weltzeitbund.“ <182> Von daher kann an manchen Stellen bei Paulus Fleisch auch Synonym für Beschneidung sein. Man kann in diesem Zusammenhang bei Paulus von einer „speziellen jüdischen sarx“ reden. <183> Fleisch steht so auch für die Einheit Israels.
Zugleich aber kann im Judentum „Fleisch auch noch ganz anders gedeutet werden“, und das kommt den Interpretationsmöglichkeiten nahe, auf die Wolter von anderen Quellen her ausschließlich eingegangen ist. Jankowski zitiert dazu den Traktat Soṭa im babylonischen Talmud (bSota 5a), wo Rabbi Jochanan das Wort Fleisch deutet,
indem er die einzelnen Radikale des hebräischen Wortes für Fleisch, bassar, zu Anfangsbuchstaben neuer Worte macht. So hat er b = boschah, Schande, Scham; s = serucha, Gestank, Verwesung (oder Scheˀol, Hölle); r = rimma, Gewürm. Diese Deutung ist äußerst negativ, sie zeigt aber, was Fleisch auch noch konnotiert. Neben der kreatürlichen Existenz, die hier mit Fleisch angedeutet ist, steht Fleisch auch für die Verquickung in Beziehungen, die von Unmenschlichkeit bestimmt sind. Fleisch, das ist der Bereich, der Leben durchaus negativ beeinflußt.
Hier fällt es mir nicht leicht, Jankowskis Gedankengang zu folgen, zumal er auch selber sagt, dass „die Begrifflichkeit zu schillern“ beginnt. In seinen Augen geht es auch bei Rabbi Jochanan „um eine Einheit, eine Einheit freilich, die im Widerspruch zu der speziellen jüdischen Einheit steht, die mit dem speziellen jüdischen Fleisch umschrieben ist.“ Und dann kommt ein Satz, der sich mir nicht ganz erschließt:
Es wäre zu fragen, ob die ganz konkrete Art und Weise, in der Paulus den Ausdruck Fleisch gebraucht, die bestimmende ist und die andere eher spekulativ oder von späterer Interpretation beeinflußt ist. Wir gehen zunächst davon aus, daß Paulus mit Fleisch die ganz spezielle jüdische Einheit in Verwandtschaft und in Beschneidung meint.
Wenn ich ihn richtig verstehe, scheint Jankowski damit sagen zu wollen, dass Paulus sich mit dem Ausdruck hote gar ēmen en tē sarki {denn als wir im Fleisch waren} mit den von ihm angeredeten römischen Juden zusammenschließt und sich mit ihnen auf ihre gemeinsame traditionelle jüdische Identität zurückbesinnt, wobei er das Wort sarx nicht von vornherein so grundsätzlich negativ versteht wie später Rabbi Jochanan. Dafür spricht auch, dass es an drei der fünf Stellen im Römerbrief, wo das Wort sarx zuvor auftaucht (nämlich in 1,3; 2,28; 4,1), ausdrücklich um „die ganz spezielle jüdische Einheit in Verwandtschaft und in Beschneidung“ geht. Aber gerade indem Paulus sich ganz und gar in seinem jüdischen Fleisch verwurzelt weiß, gelangt er zur schmerzlichen Einsicht, dass im Leben der Juden unter den Bedingungen der römischen Weltordnung
die Einheit, in die Menschen hineingeboren werden und in der die Männer das Zeichen der Einheit sichtbar an sich tragen, gestört ist. In ihren Gliedern wirkt nicht das Leben, auf das diese Einheit hin angelegt ist. Und die Thora, die gutes Leben und wahre Einheit gewähren sollte, scheint nichts anderes bewirken zu können als Leidenschaften, die zu Leiden werden können. Aus einer lebenschaffenden Praxis droht eine tödliche zu werden.
Ganz anders als Wolter beharrt Jankowski jedoch darauf, dass daran „nicht die Thora schuld“ ist, sondern die konkreten Bedingungen, unter denen Juden zur Zeit des Paulus vor allem in der Diaspora leben mussten. Es kommt also vielmehr (J156f.)
darauf an, wie die, denen die Thora gegeben wurde, mit ihr umgehen. Natürlich sollte die Thora auch die ganz spezielle jüdische Einheit schützen und garantieren. Sie wurde benutzt zum Zaun um Israel herum, der Israel von allen Fremden und allem Fremden trennte. Aber die Fremden waren da. Vor allem in der Diaspora waren sie bedrängend nah. Entweder gab es da nur totale Isolation oder aber Assimilation, was gleichbedeutend mit Übertretung der Thora war. Je dichter der Zaun der Thora durch aktuelle Bestimmungen gemacht wurde, desto schwieriger wurde das alltägliche Leben. In der Diaspora als Jude zu leben und die strengen Bestimmungen der Thora für den Verkehr mit der nichtjüdischen Umwelt einzuhalten, das wurde fast unmöglich. Entweder wurde die Thora ständig übertreten, oder man war völlig isoliert. Und dennoch wurde versucht, auch in der Diaspora mit allem Ernst nach der Thora zu leben. Dafür gibt es genügend Zeugnisse. Da war denn nicht nur leidenschaftliches Eintreten für die Thora im Spiel, da gab es genügend Leiden an und mit der Thora. Und die zeigte, daß im Grunde alles falsch war, was immer auch unternommen wurde. Die fleischliche Einheit, bestimmt zum Leben, war von Verfehlung, von Sünde, bestimmt. Wie war da herauszukommen?
Nach Jankowski (J157) antwortet Paulus auf diese Frage mit der Aufforderung, „einem anderen [zu] werden, dem aus den Toten Auferweckten.“ Wer dem Messias wird, der „wird nicht untreu“, denn er ist für die Tora ein Lediger geworden, so „wie eine Witwe von der Thora des Mannes geledigt ist.“
Ich halte es für denkbar, dass Paulus tatsächlich so eine uns Christen schwer nachvollziehbare und spitzfindig erscheinende rabbinische Argumentation verwendet hat, um seine Mitjuden davon zu überzeugen, dass an „diesem ganz bestimmten Punkt“ der Gemeinschaft mit Gojim, die auf den Messias vertrauen, „die Thora nicht“ greift. Nur für eine Tora, die auf der Trennung von Menschen besteht, die der Messias für gerecht und wahr erklärt hat, sind die Menschen gestorben, die sich im Leib des Messias als einer Gemeinde aus Juden und Völkern versammeln:
Das ist natürlich eine neue Interpretation der Thora. Es ist eine inspirierte und inspirierende Interpretation, die sich auch nicht an die Logik des Geschriebenen hält. Eins aber ist diese Interpretation ganz gewiß nicht: die endgültige Verabschiedung der Thora. Wohl ist immer wieder zu interpretieren, was in alten Buchstaben geschrieben ist, damit es nicht antiquiert wird. Aber was interpretiert wird, ist dann auch in der Praxis neu zu beleben.
Nach Jankowski muss an der Stelle, wo „es freilich um die Praxis geht, … die Thora wieder ins Spiel“ kommen, denn „praktisches Tun ist auch für Paulus nicht ohne Bindung denkbar.“ Und deshalb wird sich der Apostel in den folgenden Versen noch eingehender mit der Tora beschäftigen und die Frage stellen: „Wie aber sieht diese Bindung aus?“
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 7,1-6
7,1 Oder wisst ihr nicht, Geschwister,
– ich rede doch zu Kennern der Tora –,
dass die Tora Herr des Menschen ist,
für die Zeit, die er lebt?
7,2 Denn die einem Mann unterstehende Frau
ist an den lebenden Mann gebunden durch Tora,
wenn aber der Mann stirbt,
ist sie ledig geworden von der Tora des Mannes.
7,3 Also nun: Solange der Mann lebt,
wird sie als Ehebrecherin behandelt,
wenn sie einem anderen Mann zu eigen wird.
Wenn aber der Mann stirbt,
ist sie frei von der Tora,
so dass sie keine Ehebrecherin ist,
wenn sie einem anderen Mann zu eigen wird.
7,4 Ebenso, meine Geschwister,
seid auch ihr getötet worden der Tora
durch den Leib des Messias,
so dass ihr einem anderen zu eigen werdet,
dem aus Toten Erweckten,
damit wir Gott Frucht bringen.
7,5 Denn als wir im Fleisch waren,
da war die Leidensverstrickung der Verfehlungen,
geweckt durch die Tora,
in unseren Gliedern wirksam,
um dem Tod Frucht zu bringen.
7,6 Jetzt aber sind wir ledig geworden von der Tora,
gestorben ihr, in der wir niedergehalten wurden,
so dass wir dienstbar sind in der Neuheit der Inspiration
und nicht in der Altbewährtheit des Geschriebenen.
↑ Der Blick eines idealtypischen oder persönlich-paulinischen jüdischen „Ich“ auf eine durch Verfehlung instrumentalisierte Tora (Römer 7,7-25)
[17. April 2025] Dass Michael Wolter zur Auslegung von Römer 7,7-25 (W433-425) auf insgesamt zwei Seiten an zusätzlichen Literaturangaben verweist, lässt erkennen, welche Herausforderungen sich den Exegeten in diesem Abschnitt stellen. Zugleich möchte ich verwundert vorausschicken, dass ausgerechnet hier die von mir betrachteten beiden Auslegungen von Wolter und Jankowski in ihren Ergebnissen weniger stark voneinander abweichen als andernorts. Jedenfalls beschäftigt sich Paulus hier beiden zufolge fast aussschließlich mit der jüdischen Tora. Allerdings ist das Ich, das sich hier zu Wort meldet, nach Wolter letzten Endes (W466) als ein „idealtypisches jüdisches Ich zu identifizieren“, während Paulus nach Jankowski (J160) sehr persönlich aus dem Blickwinkel eines Ich spricht, „das sich im Wir Israels geborgen weiß. Marquardt nennt es das kollektive jüdische Ich.“
Den gesamten Abschnitt 7,7-25 betrachtet Wolter (W424) unter der Überschrift „Ein Rückblick: Die Sünde, das Gesetz und ‚Ich‘“ als (W425) „die Entfaltung von 7,5, wo Paulus auf das Einst der vorchristlichen Existenz der inzwischen vom Gesetz Befreiten zurückgeblickt hatte.“ Innerhalb dieses Abschnitts beziehen sich nach Wolter die Verse 7-12 (W427) auf „Das Gesetz und die Sünde“ und die Verse 13-25 (W440) auf „Das Ich unter der Herrschaft der Sünde“. Die Abgrenzung dieser Unterabschnitte erscheint mir zwar nicht ganz schlüssig (W425), denn auch ihm zufolge sind nicht nur die Verse 7d-11 „durch erzählende Vergangenheitstempora bestimmt“, sondern auch der Vers 13, und erst ab Vers 14 „ist die Darstellung … durch das beschreibende Präsens gekennzeichnet.“ Jedoch lässt Wolter den zweiten Unterabschnitt mit Vers 13 beginnen, da er Vers 12 als ein „Fazit aus dem in V. 7d-11 Gesagten“ betrachtet und Vers 13 „dem Beginn des ersten Hauptteils in V. 7b-d formal ganz parallel gestaltet“ ist, indem „eine rhetorische Frage, die eine falsche Schlussfolgerung formuliert, … durch mē genoito {natürlich nicht}“ zurückgewiesen wird:
In beiden Abschnitten setzt Paulus sich mit möglichen Missverständnissen auseinander, die das jeweils zuvor Gesagte hervorrufen könnte: ln V. 7-12 weist er den Eindruck zurück, der sich aus der Konvergenz von Sündendiskurs (6,1-23) und Gesetzesdiskurs (7,1-6) ergeben könnte, dass nämlich Sünde und Gesetz ununterscheidbar werden. Demgegenüber will er mit V. 13-25 dem Missverständnis wehren, er habe mit V. 9-11 behauptet, dass ausgerechnet das lebensfördernde Gesetz („das Gute“; V. 13a) Ursache für das menschliche Unheil (den „Tod“; ebd.) geworden ist.
Beide Unterabschnitte (W426) sind nicht nur thematisch durch den „Leitfaden“ des Verhältnisses „von Sünde und Gesetz“ miteinander verbunden, sondern auch durch den „Gebrauch der 1. Person Singular“, der von den Exegeten außerordentlich unterschiedlich interpretiert wird. Zunächst teilt Wolter die Vielzahl der entsprechenden Vorschläge „stark vereinfachend in zwei Gruppen ein“:
(1) Das Ich sei autobiographisch gemeint; Paulus spreche nur von sich selbst und beschreibe mit ihm seine eigene Vergangenheit vor der Bekehrung. (2) Das Ich sei „uneigentlich“ oder „rhetorisch“ oder „fiktiv“ oder „repräsentativ“ oder „idealtypisch“ zu verstehen; es stehe nicht lediglich für den einen Menschen Paulus, sondern für eine Vielzahl von Menschen, die sich alle in der hier beschriebenen Situation befinden.
Aber auf welche Menschen bezieht Paulus dieses Ich? Auch das „wird sehr unterschiedlich beurteilt: (a) die gesamte nichtchristliche Menschheit (als ‚adamitisches Ich‘), (b) Israel (als ‚jüdisches lch‘) oder (c) die Christen (als ‚christliches Ich‘)“. Manche Exegeten verbinden auch „zwei oder mehr Identifikationen miteinander“. Da Wolter selbst (W427) zur Beantwortung dieser Fragen nicht von vornherein „die Perspektive der allwissenden Exegeten, die den gesamten Text kennen“, einnehmen, sondern „der paulinischen Schreibrichtung und der intendierten Lese- und Hörrichtung“ folgen will, beantwortet er die „Frage nach der Identität des Ich“ erst, nachdem er den Text interpretiert hat. In der Zusammenfassung seiner Auslegung (W465) hält er den „Vorschlag, dass Paulus durch das Ich einen Christenmenschen sprechen lässt“, für am unwahrscheinlichsten, denn erstens blickt er
auf die Vergangenheit der vorchristlichen Existenz zurück… und zum anderen macht die in 7,14 formulierte Feststellung („ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde“) nach dem in 6,2-11 Gesagten einen Bezug des Ich auf die gegenwärtige christliche Existenz unmöglich. Darüber hinaus gibt es auch keinerlei Indiz dafür, dass Paulus mit dem Ich autobiographische Erinnerung zugänglich machen und von seiner eigenen vorchristlichen Existenz sprechen will, die durch seine Bekehrung beendet wurde. Nach Ausschluss dieser beiden Interpretationen bleibt dann nur übrig, das Ich im Rahmen der oben skizzierten Typologie so zu verstehen, dass es aus christlicher Perspektive eine vor- und außerchristliche Existenzweise beschreibt, wie sie – zunächst ganz allgemein formuliert – für eine Vielzahl von Menschen charakteristisch ist.
Indem Paulus (W466) aber in diesem gesamten Abschnitt außer in „V. 21 (‚Prinzip‘), V. 23a („ein anderes Gesetz“) sowie V. 23c.25b (jeweils „Gesetz der Sünde)“ mit nomos immer „das Gesetz, die Tora vom Sinai“ meint und somit „aufs Ganze gesehen … eine Apologie {Verteidigung} der Tora“ vorbringen will, die „von der Sünde lediglich instrumentalisiert wird“, ist letzten Endes das hier von Paulus verwendete
Ich als idealtypisches jüdisches Ich zu identifizieren, das der Rechtsforderung der Tora begegnet und sie erfüllen will. Nur von ihm kann Paulus sagen, dass es „sich am Gesetz Gottes erfreut“ (V. 22) und dass es „mit der Vernunft dem Gesetz Gottes dient“ (V. 25b). Umgekehrt stehen Versuche, in das Ich auch die nichtjüdische Menschheit einzubeziehen, vor der Schwierigkeit, auch ihr ein solches Verhältnis zur Tora zuschreiben zu müssen.
Dennoch meint Wolter feststellen zu können (W467), dass es Paulus auch hier darum geht,
den Unterschied zwischen jüdischer und nichtjüdischer Menschheit einzuebnen, und zwar gerade insofern dieser Unterschied durch die Tora markiert wird: Wenn Paulus in V. 11 die Begegnung des jüdischen Menschen mit der Tora in das Licht der Adamgeschichte stellt, so erzählt er damit nicht eine andere Geschichte, sondern er deutet die Begegnung mit der Rechtsforderung der Tora als Reprise der Geschichte Adams und Evas, wie sie ab Gen 2,16 erzählt wird.
Diese Deutung läuft nach Wolter darauf hinaus, „dass jedes jüdische Ich immer auch ein adamitisches Ich ist“. Da sich Paulus in Vers 14 mit der Fleischlichkeit und dem Verkauftsein unter die Sünde „Eigenschaften zuschreibt, die alle Menschen miteinander gemeinsam haben“, kann sich auch „das jüdische Bestreben, die Tora zu erfüllen, … nicht der Bestimmtheit durch die Sünde entziehen, der seit Adam alle Menschen unterliegen.“
Abschließend hebt Wolter zu Römer 7,7-25 hervor, dass das Ich „von V. 7 bis V. 25 ein und dasselbe“ bleibt und dass „in der Abfolge von V. 7-12 und V. 13-25 nicht ein Nacheinander beschrieben wird“. Vielmehr beschreibt Paulus „in V. 13-25 die Prinzipien …, nach denen das in V. 7-11 erzählte Geschehen abläuft, das zum Unheilstod des Ich führt.“
[18. April 2025] Für Gerhard Jankowski steht es von vornherein außer Frage, womit sich Paulus in den beiden von ihm mit (J157) „Die Thora und das Gebot 7,7-13“ und (J165) „Vom Tun der Thora 7,14-25“ überschriebenen Abschnitten beschäftigt (J158):
Um die Thora also wird es jetzt gehen, um die Thora, die mit zur ldentität eines Juden gehört, um die Thora, die jüdisches Leben prägt, bestimmt und gestaltet. Niemals ist die Thora gleichzusetzen mit Sünde. Auch für Paulus nicht. Aber von der Thora hatte er eher nur am Rande geredet. Viel aber von der Eingliederung der Gojim in Israel, was den Bestimmungen der Thora, wie sie gelehrt wurden, widersprach. War für ihn also die Thora nun doch, wenn nicht eine störende, so doch eine zu vernachlässigende Größe? Das sollte man ihm nun nicht unterstellen. Schließlich gehörte er ja auch zu denen, die Thora kennen. Und als einen solchen Kenner der Thora werden wir ihn nun hören. Er wird sehr persönlich reden. Da ist kein „wir“ mehr, kein „ihr“. Da ist über eine lange Strecke nur noch „ich“.
Auf den ersten Blick scheint Jankowski das hier von Paulus verwendete Ich also autobiographisch zu verstehen. Den Versuchen der Exegeten, hinter diesem Ich „den Menschen schlechthin“ zu vermuten und aus ihm „ein ‚transsubjektives Ich‘“ zu konstruieren, begegnet er insofern mit Skepsis, als oft genug der Schluss gezogen wird, Paulus gehe beispielhaft „dem Problem des Menschen unter dem Gesetz nach, wobei Gesetz alles andere, aber eben nicht die Thora ist.“ <184> Keinesfalls darf man Römer 7 „aus dem gesamten Textgefüge“ lösen und (J158f.) „zu einem Steinbruch für das“ machen, „was dann paulinische Theologie genannt wird, im wesentlichen aber auf eine spät-lutherische Rechtfertigungslehre zurückgeht.“ Als ersten Gewährsmann für eine angemessene Auslegung dieses Römerbriefkapitels nennt er Kleijs Kroon (J159):
Zumindest in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurde der Ansatz des niederländischen Theologen K. Kroon, der nachdrücklich darauf bestand, Röm 7 nur im Kontext des gesamten Schreibens zu lesen. Für Kroon ist das Ich aus Röm 7 ein sehr persönliches und auch „biographisches“ Ich. Röm 7 zeigt für Kroon das Ringen eines thoratreuen Juden mit der Thora. Dieser Ansatz, wie das meiste bei Kroon leider nicht schriftlich fixiert, richtet sich auch gegen die gängige Praxis, Paulus von der lutherischen Rechtfertigungslehre her auszulegen.
Indem Jankowski sich dann allerdings auch an Friedrich-Wilhelm Marquardt <185> anlehnt, gelangt er doch zu Aussagen, die denen von Wolter nahe kommen, indem im Hintergrund persönlicher und autobiographisch gefärbter Ich-Aussagen des Paulus das „das ‚konkrete transsubjektive, nämlich kollektive jüdische Ich‘“ zum Vorschein kommt. So fordert Marquardt,
den Text primär jüdisch auszulegen, weil er eine „radikale Strukturanalyse des grundsätzlichen Verhältnisses von Erwählung und Normalität, Gnade und Natur im Zusammentreffen von Tora und jüdischem ‚Fleisch‘, jüdischer Volksexistenz“ bietet.
Schon Römer 7,1 hatte nach Jankowski ja belegt, dass sich Paulus in diesem Kapitel „ausdrücklich an Brüder“ wendet, „die Thorakenner sind“, worin er „ein eindeutiges Zeichen dafür“ erblickt,
daß dieses Kapitel nicht losgelöst vom Kontext des ersten Teils des gesamten Briefes gehört werden darf. In diesem Teil redet Paulus als Anwalt der Nichtjuden zu seinen jüdischen Mitbrüdern. Ihnen will er erklären, warum die Nichtjuden zu Israel gehören. Weil dagegen aber nach orthodoxer Sicht die Thora und die gesamte Tradition sprechen, muß Paulus nicht nur am Rande von seiner Sicht der Thora reden.
Die Art und Weise, in der Paulus das macht, charakterisiert Jankowski als sehr persönlich:
Er erzählt von seinem Umgang mit der Thora und davon, wie die Thora mit ihm umgegangen ist und umgeht. Dabei stützt er sich nicht auf seine Lehrer, auch nicht auf die Tradition, aus der er kommt. Er allein ist verantwortlich für das, was er sagt. Hier ist er auch nicht der Lehrer, der anderen eine neue Sicht der Thora vermitteln will. Viel eher wird er als der erkennbar, der von den Erfahrungen spricht, die er mit der Thora gemacht hat.
Zugleich erwägt Jankowski mit sehr bestimmten Worten und doch zugleich in der vorsichtigen Form der Frage, ob Paulus nicht auch und gerade hier „als Anwalt der Nichtjuden“ redet und „sich zu ihrem Sprecher“ macht, denn diese hatten ja
in den messianischen Gemeinden Thora erst richtig von ihren jüdischen Brüdern und Schwestern kennengelernt. Und die hatten die Erfahrung gemacht, wie exklusiv und wie trennend die Thora sein kann. Ist ihm da auf der Seite der Nichtjuden, indem er sich ganz und gar mit ihnen identifizierte, aufgegangen, was die Thora bewirken kann? Für ihn waren die Forderungen der Thora selbstverständlich. Wie ist das aber bei den Nichtjuden erfahren worden? Kann er jetzt erst nachvollziehen, was im Namen der Thora über die Gojim gesagt wurde und vielleicht auch gesagt werden mußte? Wie wir gesehen haben, hatte sich Paulus schon wiederholt auf die Seite der Nichtjuden gestellt, um seine jüdischen Brüder zu ermutigen, es ihm gleichzutun. Geht er hier denselben Weg?
Von der Solidarität mit den Gojim her kann Jankowski die kritische Haltung des Paulus gegenüber der Tora nachvollziehen und zugleich begreifen, warum er ihre fortwährende Geltung nicht grundsätzlich in Frage stellt. Es scheint ihm plausibel (J160),
daß je intensiver seine Identifizierung und Solidarität mit den Gojim desto problematischer seine Sicht auf die Thora wird – was ihn fast verzweifeln läßt. Was in den ersten Kapiteln des Briefes sich andeutete, wird jetzt auf den Punkt gebracht. Es ist nicht die Frage, ob die Thora in der messianischen Gemeinde noch Gültigkeit haben soll. Es ist aber die Frage, ob Thora unter den gegebenen Umständen überhaupt noch einen Sinn macht. Anders gesagt: Es scheint nicht mehr möglich zu sein, mit der Thora die Welt zu gestalten, damit ein erträgliches Leben möglich wird. Diese Erfahrung muß für einen Thorakenner wie Paulus erst recht unerträglich gewesen sein.
Was Paulus hier dennoch „in schonungsloser Offenheit“ darlegt, „macht ihn höchst angreifbar und ist zugleich Grundlage für Mißverständnisse“. Jankowski meint, dass Paulus vielleicht „in dieser Offenheit die Möglichkeit sah, bei anderen Thorakennern auf Verständnis zu stoßen, weil sie die gleichen Erfahrungen gemacht hatten.“ An dieser Stelle zieht Jankowski dann doch wie Marquardt in Betracht, dass der sehr persönliche Blick, den Paulus auf die Tora richtet, Anteil hat an einer überindividuellen jüdischen Identität:
So sagt er zwar sehr betont ich – und meint gleichzeitig doch wir. Denn fast überall in der Schrift, wo sich ein Ich artikuliert, impliziert es ein Wir. Es ist das Ich, das sich im Wir Israels geborgen weiß. Marquardt nennt es das kollektive jüdische Ich. Manches in Röm 7 erinnert an die Psalmen, in denen solch ein kollektives Ich laut wird. Dieses Ich eines Juden, der ganz solidarisch mit den Gojim ist, gilt es zu beachten.
↑ Römer 7,7: Tora ist nicht Verfehlung, aber Verfehlung und Begehren kannte ich nur durch die Tora
7,7 Was wollen wir hierzu sagen?
Ist das Gesetz Sünde?
Das sei ferne!
Aber die Sünde erkannte ich nicht außer durchs Gesetz.
Denn ich wüsste nichts von der Begierde,
wenn das Gesetz nicht gesagt hätte:
„Du sollst nicht begehren!“
[19. April 2025] In seiner Analyse der von ihm als zusammenhängend aufgefassten Verse Römer 7,7-12 sind nach Michael Wolter (W427f.)
Anfang und Ende des Abschnitts … aufeinander bezogen: Paulus beginnt mit der rhetorischen Frage „lst das Gesetz Sünde?“ (V. 7b), die er sogleich verneint (V. 7c), und er endet mit der gegenteiligen Feststellung: „Gesetz“ und „Gebot“ sind „heilig“ bzw. „heilig und gerecht und gut“ (V. 12).
Dazwischen geht es (W328) in den Versen 7d-8b um „das Verhältnis von Gesetz und Sünde, das er mit Hilfe des Begierde-Verbots veranschaulicht“, und in den Versen 8c-11 wird mit Hilfe „der Wortfelder ‚Tod‘ … und ‚Leben‘“ beschrieben, was „der Begegnung des Ich mit dem Gesetz vorausliegt“ und wie die „Begegnung des Ich mit der Tora“ dazu führt, dass die „ursprünglich ‚tote‘ Sünde durch das Gebot ‚lebendig‘“ wird, „während das ursprünglich lebendige Ich stirbt.“
In Vers 7 stellt Paulus einmal mehr rhetorische Fragen. Sie dienen der Versicherung, „dass er mit dem Vorstehenden selbstverständlich nicht behaupten will, dass das Gesetz ‚Sünde‘ ist.“ Dabei besteht der Fragesatz lediglich aus ho nomos {das Gesetz} als einem „Subjekt bzw. Gegenstandsbegriff“ und hamartia {Sünde} als einem „Prädikatsnomen bzw. Bestimmungsbegriff“, womit „Gesetz und Sünde“ aber nicht einfach gleichgesetzt würden, vielmehr konstruiert „Paulus das Missverständnis so …, dass es die Tora als empirische Gestalt von Sünde versteht“. Vom Satzbau her entspricht ho nomos hamartia ganz genau „der Feststellung von Ps 118/119,142b (ho nomos sou alētheia [thorathɘkha ˀemeth] {wörtlich: deine Tora Wahrheit/Treue})“, so dass „der Satz wie eine Antithese“ zur Aussage des Psalms wirkt. Da Paulus (Anm. 15) in Römer 2,20c die Tora als morphōsis tēs gnōseōs kai tēs alētheias {Verkörperung der Erkenntnis und der Wahrheit} bezeichnet hatte, könnte er hier auch „das Missverständnis“ zurückweisen, „er verstehe die Tora als morphōsis {Verkörperung} der Sünde“. Im Blick darauf, dass Paulus in den folgenden Versen neben dem Begriff nomos {Gesetz, Tora} auch den Begriff entolē {Gebot, Mizwa} verwendet, ist interessant, dass Wolter (Anm. 16) als weitere Antithesen zu ho nomos hamartia? {Ist die Tora Verfehlung} auch auf Psalm 118,86.151LXX verweist, wo es heißt: pasai hai entolai sou alētheia {alle deine Gebote/Mizwoth sind Wahrheit/Treue}.
Mit dem Wort alla {sondern} (Anm. 17) schränkt Paulus die von ihm zurückgewiesene Behauptung „nicht lediglich ein“, indem er sagen wollte: „‚das Gesetz ist nicht Sünde, auch wenn gilt, dass …‘)“ <186>, vielmehr drückt er Wolter zufolge einen Gegensatz aus: „‚Das Gesetz ist nicht Sünde, sondern es verhält sich so: …‘.“ Der vom Satzbau her genau parallele Aufbau der beiden folgenden Verse 7d und 7e-f (Anm. 18) ließ sich nach Wolter in „der Übersetzung … leider nicht exakt abbilden“ (W427):
d … die Sünde {tēn hamartian}
d hätte ich nicht kennengelernt {ouk egnōn},
d wenn nicht durch das Gesetz {ei mē dia nomou}.
e Denn von der Begierde {tēn te gar epithymian}
e hätte ich nicht gewusst {ouk ēdein},
f wenn das Gesetz nicht gesagt hätte {ei mē ho nomos elegen}:
f ‚Du sollst nicht begehren‘ {ouk epithymēseis}.
Zu diesem Satzbau verweist Wolter auf zahlreiche Parallelen in der Septuaginta und im Neuen Testament (Anm. 19): „Ri 7,14 א B; 2Kön 6,22; 2Esr 12,2; Pred 3,22; Mt 12,24; 14,17; 15,24; Mk 2,26; 5,37; 6,4.5; Lk 11,29parr.; Joh 6,22; 10,10; 13,10; 19,11.15; Röm 13,1; 1Kor 2,2; 10,13; 2Kor 12,5; Gal 1,7.19.“ In ihnen wird (W429) durch die Worte ou[k] … ei mē {nicht … wenn nicht} „mit einem doppelt verneinten Irrealis“ eine „Exklusivität im Sinne von ‚nichts anderes als‘ oder ‚ausschließlich‘ zum Ausdruck gebracht“. So will auch hier das „Ich … nichts anderes sagen, als dass es die Sünde einzig und allein durch das Gesetz kennengelernt hat und dass es von der Begierde nur weiß, weil das Gesetz ihm das Begehren untersagt hat.“
Zum Unterschied der beiden sinnverwandten „Verben gignōskō und oida {erkennen und wissen}“ stellt Wolter fest, dass der „Aorist egnōn {ich hätte nicht kennengelernt} (V. 7d) … ingressive Bedeutung“ hat, mit dem ein Beginn bezeichnet wird, „während das Plusquamperfekt ēdein {ich hätte nicht gewusst} (V. 7e) resultativ zu verstehen ist und einen vergangenen Zustand bezeichnet.“ Da es aber (Anm. 21) zum Verb oida {wissen} gar „keinen Aorist gibt“, will Wolter daraus keine „[a]llzu weitgehende Folgerungen“ ableiten.
Die nächste Erwägung, die Wolter anstellt, ist nur verständlich, wenn man bedenkt, dass Martin Luther auf den Apostel Paulus zwei verschiedene Wege im Gebrauch des Gesetzes zurückgeführt hat, nämlich als ersten den usus civilis oder politicus, der dazu dient, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, und als zweiten den usus elenchticus, spiritualis oder theologicus, der die Sünde in den Herzen der Menschen aufdeckt. So bezeichnen die genannten Verben des Erkennens und Wissens
nicht lediglich einen kognitiven Vorgang im Sinne des usus elenchticus legis {überführender Gebrauch des Gesetzes}, wonach das Ich erst durch das Gesetz erfährt, dass sein Handeln Sünde bzw. Begierde ist. Dem widerspricht schon die Fortsetzung in V. 8b, wo Paulus das Ich sagen lässt, dass die Sünde durch das Gebot jegliche Begierde in ihm „bewirkt“ habe (kateirgasato). Durch das Gesetz wird die Sünde vielmehr in die Lage versetzt, das Ich sündigen zu lassen. Das Gesetz ist also weder die Ursache der Sünde, noch bewirkt es die Sünde, sondern es wird von der Sünde instrumentalisiert.
Ergänzend argumentiert Wolter (Anm. 23), dass es in 2. Korinther 5,21 „von Christus heißt, er sei ein mē gnous hamartian {einer, der von keiner Sünde wusste} gewesen“, woraus zu folgern ist, dass „hamartian gignōskein {die Sünde kennen} nicht einfach die kognitive Erkenntnis der Sünde als Sünde meinen kann“, sondern zugleich auf das Tun der Sünde bezogen ist.
Wie stellt sich Paulus aber nun die Beziehung zwischen dem Gesetz und der Sünde vor? Indem er (W429) in Vers 7d deutlich macht, „dass das Gesetz ursprünglich von außen gekommen ist und nichts mit der Sünde zu tun gehabt hat“, war „die Sünde zwar irgendwie ‚da‘“ (wobei er „über ihr ‚Wo?‘ und ‚Wie?‘ … hier nichts“ sagt), „jedoch so lange wirkungslos geblieben …, bevor nicht das Gesetz hinzukam.“ In Vers 7e-f (W430) begründet Paulus dann, auf welche Weise „das Gesetz die Sünde erkennbar werden lässt“, indem nämlich
das Gesetz ihr eine anthropologische Gestalt oder eine individuelle Bestimmtheit gibt, als welche das Ich sie, die Sünde, in sich entdeckt. Das Ich kann die Sünde nur darum erkennen, weil es in sich genau das vorfindet, was das Gesetz verbietet: die Begierde (epithymia).
In diesem Zusammenhang strickt Wolter (Anm. 24) den oben „ausgesprochenen Gedanken weiter“, dass nicht etwa „das Gesetz, sondern die Begierde als morphōsis {Verkörperung} der Sünde zu identifizieren“ sein mag.
Auf jeden Fall hat nach Wolter (W430) die
Begegnung des Ich mit dem Gesetz … also eine zweifache Folge: Zum einen macht das Gesetz das Ich erkenntnisfähig, indem es ihm diejenigen Kategorien zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe das Ich die Sünde in sich entdecken kann; zum anderen macht es die Sünde handlungsfähig, weil sie nun das bewirken kann, was das Gesetz verbietet.
Diesen Vorgang erläutert Paulus „unter Rückgriff auf das Gebot ouk epithymēseis {Du sollst nicht begehren} …, das er im Dekalog vorgefunden hat“, was nach Wolter „[a]lles andere als ein Zufall ist“. Zwar wird im „Dekaloggebot Ex 20,17; Dtn 5,21“ ursprünglich nicht das „Begehren … als solches verboten“, sondern „vielmehr ein Begehren, dass sich auf das richtet, was dem Nächsten gehört“, aber zweifellos will Paulus „in Röm 7,7f aus dem Dekalog zitieren“. Er ist auch nicht der erste, der „von der Tora“ sagt, „dass sie ganz allgemein das Begehren verbietet“, wenn man z.B. an 4. Makkabäer 2,6 denkt, wo es heißt: ‚mē epithymein eirēken hēmas ho nomos [„das Gesetz hat gesagt, dass wir nicht begehren‘]“. Nach Wolter wählt Paulus
mit diesem Gebot nicht lediglich ein beliebiges Beispiel für den Charakter der Tora aus, das auch durch jedes andere Gebot ersetzt werden könnte. Er nennt vielmehr gerade dieses Gebot, weil er durch es das Verhältnis der Tora zur Sünde insgesamt repräsentiert sieht. Insofern kann man vielleicht in der Tat sagen, dass dieses Gebot so etwas wie „die Quintessenz der Tora vom Sinai“ wiedergibt. <187> Diese Wahrnehmung dürfte ihren maßgeblichen Grund wiederum darin haben, dass diese Art und Weise der paulinischen Darstellung mit keinem anderen Gebot des Dekalogs funktionieren würde <188>: Jedes andere Gebot kann der Mensch befolgen, wenn er sich anstrengt. Allein dem ouk epithymēseis vermag er nicht zu gehorchen, sondern er macht immer wieder die Erfahrung, dass er gegen die in ihm wohnende Begierde nicht ankommt.
Nach Wolter (W431) steht im Hintergrund „ein Verständnis von ‚Begierde‘ (epithymia), wie es in der hellenistisch-jüdischen Umwelt des frühen Christentums mehrfach belegt ist“, dem zufolge „die epithymia nicht lediglich als ein Affekt neben anderen“ gilt, „sondern als die Ursünde schlechthin, gewissermaßen als die ‚Mutter aller Sünden‘, aus der alle anderen Sünden abgeleitet werden können.“ <189>
Eindeutig ist nach Wolter die Frage zu beantworten, „für wen das Ich in V. 7 steht“. Man kann es nur „mit jedem Juden identifizieren, der den Rechtsforderungen der Tora begegnet… – den Juden Paulus natürlich eingeschlossen.“ Auch geht nach Wolter (W432) „aus dem Text nicht hervor“, dass „Paulus sich selbst von ihm ausnimmt“ oder
diese Identität des Ich im weiteren Verlauf seiner Darstellung widerruft. Analog spricht er in V. 9.10b.11a.12.13f.14a.16b.22 von keinem anderen Gesetz als von der Tora und ihren Weisungen. Das Ich bleibt bis zum Schluss von Röm 7 das Ich, das mit der Rechtsforderung der Tora konfrontiert wird. Wie sehr hier ausschließlich das Thema des jüdischen Umgangs mit der Tora im Vordergrund steht, kann man auch daran erkennen, dass die Frage nach der Entstehung der epithymia in den Nichtjuden vollständig ausgeblendet bleibt.
Es ist Wolter hoch anzurechnen, dass er anders als manch anderer Exeget daran festhält, dass Paulus hier als Jude von der jüdischen Tora redet. Zugleich bleibt diese Einsicht aber unkonkret in einem geistigen Raum hängen, innerhalb dessen letzten Endes unerklärbar bleiben muss, warum sich ein Jude wie Paulus in solcher Schärfe mit einer Tora auseinandersetzt, die er doch zugleich für den Inbegriff des Guten hält.
Sehr konkret dagegen geht Gerhard Jankowski (J160) an die Fragen heran, die sich für Paulus im Blick auf die jüdische Tora in existentieller Dringlichkeit stellen, da er als der zu den Gojim gesandte Apostel für eine enge Lebensgemeinschaft von Juden und Nichtjuden in der messianischen Gemeinde eintritt:
Wie funktioniert Thora, was soll sie bewirken, was bewirkt sie tatsächlich? Diese Fragen sind zu klären. Der Klärungsbedarf entstand, nachdem Paulus erklärt hatte, daß Juden mit Gojim zusammenleben können, ohne mit der Thora in Konflikt zu kommen. Das mag so klingen, als würde an diesem so zentralen Punkt die Thora ausgehebelt. Wo aber Thora so ausgehebelt wird, da sind Tor und Tür für alle Absonderlichkeiten weit geöffnet. Thora wird mißbraucht, wird zur Sünde.
Einem solchen Urteil widerspricht Paulus entschieden mit dem Worten „Natürlich nicht.“ Erstaunlicherweise geht Jankowski nun davon aus, dass Paulus zur Begründung dieser Behauptung zwar definitiv von der jüdischen Tora redet, aber nicht allein den jüdischen Umgang mit der Tora thematisiert. Vielmehr richtet er als Jude von der jüdischen Tora her seinen Blick auch auf die Nichtjuden. Welchem Zweck sollte denn die Tora dienen, die Gott seinem Volk gegeben hatte?
Thora ist gegeben worden, um menschliches Zusammenleben zu ermöglichen. Zwar hat nur Israel diese Gabe angenommen, und die anderen Völker haben das nicht getan, aber der Anspruch der Thora gegenüber der Welt der anderen Völker bleibt erhalten. Nur mit der Thora kann Leben der Menschheit befreiend gestaltet werden, und letztendlich müßten alle anderen Völker, also die nichtjüdische Welt, die Thora annehmen, damit die Menschheit unter gerechten und nicht barbarischen Bedingungen leben kann.
Als nächstes fragt Jankowski: „Was geschieht, wenn sie Thora annehmen?“ Mit der Annahme, dass Paulus sich damit auf die nichtjüdischen Völker bezieht, verträgt sich aber nicht, dass Paulus hier als Jude durchgehend „ich“ sagt. Dass die Tora als Gottes Wegweisung von Befreiung, Recht und Frieden im hier skizzierten Sinn grundsätzlich auch für die Völker gilt, mag für Paulus selbstverständlich sein, aber die Frage ist, ob Paulus sich an dieser Stelle nicht doch auf Erkenntnisse konzentriert, die zunächst einmal jeder Jude gewinnen kann und auf die sich Paulus in der Ich-Form bezieht. Was genau zu erkennen ist, das
formuliert Paulus in einer Art Parallelismus membrorum (7,7):
Die Sünde kannte ich nicht,
wenn nicht durch die Thora.
Denn von dem Begehren wußte ich nicht,
wenn nicht die Thora sagte:
Begehre nicht!
Was hier geschieht (J161), nennt Jankowski „einen Aufklärungsprozeß“, den die Tora einleitet:
Sie klärt darüber auf, was Sünde ist. Da Sünde nie abstrakt ist, macht Thora sie konkret, indem sie die Anweisung gibt, nicht zu begehren. Das ist zwar auch ziemlich abstrakt, jedoch nicht für die, die Thora kennen. Die Anweisung, nicht zu begehren, ist dem letzten der Zehn Worte entnommen. Es lautet (Ex 20,17):
Begehre nicht
das Haus deines Genossen,
begehre nicht die Frau deines Genossen,
seinen Sklaven, seine Magd, seinen Ochsen, seinen Esel,
noch allirgend was deines Genossen ist.Dieses Wort ist dem Teil der Zehn Worte entnommen, der die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch regelt. Die Worte fünf bis neun regeln die Unantastbarkeit des Lebens und die Gewähr für den lebensgerechten Bestand der persönlichen Existenz. Das zehnte Wort hat dann nicht die konkreten Taten im Blick, sondern eben das Begehren, das Verlangen, gleichsam die Gedanken, die Ausgangspunkt für die Taten sind. lnsofern ist dieses zehnte Wort so etwas wie die Zusammenfassung dieses Teils der Zehn Worte. In letzter Konsequenz kann dieser Teil auf die eine Weisung begehre nicht reduziert werden.
An dieser Stelle wird ein grundlegender Unterschied in der Art und Weise erkennbar, in der Jankowski gegenüber Wolter das Gebot: „Begehre nicht!“ betrachtet. Wolter (W430) richtet seinen Blick vor allem auf den Menschen als Täter der Sünde, der „gegen die in ihm wohnende Begierde nicht ankommt“ und daher zum Sünder werden muss, während Jankowski (J161) die Zielsetzung der Tora in den Blick nimmt, die durch das zehnte Gebot auf den Punkt gebracht wird:
Begehre nicht heißt dann: Beschütze und bewahre das Leben der anderen. Und genau das ist das Ziel der gesamten Thora: Schutz und gestaltende Bewahrung des Lebens. Wer Thora nicht kennt, kann davon nichts wissen.
Jankowski weiß allerdings auch, dass Paulus den Umgang der Menschen mit der Tora keineswegs blauäugig betrachtet. Zwar eröffnet die Tora „Möglichkeiten“ neuen Lebens, aber sie lässt „auch die Unmöglichkeiten erkennen“. In den folgenden Versen wird Paulus darauf eingehen, dass „[g]erade die Unmöglichkeiten und Verunmöglichungen des Lebens … durch die Thora bewußter“ werden.
↑ Römer 7,8-13: Die gute Mizwa, gegeben zum Leben, brachte mir den Tod, indem die Verfehlung sie als Gelegenheit zum Betrug ergriff
7,8 Die Sünde aber nahm das Gebot zum Anlass
und erregte in mir Begierden jeder Art;
denn ohne das Gesetz war die Sünde tot.
7,9 Ich lebte einst ohne Gesetz;
als aber das Gebot kam,
wurde die Sünde lebendig,
7,10 ich aber starb.
Und so fand sich‘s,
dass das Gebot mir den Tod brachte,
das doch zum Leben gegeben war.
7,11 Denn die Sünde nahm das Gebot zum Anlass
und betrog mich
und tötete mich durch das Gebot.
7,12 So ist also das Gesetz heilig,
und das Gebot ist heilig, gerecht und gut.
7,13 Ist dann, was doch gut ist,
mir zum Tod geworden?
Das sei ferne!
Sondern die Sünde, auf dass sie als Sünde sichtbar werde,
hat mir durch das Gute den Tod gebracht,
auf dass die Sünde über alle Maßen sündig werde durchs Gebot.
[21. April 2025] Bevor ich an die Auslegung der sechs Verse Römer 7,8-13 durch Wolter herangehe, möchte ich begründen, warum ich sie in dieser Gesamtheit gemeinsam betrachten will. Jankowski weist darauf hin (J161), dass Paulus hier „[s]echsmal … das Wort Gebot und im Griechischen nur hier immer mit dem Artikel“ verwendet, „also hē entolē. ln dieser Form kann es nur die Übersetzung des hebräischen ha-mizwa sein.“ Was daraus nach Jankowski zu folgern ist, darauf gehe ich später ein.
Michael Wolter zufolge (W432) bewegt sich Paulus in Vers 8 mit „dia tēs entolēs {durch das Gebot}“ allerdings zunächst „weiterhin im Rahmen der in V. 7f zitierten konkreten Weisung“, denn er unterstellt, dass „an dieser Stelle … noch kein Leser auf die Idee“ kommen kann, „dass Paulus hier von etwas anderem spricht als vom letzten Gebot des Dekalogs.“ Dem würde Jankowski widersprechen, da Paulus ja ausdrücklich Tora-Kenner, also Juden anredet, denen solche Begrifflichkeit vertraut ist.
Worum geht es nach Wolter inhaltlich in Vers 8? Hier „berichtet das Ich, welche Folgen seine Begegnung mit dem Gesetz hat“, und es „beschreibt …, wie die Sünde im Menschen aktiv wird und sich in ein handelndes Subjekt verwandelt.“
Den Auftakt bildet in Vers 8a der Ausdruck aphormēn lambanein {wörtlich: Gelegenheit nehmen}, den „es in der griechischen Bibel nur hier und in V. 11a“ gibt, um so öfter aber „in der hellenistischen Umwelt des frühen Christentums“. Er kann „die Eröffnung einer Möglichkeit, die Nutzung einer Gelegenheit oder auch das Handeln aufgrund eines gegebenen Anlasses bezeichnen“. Zwei Fragen müssen nach Wolter „offen bleiben“, erstens, „ob das Partizip aphormēn labousa passiv (‚die Sünde bekam die Gelegenheit‘) oder aktiv (‚die Sünde ergriff die Gelegenheit‘) verstanden werden will“, und zweitens, „ob dia tēs entolēs {durch das Gebot} sich auf aphormēn labousa {ergriff die Gelegenheit} bezieht, oder ob es zu kateirgasato {bewirkte} gehört.“ Im zweiten Fall neigt Wolter dann doch zur zweiten Alternative, weil auch in Vers 13 die Sünde dia tou agathou {durch das Gute}, also „durch das Gebot“, den Tod bewirkt. Damit (W433) „macht Paulus … noch einmal deutlich: Das Gesetz ist nicht eine Erscheinungsform der Sünde, sondern es wird von der Sünde instrumentalisiert.“
Bezeichnend für Wolters Blick auf Paulus als einen Juden, der sich vom Judentum verabschiedet hat und eher allgemein menschlich denkt, sind seine Mutmaßungen über anthropologische Grundannahmen des Apostels:
Paulus beschreibt einen Vorgang, der sich im Inneren des Ich abspielt, und setzt damit implizit voraus, dass die Sünde eine anthropologische Größe ist und es sich bei ihr um so etwas wie eine im Menschen vorhandene Disposition handelt, die so lange nur latent vorhanden ist, wie sie nicht durch ein ‚Gebot‘ eine konkrete Gestalt bekommt.
Was das Stichwort entolē konkret für Paulus als Juden bedeuten könnte, interessiert Wolter nicht. Stattdessen konzentriert er sich auf die „Rede von pasa epithymia (‚jede Art von Begierde‘)“, in der „Paulus zum Ausdruck“ bringt,
dass er die menschliche Begierde sich in dem oben dargestellten Sinn auf eine Vielzahl von Objekten richten sieht und er ihr eine Fülle von unterschiedlichen Gestalten zuschreibt. Das Abstraktum epithymia {Begierde} wird dadurch zu einem Kollektivum.
Unter anderem bringt Wolter den von Paulus erzählten Vorgang „mit anderen Texten in Verbindung …, die eine elementare menschliche Erfahrung beschreiben“, nämlich „dass das Verbotene erst dadurch seinen Reiz bekommt, dass es verboten ist.“ In den beiden von ihm in dieser Hinsicht betrachteten lateinischen Texten geht es ihm zufolge aber gar „nicht darum, dass und wie der Mensch die Begierde in sich entdeckt“, sondern um die „Verstärkung“ der Begierde, wenn ihr Objekt verboten ist. Weiter vergleicht er die Aussage des Paulus mit Texten (W433f.), „in denen es nicht um die Verstärkung der Begierde durch Verbote geht, sondern darum, dass Gesetze das Gegenteil von dem zur Folge haben können, was sie intendieren.“ In diesen Texten von Cicero und Seneca geht es aber (W434) „durchweg um die sehr eingeschränkte Frage, ob man das, was keiner tut, durch ein Gesetz unter Strafe stellen soll, weil dadurch möglicherweise das Gegenteil erreicht wird“, was nach Wolter „nicht verallgemeinert und zur Erklärung des in Röm 7,7d-8b erzählten Vorgangs herangezogen werden“ darf. Trotz der Vielzahl zitierter lateinischer Belege fällt von ihnen her also keinerlei Licht auf die Aussageabsicht des Paulus.
In Vers 8c beginnt Paulus einen neuen Satz: chōris gar nomou hamartia nekra {wörtlich: denn ohne Gesetz Sünde tot}, in dem „die Ausgangssituation“ beschrieben wird, „wie sie sich vor dem in V. 7d-8b erzählten Vorgang der Begegnung des Ich mit dem Gesetz dargestellt hat“, und in dem daher „das Imperfekt ēn {war} zu ergänzen“ ist. Das Wort nekra {tot} versteht Wolter (W435) im Sinne von „wirkungslos“, wozu er sich nicht nur auf „Jak 2,17.26: Glaube ohne Werke ‚ist tot‘ (nekra estin)“ beruft, sondern auch auf den stoischen Philosophen Epiktet (ca. 50-138 n. Chr.), in dessen Dissertationen es an einer Stelle <190> heißt: „Die ‚Rede des Philosophen‘, die ihre Hörer nicht einlädt, ihr Leben zu ändern, ‚ist tot und auch der Redner selbst‘ (nekros estin kai autos kai ho legōn)“:
Paulus will damit zum Ausdruck bringen, dass die Sünde solange unschädlich bleibt, wie das Ich nicht der Rechtsforderung des Gesetzes begegnet und die Sünde mit ihrer Hilfe die Gelegenheit ergreift, um es ins Verderben zu führen.
Aber lassen die genannten Parallelen wirklich diese von Wolter geäußerte Schlussfolgerung zu? Sowohl Jakobus als auch der griechische Philosoph Epiktet verwenden die Metapher „tot“ ja im Blick auf eine menschliche Einstellung oder auf menschliche Worte, die ohne Wirkung auf den jeweiligen Menschen und die von ihm Angeredeten bleiben, nämlich weil dem Glauben oder den Worten keine entsprechenden Taten folgen. Kann Paulus aber wirklich in einem sehr formalen Sinn meinen, dass analog dazu die Sünde keine für den Menschen schädlichen Folgen hat, solange es keine Tora gibt? Immerhin äußert sich doch seit Adam und Kain die Sünde in einem verfehlten und ganz gewiss nicht unschädlichen, sondern immer wieder zu tödlichen Folgen führenden Handeln.
In 1. Korinther 15,56 entdeckt Wolter (Anm. 43) ein „[k]omplementäres Gegenstück“ zur Aussage des Paulus in Vers 8a-b, nämlich die Feststellung hē de dynamis tēs hamartias ho nomos {die Kraft der Sünde: das Gesetz}. Auf welche Weise genau aber die gute, heilige Tora als Kraft der Verfehlung wirken soll, darauf gibt er zumindest hier keine Antwort, während Gerhard Jankowski <191> aus dem von Paulus in 1. Korinther 15,55-57 angestimmten „Spottlied über den besiegten Tod“ den Schluss zieht, dass die Tora als die Kraft der Sünde sich nur darauf beziehen kann, dass sie zwar „ans Licht bringt, was zum Tod führt“, aber „unter der Ordnung des Todes nicht getan werden“ kann:
Der Tod ist besiegt. Damit ist die totale Verwandlung der Verhältnisse vollendet. Die waren einmal von der Ordnung des Todes bestimmt. Für die jetzt noch Lebenden sind sie es noch immer. Daran ist zu erinnern. Es ist die Verfehlung, die Sünde, die die menschlichen Verhältnisse zerstört und bis auf den Tod krank macht. Durch sie kam der Tod in die Welt. Sie ist der Stachel des Todes. Sie sticht zu, tödlich, verunmöglicht so das Leben. Das ist durch die Tora zu erkennen. Sie ist die Kraft, die ans Licht bringt, was zum Tod führt. Aber die Tora kann unter der Ordnung des Todes nicht getan werden. Das zeigt Paulus in Röm 7. Wenn aber der Tod besiegt ist, ist auch sein giftiger Stachel, die Sünde, unwirksam geworden. In den dann völlig veränderten Verhältnissen kann die Tora endlich getan werden.
Jetzt wieder zurück zu Wolter (W435). Ihm zufolge zieht Paulus mit dem Vers 8c
nicht nur die Schlussfolgerung aus V. 7d-8b, sondern er macht diesen Satz auch zum Ausgangspunkt für eine Darstellung, die durch das wechselnde Gegenüber von „tot“ und „lebendig“, „leben“ und „sterben“ bestimmt ist.
Seine Übersetzung der Verse 8c-10a lautet (W427):
8c Denn ohne Gesetz (war) die Sünde tot {chōris gar nomou hamartia nekra}.
9a Ich war aber ohne Gesetz vorher am Leben {egō de ezōn chōris nomou pote}.
9b Als aber das Gebot kam {elthousēs de tēs entolēs},
9c lebte die Sünde auf {hē hamartia anezēsen}.
10a Ich aber starb {egō de apethanon}.
Indem Paulus (W435) mit der „Paarbildung ‚Gesetz‘/‘Gebot‘ in V. 9a/b … die parallele Begriffskonfiguration in V. 7-8“ wiederholt, spricht er hier Wolter zufolge nach wie vor von der Tora bzw. verweist auf das „zehnte Dekalog-Gebot, das alle anderen Gebote der Tora exemplarisch repräsentiert.“ Hier handeln „die Sünde und das Ich“ in der Weise, dass es „[z]wischen ihnen … zu einem Austausch der Zustände“ kommt: ohne Gesetz war die Sünde tot und das Ich lebendig, mit dem Gebot wurde die Sünde lebendig und das Ich starb.
Mit dem Imperfekt ezōn {ich war am Leben} in Vers 9a bezeichnet Paulus nach Wolter (W435f.)
hier weder lediglich das schlichte Am-Leben-Sein … noch den Zustand des Heils, wie es Lev 18,5 denen verheißt, die die Tora erfüllen, oder Hab 2,4 dem Gerechten „aufgrund seiner Treue“. Paulus gebraucht es an dieser Stelle vielmehr in jenem profilierten Sinn, wie er u.a. in Ex 33,20 („kein Mensch wird mein Angesicht sehen und leben“; s. auch Gen 20,7; Num 4,19; Sach 13,3; Röm 7,2.3) belegt ist, wonach „leben“ prägnant ‚am Leben sein/bleiben‘, ‚nicht sterben‘ oder ‚tot sein‘ bedeutet. In ezōn klingt darum schon die Beendigung dieses Zustands durch apethanon {ich starb} (V. 10a) mit. Wie ezōn nicht einfach nur ‚existieren‘ meint, so wenig spricht Paulus mit apethanon vom physischen Tod des Ich, denn in Bezug auf seine leibliche Existenz ist es ja durchaus noch höchst lebendig.
Besondere Aufmerksamkeit verdient nach Wolter (W435) die „Wiederholung von chōris nomou {ohne Gesetz}“ in Vers 9a, die erkennen lässt, dass die Aussage bewusst „als Antithese zu V. 8c konzipiert ist“. Das Wort pote {vorher} bezieht sich dadurch auch auf Vers 8c, so dass Paulus dem Zustand chōris nomou {ohne Gesetz} „eine zeitliche Erstreckung“ zuweist, „die durch das ‚Kommen‘ des Gebots (V. 9b) beendet wird.“ Nach Wolter (W436) kann Paulus mit diesem „Zeitraum … nur die Zeit vor der Begegnung des Ich mit der Tora“ meinen, womit in seinen Augen die Zeit vor der „Offenbarung der Tora am Sinai“ gemeint sein muss. Dann wäre genau das zentrale Offenbarungsereignis für Israel ursächlich für das „Aufleben der Sünde“. Kann Paulus sich das aber tatsächlich in dieser Allgemeingültigkeit vorstellen?
Manche Exegeten vertreten eine Interpretation (Anm. 45), „die sich schon in altkirchlicher Zeit findet“ <192>, derzufolge „die Leser in diesem Teil der Darstellung die Geschichte Adams wiedererkennen sollen“. Diese
identifiziert die Zeit, in der das Ich pote „ohne Gesetz“ war, mit dem Zeitraum zwischen Gen 2,7 (der Mensch wurde zu einer „lebendigen Seele [eis psychēn zōsan]“) und dem Paradiesgebot Gen 2,16-17. Dementsprechend sei der Tod, den das Ich nach Röm 7,10a stirbt, eben jener Tod, den Adam in Gen 2,17 für den Fall angedroht bekommt, dass er von dem verbotenen Baum isst (s. auch Gen 3,3).
Dafür gibt es Wolter zufolge allerdings keinerlei Indizien. Jedenfalls setzt Vers 9b (W436f.)
voraus, dass die Sünde immer schon vorhanden ist, wenn das Ich dem Gesetz begegnet. Weil die Sünde sich nach Röm 5,12-13 aber erst durch die „Übertretung Adams“ (V. 14) unter der Menschheit ausbreitete, geht Röm 7,9b von einer Konstellation aus, die es erst nach dem in Gen 3,6 erzählten Geschehen geben kann. Umgekehrt ist damit aber auch nicht gesagt, dass Paulus den mit pote {vorher} bezeichneten Zeitraum auf die Zeit zwischen Adam und Mose beschränkt wissen will und das Ich auf Israel vor und nach der Sinai-Offenbarung referiert. pote hat hier keine bestimmte historische Referenz, sondern es bezeichnet ein relatives ‚Davor‘. Es will in idealtypischer Weise die Situation des Ich vor der Begegnung mit der Tora bezeichnen und kann darum eine prinzipiell unbegrenzte Vielzahl von möglichen Extensionen bekommen: Israel vor der Sinaioffenbarung genauso wie seitdem immer wieder jeder Jude vor seiner Begegnung mit der Rechtsforderung der Tora – Paulus selbstverständlich mit eingeschlossen.
Was bedeutet nun (W437) in Vers 9b die Formulierung anezēsen {lebte auf}, die Wolter „als Gegenbegriff zu nekra {tot}“ in Vers 8c versteht? Sie „bezeichnet das Wirksam-Werden der Sünde, wie Paulus es in V. 8b beschrieben hatte“, und das nach Vers 10a den Tod zur Folge hat. Diese Folge wiederum, von Paulus mit egō de apethanon {ich aber starb} beschrieben,
können wir wieder durch einen Blick auf Röm 5,12-14 erklären: Demnach hat die Offenbarung der Tora zur Folge, dass die Menschen seitdem nicht mehr nur wie zwischen Adam und Mose physisch sterben, sondern dass ihre Sünde, weil sie Gesetzesübertretung ist, „verbucht wird“ (ellogeitai; 5,13b). Von der Folge dieses ellogeitai spricht apethanon in 7,10a: Es bezeichnet nicht lediglich das physische Sterben, sondern es steht wie in Röm 1,32 und 6,21.23 für den eschatischen Heilsverlust, der von Seiten Gottes über alle verhängt ist, die das Gesetz übertreten. <193>
Besonders hebt Wolter hier die Verbform apethanon {ich starb} im Aorist hervor, durch die Paulus deutlich macht, dass dieser Verlust des Heils bereits „definitiv und unrevidierbar geworden ist“, so dass das „Ich … sein Heil aufgrund seiner Gesetzesübertretung bereits in der Gegenwart verloren“ hat, „auch wenn es physisch noch am Leben ist.“
[22. April 2025] In Vers 10b beschreibt Paulus nach Wolter, beginnend mit der unpersönlichen Formulierung kai heurethē moi {wörtlich: und es fand sich mir}, „das Ergehen des Ich“. Seine Übersetzung lautet (W427):
Und so erging es mir {kai heurethē moi}:
Das Gebot, das zum Leben (sein sollte) {hē entolē hē eis zōēn},
ausgerechnet das (wurde) zum Tod {hautē eis thanaton}.
Wieder geht Wolter davon aus (W437), dass hē entolē {das Gebot} „über V. 9b und V. 8b auf das in V. 7e-f zitierte Dekaloggebot“ zurückweist, „das dort für die gesamte Tora steht und auch hier … die gesamte Tora repräsentiert.“ Mit dem Ausdruck hē eis zōēn {desjenigen zum Leben} stellt er die „dunkle Unheilsfolge der Begegnung des Ich mit dem ‚Gebot‘ (bzw. dem ‚Gesetz‘)“ nun zusätzlich „vor den hellen Hintergrund von dessen eigentlicher Intention“, indem er „eine Tradition“ aufnimmt, „die ihren Ursprung in Lev 18,5 hat und all denen, die die Rechtsforderungen der Tora erfüllen, ‚Leben‘ verheißt“. Von dieser Tradition weiß Wolter, dass sie an zahlreichen Stellen der Bibel „identifizierbar“ ist, so etwa in „Dtn 4,1; 6,24; 30,16; Neh 9,29; Spr 4,4; 7,2; Ez 18,9.17; 20,11.13“, und „von Paulus in Röm 10,5 und Gal 3,12“ ausdrücklich zitiert wird. In Sirach 17,11 und 45,5 ist sogar (W438) „vom nomos zōēs (‚Gesetz des Lebens‘)“ die Rede. Indem also die „eigentliche Intention des Gesetzes … in ihr Gegenteil verkehrt“ wird, stehen auch
in V. 10b … ‚Leben‘ und ‚Tod‘ darum nicht einfach nur für physisches Leben und Tod, sondern für ‚Heil‘ und ‚Unheil.‘ Den Kontrast zwischen eigentlicher Intention und faktischer Wirkung hebt Paulus mit dem Demonstrativum hautē {ausgerechnet das} noch zusätzlich hervor.
Am Anfang von Vers 11 wiederholt Paulus „nahezu wortlautidentisch“ die „Charakterisierung des Tuns der Sünde“ von Vers 8a
(„die Sünde ergriff die Gelegenheit“), um dann zu erzählen, was die Sünde mit dem Ich gemacht hat. An der Stelle, wo in V. 8b „durch das Gebot bewirkte sie in mir jede Art von Begierde“ stand, heißt es in V. 11b-c: „… und verführte mich durch das Gebot und tötete (mich) durch es“. Mit Hilfe dieser Verknüpfung geht Paulus über das zuvor Gesagte in doppelter Weise hinaus: Zusätzlich zu V. 8a-b stellt er fest, dass das Wirken der Sünde dem Ich eschatischen Heilsverlust beschert, und ergänzend zu V. 8c-10b macht er deutlich, dass für die dort erzählte Unheilsfolge, die dem Ich aus seiner Begegnung mit dem „Gebot“ erwächst, nicht das Gebot, sondern das Wirken der Sünde verantwortlich ist. Sie benutzt das Gebot, um mit seiner Hilfe das Ich ins Verderben zu führen.
Erst an dieser Stelle, nämlich in Vers 11b, findet Wolter „einen möglichen Hinweis darauf, dass Paulus vielleicht die Geschichte vom Sündenfall in den Blick nimmt“, und zwar in dem Wort exēpatēsen {verführte}, in dem man „vielleicht eine Anspielung auf Gen 3,13 sehen“ kann, also auf die Verführung Evas durch die Schlange. Wenn Paulus (W439) „die Begegnung des Ich mit der Tora auf diese Weise in das Licht der Sündenfallgeschichte“ stellt,
übernimmt die Sünde die Rolle der Schlange in der Sündenfallerzählung und sorgt dafür, dass sich, wenn Menschen der Tora begegnen, dieselbe Verführung immer wieder neu ereignet, die nach der Erzählung von Gen 3,1-7 die Schlange seinerzeit Adam und Eva bereitet hatte. lm Blick auf das in Röm 7,7e-f zitierte Verbot des Begehrens bestünde die Verführung, die die Sünde mit Hilfe des Gebots bereitet, in nichts anderem als in der Hervorbringung der epithymia. Wie es einst der Schlange mit ihrem „Auf gar keinen Fall werdet ihr sterben!“ (Gen 3,4) gelang, Adam und Eva zu täuschen und sie zu überreden, das Paradiesgebot zu übertreten, lässt auch die von der Sünde hervorgebrachte epithymia das Ich die Todesdrohung nicht ernst nehmen, unter der alle Übertreter des Gesetzes stehen. Sie führt das Ich dadurch geradewegs ins Verderben.
Mit Vers 12 fasst Paulus Wolter zufolge „die beiden Erzählteile zusammen und zieht das Fazit im Blick auf die Ausgangsfrage in V. 7b“:
So (ist) nun das Gesetz heilig
— {hōste ho men nomos hagios}
und das Gebot heilig und gerecht und gut
— {kai hē entolē hagia kai dikaia kai agathē}.
Beide Sätze bilden „einen synonymen parallelismus membrorum“, die je für sich die gleiche Bedeutung tragen und sich gegenseitig verstärken, wobei nach Wolter wiederum das Wort „entolē {Gebot} (V. 12b) … nicht nur auf das in V. 7e-f zitierte zehnte Gebot“ verweist, „sondern … auch … für die Gesamtheit der Tora“ steht.
Mit der Zusammenstellung der sinngleichen Wörter hagios, dikaios und agathos {heilig, gerecht und gut} beendet Paulus „den Abschnitt nach der Eingangsfrage V. 7b rhetorisch wirkungsvoll“ und greift dabei auf Charakterisierungen der Tora zurück, die „es je für sich schon in der Septuaginta und anderen frühjüdischen Schriften“ gibt, z.B. in
Dtn 4,8 (dikaiōmata kai krimata dikaia {gerechte Ordnungen und Rechtsgeheiße}); 2Makk 6,23 (hē hagia kai theoktistos nomothesia {die heilige und gottgegebene Gesetzgebung}); 6,28 (hoi semnoi kai hagioi nomoi {die erhabenen und heiligen Gesetze}); 2Esr 19,13 (entolai agathai {gute Gebote}; Neh 9,13: chuqqim umizhoth tobim {gute Satzungen und Gebote}); Josephus, Ant. 4,295 <194> (die nomoi hous agathous dokimasas ho theos [„… die Gott für gut erachtet hat“]; s. auch Spr 4,2).
Was Wolter (W440) im Blick auf diese „drei Adjektive“ aber für „[t]heologisch maßgeblich“ hält, ist etwas anderes, nämlich dass es sich um „traditionelle Gottesprädikate“ handelt, die „Paulus hier auf die Tora“ überträgt <195>:
Er bringt damit zum Ausdruck, dass die Tora mit ihren Geboten ganz auf die Seite Gottes gehört und dass niemand anderer als Gott selbst es ist, dem sie ihre Eigenart verdankt.
Zwar sieht Wolter den anschließenden Vers 13 bereits als den Beginn des folgenden Abschnitts, aber unübersehbare Rückbezüge auf das Vorangegangene und die bereits erwähnte sechsmalige Verwendung des Wortes entolē {Gebot, Mizwa} in jedem der sechs Verse 8-13 sprechen für den Vorschlag von Jankowski, nun auch noch diesen Vers in ihren Zusammenhang einzubeziehen.
Paulus bringt (W441), unmittelbar auf die vorigen Verse bezogen, „mit einer rhetorischen Frage“ erneut wie in Vers 7b-d „ein Missverständnis zur Sprache … (V. 13a), das er sofort zurückweist (V. 13b-f).“ Es geht um die Frage (W443),
ob der Tod die Unheilsfolge des „Guten“, d.h. des „Gebots“ von V. 10 und V. 13 ist. … Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt will Paulus auch hier die Tora entlasten: Nicht sie ist für das Unheil des Ich verantwortlich, sondern die Sünde, die das Gesetz für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Vom Satzbau her ist der Vers 13 „recht undurchsichtig“. Wolter übersetzt ihn folgendermaßen (W427), wobei ich ihn auf meine Weise wieder übersichtlich anordne:
a Ist das Gute {to oun agathon}
a mir demnach zum Tod geworden {emoi egeneto thanatos}?
b Natürlich nicht {mē genoito},
c sondern die Sünde {all‘ hē hamartia};
d so dass sie als Sünde in Erscheinung tritt {hina phanē hamartia},
e indem sie mir durch das Gute {dia tou agathou moi}
e den Tod bewirkt {katergazomenē thanaton};
f so dass sich die Sünde als über alle Maßen sündig erweist durch das Gebot {hina genētai kath‘ hyperbolēn hamartōlos hē hamartia dia tēs entolēs}.
Dabei entspricht (W443) Vers 13a im Satzbau dem Prophetenwort Jeremia 20,17:
egeneto moi hē mētēr mou taphos mou („es wurde für mich meine Mutter mein Grab“); vgl. auch 1Makk 10,47, wo es von Alexander heißt: autos egeneto autois archēgos logōn eirēnikōn („er wurde für sie ein Urheber von Friedensnachrichten“).
In der Übersetzung entscheidet sich Wolter gegen die Möglichkeit, die Worte hē hamartia {die Sünde} in Zeile c als das „Subjekt des aus V. 13c.e bestehenden Hauptsatzes … (‚die Sünde … hat mir durch das Gute den Tod bewirkt‘)“ zu begreifen. In „diesem Fall“ müsste „zu katergazomenē ein Hilfsverb wie egeneto o.ä. ergänzt werden“. Stattdessen versteht er Vers 13c „elliptisch“ als eigenständigen kurzen Satz. Dabei muss vom Sinn her „zu alla hē hamartia … aus V. 13a emoi egeneto thanatos ergänzt werden (‚sondern die Sünde ist für mich zum Tod geworden‘).“ Der gesamte Vers 13e ist dann „Bestandteil des hina-{so dass}Satzes V. 13d … (‚… so dass sie als Sünde in Erscheinung tritt, indem sie mir durch das Gute den Tod bewirkt‘)“. Auf diese Weise sind die „beiden hina-Sätze … parallel“, und „der zweite hina-Satz (V. 13f) ist eine steigernde Wiederholung des ersten (V. 13d-e)“. Für solche eingehende grammatikalische Klarstellungen bin ich Michael Wolter immer sehr dankbar.
Inhaltlich lässt Paulus hier „die ‚übermäßige Sündhaftigkeit‘ der Sünde“ (Vers 13f) „darin zum Ausdruck“ kommen, dass er Gedanken von Vers 8b und 11c aufnimmt. Schon nach 11c schafft es die Sünde, „das Ich durch das Gebot in den Tod zu führen“, und der Ausdruck „dia tou agathou … katergazomenē {durch das Gute … bewirkend} (V. 13e) entspricht zwar dia tēs entolēs kateirgasato {bewirkte durch das Gebot} (V. 8b)“, aber (W444)
der Gegenstand dessen, was die Sünde jeweils „bewirkt“, [ist] unterschiedlich: ln V. 8b war es die epithymia {Begierde}, in V. 13e ist es wie in V. 11c deren Unheilsfolge, der „Tod“. … Das sich steigernde Nacheinander der beiden Finalsätze V. 13d-e und V. 13f lässt erkennen, dass es Paulus in diesem Vers vor allem darum geht, dem Unheil stiftenden Wirken der Sünde einen Sinn zu geben. Seine Auskunft ist unmissverständlich: Das Wirken der Sünde hat keinerlei über die Sünde hinausgehenden Sinn. Darum kann Paulus ihn in V. 13f auch nur tautologisch beschreiben: Es gehört zum Wesen der „Sünde“, dass sie nichts weiter sein kann als eben „sündig“ – und das in diesem Fall kath‘ hyperbolēn, weil sie sogar „das Gute“ benutzt, um Unheil zu stiften. Dementsprechend kann das Wirken der Sünde seinen Sinn immer nur darin haben, dass sie ihr eigenes Wesen entlarvt.
[23. April 2025] Nun endlich zur Auslegung der Verse Römer 7,8-13 durch Gerhard Jankowski. Während Wolter zwar nicht in Abrede stellt, dass Paulus der von Gott gegebenen Tora die in der Bibel überlieferten Gottesprädikate heilig, gerecht und gut beilegt, aber kein Interesse an den inhaltlichen Zielsetzungen dieser Wegweisung zeigt, hatte Jankowski ja schon deutlich gemacht (J161), worauf „das Ziel der gesamten Thora“ hinausläuft, nämlich auf
Schutz und gestaltende Bewahrung des Lebens. Wer Thora nicht kennt, kann davon nichts wissen. Erst die Thora läßt die Möglichkeiten, aber auch die Unmöglichkeiten erkennen. Gerade die Unmöglichkeiten und Verunmöglichungen des Lebens werden durch die Thora bewußter. Und auch hier gibt es eine Differenzierung. Die Sünde wird durch die Thora konkretisiert im Begehren. Und das Gebot konkretisiert dann das Begehren.
Was meint nun Paulus nach Jankowski mit diesem von ihm „in diesem Abschnitt“ ganze sechsmal gebrauchten Wort „Gebot“, das er „nur hier“ immer mit dem bestimmten Artikel, „also hē entolē“, verwendet?
ln dieser Form kann es nur die Übersetzung des hebräischen ha-mizwa sein. So finden wir es in Ex 24,12:
Ich will dir die Steintafeln geben:
die Weisung (ha-thora) und das Gebot (ha-mizwa),
die ich schrieb, jene zu unterweisen.In Dtn 5,31 wird das noch differenziert:
Ich will zu dir reden all das Gebot (kol ha-mizwa),
so die Gesetze (ha-chuqim),
so die Rechtsgeheiße (ha-mischpatim),
die du sie lehren sollst, daß sie es tun …
Anders als Wolter, der zwischen nomos und entolē kaum differenziert, sondern im Gebot die Gesamtheit der Tora repräsentiert sieht, meint Paulus nach Jankowski (J162) mit der entolē, der Mizwa, dem Gebot,
neben den Gesetzen und Rechtsgeheißen die ganz konkrete Einzelanweisung in der Thora. Später haben die Rabbinen 613 Mizwot in der Thora festgelegt, 365 Verbote und 248 Gebote. Sie haben aber auch definiert, was sie unter dem Gebot verstanden. In bBer {im Traktat Berakhot des babylonischen Talmud} 5a heißt es in einer Auslegung von Ex 24, 12:
„Die Steintafeln, das sind die Zehn Worte; die Weisung, das ist die Mikra {was gelesen, ausgerufen wird: die Schrift}; das Gebot, das ist die Mischna; das ich schrieb, das sind die Propheten und die Schriften; jene zu unterweisen, das ist der Talmud. Das lehrt, dass sie alle dem Mose am Sinai überliefert wurden.“
Auch wenn es zur „Zeit des Paulus … die Mischna in der uns heute vorliegenden Form natürlich noch nicht“ gibt, werden durchaus bereits „verbindliche Auslegungen der einzelnen Gebote der Thora tradiert“. Diese Notwendigkeit ergibt sich vor allem dadurch, dass
in der Diaspora die Frage nach der Geltung der Gebote in der nichtjüdischen Umgebung ständig gestellt war. Aber auch damals galt diese mündliche Auslegung als am Sinai geoffenbarte Thora. Es war eben das Gebot, das da formuliert war für den Alltag in einer nichtjüdischen Umgebung und das zu tun war, weil es wie die Thora verbindlich war. Wahrscheinlich ist das Wort schon damals die Bezeichnung für die Halacha.
Aber, wie bereits gesagt, das Gebot in der Form der „Mizwa“, die „meistens juridisch formuliert“ ist und „auch Sanktionen bei Übertretungen benennen“ kann, gibt es nicht erst in der Halacha, sondern bereits in der Schrift. Unter anderem sind
die Zehn Worte der zweiten Tafel konkretisiert und durch angedrohte Sanktionen verschärft worden. Als Beispiel sei Lev 20,10 genannt. Dort wird das Wort „Du sollst nicht die Ehe brechen“ zu der mizwa:
„Ein Mann, der Ehebruch begeht mit der Frau eines Ehemannes,
Ehebruch begeht mit der Frau seines Genossen,
sterben muß, sterben der Ehebrecher und die Ehebrecherin.“Die erkennbare Verschärfung hat das Ziel, den Menschen soweit wie möglich von einer Übertretung der Weisung abzuhalten. Wie an dem Wort „Du sollst nicht begehren“ zu erkennen ist, kann das bis dahin gehen, daß sogar der bloße Gedanke – hier das Begehren – an eine Übertretung als Überschreitung der Grenze zum Nichterlaubten gesehen werden kann. Der dem Begehren folgende Akt, das Wegnehmen des Hauses, des Viehs etc. wird nicht einmal erwähnt. Dieses Wort hat als einziges der Zehn Worte keine juridische Ausformung in einer Mizwa erfahren.
Das Ziel jeder Mizwa, jeden Gebots, ist natürlich, „den Menschen von einer Übertretung der Thora“ abzuhalten. Gerade „im Alltag einer nichtjüdischen Umgebung“ soll ihm „die Möglichkeit“ gewiesen werden, „die Thora … zu beachten und zu tun, um nicht fehlzugehen, zu sündigen.“ An genau diesem Punkt muss Jankowski feststellen (J162f.):
Paulus scheint hier anders zu denken. Thora und Mizwa aktivieren die Sünde. Die aktiven Verben die Gelegenheit ergreifen, durchsetzen, töten zeigen das an. Was tot war, wird lebendig. Was aber leben sollte, starb. Die Sünde wird zum alles beherrschenden Prinzip. Es ist ein tödliches Prinzip, weil es Leben unmöglich macht. Das lebensfördernde und lebenserhaltende Prinzip, die Thora, und erst recht deren einzelne Gebote und Verbote, die konkretisieren, was zu tun und zu lassen ist, bringen das an den Tag. Und mehr noch: Sie zeigen, daß Leben unmöglich geworden ist. Wie kann es zu einer solchen Sicht kommen?
Jankowski geht davon aus (J163), dass Paulus diesen äußerst kritischen Blick auf die Tora aus ganz konkreten Gründen entwickelt hat. Er fordert uns als seine Leserschaft dazu auf, an der „Behauptung“ festzuhalten,
daß Paulus hier als Anwalt der Gojim spricht. Als guter Anwalt steht er ganz auf ihrer Seite, solidarisiert sich ganz mit ihnen, verschafft ihnen Gehör, indem er als einer von ihnen redet.
Wenn man an 1. Korinther 9,21 denkt, wo Paulus von sich sagt, dass er tois anomois hōs anomos {denen ohne Gesetz wie einer ohne Gesetz} geworden ist, ist die Vorstellung nicht völlig abwegig, Paulus könne in Römer 7 genau in seinem Plädoyer für Gojim, das er vor jüdischen Tora-Kennern darlegt, sich in die Situation eines Goj versetzen, der sich von Tora-Kennern mit den Forderungen der Tora und der Mizwot konfrontiert weiß.
Noch einmal kommt Jankowski auf die „Binsenwahrheit“ zu sprechen, dass „die Gojim ohne Thora gelebt haben und leben“ und daher bei „den Juden, die die Thora haben, … als Sünder“ gelten:
Sie sind wie Tote. Sie selber wissen das nicht, wollen es auch nicht wissen. Nun sind da aber einige gezielt in Kontakt mit Juden getreten. Sie haben erfahren, welche Hürden es zu überwinden galt, um diesen Kontakt zu bekommen. Sie haben auch erfahren, wie über sie gedacht wurde. Denn es wurde ihnen sehr offen gesagt.
Dazu zitiert Jankowski beispielhaft, was im Traktat Yevamot des babylonischen Talmud bJeb in wahrhaft abschreckender Weise von denjenigen gesagt wird, die sich als Proselyten dem Judentum anschließen wollen:
„Die Rabbanan lehrten: Wenn jemand in der Jetztzeit Proselyt werden will, so spreche man zu ihm: Was veranlaßt dich, Proselyt zu werden: Weißt du denn nicht, daß Israel in der Jetztzeit gequält, gestoßen, gedemütigt und gerupft wird und Leiden über es kommen? Wenn er sagt, er wisse dies und sei dessen gar nicht würdig, so nehme man ihn sofort auf und mache ihn mit manchen der leichteren und manchen der strengeren Gebote bekannt. Man erkläre ihm die Sünde betreffs der Nachlese … Auch teile man ihm die Bestrafung wegen der Gebote mit und spreche zu ihm: Wisse, daß du bisher Talg gegessen hast, ohne mit Ausrottung bestraft zu werden, den Sabbath entweiht hast, ohne mit Steinigung bestraft zu werden; wenn du aber von jetzt ab Talg ißt, wirst du mit der Ausrottung bestraft, wenn du den Sabbath entweihst, wirst du mit der Steinigung bestraft. Und wie man ihm die Bestrafung wegen der Gebote mitteilt, so teile man ihm ihre Belohnung mit und spreche zu ihm: Wisse, daß die zukünftige Welt nur für die Gerechten erschaffen worden ist.“
All das muss natürlich „erst recht für die Gojim“ gelten, die die Botschaft des Paulus vom Messias Jesus gehört haben und „Anteil haben möchten an den messianischen Hoffnungen Israels“, obwohl sie „nicht Juden werden wollen“ und nach Paulus auch nicht müssen (J163f.):
Durch die Thora hören sie, was sie zu tun und zu lassen haben. Durch das Gebot wird ihnen bewußt, in welch einer Welt sie leben. Und sie hören von Strafandrohungen, die vielfach in den Satz münden: „Sterben mußt du, sterben.“ Mußten sie sich nicht als absonderliche, sündhafte Menschen sehen, die nur noch den Tod vor Augen hatten? Der Anwalt der Gojim sagt da, indem er aufnimmt, was sie ihm vielleicht gegenüber artikuliert hatten: „Ich lebte einst ohne Thora. Als das Gebot kam, lebte die Sünde auf, ich aber, ich starb, und es fand sich mir das Gebot, das zum Leben, genau das zum Tod.“ (7,9f.) Ich, der Jude Paulus, weiß, was Thora verlangt. Ich weiß aber auch, was es für einen Nichtjuden bedeutet, wenn er die Thora und die Mizwa auf sich angewendet erkennt. Er kann nur wie ein Toter sein, wenn er Nichtjude bleibt.
Für Jankowski (J164) ist mit alldem „aber überhaupt nichts gegen die Thora und die Mizwa gesagt“. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte er nicht an der feierlich betonten Aussage festhalten:
„Die Thora ist heilig, und das Gebot ist heilig, bewährt und gut.“ (7,12) Das kann ja auch nicht sein, daß der Jude Paulus die Thora disqualifiziert und für erledigt erklärt. Auch als Anwalt der Gojim kann er das nicht tun. Denn die Thora ist das Gut, to agathon, Israels, das nie Tod bewirkt, wohl aber Leben gestaltet. Und deswegen muß auch deutlich werden, was Leben bedroht. Nichts darf da beschönigt, geglättet, verbrämt werden. Was es an Absonderlichkeiten gibt, muß benannt werden, damit erkennbar wird, was menschliches Leben unmöglich macht. Für Paulus ist das die Sünde. Wo nur noch Sünde ist, da ist Leben nicht mehr möglich. Da herrscht nur noch Tod. Es ist dieses Gut Israels, das das so erbarmungslos aufdeckt. Und es es ist das Gebot, das die Sünde geradezu hyperbolisch sündig macht.
An dieser Stelle meint Jankowski: „Das Gebot hat hier das letzte Wort.“ Paulus verwendet das Wort entolē fast stakkatoartig in sechs Versen sechsmal hintereinander, weil es für die „ganz konkreten Anordnungen“ der mizwa steht, die
so etwas wie einen Zaun aufrichten soll, damit die Sünde in Schranken gewiesen werden kann. Das Gebot setzt die Grenzen für das Nichterlaubte. Und weil das Nichterlaubte immer neu sein kann, zeigt das Gebot erst recht, daß die Welt voller Sünde ist. Es gibt eben keinen ausgegrenzten Raum ohne Sünde, weder auf seiten der Nichtjuden noch auf seiten der Juden.
Indem Jankowski den „brutale[n] Lernprozeß, von dem Paulus hier redet“, nicht darauf bezieht, dass er selbst „[a]s Jude … Thora gelernt“ hatte und „auch gelernt, Thora zu tun“, widerspricht er den allermeisten Römerbrief-Exegeten, die ja davon ausgehen, dass Paulus hier von sich selbst und jedem Juden redet, dem es immer schon unmöglich war und zu allen Zeiten unmöglich sein wird, die Forderungen der Tora zu befolgen und der Instrumentalisierung der Tora durch die Sünde zu entkommen. Jankowski sieht den Juden Paulus stattdessen beteiligt an einem gemeinsamen Lernprozess „mit den Nichtjuden, die zu Israel kommen wollten“, und erfährt in schmerzhafter Härte,
wie hoch und wie trennend der Zaun war, den das halachische Gebot um Israel herum gezogen hatte. Gelernt hatte er, daß es für die Gojim fast unmöglich war, aus der Welt der Sünde herauszukommen. Wagten sie den Schritt auf Israel zu, so hieß das noch lange nicht, daß sie aus dieser Welt der Sünde erlöst waren. Die neue Existenz, auf die sie sich einließen, war überhaupt nicht glanzvoll. Es konnte eine Existenz im Leiden werden. Da lebte es sich es in der alten Existenz wesentlich bequemer und vielleicht auch skrupelloser. Aber dennoch hatten sich Nichtjuden aufgemacht, von Israel und mit Israel zu lernen. Sie wollten teilhaben an den messianischen Hoffnungen. Und sie mußten erfahren, daß sie tief verstrickt waren in das, was die Thora mit Sünde umschrieb und das Gebot noch radikalisierte. Als lebende Tote wurden sie gesehen. Die zu einem befreiten Leben hin drängten, hörten mit aller Härte die Drohung des Gebots: „Sterben mußt du, sterben.“ Das hatte Paulus von den Gojim und mit ihnen gelernt. Und für die spricht er hier als guter Anwalt.
Am Ende seiner Auslegung von Römer 7,8-13 bezieht Jankowski (J165) schließlich dann doch auch die Juden in die Gemeinschaft derer mit ein, die in der Welt, wie sie zu seiner Zeit unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter die römische Weltordnung nun einmal ist, die Forderungen der Tora nicht erfüllen können.
So wird zwar „in Israel so schnell keiner vom Leben zum Tod gebracht, wenn er ein Gebot der Thora übertritt“, vielmehr dient die „Härte der einzelnen Gebote … ja dazu, Menschen von einer möglichen Übertretung abzuhalten.“ Man kann auch sagen: „Sie spiegelt das Nein um des Ja willen wider.“ Das alles mag erklären, warum jemand, der als Jude geboren und mit den Forderungen der Tora aufgewachsen ist, auch die Mizwa einfach mehr oder weniger als gegeben hinnimmt, ohne sie als prinzipiell unerfüllbar oder von ihr ständig mit dem Tode bedroht wahrzunehmen. Aber zugleich zeigt „gerade die Verschärfung“ der Tora durch den mit der mizwa um sie errichtete Zaun,
daß in dieser Welt der Perversion, der Verbrechen, der Verfehlung, all der Absonderlichkeiten, nicht gelebt werden kann, wie es sich für Menschen gehört. Die Gojim ohne Thora können das nicht. Die Juden mit Thora können es auch nicht. Beide erkennen aber mit der Thora, daß die Welt der Sünde nur Tote produziert. Was hielt einen da am Leben?
An dieser Frage wird sich Paulus im Folgenden weiter abarbeiten.
↑ Römer 7,14: Die Tora inspiriert, aber ich bin ans „Fleisch“ gebunden, verkauft unter die Verfehlung
7,14 Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist;
ich aber bin fleischlich,
unter die Sünde verkauft.
[24. April 2025] Nach Michael Wolter (W444) leitet Paulus in Römer 7,14 die „Feststellung, die die Tora für ‚geistlich‘ (pneumatikos)“ erklärt, mit den Worten oidamen … hoti {denn wir wissen, dass} ein, die darauf schließen lassen, „dass sie bei seinen Adressaten Zustimmung findet“. Er scheint sich zu wundern, dass diese Aussage, die „ohne Parallele in der antiken jüdischen und frühchristlichen Literatur“ ist, „also gewissermaßen bis ins Christentum“ hineinreicht. Diese Verwunderung beruht natürlich auf Wolters in meinen Augen falscher Annahme, Paulus rede bereits als Christ zu römischen Heidenchristen. Spricht Paulus hier jedoch als Jude jüdische Ansprechpartner an, bei denen er sich für Nichtjuden einsetzt, die auf den Messias Jesus vertrauen, dann kann Paulus ohne Probleme gemeinsames Wissen über die Tora voraussetzen.
Jedenfalls ist, auch wenn das Wort pneumatikos in der Septuaginta nicht vorkommt, nach Wolter doch
diese Charakterisierung des Gesetzes in die Vorstellung vom Geist Gottes eingebettet, wie sie im Alten Testament und in den Schriften des frühen Judentums erkennbar ist. Sie besteht darin, dass der bleibend transzendente Gott durch seinen Geist in der Welt der Menschen präsent ist und wirkt. Durch seinen Geist wird Gott unter den Menschen als gegenwärtig und wirksam erfahren, ohne dass er dabei die für sein Gott-Sein spezifische Eigenschaft der Jenseitigkeit aufgibt.
Es fällt auf, dass Wolter, statt auf das weltverändernde Wirken des Gottes Israels einzugehen, fast nur in griechisch-philosophischen Kategorien Gottes bleibende Transzendenz und Jenseitigkeit hervorhebt, wozu er sich (Anm. 20) auf den Philosophen Philo und den Historiker Josephus beruft, die als Juden dennoch unter dem Einfluss griechischen bzw. römischen Denkens standen. So schreibt Philo <196>
in diesem Sinne … über Gen 2,7: „der Geist ist nicht bewegte Luft, sondern so etwas wie ein Abdruck (typos tis) und eine Ausprägung (charaktēr) der göttlichen Kraft“. Analog spricht Salomo in der Wiedergabe des Tempelweihgebets aus 1Kön 8,12-61 bei Josephus, Ant. 8,111-117 die Bitte aus, Gott möge einen Teil seines Geistes „in den Tempel umsiedeln“, so dass er (sc. Gott) „auch auf der Erde für uns anwesend“ ist (114) <197>.
Jankowski schätzt die geistliche Prägung der Tora entschieden anders ein, nämlich von daher (J167), dass der Geist des Gottes Israels „ein Beweger ist“ und auf das Tun der Tora drängt, aber dazu später.
Was Wolter (W445) bereits zur „Eigenart der entolē {des Gebots} unter Rückgriff auf die drei Gottesprädikate ‚heilig, gerecht und gut‘ beschrieben hatte“, wiederholt er nun im Blick auf die Charakterisierung der „Tora als pneumatikos“, dass „er damit nicht nur ihre Herkunft von Gott kennzeichnen, sondern auch zum Ausdruck bringen“ will, „dass sie Gott selbst in der Welt der Menschen repräsentiert.“
Der Satz 14c egō de sarkinos eimi pepramenos hypo tēn hamartian {Ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde} hängt nach Wolter (W445) vom Satzbau her zwar „nicht mehr von oidamen hoti ab“, steht von der Bedeutung her „aber in Antithese zu V. 14b, denn die Kennzeichnung der Tora als pneumatikos {geistlich} ist der Selbstcharakterisierung des Ich als sarkinos {fleischlich} gegenübergestellt.“ Beide Adjektive umschreiben „das Gegenüber von Mensch und Gott“ in derselben Weise, wie es im hebräischen Text von Jesaja 31,3 der Fall ist, wo
die Antithese von Fleisch und Geist … überhaupt erstmals belegt ist: „Auch die Ägypter sind Mensch und nicht Gott, und ihre Pferde sind Fleisch und nicht Geist“. Bei Paulus ist sie auf der Ausdrucksebene des Textes auch noch in 1Kor 3,3; 2Kor 1,12; 10,4 sowie in Röm 1,3b.4a zu erkennen.
In seiner eigenen Auslegung von Römer 1,2-4 hatte Wolter allerdings (W86f.) in der Einsetzung Jesu als Sohn Gottes nach dem Geist (kata pneuma) keine „Überbietung“ der fleischlichen Herkunft Jesu (kata sarka) aus dem Samen Davids sehen wollen, so dass offen bleiben muss, ob Paulus dort ein ähnliches Gegenüber im Sinn hat wie hier.
Unklar sind mir auch Wolters unmittelbar anschließende Mutmaßungen darüber, was Paulus in seinen Augen „hier (und dann auch in V. 18b-c)“ voraussetzt, nämlich
dass ‚Fleisch‘ nicht lediglich etwas am Ich ist, wie es die hellenistische Anthropologie annimmt, sondern dass das Ich in seiner Gesamtheit ‚Fleisch‘ ist. In dieser Hinsicht sind die Selbstwahrnehmung des Ich in Röm 7,14c und die Beschreibung des Christenmenschen in Gal 5,17 („das Fleisch strebt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch; denn diese stehen gegeneinander, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“) sehr weit voneinander entfernt. Erst vom Christenmenschen kann man sagen, dass er nicht selbst ‚Fleisch‘ ist, sondern dass ‚Fleisch‘ lediglich etwas an ihm ist.
Wolter scheint wirklich anzunehmen, dass Paulus in Römer 7 auf die menschliche Existenz als Fleisch zwar einen jüdisch-ganzheitlichen Blick wirft, den er jedoch selber nach Galater 5,17 als Christ bereits hinter sich gelassen hat. Ist aber nicht eher ernst zu nehmen, dass Paulus gerade als messianischer Jude die Begrifflichkeit von sarx und pneuma auf sehr unterschiedliche Weise aufeinander beziehen kann? <198>
Indem Wolter die „Selbstcharakterisierung des Ich als ‚fleischlich‘“ hier allerdings nicht wie in Römer 7,5 im Sinne „der Feindschaft gegen Gott“ versteht, räumt auch er Unterschiede in der paulinischen Betrachtung dieser Begrifflichkeit ein. Hier verbindet er mit ihr
das Merkmal der Schwäche und Machtlosigkeit, das im Vergleich mit Gott und seiner Welt jedes irdische Sein kennzeichnet (vgl. in diesem Sinne auch Mk 14,38 und Röm 6,19). An ihm partizipiert auch das Ich. Seine gottfeindliche Ausrichtung gewinnt es erst dadurch, dass es unter die Herrschaft der Sünde gerät.
In Vers 14d verwendet Paulus zur Beschreibung der „Herrschaft, die die Sünde über das Ich ausübt“, die gleiche „Metaphorik …, auf die er bereits in Röm 6,17-18.20 zurückgegriffen hatte: Er spricht von der Sünde als einer Sklavenhalterin, in deren Verfügungsgewalt das Ich ‚verkauft‘ wurde“. Das ist aber (Anm. 26) eine andere Metaphorik als beispielsweise in Jesaja 50,1LXX (tais hamartiais hymōn eprathēte {wegen unserer Sünden wurden wir verkauft}), weil dort „die Sünden … der Grund für den ‚Verkauf‘ der Sünder“ sind und „nicht ihr neuer Eigentümer.“ Näher zu Römer 7,14d
steht eher die in 1Kön 21(20),20.25; 2Kön 17,17; 1Makk 1,15 belegte Formulierung, derzufolge von Sündern gesagt wird, dass sie „verkauft worden sind, um das Böse zu tun“ (LXX: peprasai poiēsai to ponēron…). Der Unterschied zu Röm 7,14d ist freilich auch bei diesen Texten nicht zu übersehen, so dass eine unmittelbare Abhängigkeit eher unwahrscheinlich ist.
Die Formulierung (W446) pepramenos hypo tēn hamartian {verkauft unter die Sünde} betrachtet Wolter als einen Soloecismus, also einen groben sprachlichen Fehler im Satzbau, „denn sonst steht bei pipraskō {verkaufen} zur Bezeichnung des Käufers immer der Dativ“, wozu er u.a. auf Lev 25,39 und Bar 4,6 verweist, „und nicht hypo {unter} + Akkusativ“. Allerdings ist dieser „Verstoß gegen die korrekte Idiomatik“ von Paulus „sicher beabsichtigt“, denn er
verknüpft die Formulierung an dieser Stelle mit Röm 3,9, wo es hieß, dass alle Menschen „unter der Sünde“ (hyph‘ hamartian) sind. Paulus bringt auf diese Weise gezielt zum Ausdruck, dass durch den Verkauf ein Herrschaftsverhältnis entsteht, in dem das Ich seine ethische Autonomie verloren hat und nur tut, was die Sünde veranlasst.
[25. April 2025] Wie bereits gesagt, betrachtet Gerhard Jankowski (J167) die Bezeichnung der Tora als „geistlich, pneumatikos“, von der biblischen Vorstellung her, dass der Geist des Gottes Israels „ein Beweger ist, auf das Neue, das noch zu Schaffende hin drängend.“ Mit Römer 7,14 bereitet Paulus also bereits vor, worum es in den folgenden Versen ausführlich gehen wird, nämlich um das Tun, das Bewirken, die Durchführung dessen, „was die Thora verlangt. Wo die Thora ins Spiel kommt, da ist Aktivität gefordert. Sie inspiriert zu dieser Aktivität.“
Diesem inspirierenden Geist der Tora stellt Paulus nun denjenigen gegenüber,
der Thora tun soll. Der ist fleischlich, sarkinos, eingebunden in Beziehungen, die ihn negativ bestimmen. Erklärend sagt Paulus, daß er ein unter die Sünde Verkaufter ist. Wo es also um Aktivität gehen soll, da meldet sich Passivität. Die Thora aber verlangt keine Passivität.
Unter den von Wolter als biblische Parallelen zu Vers 14d erwogenen Stellen geht Jankowski auf die Stelle 1. Könige 21,25 ein. Ihr zufolge
hat sich der König Achab „verkauft, das in des EWIGEN Augen Böse zu tun“. Wer „verkauft“ ist, steht gegen die Thora. Er beachtet sie nicht, tut sie nicht. Bei Achab bedeutet das den Rückfall in die Barbarei, in der ohne Thora gelebt wird und die Unmenschlichkeit das letzte Wort hat.
Außerdem findet sich nach Jankowski die „Wendung verkauft sein/werden“ auch noch in einer Stelle des 5. Buches Mose, nämlich
in Dtn 28,68. ln diesem „Fluch der Thora“ genannten Stück werden die, die Thora nicht tun und von ihr abweichen, als die bezeichnet, die nach Ägypten den Feinden als Sklaven verkauft werden und nicht einmal gekauft werden, die also keiner haben will.
Ist Paulus dementsprechend „ein unter die Sünde Verkaufter“, was will er damit sagen? Steht er
auf der falschen Seite …, ausgeliefert einer falschen Ordnung? Sieht er sich unter „dem Fluch der Thora“ stehen, er, der die Thora bestens kennt? Da ist die inspirierende Ermutigung der Thora. Und da ist einer, der dieser Ermutigung nicht entsprechend antworten kann. Da ist einer, um im Bild aus Dtn 28,68 zu bleiben, der wie in Ägypten lebt, in das Sklavenhaus verkauft unter die Herrschaft des Todes – dem Vergessen preisgegeben. Härter kann wohl nicht umschrieben werden, was es heißt, Thora nicht tun zu können, obwohl man es will.
↑ Römer 7,15-20: Nicht das Gute tue ich, das ich will, sondern das ungewollte Böse, weil die Verfehlung in mir wohnt
7,15 Denn ich weiß nicht, was ich tue.
Denn ich tue nicht, was ich will;
sondern was ich hasse, das tue ich.
7,16 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will,
stimme ich dem Gesetz zu, dass es gut ist.
7,17 So tue ich das nicht mehr selbst,
sondern die Sünde, die in mir wohnt.
7,18 Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.
Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.
7,19 Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht;
sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
7,20 Wenn ich aber tue, was ich nicht will,
vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
[26. April 2025] Wie sich zuvor durch die Verse Römer 7,8-13 das Stichwort entolē {Gebot, Mizwa} als roter Faden hindurchzog, geht es in den Versen Römer 7,15-20 um das Tun der Tora. Um diese Thematik zu erfassen, genügt nach Jankowski (J166) „nicht ein Wort“, sondern Paulus verwendet „drei verschiedene Verben: poiein {tun}, prassein {machen}, katergazesthai {vollbringen, bewirken}“, die hier je viermal, zweimal und viermal, insgesamt also zehnmal vorkommen. Bevor ich aber weiter auf seine Auslegung eingehe, wende ich mich erst einmal wieder Michael Wolters Ausführungen zu.
In Vers 15a (W446)
nennt Paulus zunächst die allgemeine Konsequenz …, die sich aus der in V. 14d festgestellten Situation für das Ich ergibt: Wie kein Sklave tun kann, was er will, sondern immer nur das tun muss, was sein Eigentümer ihm aufträgt, folgt auch das Handeln des unter die Sünde versklavten Ich nicht seinen eigenen Intentionen.
Interessant ist, was Wolter für das Wort ginōskein an dieser Stelle herausgefunden hat, nämlich dass es „hier weder ‚verstehen, begreifen‘ noch so etwas wie ‚gutheißen‘“ bedeutet. Vorauszusetzen ist hier „vielmehr eine gar nicht einmal selten belegte Bedeutung im Sinne von ‚bestimmen, beschließen, beabsichtigen, sich vornehmen‘“, wofür Wolter u.a. zwei Belege bei Philo v. Alexandrien <199> heranzieht:
Post. C. 82: ei mē kai tois kleptein ē moicheuein ē androphonein egnōkosin („außer für die, die zu stehlen oder ehezubrechen oder zu morden sich vorgenommen haben“); Virt. 69: Mose ermahnt Josua, „gute Beschlüsse herbeizuführen (agathas … gnōmas eisēgeisthai) und … das Beschlossene gut zu vollenden (ta gnōsthenta kalōs teleioun)“.
So gesehen (W440) ist in Römer 7,15a das ou ginōskein mit „ich beabsichtige nicht“ zu übersetzen, so dass es vom Sinn her (W447)
dem katergazesthai {Vollbringen} des Ich nicht folgt, sondern vorausgeht; Paulus nennt hier ginōskein {beabsichtigen}, zu was er in V. 15b.16a.18e.19a.b. 20a.21b thelein {wollen} sagt.
Was in Vers 15b-c folgt, vergleicht Wolter mit dem in Vers 19 Gesagten (W440):
15b Denn nicht was ich will {ou gar ho thelō},
—— das mache ich {touto prassō},
15c sondern was ich verabscheue {all‘ ho misō},
—— das tue ich {touto poiō}.
19a Denn nicht was ich will {ou gar ho thelō},
—— (nämlich) Gutes, tue ich {poiō agathon},
19b sondern das, was ich nicht will {all‘ ho ou thelō},
——(nämlich) Böses, das mache ich {kakon touto prassō}.
Zu diesen „Feststellungen (W447), die mit ihrer ‚Nicht-Sondern‘-Struktur das Handeln des Ich beschreiben“, betont Wolter, dass sie „parallel“ sind und einander „interpretieren“:
Was das Ich eigentlich „will“, aber dennoch nicht „tut“, ist das „Gute“ bzw. das von der Tora Geforderte. Umgekehrt ist das, was es „verabscheut“ (misei) und eigentlich nicht „will“, aber immer wieder doch „tut“, das „Böse“ bzw. das von der Tora Untersagte.
Zwar kann man nach Wolter „nicht sagen“, worum es sich hier „im Einzelnen handelt…, denn Paulus lässt das Ich sein Handeln in idealtypischer Weise beschreiben“, aber er verknüpft den hier „beschriebene[n] Vorgang“ mit den Versen 7d-11 und fügt ihn „zwischen V. 9b und V. 10a“ ein:
Er setzt das Aufleben der Sünde durch die Begegnung mit der Tora und ihren Geboten voraus, und ihm folgt die Zuweisung von Unheil, mit der Gott auf das Tun des Bösen reagiert.
Indem Wolter auf diese Weise die Aussagen in den Versen 7-12 mit denjenigen in den Versen 13-25 so eng verknüpft sieht, dass sie „kein zeitliches Nacheinander“ bilden, steht für ihn auch außer Frage, dass Paulus hier „auch nicht mit zwei verschiedenen lchs“ arbeitet. „ln V. 7-12 und in V. 13-25 spricht ein und dasselbe Ich.“
In einem längeren Exkurs geht Wolter auf den von Paulus in den Versen 15b-c und 19 angesprochenen „Widerspruch zwischen Wollen und Tun“ ein, den er als „Bestandteil der antiken Akrasia-Diskussion“ bezeichnet:
Deren Gegenstand ist die Frage, ob die Menschen stets in Übereinstimmung mit ihrem ethischen Urteil handeln und das, was ihnen als gut bzw. böse bekannt ist, auch tun bzw. lassen, oder ob es sein kann, dass Menschen trotz besseren Wissens auch umgekehrt das Böse tun bzw. das Gute lassen, weil sie von Faktoren bestimmt sind, die über ihre ethische Einsicht dominieren.
Dazu ist auf Sokrates die optimistischere von „zwei Grundpositionen“ zurückzuführen (W448), derzufolge Fehler nur von Menschen gemacht werden, die nicht über Wissen bzw. Weisheit verfügen. Andere aber gehen davon aus, dass „die Affekte… über die ethische Erkenntnis und das Wissen um gut und böse dominieren und die Menschen immer wieder gegen ihre Einsicht handeln lassen.“ Die letztere Position hat ihre „prominenteste Ausprägung … in Euripides‘ ‚ ‚Medea‘ gefunden“, einer „Tragödie“, in der die „Titelfigur … die gemeinsamen Kinder aus Rache an ihrem Mann töten“ will, „wohl wissend, dass sie damit Böses tut“.
Dieser Stoff ist nach Wolter (W449) in „zeitlicher Nachbarschaft des Neuen Testaments … mehrfach aufgegriffen und diskutiert worden“, z.B. von Epiktet, der meint, „dass das Medea-Problem auf sokratische Weise lösbar gewesen wäre, also durch Belehrung“ (Diss. 1,28,6-8) <200>:
„Kann nicht jemand meinen, dass es ihm nützt, und es trotzdem nicht wählen? Er kann es nicht. Wie sagt sie (sc. Medea)? ‚Und ich begreife zwar, welch Böses zu tun ich im Begriff bin, doch ist die Leidenschaft stärker als meine Überlegungen.‘ Denn eben das, sich der Leidenschaft hinzugeben und sich am Mann zu rächen, hält sie für nützlicher als die Kinder zu retten. Ja, aber sie täuscht sich (exēpatētai). Zeige ihr klar auf, dass sie sich täuscht, und sie wird es nicht tun (deixon autē enargōs hoti exēpatētai kai ou poiēsai). Aber solange du es nicht aufzeigst, wem soll sie folgen, als dem, was (ihr richtig) scheint (tini echei akolouthēsai ē tō phainomenō)?“
Andere Autoren halten daran fest (W450), „dass die Affekte der ethischen Einsicht überlegen sind“, z.B. „sagt Medea in Ovids „Metamorphosen“ <201>:
7,19-21: Sed trahit invitam nova vis, aliudque cupido, mens alius suadet. Video meliora proboque, deteriora sequor.
Aber wider Willen zieht mich eine fremde Macht, eines rät die Begierde, die Vernunft was anderes. Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich.
Dass die Verse Römer 7,15b-c. und 19 (W451) als „Bestandteil dieses Diskurses“ aufzufassen sind, lässt sich Wolter zufolge „aufgrund der intensiven sprachlichen Überschneidungen zwischen den Texten nicht von der Hand weisen“. Zwar behauptet er nicht, dass Paulus „mit den Euripides-Dramen literarisch vertraut war“, und verzichtet auf die Beantwortung der Frage, „[w]odurch Paulus von ihm Kenntnis erlangt“ haben könnte, aber ihm zufolge steht Paulus „[i]nnerhalb der doppelten Rezeption des Medea-Topos‘ eher nicht auf der Seite Epiktets, sondern auf der Seite Ovids“.
Allerdings muss Wolter trotzdem einräumen, dass „sich die paulinische Darstellung des Widerspruchs zwischen Wollen und Tun in mehreren Punkten von dem Akrasie-Diskurs und der Behandlung des Medea- und Phaedra-Stoffes in seiner Umwelt“ unterscheidet. Denn für Paulus gilt erstens:
Das Ich will das Gute tun, auch wenn es dann das Böse vollbringt. Demgegenüber richtet sich bei Medea … schon das Wollen auf das Böse. Hier kann man also nicht von einem Widerspruch zwischen Wollen und Tun sprechen. Bei Paulus hat die Sünde über das Wollen keine Macht, sondern nur über das Tun. Bei Medea … gibt es eine solche oder eine vergleichbare Unterscheidung zwischen Wollen und Tun nicht.
Darüber hinaus sind es bei Paulus nicht die Affekte (thymos oder Liebe oder Hass oder furor), die das Wissen und die Erkenntnis überwältigen und verhindern, dass das Gute getan wird. Es ist vielmehr die Sünde, die im Ich „wohnt“ (V. 17b.20c), die das auf das Tun des Guten ausgerichtete ‚Wollen‘ des Menschen überwindet und das Ich zwingt, gegen seine ethische Einsicht zu handeln und zu tun, was es ‚verabscheut‘ (misei).
An dieser Stelle öffnet sich Wolter dann doch, wenn auch anscheinend eher zögerlich, der Einsicht, dass die Aussagen des Paulus wohl kaum ihren Hintergrund in der Literatur und Philosophie der hellenistischen und römischen Kultur haben, sondern in den jüdischen heiligen Schriften (W451f.):
Die Wahl des Wortes misein {verabscheuen, hassen} in V. 15c hat möglicherweise einen Septuaginta-Hintergrund (hebr. ßaneˀ); vgl. neben Ex 18,21 („gerechte Männer, die Hochmut verabscheuen [misein]“) vor allem Ps 96,10LXX („die ihr den Herrn liebt, miseite ponēron {verabscheut das Böse}“); Am 5,15LXX („wir haben das Böse verabscheut [memisēkamen] und das Gute geliebt [ēgapēkamen]“); in umgekehrter Anordnung Mi 3,2 (hoi misountes ta kala kai zētountes ta ponēra [„die das Gute hassen und das Böse suchen“]); Ps 118,104LXX („aus deinen Geboten empfange ich Einsicht; darum verabscheue ich jeden Weg der Ungerechtigkeit, denn du hast es mir gesetzlich geboten [… emisēsa pasan hodon adikias hoti sy enomothetēsas moi]“; s. auch V. 128. 163); Tob 4,15 (ho miseis mēdeni poiēsēs [„was du verabscheust, tue niemandem an“]); Spr 8,13; 13,5; 15,27; 28,16; Jes 33,15; 61,8…
Kurz und knapp geht Wolter zu guter Letzt auf die Kriterien ein, aus denen allein für Paulus die Erkenntnis des Guten und Bösen hervorgehen kann (W452):
Und schließlich bemisst sich das, was bei Paulus als „gut“ und was als „böse“ gilt (V. 19a.b), nicht an einem prinzipiell allen Menschen zugänglichen „Wissen“ (epistēmē) und „Erkennen“ (gignōskein), sondern an Gottes „Gesetz“ und „Gebot“: Was „gut“ ist und was „böse“, erschließt sich nicht der Einsichtsfähigkeit aller Menschen, sondern nur denen, die Gottes Gesetz als „Verkörperung der Erkenntnis und der Wahrheit“ haben (Röm 2,20).
Daraus folgt nach Wolter (Anm. 38), dass das „paulinische thelein … der Wille zum Gehorsam gegenüber den Geboten der Tora“ ist und „nicht lediglich ein ‚vernünftiges‘ bzw. ‚rational informiertes Streben nach dem Guten‘“, was J. Müller „mit Verweis auf Plato, Gorg. 466a-468e“ <202> annimmt.
Was Wolter in seinen Ausführungen zu Vers 15 und 19 anfangs in den Hintergrund treten ließ, ist ihm zufolge (W452) in Vers 16 „nicht zu überhören“, nämlich dass auch hier „das Ich mit einer jüdischen Stimme spricht.“ Denn eindeutig ist der
nomos … auch hier die Tora. Deren Charakterisierung als kalos {gut} entspricht den Aussagen über sie in V. 12 („heilig und gerecht und gut“) und V. 14b („geistlich“). Die Tora ist „gut“, denn sie kommt von Gott und gebietet zu tun, was „gut und recht ist (to kalon kai to areston) vor dem Herrn“ (Dtn 12,25.28; 13,19). Das Ich identifiziert mit diesem Vers den Widerspruch zwischen Wollen und Tun, den sein Handeln kennzeichnet, als Bestandteil seines Umgangs mit der Tora.
Das geschieht, indem „Paulus an die Ausgangsfragestellung“ anknüpft, ob etwas Gutes tödliche Folgen haben kann. In Vers 16a nimmt er
das in V. 15c Gesagte als gegebene Voraussetzung (ho ou thelō {was ich nicht will} entspricht ho misō {was ich verabscheue}) und leitet daraus die Schlussfolgerung ab, dass das Ich auch durch die Nichterfüllung des Gesetzes dessen Anspruch und Selbstverständnis ins Recht setzt, weil es nämlich in Widerspruch zu seinem Wollen handelt. Paulus formuliert den Satz so, dass es nicht das Wollen bzw. Nicht-Wollen ist, mit dem das Ich dem Gesetz zustimmt, sondern paradoxerweise gerade das Handeln in Widerspruch zum Gesetz. Weil dieses Handeln gleichzeitig aber auch in Widerspruch zum Wollen geschieht, kann das Ich daraus die Feststellung ableiten, dass sein Wollen mit der Forderung des Gesetzes übereinstimmt. Paulus trennt hier also das wollende Ich vom handelnden Ich und stellt ersteres auf die Seite des Gesetzes. Er formuliert damit nicht eine Aussage über das Gesetz, sondern über das Ich. In V. 22 wird er sie noch einmal wiederholen, indem er an die Stelle des wollenden Ich den „inneren Menschen“ setzt.
In Vers 17 formuliert Paulus eine „These“, die „in den nachfolgenden Versen durch eine Kette von gar-{denn-}Sätzen rekursiv {zurückgreifend} begründet“ wird. Dabei wird (W452f.)
jede Begründung zu einer neuen These, die dann wieder ihrerseits mit einer Begründung versehen wird: V. 17 durch V. 18a-d, V. 18a-d durch V. 18e-f, V. 18e-f durch V. 19. Die letzte Begründung wird dann in einen realen Konditionalsatz transformiert (V. 20a), aus dem Paulus die Schlussfolgerung ableitet (V. 20b-c), die zur Ausgangsthese zurückführt.
Indem Paulus (W453) in Vers 17 „mit Hilfe der Adverbien nyni de {nun aber} und ouketi {nicht mehr}… einen Einschnitt“ markiert, verändert er in Römer 7,17-20 gegenüber 7,15-16a die Perspektive:
Thema ist nun nicht mehr die Unterscheidung zwischen wollendem und handelndem Ich, sondern das Ich ist jetzt ganz das handelnde Ich. Oder anders herum gesagt: das Ich, das jenseits der Unterscheidung zwischen wollendem Ich und handelndem Ich doch immer ein und dasselbe Ich ist und bleibt, sieht nun von seinern Wollen ab und nimmt nur noch sein Handeln in den Blick. Das ‚Vorher‘, von dem das ouketi abgrenzt, ist die Beschreibung des Widerspruchs zwischen wollendem Ich und handelndem Ich in V. 15-16a, wo Paulus das Ich als Subjekt seines Handelns in den Blick genommen hatte. „Nicht mehr“ heißt hier darum so viel wie: ‚nicht mehr wie gerade noch gesagt‘. Mit dem persönlichen Fürwort auto {das, es} greift Paulus in V. 17a auf ho misō {was ich verabscheue} (V. 15b) und ho ou thelō {was ich nicht will} (V. 16a) zurück.
In Vers 17b und 20c benennt Paulus „die Sünde als das Subjekt …, das für das Handeln des Ich eigentlich verantwortlich ist“. Damit bestätigt er das in Vers 14d festgestellte „Herrschaftsverhältnis“ zwischen der Sünde und dem Ich, deren Herrschaft er jetzt nicht mehr mit der „Vorstellung vom Versklavtsein des Ich ‚unter die Sünde‘“ beschreibt, sondern „als eine Form dämonischer Besessenheit“ des Ich:
Die Sünde „bewohnt“ das Ich wie ein böser Geist einen Menschen… Es hat seine Autonomie verloren und seine Personalität an die Sünde abgetreten. Zu dieser Vorstellung von Besessenheit gehört, dass nicht mehr das Ich handelt, sondern die es beherrschende Sünde.
Wolter vergleicht diese „Metaphorik“ mit der „Vorstellung …, dass Dämonen oder böse Geister sich ‚in‘ den Menschen befinden oder ‚aus‘ ihnen vertrieben werden“. Dazu verweist er auf „Mk 1,25f; 5,8.12-13; 9,26“ und „Lk 11,24-26 par. Mt 12,43-45, wonach ein ‚unreiner Geist‘ den Menschen, aus dem er vertrieben wurde, ‚mein Haus‘ nennt und in ihm dann wieder zusammen mit sieben anderen Geistern ‚Wohnung nimmt‘ (katoikei).“ Und ebenso wie (W454) „bei Paulus nicht das lch handelt, sondern die in ihm ‚wohnende‘ Sünde, so sprechen in den Exorzismuserzählungen nicht die Besessenen, sondern die in ihnen ‚wohnenden‘ Dämonen.“
Dass Paulus in Römer 8,9.11 und 1. Korinther 3,16 auch vom umgekehrten Vorgang spricht, nämlich „von der ‚Einwohnung‘ des heiligen Geistes in Menschen“, erwähnt Wolter eher beiläufig, nachdem er zuvor betont hatte, dass der jüdische Philosoph Philo <203> im Zusammenhang dessen, „was bei der prophetischen Ekstase passiert“, so „vom menschlichen nous und vom Geist Gottes“ spricht wie Paulus „von der Sünde“:
„Es zieht aus (exoikizetai) der Nous in uns bei der Ankunft des göttlichen Geistes, und nach seiner Entfernung zieht er wieder ein (eisoikizetai). Sterbliches kann nämlich nicht mit Unsterblichem zusammenwohnen (synoikēsai)“.
Eine solche quasi stoffliche Unverträglichkeit des göttlichen mit dem menschlichen Geist entspricht aber doch eher griechischer Philosophie als jüdisch-biblischem Denken und ist jedenfalls bei Paulus nirgends zu finden.
Der erste Teil von Vers 18, von Wolter mit 18a-d bezeichnet, stellt nun eine erste Begründung von Vers 17 dar (W440):
18a Denn ich weiß {oida gar},
18b dass nicht wohnt in mir {hoti ouk oikei en emoi},
18c das ist in meinem Fleisch {tout‘ estin en tē sarki mou},
18d das Gute {agathon}.
Nach Wolter (W454) „übernimmt“ das Ich hier „die dämonologische Einwohnungs-Metaphorik aus V. 17b und formuliert eine anthropologische Gewissheit“, nämlich dass en emoi {in mir} bzw. en tē sarki mou {in meinem Fleisch} das Gute nicht wohnt. Damit „wiederholt“ Paulus
die Aussage von V. 14c („ich aber bin fleischlich“) mit anderen Worten. Das Wesen des Ich wird als „Fleisch“ charakterisiert. en emoi (V. 18b) weist auf en emoi in V. 17b zurück, wodurch dann auch das „Fleisch“ (V. 18c) zur Behausung der Sünde wird. Damit will Paulus nicht auf die sog. ‚Sünden des Fleisches‘ anspielen, sondern er spricht hier vom „Fleisch“ als einer Metapher für die condicio humana: Wie es keine menschliche Existenz ohne „Fleisch“ gibt, so gibt es auch keine menschliche Existenz ohne Sünde, und darum gehört die Sünde so notwendig zum menschlichen Leben dazu wie das Fleisch.
Darauf folgt in Vers 18e-f eine weitere Begründung, die „den existentiellen Erkenntnisgrund für die in V. 18a-d formulierte anthropologische Gewissheit“ liefert (W440):
18e Denn das Wollen ist mir möglich {to gar thelein parakeitai moi},
18f das Vollbringen des Guten aber nicht {to de katergazesthai to kalon ou}.
Indem Paulus hier (W454) das Wort katergazomai {ich beabsichtige} aus Vers 15a mit katergazesthai {beabsichtigen} wiederaufnimmt, lässt er erkennen, dass er auch auf die entsprechende Feststellung „des ersten Argumentationsgangs … (‚was ich vollbringe, beabsichtige ich nicht‘)“ zurückgreifen will. Das Ich stellt klar (W455),
dass seine Autonomie in Bezug auf die Befolgung des vom Gesetz Gebotenen (des kalon; V. 18f) auf „das Wollen“ beschränkt ist; handeln tut an seiner Stelle die Sünde, und die lässt es nicht das gewollte „Gute“ tun, sondern das nicht gewollte „Böse“ (V. 19a-b).
Vers 19, der „nahezu wortwörtlich V. 15b-c“ entspricht und oben bereits eingehend besprochen wurde, dient innerhalb „des rekursiven Argumentationsgefüges von V. 17-20 … als empirische Begründung für die in V. 18e-f formulierte Feststellung.“
Darauf baut nun abschließend Vers 20 auf, der in 20a „das in V. 19b Gesagte als gegebene Voraussetzung“ aufnimmt und „daraus die Schlussfolgerung“ in 20b-c ableitet (W440):
20a Wenn ich aber das tue, was ich nicht will {ei de ho ou thelō touto poiō},
20b vollbringe nicht mehr ich es {ouketi egō katergazomai auto},
20c sondern die Sünde, die in mir wohnt {all‘ hē oikousa en emoi hamartia}.
Damit (W455) wiederholt Paulus
nahezu wortgleich die Ausgangsthese, die er diesem Argumentationsgang in V. 17 vorangestellt hatte. … Paulus will auf diese Weise signalisieren, dass er seine Ausgangsthese als hinreichend bewiesen ansieht. Das Pronomen auto {es} (V. 20b) bezieht sich hier auf ho ou thelō kakon {nicht, was ich will, Gutes} (V. 19b) und auf ho ou thelō {was ich nicht will} (V. 20a).
Was will Paulus Wolter zufolge hier ausdrücken, wenn er im „Unterschied zu V. 14d … das Ich der Sünde nicht mehr lediglich unterworfen“ sieht, „sondern die Sünde … zu einem Teil seiner selbst geworden“ ist? Entscheidend ist, dass die dort beschriebene „Fremdbestimmung … nach V. 17-20 … nicht mehr lediglich von außen, sondern von innen“ kommt, „aus dem Ich selbst heraus“. Damit will Paulus nicht etwa „das Ich von der Verantwortlichkeit für sein Handeln … entlasten“, sondern er
will vielmehr die anthropologische Ausweg- und Rettungslosigkeit der Existenz des Ich illustrieren. Von V. 14d zu V. 20 findet damit eine Steigerung statt: Würde dem Ich die Sünde nur als eine von ihm zu unterscheidende Fremdherrschaft gegenüberstehen, könnte es vielleicht aus eigener Kraft von ihr loskommen. Weil die Sünde aber eine Herrschaft ausübt, die Bestandteil seines eigenen Selbst ist, bleibt das Ich ihr ohne Aussicht auf Rettung und Befreiung unterworfen. Hilfe – und auch in dieser Hinsicht gibt es eine Entsprechung zu den Exorzismuserzählungen – kann nur von außen kommen. Aber so weit ist Paulus an dieser Stelle noch nicht.
Wolters Auslegung pendelt hin und her zwischen der Einsicht, dass Paulus aus der Sicht eines jüdischen Ich von der guten Tora Israels spricht, und einer Tendenz, die Fremdbestimmung dieses Ich durch die Sünde von allgemein-menschlichen Kategorien her zu interpretieren. Lauert hier nicht die Gefahr, dass aufgrund anthropologischer Gewissheiten oder Ausweglosigkeiten letzten Endes die jüdische Tora ihrer grundlegenden Bedeutung beraubt wird?
[27. April 2025] Gerhard Jankowski (J166) liegt daran, dass das nicht geschieht. Und so hebt er gleich zu Beginn seiner Auslegung von Römer 7,14-25 unter der Überschrift „Vom Tun der Thora“ einige der Sätze hervor, mit denen im 5. Buch Mose (Deuteronomium) „Israel gleichsam eingehämmert“ wird, „daß die Thora und ihre Gebote nicht nur zu hören, sondern vor allem zu tun sind“:
„Wahre denn das Gebot, so die Gesetze, so die Rechtsgeheiße, die ich heute am Tag dir gebiete, sie zu tun.“ (Dtn 7,11) Oder: „All das Gebot, das ich heute am Tag dir gebiete, wahrt es im Tun.“ (Dtn 8,1)
Paulus kannte diese Sätze und wusste, dass ebenso auch „die von den Lehrern Israels formulierten Gebote für das Leben im Alltag“ getan werden mussten:
Wie aber sieht das nun aus, dieses Tun der Thora? Und: Kann Thora überhaupt getan werden? Die Frage muß jetzt gestellt und auch beantwortet werden. Denn es kann nicht nur darum gehen, daß die Thora nur zur Erkenntnis der Sünde führt. Sie will ja getan sein, damit Sünde, wenn nicht unmöglich, so doch eingedämmt wird.
Nach Jankowski wird Paulus in seinem Reden „vom Tun der Thora … wieder sehr persönlich“ und macht sich „angreifbar“, indem er „sich nicht hinter den Traditionen“ versteckt, „aus denen er kommt“, sondern „[s]ubjektiv, so scheint es zumindest, … von seinen Erfahrungen“ redet:
Er verschweigt nicht, wie es ihm gegangen ist, wenn er versucht hat, die Thora im Tun zu wahren. … Selbstkritisch redet er von seiner jüdischen Existenz und Identität. … Er hätte es sich weiß Gott leichter machen können. Aber es geht ihm um die Gojim, für die er nach wie vor eintritt. Und es geht ihm bei seiner schonungslosen Offenheit vielleicht auch um seine jüdischen Brüder, Kenner der Thora wie er. Seht her: so denke ich, so geht es mir, wenn ich das, was die Thora fordert, tun will. Habt ihr es nicht auch so erfahren, wenn ihr die Thora im Tun wahren wollt?
Das Wort „Tun“ charakterisiert Jankowski zunächst als „ein Allerweltswort“. Allerdings „genügt“ Paulus im „Zusammenhang mit der Thora … nicht ein Wort, um das Tun zu fassen“, vielmehr greift er auf „drei verschiedene Verben“ zurück: poiein, prassein, katergazesthai (J166f.):
Katergazesthai hat von den drei Verben die umfassendste Bedeutung. Als Kompositum ist es verstärkend. Es umfaßt den ganzen Bereich des Arbeitens und Machens. Es ist Tun, das aufs Gelingen angelegt ist. Vollendetes katergazesthai hat als Ergebnis etwas Vollbrachtes. Etwas sich erarbeiten, sich erwerben sind mögliche Übersetzungen. Bewirken empfiehlt sich in unserem Zusammenhang als adäquate Übersetzung.
Prassein steht für aktives, ganz praktisches Handeln. Es beschreibt die Tätigkeit an sich. Unsere Worte Praxis, praktisch, praktizieren sind von diesem Verb abgeleitet. Agieren, betreiben, durchführen sind hier die möglichen Übersetzungen. Wir entscheiden uns für durchführen.
Poiein steht dazu in enger Verbindung. Jedoch umscheibt es das Beginnen einer bestimmten Handlung, die ausgeführt werden soll oder die jemand ausführen will. Hier übersetzen wir wie üblich mit tun.
In seiner späteren Übersetzung (G22) ist Jankowski dann allerdings dazu übergegangen, katergazesthai mit „ausrichten“ bzw. „ausführen“ wiederzugeben, prassein mit „vollbringen“ und poiein mit „machen“ bzw. „tun“. Offenbar sind die Bedeutungsunterschiede der drei Verben doch nicht so erheblich, dass sich aus ihnen wesentliche Einsichten für die Auslegung dieser Verse ergeben – außer dass eben das Tun der Tora in großer Breite in ihrem Mittelpunkt steht.
Am Ende der Auslegung von Vers 14 war für Jankowski offen geblieben (J167), was es für Paulus bedeuten musste, „ein unter die Sünde Verkaufter“ zu sein. Lebt er „wie in Ägypten …, in das Sklavenhaus verkauft unter die Herrschaft des Todes – dem Vergessen preisgegeben“? Was heißt es für ihn, „Thora nicht tun zu können, obwohl man es will“? Das muss Jankowski zufolge (J167f.)
genauer erklärt werden, weil eine solche Behauptung, von einem Juden aufgestellt, wie Ketzerei klingen muß. Paulus versucht das in zwei Schritten, die jeweils mit einem kognitiven Verb eingeleitet werden: ich erkenne (nicht) in 7,15 und ich weiß in 7,18.
Bevor ich auf diese von Jankowski erwogenen beiden Schritte eingehe, ist ein zweifacher Blick zurück auf Wolter notwendig, der Jankowskis Vorgehen von vornherin den Boden zu entziehen scheint.
Erstens hat Wolter (W446) gegen die Übersetzung von ginōskein mit „erkennen“ gute Gründe vorgebracht, um es hier stattdessen als gleichbedeutend mit thelein {wollen} im Sinne von „beabsichtigen“ zu begreifen. Zunächst habe ich zwar überlegt, ob Paulus mit ho gar katergazomai ou ginōskō im Sinne von „denn was ich vollbringe, beabsichtige ich nicht“ und ou gar ho thelō touto prassō mit der Bedeutung „denn nicht, was ich will, das mache ich“ dann nicht zwei fast völlig bedeutungsgleiche Sätze aufeinander hat folgen lassen. Aber genau dasselbe drücken sie ja eben nicht aus: der erste legt den Akzent auf das Handeln, bei dem das ungebräuchlichere Wort katergazesthai, zu dem mir auch die Übersetzung bewerkstelligen einfällt, sogar betont am Anfang steht, um von ihm zu sagen, dass dieses Handeln nicht bewusst beabsichtigt ist, während der zweite Satz ergänzt, dass umgekehrt das Ungewollte getan wird.
Außerdem kann ich zwar Jankowskis Versuch nachvollziehen, die Abfolge der Verse 15-17 und 18-20 mit Hilfe zweier auf Erkenntnis bezogener Verben zu gliedern, aber dennoch erscheint mir Wolters Analyse überzeugender (W452f.), dass die Kette dreier Begründungen, die in den Versen 18-19 für die These von Vers 17 vorgebracht wird, sich letztlich im Kreise dreht, weil sie in Vers 20 am Ende wieder auf dasselbe Ergebnis hinausläuft, womit (W455) Paulus „seine Ausgangsthese als hinreichend bewiesen ansieht.“ Im gleichen Sinne hat Wolter (W444) schon zu Vers 13f hervorgehoben, dass „das Wirken der Sünde seinen Sinn immer nur darin haben“ kann, „dass sie ihr eigenes Wesen entlarvt“.
Folgendermaßen beschreibt Jankowski (J168) die „erste Erklärung“ des Paulus für seine Unfähigkeit, Tora zu tun:
Ich erkenne nicht, was ich bewirke. Denn ich tue genau das Gegenteil von dem, was ich will. Das eigene Tun ist nicht mehr eindeutig. Nicht das Geförderte wird bewirkt, sondern das, was zu hassen ist. Das bewirkt zwar auch etwas. Es verunmöglicht Leben. Auch diese zu erkennende Unterscheidung ist von der Thora vorgegeben. Es ist ja die Thora, die das Leben gestalten will.
Was aber lenkt das falsche Tun? Was bestimmt das gegen die Thora gerichtete Tun? Paulus sagt: die in mir hausende Sünde. Die Todesordnung wird zum alles beherrschenden Prinzip. Sie bestimmt nicht nur die Verhältnisse und Beziehungen aller, sie ist zutiefst in einem selbst einhäusig. Wogegen die Thora gerichtet ist, das Fehlverhalten, die Sünde, steckt in einem selbst. Das Tun ist fremdbestimmt. So muß, wie in den menschlichen Beziehungen alles fehl- und danebengeht, auch im einzelnen alles danebengehen. Die Folge ist: Thora kann nicht getan werden.
Hier kommt Jankowski am Ende der Auslegung der Verse 15-17 im Grunde bereits zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, die Wolter erst nach der Auslegung von Vers 20 zieht (W455), dass nämlich „die Sünde … eine Herrschaft ausübt, die Bestandteil seines eigenen Selbst ist“, und dass deswegen „das Ich ihr ohne Aussicht auf Rettung und Befreiung unterworfen“ bleibt. Im Unterschied zu Wolter formuliert Jankowski (J168) diese Herrschaft der Sünde jedoch konkret auf die gesellschaftliche „Todesordnung“ bezogen, die es den Menschen, die persönlich in sie verstrickt sind, unmöglich macht, gemäß der befreienden Tora zu handeln und sich auf diese Weise selber aus ihren Verstrickungen zu befreien.
In den Versen 18-20 nimmt Jankowski eine „zweite Erklärung“ dafür wahr, die „noch genauer auf die Fremdbestimmtheit“ eingeht:
Da will einer Thora tun. Was er dann tut, ist jedoch genau das Gegenteil von dem, was er wollte und was die Thora verlangt. Die Erkenntnis wird zur Gewißheit: Ich weiß, daß in mir nichts Gutes wohnt. Diese Erkenntnis aber wird gewonnen an der guten Thora, die einer tun will, aber nicht tun kann.
Ob es gerechtfertigt ist, wie Jankowski eine solche erste und zweite Erklärung sozusagen auf die Verse 15-17 bzw. 18-20 aufzuteilen, ist eher zu bezweifeln. Von der guten Tora ist ja bereits in Vers 16 die Rede, und auf die übermächtige Todesordnung der Sünde laufen in Vers 17 bzw. 20 beide Versreihen hinaus. Was Jankowski inhaltlich herausarbeitet, geht somit aus der Gesamtheit dieser Verse hervor.
Anders als Wolter setzt sich Jankowski nun mit der Frage auseinander, inwiefern Paulus in seinen hier geäußerten Einsichten mit den Rabbinen seiner Zeit übereinstimmt und worin er ihnen in radikaler Weise widerspricht:
Die Rabbinen können ähnliche Aussagen machen, wenn sie von dem bösen Trieb reden, der im Menschen herrscht. Sie gehen aber niemals so weit, daß sie sagten, die Sünde selbst hause im Menschen. Denn da ist ja auch noch der gute Trieb, der gegen den bösen Trieb kämpft und mit der Thora auch den Sieg erringen kann. Davon hören wir bei Paulus nichts. Das mag daran liegen, daß er das Lehrstück über den bösen Trieb radikalisiert. Der böse Trieb bleibt allein übrig und bestimmt den Menschen total. Der gute Trieb hat dagegen keine Chance mehr.
Auf die Frage, was „Paulus zu dieser zweifachen Gewißheit gebracht“ hat, antwortet Jankowski zum einen mit dem Hinweis auf das rabbinische Lehrhaus, in dem Paulus sein Tora-Studium absolviert hat, zum andern aber erinnert er daran, dass die Berufung des Apostels durch den Messias Jesus ihn in die Gemeinschaft mit den Völkern geführt hat. Diese lernen in einem messianischen Lehrhaus nun ebenfalls Tora, sind dabei aber nicht nur als Lernende, sondern zugleich auch als Lehrende ernst zu nehmen:
Zu der Gewißheit, daß die Thora heilig ist, führte ihn mit Sicherheit das Studium bei den Lehrern der Thora. Zu der Gewißheit, daß die Thora nicht getan werden kann, brachte ihn wohl das, was er von den Gojim, deren Anwalt er sein wollte, lernte, als er ihnen die Thora nahe bringen wollte.
↑ Römer 7,21-23: Trotz meiner Freude mit der Tora führt eine andere Tora Krieg gegen mich, nimmt mich gefangen in der Tora der Verfehlung
7,21 So finde ich nun das Gesetz:
Mir, der ich das Gute tun will,
hängt das Böse an.
7,22 Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz
nach dem inwendigen Menschen.
7,23 Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern,
das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand
und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde,
das in meinen Gliedern ist.
[28. April 2025] Die drei Verse Römer 7,21-23 betrachtet Michael Wolter (W455) als Zusammenfassung der Verse 14-20. Hier „ist nicht weniger als fünfmal vom nomos {Gesetz} die Rede“, allerdings unterscheiden sich (W456) die „Bedeutungen“. Die Zusammenhänge dieser Verse macht Wolter sichtbar, indem er in seiner Übersetzung die verschiedenen Zeilen unterschiedlich ausrichtet: 21a zentral, 21b und 22 linksbündig, 21c und 23 rechtsbündig. Ich ergänze dazu jeweils den griechischen Text ohne die in Nestle28 eingefügten Satzzeichen, da Wolter ihn anders zuordnet (siehe seine Erläuterung unten):
21a Ich finde also das Gesetz {heuriskō ara ton nomon}
21b für mich, der ich das Gute tun will,
{tō thelonti emoi poiein to kalon}21c dass mir (nur) das Böse als Möglichkeit gegeben ist.
{hoti emoi to kakon parakeitai}22a Denn ich erfreue mich am Gesetz Gottes
{synhēdomai gar tō nomō theou}
22b nach dem inneren Menschen {kata ton esō anthrōpon}.23a Aber ich nehme ein anderes Gesetz in meinen Gliedern wahr
{blepō de heteron nomon en tois melsein mou},
23b das gegen das Gesetz meiner Vernunft Krieg führt
{antistrateuomenon tō nomō tou noos mou}
23c und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist
{kai aichmalōtizonta me en tō nomō tēs hamartias tō onti en tois melesin mou}.
Die „allgemeine Zusammenfassung“ in Vers 21 wird also „nach zwei Seiten hin begründet …: V. 22 bezieht sich auf V. 21b, während V. 21c in V. 23 entfaltet wird.“ Inhaltlich entspricht hier dem
Widerspruch zwischen dem Wollen des „Guten“ und dem Vollbringen des „Bösen“, der in V. 21b-c letztmals formuliert wird, … das Gegenüber zwischen dem „Gesetz Gottes“ und dem „anderen Gesetz“ bzw. zwischen dem esō anthrōpos und „meinen Gliedern“ in V. 22 einerseits und in V. 23 andererseits…
Zum Satzbau in Vers 21, der „nicht leicht zu durchschauen“ ist, hebt Wolter hervor, dass er den Dativ tō thelonti emoi {wörtlich: dem wollenden mir} in 21b anders zuordnet als die meisten Exegeten. Er „ist nicht von heuriskō {ich finde} abhängig…, sondern von nomos {Gesetz}: Er bezeichnet denjenigen, für den das ‚Gesetz‘ gilt.“ Dazu verweist er (Anm. 55) auf 2. Mose 12,49, wo „ein und derselbe nomos tō enchōriō kai tō proselthonti prosēlytō [‚… für den Einheimischen und den eingewanderten Proselyten‘]“ gilt, oder auch auf „Num 9,14; 15,16… Der Dativ nennt immer denjenigen, für den der nomos {das Gesetz} verbindlich ist.“ Außerdem kann dieser Dativ (W456) „auch nicht zu parakeitai {ist als Möglichkeit gegeben} gehören, weil die entsprechende syntaktische Position bereits durch emoi {mir} innerhalb des hoti-{dass-}Satzes besetzt ist (V. 21c).“ Abgesehen davon ist Wolter mit der Mehrheit der Exegeten einig, dass ton nomon {das Gesetz} das „Objekt von heuriskō {ich finde}“ und to kalon {das Gute} das „Objekt von poiein {tun}“ ist, und der hoti-{dass-}Satz in Vers 21c „nennt den Inhalt des nomos von V. 21a.“
Inhaltlich greift Vers 21b-c auf das zurück (W456f.),
was das Ich vor allem in V. 18d-19 gesagt hatte: Es macht die regelmäßige Erfahrung (heuriskō ton nomon {ich finde das Gesetz}), dass es gerne das Gute tun möchte, tatsächlich aber immer nur das Böse tut. Diesen Mechanismus, gegen den es machtlos ist, nennt das Ich darum ein „Gesetz … für mich“ (nomos … emoi; V. 21a), weil es sein Handeln bestimmt. nomos steht darum nicht mehr wie in V. 7-20 für die Tora. Paulus gebraucht den Ausdruck vielmehr metaphorisch und bezeichnet mit ihm so etwas wie eine ‚Regel‘ oder eine ‚Gesetzmäßigkeit‘. Er nennt sie „Gesetz“, weil von ihr eine Nötigung ausgeht, wie es bei Gesetzen üblicherweise der Fall ist.
In Vers 22 (W457) nimmt Paulus das in 21b Gesagte auf
und formuliert eine Aussage, die V. 16b sehr nahe kommt. An der Stelle von symphēmi {ich bestätige} dort steht hier synhēdonai {ich erfreue mich}, und auch ho nomos tou theou {das Gesetz Gottes} ist hier die Tora, von der das Ich in V. 16b gesagt hatte, dass sie „gut“ ist.
Zur Begründung dafür, dass hier die jüdische Tora gemeint ist, verweist Wolter (Anm. 57) auf folgende Stellen in der Septuaginta: „Jos 24,26; 1Chr 16,40; 22,12; Ps 1,2; 19/20,8; Hos 4,6; Jes 30,9; Jer 8,8; 2Esr 19,3; 20,29.30 (Neh 9,3; 10,29.30); Bar 4,13 u.ö.“, wo mit ho nomos tou theou jeweils das hebräische thorath ˀelohim {Tora Gottes} oder thorath jhwh {Tora JHWHs} übersetzt wird.
Weiter hebt Wolter hervor (W457), was gegenüber „dem bisher Gesagten … neu“ ist, nämlich
dass das eine und bis dahin ungeteilte Ich eine Differenzierung erfährt: Das Ich führt die Zustimmung zur Tora, die in seinem „Wollen“ erkennbar wird, das von der Tora Gebotene zu „tun“, auf den in ihm befindlichen „inneren Menschen“ zurück. Ihn macht es dadurch gewissermaßen zum eigentlichen Subjekt des Wollens, von dem es in V. 15-16.18-21 immer wieder gesprochen hatte. Dass dem „inneren Menschen“ im Unterschied zu 2Kor 4,16 hier kein ‚äußerer Mensch‘ entspricht, der das Subjekt für das Tun des Nichtgewollten wäre, kann nach V. 17-20 nicht überraschen, denn hierfür ist die „im Fleisch“ wohnende Sünde verantwortlich. Die komplementäre anthropologische Entsprechung zum esō anthrōpos {inneren Menschen} können darum nur die in V. 23 erwähnten ‚Glieder“ (melē) als nachgeordnete Vollzugsorgane sein, die lediglich ausführen, was die Sünde bestimmt.
Trotzdem entlässt Paulus nach Wolter „das Ich nicht aus seiner Einsheit“, denn mit der „Präposition kata {nach}“ markiert Paulus „die Differenz zwischen dem „inneren Menschen“ und dem Subjekt des Satzes“ und stellt sicher, dass
der ‚innere Mensch‘ sich nicht gegenüber dem seit V. 7d sprechenden Ich verselbständigt… Das Ich, das in V. 22 sagt, dass es an der Tora seine Freude hat, ist nicht der „innere Mensch“, der sie erfüllen will, sondern es ist dasselbe Ich wie davor – in all seiner Widersprüchlichkeit. Der „innere Mensch“ ist ein Teil von ihm.
Bezeichnend ist, dass Wolter mit keinem Wort auf den jüdischen Hintergrund der Freude des Paulus an der Tora eingeht; stattdessen verweist er (Anm. 59) zum Stichwort synhēdomai {ich erfreue mich} auf eine ganze Reihe griechischer Autoren, um zu erläutern, dass „der Dativ der Sache den Gegenstand der Freude“ bezeichnet und dass die Vorsilbe syn- {zusammen mit} „nicht einen anderen Freuenden miteinschließen“ muss, sondern „auch einfach nur der Verstärkung dienen“ kann.
In einem Exkurs (W458) zur Wendung ho esō anthrōpos {der innere Mensch} geht Wolter darauf ein, dass sich der „Gedanke, dass es im Menschen noch einen anderen ‚Menschen‘ gibt, … erstmals bei Plato“ findet und dass „Spuren dieser Vorstellung … dann erst wieder bei Philo v. Alexandrien erkennbar“ sind. Obwohl er (W459) eine Nähe zum „paulinischen Sprachgebrauch“ wahrnimmt, sind ihm zufolge aber „nicht nur die Begriffe, sondern vor allem auch ihre jeweiligen Inhalte viel zu unterschiedlich“, als „dass Paulus die Rede vom ‚inneren Menschen‘ von Plato oder aus der mittelplatonischen Tradition übernommen“ haben könnte. Für „wahrscheinlich“ hält es Wolter, dass Paulus in Römer 7,22 eine „Redeweise … noch einmal verwendet, wenn auch mit einer ganz anderen Bedeutung“, die auf ihn „selbst zurückgeht“, und die (W457) im Neuen Testament zum ersten Mal in 1. Korinther 4,16 auftaucht:
„Darum verzagen wir nicht, sondern wenn auch ho exō hēmōn anthrōpos {unser äußerer Mensch} zugrundegeht, wird doch ho esō hemōn {unser innerer} täglich erneuert“. Paulus spricht hiervon seiner apostolischen Existenz und bezeichnet mit dem „äußeren Menschen“ seine hinfällige und schwache Leiblichkeit (gewissermaßen die „irdenen Gefäße“ von 2Kor 4,7), während „unser innerer (Mensch)“ dadurch gekennzeichnet ist, dass er bereits in der Gegenwart am Leben des Auferstandenen partizipiert, wie aus V. 10-14 hervorgeht.
Hier (wie auch in Epheser 3,16 und 1. Petrus 3,3-4, wo die Metapher wohl übernommen oder umschrieben wird) ist (W459)
der „innere Mensch“ der eigentlich wichtige Teil des Menschen …, weil er die Identität des gesamten Menschen konstituiert und zu Gott in Beziehung tritt. Ein gedanklicher Verwandter dieser ‚inneren Menschen‘ ist der ‚innere Jude‘, dessen Bild Paulus in Röm 2,28-29 entwirft: Er und nicht der ‚äußerliche‘ Jude, wie er sich nach der Wahrnehmung der Menschen darstellt, ist der ‚eigentliche‘ Jude, den nur Gott als solchen erkennen kann, weil nur er nicht auf das Äußere sieht, sondern auf das Innere.
Aber unsere Stelle Römer 7,22 „unterscheidet sich von allen bisher genannten Texten“, denn in ihr geht nur darum,
dass das, was der Mensch will und denkt, nicht nach außen tritt, sondern immer nur in ihm drin bleibt. Der „innere Mensch“ ist hier darum nicht „das, was der Mensch eigentlich sein sollte, im Unterschied von dem Menschen, als der er in Wahrheit existiert“ <204>. Der „innere Mensch“ existiert nicht nur „eigentlich“, sondern durchaus auch „in Wahrheit“, und das Ich hat auch „in Wahrheit“ – nämlich nach dem inneren Menschen – Freude am Gesetz. Der „innere Mensch“ wird hier als Teil des Ich kenntlich gemacht, der es das Gute wollen und das Böse hassen lässt und der – mit Plato gesagt <205> – von der ihn umgebenden „Hülle“ (elytron {Schale}), der eikōn {Gestalt, Bild} des durch sein poiein {Tun} und prassein {Machen} von außen wahrnehmbaren Menschen, verdeckt wird. Darum ist der „innere Mensch“ hier auch nicht mit dem nous {Verstand} identisch, sondern er bedient sich des nous, der Bestandteil seines ‚Innen‘-Seins ist.
Vers 23 enthält „eine doppelte Antithese zu V. 22“, indem das „Ich sich nun der anderen Seite“ zuwendet und „das in V. 21c Gesagte“ entfaltet:
Dem nomos tou theou {Gesetz Gottes} steht ein heteros nomos {anderes Gesetz} gegenüber, und der esō anthrōpos {innere Mensch} findet seine antithetische Entsprechung in ta melē mou {meinen Gliedern}, in denen das „andere Gesetz“ verortet wird und wirksam ist.
Auch (W460) in Römer 6,13.19 und 7,5 hatte Paulus schon „von den ‚Gliedern‘“ gesprochen, „mit denen das Ich handelt“, was erklären kann, dass er auch hier von ihnen und nicht
vom ‚äußeren Menschen‘ spricht… Die „Glieder“ stehen hier also für das poiein {Tun} und prassein {Machen} des Ich, von dem in V. 15b-16a.19-20a die Rede war. Im Gegenüber zum „inneren Menschen“ geht es jetzt also um die nach außen tretende und von außen erkennbare Bestimmtheit des Handelns des Ich im Gegenüber zu seinem unerkennbar bleibenden Wollen. Darum kann Paulus das Ich auch davon sprechen lassen, dass es dieses Gesetz „sieht“: Es „sieht“ die Handlungen, zu denen dieses „andere Gesetz“ nötigt und die das Ich veranlassen, gegen sein Wollen zu handeln.
Indem das Wort heteros {ein anderes} an das zuvor erwähnte nomos tou theou anknüpft, will es
dieses „andere Gesetz“ ausdrücklich vom ‚Gesetz Gottes‘ (V. 22) abgrenzen; es kann darum nicht ebenfalls auf die Sinai-Tora verweisen. Paulus spricht hier metaphorisch von „Gesetz“, weil er das Handeln des Ich als fremdbestimmt charakterisieren will: Es ist so, als gehorchte es Anweisungen eines Gesetzes.
Die „Vorgehensweise dieses heteros nomos“ interpretiert Paulus metaphorisch „als einen Krieg, den das ‚andere Gesetz‘ gegen das ‚Gesetz meiner Vernunft‘ führt (V. 23b)“, wobei aus V. 23c hervorgeht,
dass Paulus das „andere Gesetz“ in diesem Krieg nicht nur als Aggressor, sondern auch als Sieger sieht: als Sieger über das sich an Gottes Gesetz orientierende Wollen des Ich. Das Ich erfährt von ihm dieselbe Behandlung wie die Bevölkerung der unterlegenen Macht von Seiten der Sieger: Es wird von ihm in Gefangenschaft und Sklaverei geführt (vgl. V. 14: „verkauft unter die Sünde“), wo es dem Gesetz des Siegers gehorchen muss. In dieser metaphorischen Situation erhebt sich die Klage in V. 24.
Nach Wolter (Anm. 71) macht es der „metaphorische Hintergrund“ von Krieg und Gefangenschaft auch „wahrscheinlich“, dass die Präposition en vor tō nomō tēs hamartias {in dem Gesetz der Sünde} „in V. 23c lokal gemeint ist“. Ähnlich heißt es in „Tob 7,3: ‚Wir gehören zu den aichmalōtisthentes … en Nineuē {Kriegsgefangenen … in Ninive}‘“. Außerdem kann „en auch für eis {in … hinein} stehen“, so dass das Ich sich auch in das Gesetz der Sünde hinein weggeführt wissen kann, ähnlich wie Menschen aus Israel nach „1Kön 8,46; Tob 1,10; 1Makk 10,33“ und „Lk21,24“ in andere Länder deportiert werden.
Die Frage (W460), „von wie vielen Gesetzen Paulus hier spricht“, ist nach Wolter aber „[n]icht leicht zu beantworten“. Manche Exegeten (Anm. 72) identifizieren alle „vier in V. 22-23 erwähnten nomoi mit der Sinai-Tora“ oder unterscheiden lediglich zwischen dem nomos tou noos mou {Gesetz meines Verstandes} als „dem ‚Gesetz Gottes‘ aus V. 22“ und dem nomos tēs hamartias {Gesetz der Sünde} als „dem ‚anderen Gesetz‘ aus V. 23a“, während Hofius <206>
mit vier verschiedenen nomoi rechnet: Der nomos tou theou {Gesetz Gottes} (V. 22) sei die „Tora vom Sinai“, der heteros nomos {das andere Gesetz} (V. 23a) „der alles bestimmende Wille des unter die Sünde verkauften ‚fleischlichen‘ Menschen“, der nomos tou noos mou {das Gesetz meines Verstandes} (V. 23b) „der alles bestimmende Wille des esō anthrōpos {inneren Menschen}“ und der nomos tēs hamartias {Gesetz der Sünde} (V. 23c) „die Willensforderung der Sünde, die das ‚Böse‘ befiehlt“.
Wolter räumt (W461) ein Argument für die
Unterscheidung zwischen dem heteros nomos (V. 23a) und dem nomos tēs hamartias (V. 23c)“ ein, nämlich „dass Paulus beiden nomoi unterschiedliche Rollen zuschreibt: Der heteros nomos „hält gefangen“, der nomos tēs hamartias ist das ‚Gefängnis‘. <207> Andererseits befinden sich beide nomoi an ein und demselben Ort: in den ‚Gliedern“ des Ich (V. 23a.d). Das spricht eher dafür, dass Paulus in beiden Fällen von ein und demselben „Gesetz“ spricht. Dieses Gesetz kann aber nicht die Tora sein, denn die befindet sich nicht in den „Gliedern“ des Ich.
Die hier festzustellende „deutliche sprachliche Redundanz… lässt sich“ nach Wolter „aber leicht dadurch erklären, dass Paulus in V. 23a zunächst ganz unspezifisch und formal lediglich von einem ‚anderen‘ Gesetz spricht“ und erst in 23c „seine Identität enthüllt“, nämlich als
das „Gesetz der Sünde“. Paulus stellt hier das in V. 17-20 geschilderte Geschehen in metaphorischer Umschreibung dar: Dass dem Ich nur das Böse „als Möglichkeit gegeben ist“ (V. 21c), hat seinen Grund darin, dass es gezwungen ist, einem von der Sünde erlassenen ‚Gesetz‘ zu gehorchen.
Da auf der anderen Seite „[d]ie ‚Vernunft‘ (der nous) … zum ‚inneren Menschen‘“ gehört, „der sich ihrer bedient, um das Gute zu wollen und das Böse zu hassen“, kann Paulus mit dem „Gesetz meiner Vernunft“ nur „das ‚Gesetz Gottes‘“ meinen, „an dem das Ich seine Freude hat, die Tora.“ Nur sie ist „dieses Gesetz …, an dem sich die Vernunft mit ihrem Wollen orientiert und von dem sie weiß, was ‚gut‘ und was ‚böse‘ ist“, und es ist nicht etwa „ein Gesetz, das der nous sich selbst ausdenkt“.
Damit hält Wolter es für „wahrscheinlich, dass Paulus in V. 22-23 von zwei verschiedenen ‚Gesetzen‘ spricht: von der Tora (V. 22.23b) und – metaphorisch – vom ‚Gesetz der Sünde‘ (V. 23a.c).“ Am Ende seiner Auslegung von Römer 7,21-23 gelangt Wolter also zu Schlussfolgerungen, die sich gar nicht so sehr von Jankowskis Auslegung unterscheiden.
Gerhard Jankowski (J168) hatte aus den vorherigen Versen eine „zweifache Gewißheit“ des Paulus herausgearbeitet, erstens „dass die Thora heilig ist“, und zweitens, dass „die Thora nicht getan werden kann“. Wesentlich ist nun, dass Paulus daraus eine bestimmte Schlussfolgerung ganz und gar nicht zieht (J169):
Die Folgerung aus dieser Gewißheit hätte sein können: Weil Thora nicht getan werden kann, muß sie aufgegeben werden. Genau diese Konsequenz zieht Paulus nicht. Er kann und wird nach wie vor Simchat Thora feiern, das Fest der Freude über die Gabe der Thora, das gefeiert wird, wenn der Zyklus der sabbatlichen Thoralesung wieder neu beginnt. Bei diesem Fest wird nicht nur die Freude über die Thora, sondern auch die Treue zu ihr artikuliert. Aus der Freude an diesem Fest erwächst aber auch die Verpflichtung für die Thora.
Anders als Wolter bringt Jankowski den Vers 22a: synhēdomai gar tō nomō in Verbindung mit der jüdischen Identität des Paulus, dem es selbstverständlich ist, das Fest Simchat Thora zu feiern, und er bezieht in seiner Übersetzung die Vorsilbe syn- {mit} auf die Tora selbst:
„Ich freue mich mit der Thora Gottes“ (7,22), kann man sich nachdrücklicher zu der Thora bekennen, als mit einem solchen Satz? Bei aller Radikalität, bei allen anstößigen und unerhörten Folgerungen zeigt diese schonungslose Confessio {Bekenntnis} des Paulus, wie er sich weiterhin der Thora verpflichtet weiß. Sie bleibt als Gabe und als Aufgabe.
Indem Paulus hier auch vom nomos tou noos mou {Tora meines Verstandes} spricht, will er darauf hinaus, dass das, was die Tora „als Gabe und Aufgabe“ will, „[m]it dem Verstand … klar zu erfassen und zu begreifen“ ist, nämlich als „ein gelungener Wurf oder Entwurf für ein befreites Leben, von anderen Lebensentwürfen kaum oder nicht zu übertreffen.“ Leider muss Paulus hier aber auch auf einen „dieser anderen Entwürfe“ zu sprechen kommen, der „eindeutig ein völlig verfehlter“ ist, „der gründlich danebengehen muß“. Dieser andere Lebensentwurf, der heteron nomon {eine andere Tora} hervorbringt,
ist aber so stark, daß sein Gesetz, seine Thora zum alles bestimmenden Prinzip wird. Dieses Prinzip geht einem unter die Haut, steckt einem in den Gliedern, wie Paulus sagt. Mehr noch: Es findet gleichsam ein Krieg zwischen der heiligen Thora und der anderen Thora des widergöttlichen und deswegen unmenschlichen Prinzips statt, das den Menschen völlig lähmt. Paulus deutet das mit den militärischen Verben zu Felde ziehen, gefangennehmen, an. Die Lähmung zeigt sich darin, daß nicht getan wird, was getan werden soll.
Dieses „widergöttliche Prinzip“ wird von „Paulus durchgängig Sünde“ genannt, griechisch hamartia, was Jankowski in seiner späteren Übersetzung (G22) mit „Verfehlung“ wiedergibt. Aber welches deutsche Wort man auch verwendet, Sünde oder Verfehlung ist nach Jankowski (J169)
nie ein Abstraktum. Schon zu Beginn dieses ersten Briefteils hatte Paulus in 1,18-32 ziemlich genau beschrieben, was für ihn auch Sünde war. Es war die (Un)Ordnung des Systems, in dem alle, Griechen und Juden, leben mußten. Wie an unserer Stelle zu hören, hat nach Meinung des Paulus dieses System Menschen bis ins Innerste korrumpiert und gelähmt. Es spricht einiges dafür, daß Paulus das römische imperiale System mit Sünde gleichgesetzt hat. Was da an und mit Menschen getan wurde, widersprach dem Willen Gottes. Daß es nicht einmal mit der Thora zu heilen war, zeugte erst recht von seiner ganzen Sündhaftigkeit. Denn was die Thora will, nämlich ein Leben in Gerechtigkeit und Selbstbestimmtheit, kurz ein befreites Leben, das war unter den herrschenden römischen Verhältnissen nicht möglich.
Mit diesen Erwägungen widerspricht Jankowski erheblich der traditionellen christlichen Rechtfertigungslehre, insofern sie die Erfüllung der Forderungen der Tora für grundsätzlich unmöglich hält, so dass für die Tora „als Gabe und als Aufgabe“ eigentlich keine Perspektive mehr bleibt. Es sind die Bedingungen der weltweit herrschenden Gewaltordnung, die es in seinen Augen unmöglich machen, dass ein von den Völkern abgeschottetes Israel ein weiteres Mal aus metaphorischer ägyptischer Sklaverei auszieht und in einem neuen Gelobten Land eine befreite Gesellschaft nach den Geboten der Tora aufbaut. Weder der pharisäische Weg einer Trennung Israels von den Völkern noch der zelotische Weg, die unterdrückende Weltordnung der Pax Romana mit militärischen Mitteln zu überwinden, sind für Paulus gangbar (J169f.):
Je mehr sich einer damit abmühte, Thora dennoch zu tun, also die verqueren Verhältnisse zu heilen, desto mehr mußte er merken: Was ich will, das geht überhaupt nicht. Nicht was ich will, tue ich, sondern was ich nicht will, genau das tue ich, sagt Paulus; ich, der ich in diesen römischen Verhältnissen lebe, so ergänzen wir. Es ist bezeichnend, daß in den letzten Sätzen von Kapitel sieben Verben aus der Militärsprache auftauchen, die ja eine der Sprachen des Imperiums war. Hinzu kommt, daß gerade hier auch Stichworte wie sterben, töten, Tod sehr häufig sind. Wie sollte angegangen werden gegen die „Experten im Töten“, deren höchste Kunst es sein sollte, sich Auflehnende völlig zu besiegen? Dieses System zu bekämpfen war bei seiner Machtfülle sinnlos. Ihm die Thora vorzuhalten war ebenso sinnlos. Menschen waren in ihm gefangen, an seinen ganzen Unterdrückungsapparat völlig ausgeliefert.
Welchen Ausweg kann es geben aus einer solchen Ausweglosigkeit?
↑ Römer 7,24-25: Wer rettet mich aus diesem Todesleib? – Gott sei gedankt! – zugleich im Dienst der Tora Gottes und der Tora der Verfehlung
7,24 Ich elender Mensch!
Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?
7,25 Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!
So diene ich nun mit dem Verstand dem Gesetz Gottes,
aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.
[29. April 2025] Nach Michael Wolter (W461) erhebt sich aus
der Gefangenschaft und der Erkenntnis der eigenen Machtlosigkeit heraus … in V. 24 die Klage. Ihre Verknüpfung mit dem Ruf nach einem Retter entspricht den Weherufen in 1Sam 4,8 („Wehe uns! Wer wird uns retten [LXX: tis exeleitai hēmas] aus der Hand dieser mächtigen Götter?“) und 6Esra 16,17 („Wehe mir! Wehe mir! Wer wird mich retten [quis me liberabit] in jenen Tagen?“).
Wolter kann es natürlich nicht lassen (Anm. 74), zum Vergleich auch einen „Ausruf“ aus dem Drama des Aeschylos, Die Sieben gegen Theben <208>, heranzuziehen, „der sich im Angesicht des anrückenden Heeres der Feinde erhebt: tis ara rhysetai? Tis ar‘ eparkesei (‚Wer wird jetzt retten? Wer wird jetzt helfen?‘)“, obwohl er kaum annehmen kann, dass der Jude Paulus sich näher mit einem solchen Werk beschäftigt hat, in dem der unmittelbar folgende Vers lautet: theōn ē theãn, womit sich, wenn ich den griechischen Text richtig verstehe, die zweite Frage doch darauf beziehen muss, welcher „von den Göttern oder Göttinen“ helfen wird.
Wichtiger für die Auslegung von Römer 7,24 ist nach Wolter (W461), dass seiner Überzeugung nach „Paulus die Klage aber nicht selbst erhebt, sondern als fiktiven Ausruf dem Ich in den Mund legt“. Daher nämlich
handelt es sich bei ihr eigentlich um eine für die Leser bestimmte Mitteilung. Sie besagt, dass allen Menschen, die sich in der zuvor beschriebenen Situation befinden, nur noch die Möglichkeit der Klage bleibt. Die Verwendung der Klageform soll die Ausweglosigkeit der Unheilssituation des Ich zum Ausdruck bringen. Das Ich erkennt, dass es sich nicht selbst aus dieser Situation befreien kann. Eine Rettung kann nur von außen kommen.
Hier kommt wieder der entscheidende Gegensatz zur Auslegung von Jankowski zum Vorschein, dass Wolter letzten Endes die bleibend jüdische Identität des Paulus nicht ernst nimmt und davon ausgeht, dass er im gesamten Römerbriefkapitel 7 im Grunde nur ein für ihn selber längst abgehaktes innerjüdisches Problem vor den von ihm angesprochenen römischen Heidenchristen ausbreitet.
Passend dazu hält Wolter im „Blick auf den Zusammenhang von Röm 7,24a mit V. 23c“ zwar „vor allem“ (W461f.) den „parallelismus membrorum in Tob 13,10(12)“ für „interessant: ‚Er (sc. Gott) möge in dir (sc. Jerusalem) die Gefangenen (tous aichmalōtous) erfreuen und in dir die Elenden (tous talaipōrous) mit Liebe beschenken (agapēsai)‘“, hauptsächlich aber (W462) verweist er auf „sprachlich vergleichbare Klagen“ bei griechischen Autoren, etwa bei Epiktet, Diss. 1,3,5 <209> mit dessen
Warnung vor einer bei vielen Menschen verbreiteten Larmoyanz, die sich in den Klagen artikuliere wie: „Was bin ich schon? Ein elendes Menschlein (talaipōron anthrōparion)“, oder: „Elend bin ich, ein alter Mensch“ (talas egō, gerōn anthrōpos; 1,4,24).
Aber Wolter kann damit doch wohl nicht andeuten wollen, dass Paulus hier verächtlich auf ein jüdisches Selbstmitleid angesichts selbstverschuldeten Elends herabblickt?
Auch in der in Vers 24b geäußerten Frage sieht Wolter lediglich eine Demonstration der „Verzweiflung des Ich“. Sie stellt „keine rhetorische Frage“ dar,
deren Antwort Paulus schon kennt, sondern sie gehört ebenfalls zum Bild des Ich, das er in diesem Kapitel entwirft. Sie hat rein illustrativen Charakter und verlangt darum nach keiner Antwort.
Zur „Formulierung sōma tou thanatou toutou“ überlegt Wolter (Anm. 75), ob „sich das Demonstrativpronomen toutou {diesem} auf sōmatos {Leib} bezieht … oder auf thanatou {Tod}“, was vom Satzbau her „nicht zu entscheiden“ ist. Er verweist dazu auf „einerseits 1/3Esr 6,18 (ton naon tou kyriou touton [‚diesen Tempel des Herrn‘]) und andererseits 2Kön 9,1 (ton phakon tou elaiou toutou [‚den Krug dieses Öls‘])“. Da aber
das Pronomen … eine bestimmte Eigenart hervorheben will, liegt es näher, es mit sōma zu verbinden, denn in V. 22-23 hatte Paulus mit der Rede vom „inneren Menschen“ und von „meinen Gliedern“ unmittelbar zuvor Leibvorstellungen aufgerufen.
Mit (W441) „diesem Todesleib“ (W62)
bezeichnet Paulus denselben „Leib“ wie mit dem Ausdruck sōma tēs hamartias {Leib der Sünde} in Röm 6,6: Hier wie dort spricht er metonymisch von einer bestimmten Existenzweise, zu der er in 6,6 „unser früherer Mensch“ gesagt hat. Der hellenistische Dualismus von Leib und Seele spielt hier nur ganz indirekt eine Rolle, denn Paulus identifiziert das Ich hier nicht mit der Seele (oder dem esō anthrōpos von V. 22), sondern zu ihm gehört immer auch sein „Leib“.
Zur „Unheilssituation, aus der das Ich befreit werden möchte“, verweist Wolter (Anm. 76) auf „den entsprechenden Gebrauch von rhuesthai ek/ex {retten aus}“ bei einigen griechischen Autoren, aber auch in biblischen Zusammenhängen, z.B.
Gen 48,16 (ek pantōn tōn kakōn „aus allen Übeln“; s. auch 3Makk 2,12; Spr 14,25; Sapsal {Weisheit Salomos} 16,8); Ex 6,6 (ek tēs douleias „aus der Sklaverei“); 2Sam 22,44 (ek machēs laōn „aus dem Kampf der Völker“); Ps 30,16LXX u.ö. (ek cheiros echthrōn mou „aus der Hand meiner Feinde“); Spr 10,2 (ek thanatou „aus dem Tod“; s. auch Ps 32,19LXX); … Kol 1,12 (ek tēs exousias tou skotous „aus der Herrschaft der Finsternis“).
Paulus bezeichnet diese „Unheilssituation“ als (W462f.)
„Leib“, weil das „Tun“ und „Vollbringen“ der Menschen im Unterschied zu ihrem „Wollen“ immer eine Sache ihrer nach außen gerichteten und von außen wahrnehmbaren Leiblichkeit ist. Das sōma tou thanatou {Leib des Todes} ist darum nicht der „sterbliche Leib“ von 6,12; 8,11, den auch die Getauften noch mit sich herumtragen und dessen „Erlösung“ sie nach 8,23 erwarten. Der „Tod“, der diese Existenzweise kennzeichnet, ist vielmehr der Tod, von dem Paulus in 7,10-11.13e gesprochen hatte: der eschatische Unheilstod, der dem Ich durch die in ihm wohnende Sünde (V. 17b.20c) bereitet wird (V. 13c-e). Dieser Tod befreit das Ich darum nicht von seinem sōma {sterblichen Leib}, sondern es ist genau umgekehrt: Das sōma {der Todesleib} führt das Ich geradewegs in den Unheilstod, der auf all diejenigen wartet, die nicht den Willen Gottes, sondern das Böse tun. Darum nennt Paulus es „Leib des Todes“.
Zu Vers 25a betont Wolter (W463), dass er „nicht auf die Frage von V. 24b“ antwortet, weil nach seiner Überzeugung „mit dem Ausruf charis (de) tō theō {Dank sei aber Gott} … nicht mehr das Ich, sondern Paulus“ spricht. Angeblich teilt Paulus ja als vom Judentum zum Christus-Glauben bekehrter Christ in keinster Weise die in Vers 24 geäußerte Verzweiflung, vielmehr weiß er „sich und alle anderen, die Jesus als ihren Herrn bekennen, ‚aus diesem Todesleib‘ durch Gott gerettet“. Indem „jetzt wieder das christliche Wir“ spricht, das nach Wolter „zuletzt in 7,6 zu Wort gekommen war“, und nicht mehr das seit 7,7 rückblickend redende fiktive jüdische Ich, wird „die in V. 7-23 beschriebene Situation des Ich … zu einer überwundenen Krise.“
Zu der Formulierung dia Iēsou Christou tou kyriou hēmōn {„durch Jesus Christus, unseren Herrn“} hebt Wolter hervor, dass sie hier (wie auch in Römer 1,8 oder Kolosser 3,17) „nicht den Mittler der Rettung, sondern den Mittler des Danks“ bezeichnet. „Das unterscheidet diese Danksagung von derjenigen, die in 1Kor 15,57 steht“ und in der (Anm. 79) „die dia-Christou-Formulierung Bestandteil der Partizipialkonstruktion“ ist, „die Grund und Gegenstand des Dankes nennt.“
Aufgrund der Annahme Wolters (W463), dass
Paulus mit der Danksagung scheinbar wieder auf die übergeordnete Textebene zurückgekehrt ist, wirkt die Schlussfolgerung V. 25b, in der noch einmal das Ich das Wort ergreift und das in V. 21-23 bereits zusammenfassend Gesagte noch einmal zusammenfasst, deplatziert.
Aus diesem Grund
- halten viele Exegeten „diesen Schlusssatz für eine nachpaulinische Glosse …, die sekundär in den Text geraten sei“.
- Manche meinen, „dass er durchaus von Paulus stamme, jedoch ursprünglich zwischen V. 23 und V. 24 gestanden habe“.
- Andere wiederum stehen beiden Eingriffen in den Text „skeptisch gegenüber“, vor allem (Anm. 82) „natürlich alle, die das Ich von Röm 7,7-25 als christliches Ich interpretieren“.
Für die erste Möglichkeit, 25b sei „eine nachträgliche Ergänzung“, zählt Wolter „die folgenden Argumente auf“:
- Da Vers 25b als Zusammenfassung gemeint ist, „hätte er vor V. 24 stehen müssen.
- Die Zusammenfassung spricht „von einem ‚Sowohl-als auch‘ des douleiein {Dienens}“ und widerspricht damit „den Ausführungen von V. 13-23, wo ein ‚Entweder-oder‘ beschrieben“ wird.
- Vers 25a endet mit der „titular aufgefüllte[n] Wendung dia Iēsou Christou tou kyriou hēmōn {durch Jesus Christus, unseren Herrn}“, die wie „in Röm 5,11.21; 6,23; 8,39 den Gedankengang“ abschließen müsste.
- Der Ausdruck „douleiein nomō {dem Gesetz dienen} ist sonst weder bei Paulus noch überhaupt in der griechischen Bibel belegt.“
- Die beiden Ausdrücke „nomos theou {Gesetz Gottes} und nomos hamartias {Gesetz der Sünde}“ werden hier ohne den bestimmten Artikel verwendet, anders (W464) als zuvor in Röm 7,22; 8,7 bzw. in 7,23; 8,2.
- An anderen Stellen spricht Paulus „mit autos egō immer nur ‚ganz persönlich von sich selbst‘ <210> … (Röm 9,3; 15,14; 2Kor 10,1; 12,13)“, hier dagegen geht es um „ein fiktives Ich, das auch andere einschließt.“
- Vers 25b vertritt mit seinem „Gegenüber von nous und sarx … einen anthropologischen Dualismus, der sich von dem in 7,13-23 vorgetragenen Dualismus“ unterscheidet.
Dem widersprechen nach Wolter „jedoch gewichtige Gegenargumente“:
- „Es gibt keine einzige neutestamentliche Handschrift, in der V. 25b fehlt oder an einer anderen Stelle steht als in den vorliegenden Texteditionen.“
- Da Vers 8,1 kaum „unmittelbar auf 7,25a“ folgen kann, was nach F. Müller <211> „logisch überhaupt nicht, psychologisch nur sehr schwierig zu vollziehen“ ist, wäre „die Zusatzhypothese“ notwendig, dass Röm 8,1 entweder ebenfalls eine nachpaulinische Glosse sei oder dass dieser Vers ursprünglich anderswo gestanden habe.“
- Eine Wendung „wie dia Iēsou Christou tou kyriou hēmōn“ kann bei Paulus auch einen Gedankengang unterbrechen, „z.B. in Röm 1,25; 1Kor 15,57“.
- Auch an anderen Stellen kommt es bei Paulus „öfter vor“, dass „eine Formulierung wie hier douleuein nomō {dem Gesetz dienen} ansonsten bei Paulus und in der griechischen Bibel nicht belegt ist“.
- Die Formulierung „ara oun {also nun} am Satzanfang“ ist auf der anderen Seite „eine typisch paulinische Formulierung, die sonst weder in der griechischen Bibel noch überhaupt im hellenistischen Judentum belegt ist.“ Das gilt ebenso „für autos egō {ich selbst}, das in der griechischen Bibel außer in 3Makk 3,13 nur bei Paulus belegt ist (vgl. noch Röm 9,3; 15,14; 2Kor 10,1; 12,13).“
- Was Ausdrücke mit „nomos {Gesetz} + Gen. … ohne bestimmten Artikel“ betrifft, so gibt es sie auch sonst bei Paulus, z.B. in „Röm 3,27: nomos pisteōs {Gesetz des Glaubens}; 9,31: nomos dikaiosynēs {Gesetz der Gerechtigkeit}“.
Eher könnte man nach Wolter erwägen, ob „V. 25a sekundär in den Text geraten ist. Aber auch eine solche Hypothese hätte die gesamte Textüberlieferung gegen sich.“
Wolters Überlegungen zu Vers 25b laufen darauf hinaus, dass es „auch keinen inhaltlichen Unterschied zwischen V. 25b und dem in V. 13-23 Gesagten“ gibt (W464f.):
Vielmehr bringt Paulus gerade dadurch, dass er in V. 25b beide Verhältnisse mit ein und demselben Verb (douleuein) charakterisiert, die Zerrissenheit des Ich zusammenfassend auf den Punkt. Auch in V. 13-23 beschreibt das Ich nichts anderes als ein ‚Sowohl-Als auch‘ von zwei Dienstverhältnissen, die es zwei Gebietern gehorchen lässt: Dem, was das „Gesetz Gottes“ vorschreibt, „dient“ es tō noï {mit der Vernunft} durch das Wollen des Guten, während es dem „Gesetz“, das die Sünde ihm auferlegt, tē sarki {mit dem Fleisch} durch das Tun des Bösen „dient“.
Am Ende nutzt Wolter (Anm. 92) „diese Feststellung“ nochmals zur Bestätigung seiner Überzeugung, dass es im Blick auf Römer 7,7-24.25b „unmöglich ist, in dem Ich einen Christenmenschen sprechen zu hören“, denn Vers 25b widerspricht ihm zufolge eindeutig „Röm 6,6d (‚… so dass wir nicht mehr der Sünde dienen‘)“.
Da Gerhard Jankowski (J170) anders als Wolter nicht voraussetzt, dass Paulus und die von ihm Angesprochenen sich bereits endgültig vom Judentum verabschiedet haben, sieht er ihn als existentiell in die Zerrissenheit eingebunden, die er in Römer 7 beschreibt, zumal er sich überall mit Juden und Gojim solidarisch weiß. Anders als Wolter betrachtet er ja auch die „Militärsprache“ von Römer 7,23 nicht lediglich als Metapher für eine abstrakte Herrschaft der Sünde, vielmehr spiegelt sie die erdrückende „Machtfülle“ der römischen Imperiums wider, an dessen „Unterdrückungsapparat“ die Menschen „völlig ausgeliefert“ waren.
Der Aufschrei, der in 7,24 laut wird, ist daher keineswegs nur, wie Wolter meint (W461), „eine für die Leser bestimmte Mitteilung“, die Paulus „als fiktiven Ausruf dem Ich in den Mund legt“, sondern er kann (J170), indem er an den „Schrei der Vergewaltigten“ erinnert, den die Kinder „Israels in Ägypten“ erhoben, „die schrieen nach Rettung aus der Sklaverei“, nur einer tiefen Solidarität mit den von ihm angeschriebenen Juden und Gojim in der Welthauptstadt Rom entspringen (J165):
24 Ich vergewaltigter Mensch!
Wer wird mich retten aus dem Leib dieses Todes?
Von den Israeliten in Ägypten weiß Paulus (J170):
Die wurden befreit. Für die Gestaltung der Freiheit bekamen sie die Thora. Die ist noch immer da. Aber die Zeiten und die Verhältnisse haben sich geändert. Noch ist die Thora da, die den Weg weist. Aber was getan werden soll, damit Leben möglich ist, kann nicht getan werden. Die Lage scheint hoffnungslos, so daß in der Tat nichts mehr anderes übrigbleibt als der Schrei der Vergewaltigten und Verelendeten. Oder es wird weitergemacht wie bisher: mit dem Verstand der Thora Gottes dienen, mit dem Fleisch aber der Sündenthora. Aber das kann ja nicht die Lösung sein.
Nach Jankowski spiegeln also der emotionale Aufschrei in Vers 24 und der nüchtern zusammenfassende Satz 25b zwei mögliche Umgangsweisen mit der hoffnungslosen Situation wider, dass die gute, den Weg in die Freiheit weisende Tora nicht mehr getan werden und die real existierenden Verhältnisse nicht überwinden kann. Beide scheinen in Sackgassen zu führen.
Dazwischen aber deutet sich die „Rettung aus dem Desaster“ an, und zwar „in dem so floskelhaft klingenden Dankesruf: ‚Gott sei Dank, durch Jesus Messias unseren Herren.‘ (7,25)“ Und was hier aufscheint, wird Paulus „[ü]beraus deutlich … in den folgenden Sätzen“ hervortreten lassen. Nach Jankowski wird Paulus im folgenden Kapitel 8 des Römerbriefs eine Vision entwickeln, in der es um „eine revolutionäre Errettung“ geht, „die eine neue Welt und eine neue Menschheit zum Ziel hat.“
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 7,7-25
7,7 Was wollen wir nun sagen?
Die Tora ist Verfehlung?
Das geschehe nicht,
sondern die Verfehlung erkannte ich nicht,
wenn nicht durch Tora.
Denn vom Begehren wusste ich nicht,
wenn nicht die Tora sagte:
Du sollst nicht begehren!
7,8 Gelegenheit ergreifend aber
bewirkte die Verfehlung durch das Gebot in mir alles Begehren.
Denn ohne Tora ist Verfehlung tot.
7,9 Ich aber lebte einst ohne Tora.
als aber das Gebot kam,
lebte die Verfehlung auf.
7,10 Ich aber starb.
Und es fand sich mir:
Das Gebot, das zum Leben (sein sollte),
genau das (wurde) zum Tod.
7,11 Denn die Verfehlung, Gelegenheit ergreifend durch das Gebot,
verführte und tötete mich durch es.
7,12 Daher also: Die Tora ist heilig,
und das Gebot heilig, bewährt und gut.
7,13 Wurde also das Gute mir zum Tod?
Das geschehe nicht, sondern die Verfehlung;
so dass sie als Verfehlung in Erscheinung tritt,
indem sie mir durch das Gute den Tod bewirkt;
so dass sich als über alle Maßen verfehlend die Verfehlung erweist
durch das Gebot.
7,14 Denn wir wissen, dass die Tora inspiriert ist.
Ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Verfehlung.
7,15 Denn was ich bewirke, beabsichtige ich nicht.
Denn nicht was ich will, das mache ich,
sondern was ich verabscheue, das tue ich.
7,16 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will,
stimme ich der Tora zu, dass sie gut ist.
7,17 Nun aber bewirke nicht mehr ich es,
sondern die Verfehlung, die in mir wohnt.
7,18 Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, Gutes nicht wohnt.
Denn das Wollen liegt bei mir,
das Bewirken des Guten aber nicht.
7,19 Denn nicht was ich will, tue ich, Gutes,
sondern was ich nicht will, Böses, das mache ich.
7,20 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will,
bewirke nicht mehr ich es,
sondern die Verfehlung, die in mir wohnt.
7,21 Ich finde also die Tora für mich, der ich das Gute tun will,
dass das Böse bei mir liegt.
7,22 Denn ich freue mich mit der Tora Gottes nach dem inneren Menschen,
7,23 sehe aber eine andere Tora in meinen Gliedern,
die gegen die Tora meiner Vernunft Krieg führt
und mich gefangennimmt in der Tora der Verfehlung,
die in meinen Gliedern ist.
7,24 Ich elender Mensch!
Wer wird mich retten aus dem Leib dieses Todes?
7,25 Gott aber sei Dank durch Jesus, den Messias, unseren Herrn!
Also bin ich nun selbst mit der Vernunft der Tora Gottes dienstbar,
mit dem Fleisch aber der Tora der Verfehlung.
↑ Im Messias Jesus durch Gottes Geist die Praktiken des Leibes töten und Gottes Kinder und Erben werden (Römer 8,1-17)
Michael Wolter (W468) fasst die „Perspektive“, die Paulus im achten Römerbriefkapitel entwickelt und die er „bereits in 5,21 und 6,22.23 in den Blick genommen hatte“, unter der Überschrift „Leben und Hoffnung für alle, die zu Jesus Christus gehören“, zusammen, nämlich
dass auf diejenigen, die an Jesus Christus glauben (3,22) und auf ihn getauft sind (6,3), nicht „Zorn“ (1,18) und „Verurteilung“ (5,16.18) warten, sondern „ewiges Leben“ (zōē aiōnios).
Dabei nimmt er die in Römer 7,6 „formulierte Feststellung, dass die christlichen Wir ‚nunmehr‘ … ‚in der Neuheit des Geistes dienen‘, breit auf… (vgl. 8,2.4-6.9-11.13-16.23.26-27)“ und beschreibt so
nicht nur die gegenwärtige christliche Existenz, sondern erschließt auch die christliche Hoffnungsgewissheit („Geist“ und „Leben“: 8,2.4.6.10.11.13; s. auch 8,23).
In den Versen 8,1-17 geht es Wolter zufolge (W501) um
eine groß angelegte Beschreibung der condicio christiana {die dem Christen eigene Grundverfassung} im Gegenüber zur Beschreibung der condicio humana, wie Paulus sie in 1,19 – 3,20 sowie auf der Adam-Seite in 5,12-21 und in 7,7-25 vorgetragen hatte. Es ist darum wohl kein Zufall, dass Paulus mit katakrima {Verurteilung} gleich zu Beginn in 8,1 auf die Unheilsfolgen zurückverweist, die das Adamgeschehen über die Menschheit gebracht hatte (5,16.18). Man tut diesem Abschnitt des Römerbriefes sicher nicht Unrecht, wenn man die Feststellung in 8,1 als These interpretiert, die dann in V. 2-17 begründet und hinsichtlich ihrer Konsequenzen entfaltet wird.
Bezeichnend ist, dass Wolter auf einmal zu vergessen scheint, dass Paulus in Römer 7,7-25 ein jüdisches und nicht ein allgemein-menschliches Ich zu Wort kommen ließ.
Neben den bereits zuvor angesprochenen Zusammenhängen „von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ … in V. 2a … und … V. 6b.10b.11.13c-d“ bzw. „von ‚Fleisch‘, ‚Sünde‘ und ‚Tod‘ … (8,2b.3.5a.6a.7-8.12-13)“ und der „Deutung des Übergangs vom Einst zum Jetzt als ein Geschehen der ‚Befreiung‘ (8,2)“ ist (W502) erstens
[g]egenüber dem bisher im Römerbrief Gesagten … neu, dass Paulus den Christen in V. 14-17 den Status von „Kindern Gottes“ zuschreibt. Er überträgt damit einen Begriff auf sie, der schon im Alten Testament das Gottesverhältnis Israels charakterisiert. Die sich hieran anschließende Frage, was dieser Sachverhalt für die Gotteskindschaft der ungläubig gebliebenen Angehörigen Israels bedeutet, wird Paulus dann in Kap. 9-11 erörtern. Es ist darum sicher kein Zufall, dass er dort gleich zu Beginn unter den notae electionis {Merkmale der Erwählung}, die Israels besondere Nähe zu Gott kennzeichnen, die hyiothesia {Sohnschaft} nennt (9,4b) und damit eben jenen Begriff aufgreift, mit dem er in 8,15b die ‚Adoption‘ der Christen als Kinder Gottes bezeichnet hatte.
Zweitens beschäftigt sich Paulus nach Wolter außerdem in 8,9-11 mit „den anthropologischen Aspekten des Zusammenhangs von ‚Geist‘ und ‚Leben‘“, indem die „Christenmenschen“ zwar „noch in einem ‚toten‘ und ‚sterblichen‘ Körper stecken“, aber ihnen dennoch von Gott „mit dem ‚Geist des Lebens‘ bereits diejenige Kraft übereignet“ ist, „durch die er ihnen neues Leben und Herrlichkeit in der Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn schenken wird (V. 11b.17e)“ und die „sie auch im Leiden und bei ihrem Tod nicht verlassen“ wird.
All diese „Aspekte“ stellen „bereits in der Gegenwart erfahrbare Auswirkungen des Geistes dar…, den Gott allen christlichen Wir ‚gegeben‘ hat (5,5)“ und dessen Besitz „sie von ihrer Vergangenheit und von allen anderen Menschen trennt“, was „man auch daran erkennen“ kann, „dass sie durch ihn in die Lage versetzt werden, so zu leben, wie Gott es von seinen Kindern verlangt (8,4).“
Für Gerhard Jankowski (J6) gehören die beiden Unterabschnitte „Die inspirierte Thora des Lebens 8,1-11“ und „Erben 8,12-17“ noch zu seinem großen Abschnitt „Um die Thora“, der die Verse Römer 7,1 bis 8,17 umfasst.
Zu den Versen 8,1-11 hebt er (J171) zunächst einige „Hauptstichworte“ hervor: „Fleisch, Geist, Thora, Bedenken“, von denen das Wort „Bedenken, phronēma, … nur Paulus“ hat
und nur an unserer Stelle. Und auch Fleisch und Geist finden sich in der Konzentration nur in diesem und in dem folgenden Abschnitt. Thora dagegen tritt zurück. Dieses Thema scheint nun wirklich gründlich behandelt, so daß es nicht mehr vieler Worte darüber bedarf. ln den Vordergrund tritt nun aber das Messianische. Christos, bezeichnenderweise ohne Artikel, dazu Iēsous Christos stehen zentral. Also werden wir es jetzt wieder mit dem eigentlichen Thema des Paulus zu tun bekommen, der messianischen Einheit zwischen Juden und Gojim. Für ihn ist das auch die Lösung der Probleme, die im vorigen Abschnitt so bedrängend waren.
Während also für Wolter die Juden mit dem vorangehenden Kapitel 7 praktisch abgehakt erscheinen und im Kapitel 8 keinerlei Rolle spielen, um dann aber doch in den Kapiteln 9-11 noch einmal ausführlich zum Thema zu werden, darf für Jankowski der Blick des Paulus auf beide, Juden wie Nichtjuden, in ihrer Bestimmtheit durch das Vertrauen auf den Messias Jesus, auch und gerade im Römer 8 auf keinen Fall in Vergessenheit geraten.
Von diesem Hintergrund her verzichtet Jankowski anders als Wolter darauf, relativ abstrakt von einem heilsgewissem Leben der von Gottes Geist zu Gotteskindern erklärten Christen zu reden. Stattdessen fasst er (J180) eine konkret beschreibbare „große Veränderung“ im aktuellen Leben der von Paulus angesprochenen messianischen Gemeinde in Rom ins Auge:
Denn da ist die inspirierte Thora, die zum gemeinsamen Leben ermutigt. Und da ist der aus den Toten erweckte Messias, mit dem andere Verhältnisse unter den Menschen ihren Anfang genommen haben. Man beginnt zu leben. Auf völlig neue Art und Weise.
Tatsächlich läuft das auf geradezu revolutionäre Veränderungen im alltäglichen Leben besonders von Juden hinaus, die in der messianischen Gemeinde mit Nichtjuden zusammenleben, worauf Paulus im Abschnitt Römer 8,12-17 genauer eingeht. Für Jankowski ist daher ein Begriff wie „Fleisch gemäß, kata sarka“, nicht einfach allgemein menschlich (anthropologisch) zu interpretieren, sondern im Sinne einer Auseinandersetzung der von Paulus angesprochenen Juden mit eben ihrer Existenz als Juden, die auch in der messianischen Gemeinde nicht unerheblich geworden ist. Nach Jankowski gelangt hier das Plädoyer des Paulus für die Aufnahme der auf den Messias vertrauenden Gojim in die Gemeinschaft mit Israel zu seinem Höhepunkt, indem er seine Mitjuden zu einer gewagten Grenzüberschreitung ermutigt: „Darum, ihr jüdischen Brüder, ihr und ich, wir sind nicht mehr verpflichtet, kata sarka zu leben“. Wer im Leib des Messias als Jude mit Nichtjuden zusammenlebt, der kann einfach nicht die gesamte „Thora und ihre einzelnen Mizwot“ halten, vor allem dort, wo sie auf die Trennung von den Völkern ausgerichtet sind:
Wenn aber wieder einige anfangen, die fleischliche Einheit zu betonen und auf jüdische Art leben, dann … erstirbt der eine Leib und es erstirbt das Leben in diesem Leib. Damit aber gemeinsam gelebt werden kann, gilt es alles zu meiden, was die Gemeinschaft wieder zunichte machen könnte. Paulus verlangt, daß die Praktiken des Leibes getötet werden.
Mit der Metapher (J181) dieses „merkwürdige[n] Töten[s]“ will Paulus nach Jankowski darauf hinaus, dass „verschwinden“ muss,
was wahrhaftiges Leben verhindert und meistens dann auch Tote produziert. Eine neue Menschheit kommt ans Leben. Die ist geeint, gestärkt, neu inspiriert, vom Geist geführt. Das Heranwachsen dieser neuen Menschheit kann sich Paulus nur in Analogie zur Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens vorstellen. Dort, in Ägypten, wird Israel zum ersten Mal Sohn Gottes genannt (Ex 4,22). Dieser Sohn wird herausgeführt aus der Sklaverei. Er wird befreit.
Vor diesem Hintergrund wird zu begreifen sein (J183), was Paulus in Römer 8,14-17 über die „Kinder Gottes“ sagt, die durch Gott „zu Erben der Verheißung an Abraham“ werden, und zwar „alle, die jüdischen Söhne und Töchter und die nichtjüdischen Töchter und Söhne“:
Die nichtjüdischen Kinder und Erben werden nicht viel später die jüdischen und rechtmäßigen Kinder und Erben enterben. Dafür ist Paulus nicht verantwortlich zu machen. Im Gegenteil. Er bindet die neuen Kinder auf zweierlei Weise an die anderen. Einmal werden sie Erben nur über den Messias, der aus Israel kommt. Er ist der wahrhaftige Sohn Abrahams und sein vollkommener Erbe. Er repräsentiert Israel. Um das zu unterstreichen, gebraucht Paulus hier den Titel ganz absolut. Wenn Gojim Miterben werden, dann ist das ein Geschehen, das nur aus Israel und von Israel her zu verstehen ist. Denn dieses messianische Geschehen kann nicht von Israel gelöst werden wie der Messias nicht von Israel gelöst werden kann.
Die andere Anbindung hat noch viel weiter reichende Konsequenzen. Das Erbe ist für Nichtjuden in der messianischen Gemeinde nicht billig zu haben. Es ist gebunden an das Leiden des Messias und damit an das Leiden Israels. Die werden mitgeerbt. Wer sich davon löst, nichts damit zu tun haben will, der kann auch nicht Erbe sein.
↑ Römer 8,1: Keine Verurteilung für die im Messias Jesus, denn die Tora der Lebensinspiration befreit dich von der tödlichen Sündentora
8,1 So gibt es nun keine Verdammnis
für die, die in Christus Jesus sind.
8,2 Denn das Gesetz des Geistes,
der lebendig macht in Christus Jesus,
hat dich frei gemacht
von dem Gesetz der Sünde und des Todes.
[10. Mai 2025] Zu Beginn der Auslegung von Römer 8,1-17 betont Michael Wolter (W470), dass Paulus so, wie er die Aussage von Römer 7,5 „in 7,7-25 entfaltet hatte“, nun ab Römer 8,1 genauer auf die Aussage von Vers 7,6 zu sprechen kommt, wo zuletzt „vom Geist“ die Rede gewesen war. Von daher (W472) zieht Paulus seiner Auffassung nach in 8,1 mit dem Wort ara {also} auch „nicht die Schlussfolgerung aus dem unmittelbar Vorangegangenen“, sondern er
greift vielmehr auf das soteriologische {auf das Heil bezogene} Wissen zurück, das er bereits zuvor in Texten wie 3,21-26; 5,18-21; 6,1-11; 7,6 in den Lesern aufgebaut hatte. 8,1 führt also über 7,7-25 hinweg den übergreifenden Gedankengang des Römerbriefes weiter. Diese Perspektive wird auch daran erkennbar, dass Paulus mit katakrima {Verurteilung} ein Stichwort wiederaufnimmt, das in 5,16.18 die Unheilsfolgen des Adamgeschehens beschrieben hatte. Es ist die Strafe jenes Todes, der über die Sünder verhängt ist und den das Ich nach 7,10-11 stirbt. Statt katakrima hätte Paulus darum hier auch thanatos {Tod} schreiben können.
Indem Paulus außerdem auch mit dem „betonte[n] nyn {jetzt} … über 7,7-25 hinweg auf 7,6“ zurückweist, will er
deutlich machen, dass alle, die zu Jesus Christus gehören, aufgrund des Geschehens, von dem er in 3,21-26; 5,18-21; 6,1-11; 7,6 spricht, mit der in 7,7-25 beschriebenen Situation nichts (mehr) zu tun haben.
Ein weiteres Argument für den „Charakter von Röm 8,1 als Fazit im Blick auf den übergreifenden Gedankengang“ sieht Wolter darin, „dass Paulus die Gesamtheit aller ‚Christen‘ nicht durch ein inklusives Wir in den Blick nimmt, sondern von außen“, was er bisher „nur in 3,22-24 sowie in 5,17.19 getan“ hatte:
In 3,22-24 hatte er sie pantes hoi pisteuontes … dikaioumenoi {alle, die glauben … und gerechtfertigt werden} genannt, in 5,17 hoi tēn perisseian tēs charitos kai tēs dōreas tēs dikaiosynēs lambanontes {diejenigen, die die reiche Fülle der Gnade und des Geschenks der Gerechtigkeit empfangen} und in 5,19 hoi polloi {die Vielen}, die zu dikaioi {Gerechten} gemacht werden.
Das Besondere an Römer 8,1 ist, dass er sie hier ausdrücklich „hoi en Christou Iēsou {die in Christus Jesus}“ nennt und „damit genauso die Zugehörigkeit zu Jesus Christus“ bezeichnet „wie mit hoi tou Christou {die des Christus} in 1Kor 15,23 und Gal 5,24“. Dazu verweist Wolter auch auf einen „vergleichbaren Gebrauch des Ausdrucks en Christō (Iēsou) … in Röm 16,7.11; 1Kor 1,30; 15,18; 2Kor 5,17; 12,2; Phil 3,9; 1Thess 4,16“, aus dem er eine weitreichende Schlussfolgerung zieht:
Er bezeichnet in allen Fällen die christliche Identität und bedeutet nichts anderes als ‚Christ sein‘ oder ‚zu Christus gehören‘ oder ‚von Christus bestimmt sein‘. Paulus nennt hier also dasjenige Merkmal, dass die „Glaubenden“ (Röm 3,22) und „auf Christus Jesus Getauften“ (6,3) von allen anderen Menschen unterscheidet.
Erläuternd fügt er hinzu, was damit „[s]prachlich vergleichbar“ ist, nämlich
Aussagen wie hoi en tō nomō {die im Gesetz sind} (3,19) oder hoi en sarki {die im Fleisch sind} (8,8; s. auch 7,5; 8,9) oder hoi en skotei {die in Finsternis sind} (2,19) oder en pneumati einai {im Geist sein} (8,9a) oder wenn Paulus es in Röm 6,2 für unmöglich erklärt, dass Getaufte noch ‚in der Sünde‘ leben können („wir sind doch der Sünde gestorben, pōs eti zēsomen en autē {wie können wir noch in ihr leben}?“).
Wieder hebt Wolter außerdem hervor, dass der „Ausdruck ‚Christus Jesus‘ … dabei durchaus wie u.a. in Röm 3,22.24; 5,1.11c als metonymische Chiffre für das Christusgeschehen stehen“ kann, „in dem der Glaube das Handeln Gottes wahrnimmt“.
Der übertragene Sinn der Formulierung Christos Iēsous läuft für Wolter also tatsächlich auf ein vom Judentum völlig abgelöstes Verständnis von Jesus Christus hinaus, wie es uns Christen vertraut ist. Mit keinem Wort geht er darauf ein, dass Paulus mit seiner Verwendung des Titels Christos {der Gesalbte} für Jesus ganz selbstverständlich dessen Identität als des vom Gott Israels gesandten jüdischen Messias voraussetzt, und erst recht nicht darauf, was das für die Gemeinschaft von Juden mit Nichtjuden bedeuten könnte.
Aufgrund der in Römer 8,1 gezogenen Schlussfolgerungen (W473) und auch weil Paulus mit Römer 8,2 „die These von V. 1“ begründet, „wonach alle, die zu Christus gehören, von der in 7,7-25 beschriebenen Situation nicht betroffen sind“, folgert Wolter weiter, dass keineswegs
das „Du“, das Paulus hier anredet, mit dem Ich von 7,7-25 identisch ist. In dem Du können sich die intendierten Leser des Briefes wiederfinden, weil es ein christliches Du ist, und eben das konnte man vom Ich in 7,7-25 nicht sagen.
Wolter sieht hier (Anm. 13) einen Unterschied zum „fiktiven Du in 2,1-5.17-23.25-27: Während Paulus hier an den intendierten Lesern vorbeischreibt, können sie sich in 8,2 durchaus mitangeredet hören.“ Aber ist die Annahme nicht widersinnig, dass Paulus jetzt, wie Wolter meint, heidenchristlichen Adressaten versichert, dass das, was er zuvor aus der Sicht eines jüdischen Ich dargestellt hatte, auf sie jetzt nicht mehr zutrifft, weil sie zu Christus gehören?
Wie interpretiert nun Paulus in 8,2 nach Wolter „das Nacheinander von einst und jetzt der christlichen Existenz, wie er es zuletzt in 7,5-6 dargestellt hatte“? Er sieht es
als ein Befreiungsgeschehen, das sich zwischen zwei nomoi {Gesetzen} abspielt: Dem nomos tou pneumatos tēs zōēs {Gesetz des Geistes des Lebens} schreibt er dabei die Rolle des Protagonisten zu, der die Befreiung herbeiführt, während als Antagonist, dessen Herrschaft über das christliche Du gebrochen wird, der nomos tēs hamartias kai tou thanatou {Gesetz der Sünde und des Todes} ist.
Damit stellt „Paulus … den nomos ‚des Geistes, der Leben bringt‘, dem nomos ‚der Sünde, die den Tod zur Folge hat‘, einander gegenüber.“ Wie hier „Tod“ zu verstehen ist (Anm. 15), hatte Wolter bereits (W159) in seiner Auslegung von Römer 1,32 erläutert, dass es sich nämlich „nicht lediglich um den biologischen Tod“ handelt, „sondern um den eschatischen {endzeitlichen} ‚Tod‘“ als „Umschreibung für die Unheilsfolge des endzeitlichen Gerichtshandelns Gottes.“ Zum Leben bringenden Geist verweist Wolter (W473, Anm. 14) u.a. auf einige biblische Quellen, nämlich
Ez 37,5: „ich bringe Geist (ruach) in euch, und ihr werdet leben“ (LXX: egō pherō eis hymas pneuma zōēs {ich bringe in euch Geist des Lebens}; … Apk 11, 11 (über die beiden toten Zeugen): „Und nach dreieinhalb Tagen kam in sie Geist des Lebens von Gott (pneuma zōēs ek tou theou), und sie stellten sich auf ihre Füße“; Joh 6,63: „der Geist ist es, der lebendig macht“; Gal 6,8: „Wer auf den Geist sät, wird aus dem Geist ewiges Leben ernten“. Im Hintergrund dieser Vorstellung steht wahrscheinlich Gen 2,7, obwohl dort ein anderer Begriff Verwendung findet (nɘschamah chajjim; LXX: pnoē zōēs {beide Male: lebendiger Atem}).
Nimmt Wolter aber von solchen Gedanken her auch ernst, dass Paulus die jüdische Tora nicht nur als von der Sünde in den Dienst genommen, sondern auch als Tora des Lebensgeistes begreifen kann? Was Friedrich-Wilhelm Marquardt [269] als „geläufigen Theologenjargon vom Gesetz ‚als Heilsweg‘, das durch den Christusglauben als einem anderen, wahreren ‚Heilsweg‘ überboten worden sein soll“, heftig kritisiert hat, scheint Wolter ja nicht so zu behaupten und auch nicht zu unterstellen, der Tora liege ausschließlich ein „Leistungs- und Lohngedanke“ zugrunde. Marquardt redet uns Christen ins Gewissen,
daß wir begreifen: Juden verstehen das Gesetz Gottes als den Weg des Lebens selbst; sie tun die Werke des Gesetzes nicht, um zu leben, sondern sie leben, indem sie sie tun. Das Gottesleben ist diesem Tun inne, und die Tora ist das Geschenk des Lebens selbst.
Mit der Annahme, dass für Paulus eine solche Sicht der Tora selbstverständlich gewesen sein könnte, scheint Wolter aber Schwierigkeiten zu haben (W473), was aus seiner Beschreibung des Streites zur „Frage, was nomos hier jeweils bezeichnen soll“, hervorgeht. Es gibt Exegeten, die davon ausgehen, dass „von der Tora“ die Rede ist; so meint etwa Wilckens <212> (Anm. 16), „Paulus spreche hier von einer ‚Wende im Gesetz selbst von seiner verurteilenden zu seiner diese Verurteilung aufhebenden Funktion‘“. Aber Wolter bevorzugt die Annahme, dass „nomos jeweils metaphorisch wie in 3,27e; 7,21a. 23a.c-d ein den Menschen bestimmendes und ihn festlegendes ‚Prinzip‘“ bezeichnet. Zur Begründung führt Wolter an (W474), dass
es nach dem in 7,7-25 Gesagten ganz unverständlich wäre, wenn Paulus die von der Sünde instrumentalisierte Tora nun auf einmal zum Subjekt der Befreiung machte und sie zu einer Heilsmacht werden ließe, die die Sünde und ihre Unheilsfolgen überwinden könnte. Dazu – das wird Paulus dann auch in V. 3 noch einmal ausdrücklich festhalten – ist sie gar nicht in der Lage. Auch mit dem nomos tēs hamartias kai tou thanatou {Gesetz der Sünde und des Todes} kann schwerlich die Tora gemeint sein, denn ebenfalls nach der Darstellung von 7,7-25 war ja nicht die Tora das für Sünde und Tod verantwortliche Subjekt, sondern die Sünde, die die Tora für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Vor allem aber bezieht sich „Paulus mit ‚vom Gesetz der Sünde und des Todes befreien (eleutheroō)‘ (8,2) auf ‚im Gesetz der Sünde gefangen halten (aichmalōtizō)‘ (7,23c)“, und „diese Gefangenschaft, aus der das christliche Du befreit wurde“, bestand ja „in dem nicht mit dem ‚Gesetz Gottes‘ (7,22) identischen ‚heteros nomos {anderen Gesetz} in meinen Gliedern‘ (7,23a).“
Im bedeutungsmäßigen Zusammenhang mit „dieser Metaphorik“ erinnert Wolter außerdem an
die Rede von der apolytrōsis (tēs en Christō Iēsou) {Erlösung (die in Christus Jesus ist} in 3,24: Sie bezeichnet das Geschehen, das zur ‚Befreiung‘ aus der ‚Gefangenschaft‘ geführt hat. Dass dieser Zusammenhang nicht weit hergeholt ist, geht dann aus 8,3 hervor.
In Vers 8,2 stehen sich nach Wolter „darum eigentlich der Geist und die Sünde als handelnde Subjekte gegenüber“. Schon in 6,18.22 hatte Paulus von dem „Befreiungsgeschehen“ gesprochen, das „von Sünde und Tod zum Leben“ führt:
Neu hinzugekommen ist jetzt der Geist. Dass gerade er es ist, dem Paulus den Sieg über die Sünde zuschreibt, ist vielleicht durch das Gegenüber der jeweiligen Folgen vermittelt: Das Heil, das dem „Tod“ als der Unheilsfolge der Sünde antithetisch gegenübersteht, ist das „Leben“, und eben von ihm weiß man schon immer, dass Gott es durch seinen Geist schenkt. Paulus führt den Geist an dieser Stelle aber nicht lediglich als theologisches Konstrukt ein. Er stellt mit seiner Hilfe vielmehr Plausibilität her, denn die Präsenz des Geistes war in den Gottesdiensten der christlichen Gemeinden eine ständig präsente Erfahrung. Die Adressaten konnten diesen Vers darum auch als theologische Deutung ihrer pneumatischen {geistlichen} Erfahrung lesen.
Eine letzte Frage zu Vers 2 ist nach Wolter nicht sicher zu klären, nämlich ob der Ausdruck en Christō Iēsou {in Christus Jesus} wie in Römer 6,23 oder 2. Timotheus 1,1 zu tēs zōēs {des Lebens} gehört, so dass, wie Wolter es tut, folgendermaßen zu übersetzen wäre (W469):
Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus
hat dich befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes.
Möglich wäre es aber auch (W474), en Christō Iēsou „mit ēleutherōsen {hat befreit} zu verbinden“, so dass „ein instrumentales Verständnis“ wie in Römer 5,21 herauskäme:
Denn das Gesetz des Geistes des Lebens
hat dich durch Jesus Christus befreit
von dem Gesetz der Sünde und des Todes.
[11. Mai 2025] Für Gerhard Jankowski (J171) geht es in Römer 8 nicht einfach um Menschen, die wir heute Christen nennen. Das Wort Christos übersetzt er konsequent mit „Messias“, zumal es bei Paulus oftmals allein oder dem Namen Iēsous vorangestellt vorkommt. Und diejenigen, die sich en Christō Iēsou {im Messias Jesus} versammeln, was Jankowski als „messianische Praxis“ bezeichnet, sind Juden und Nichtjuden, die trotz scheinbar unüberwindlicher Gegensätze ein gemeinsames Leben wagen. Auf diese gewagte Praxis weist „[g]leich der erste Satz, fast aggressiv formuliert“, in Vers 1 hin (J171f.):
Die in der messianischen Gemeinschaft, eben im Jesus Messias, leben, sind nicht zu verurteilen. Daß sie so leben und wie sie leben, ist nicht zu verurteilen. Aus orthodoxer jüdischer Sicht müßte dieses Zusammenleben von Juden und Nichtjuden verurteilt werden, wenn es von der Thora mit ihren einzelnen verbindlichen Anweisungen für den Umgang mit den Gojim beurteilt wird. Paulus behauptet das Gegenteil.
Jankowski ist überzeugt davon, dass Paulus „seine Behauptung mit der Thora“ begründet und nicht mit einem allgemein-menschlichen Prinzip, wie Wolter meint. Was Wolter nicht akzeptieren will, ist ein Ringen des Juden Paulus mit der jüdischen Tora, die ihn zu extrem widersprüchlichen Aussagen nötigt. Jankowski nimmt ein solches Ringen ernst (J172):
Ist das noch dieselbe Thora? Oder führt Paulus eine andere Thora ein, die willkürlich abgeschwächt ist, so daß die messianische Praxis möglich ist? Wenn dem so wäre, dann betriebe Paulus einen gewaltigen Etikettenschwindel. Aber er hält sich an das, was von der Thora immer gelehrt wurde. Sie ist für ihn Thora des Geistes des Lebens, nomos tou pneumatos tēs zoēs. Diesen Satz kann jeder in Israel unterschreiben. Thora ist Leben, Leben für Israel. Es ist deswegen unmöglich, daß die Thora messianisches Leben, die Einigung von Juden und Gojim im Leib des Messias, verbieten sollte. Sie gebietet es. Wenn also Juden und Gojim zusammenleben, dann wird Israel, lebt Israel. Und damit Israel leben kann, wurde die Thora gegeben. Aber es lebt jetzt in der Einheit von Juden und Gojim. Die Einheit freilich ist nicht von der Abstammung her, dem Fleisch nach, gegeben. Sie ist gegeben durch den Geist. Und der kommt hier ins Spiel, gebunden an das Leben, das die Thora will.
Im Zusammenhang mit dem Stichwort „Geist“ geht Jankowski auf „Schwierigkeiten“ ein, die viele heute mit diesem Wort haben:
Es scheint nichts Nebulöseres in der Kirche zu geben als diesen Geist. Für viele wurde er zu einem Gespenst. Sehnsucht nach Spiritualität und Teilhabe an den Gaben des Geistes wecken meistens erst recht Gespenster, die Menschen betäuben und ihnen das Denken abgewöhnen. Im ungünstigen Fall macht die Beschwörung des Geistes Menschen kaputt, anstatt sie zu heilen und zu befreien. Und so verkommt der Geist zu einem verrechenbaren Faktor in einem miesen Showgeschäft mit Spiritualität und Heilsversprechungen. Der Geist, der da beschworen, herbeigezaubert und gehandhabt wird, der ist bei Paulus nicht gemeint.
Aber was sonst kann Paulus mit „Geist“ meinen? Nach Jankowski orientiert sich Paulus in dieser Hinsicht an „der Schrift“, und
so ist auch bei Paulus Geist dasjenige, was die Propheten reden läßt, was Menschen aufrichtet, was Neues schafft, was Menschen anregt, die Forderungen der Thora zu erfüllen. Der Geist treibt an, gestaltet neu. Er inspiriert zu Neuem, wie wir in Anlehnung an die lateinische Übersetzung für Geist, spiritus, auch sagen können.
Indem in Römer 8,2 „der Geist im Verbund mit der Thora“ steht, „die das Leben will“, spricht Paulus von der „Kraft einer neuen Welt, die ans Leben drängt“ und die Jankowski unter Rückgriff auf die revolutionären Impulse der 1. Auflage von Karl Barths Römerbriefauslegung folgendermaßen beleuchtet (J172f.):
Thora des Geistes des Lebens, das ist … die Kraft, die das Leben im Messias bestimmt, dazu drängt und anregt. Und es ist die Kraft, die Israel in der Einheit von Juden und Gojim erneuert. Geist, das ist das „neu organisierende Prinzip“, wie Karl Barth <213> sagt. Er sagt weiter: „Der Geist nimmt die Verhältnisse nicht, wie sie sind. Der Geist hat nicht Interesse an der Erhaltung des Bisherigen, des Bestehenden, sondern an seiner Verwandlung und Neugeburt … Geist ist Wachstum und hat im Gesetz des Wachstums seine einzige Autorität.“ Und der Geist eint die Verschiedenen.
Ob diese recht allgemein formulierten Aussagen Barths in ihrem Überschwang etwas von dem andeuten, was Paulus wirklich wollte, lasse ich dahingestellt sein. Nachdenklicher machen mich die weiteren Überlegungen von Jankowski (J173):
In der Tat organisierte sich in der messianischen Gemeinschaft etwas Neues, was es vorher nicht gegeben hat und auch nicht geben konnte und was, wenn überhaupt, erst für die messianische Zeit erhofft wurde. Und was da Gestalt gewann, bedurfte bestimmter Regeln. Gerade die Einheit der Verschiedenen brauchte ein organisierendes Prinzip, das sie nicht behinderte, sondern sie gestaltete und zusammenhielt. Gleichzeitig mußten in dieser neu zu organisierenden Korporation die Verschiedenheiten anerkannt und keinesfalls verwischt werden. Nur so konnten die Verschiedenen in einer Gemeinschaft geeint werden. Für Paulus ist es die Thora des Geistes des Lebens, die das bewirkt. Es ist nach wie vor die Thora, die Israel zum Leben gegeben wurde. Und die ist auch nach wie vor das Leben für das durch den Geist geeinte Israel aus Juden und Gojim. Sie ist heilig, bewährt und gut.
Was aber kann Paulus mit der „Thora der Sünde und des Todes, nomos tēs hamartias kai tou thanatou“ meinen, die im „scharfen Gegensatz“ zur Tora des Lebensgeistes genannt wird, und zwar „im gleichen Satz, praktisch im gleichen Atemzug“? Wenn eine solche Tora „nun negativ besetzt zu sein“ scheint, ist
das dann noch ein und dieselbe Thora? Oder spaltet Paulus nicht die eine Thora in zwei völlig verschiedene Thoroth auf, wobei die eine Gültigkeit behält, die andere aber erledigt ist?
Nach Jankowski erlebt Paulus an der Tora tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Seiten. Neben der bisher beschriebenen Tora des Lebensgeistes kennt er auch eine tödliche Seite der Tora:
Thora zeigt auf, was Sünde ist. Thora benennt auch, was für das Zusammenleben von Menschen tödlich ist. Thora fordert den Tod für Vergehen gegen die Gemeinschaft. Auf das Verhältnis zwischen Juden und Gojim bezogen: Thora trennt zwischen beiden, weist den einen Leben, den anderen Tod zu; ist den einen Hilfe zu einem bewährten Leben, den anderen zeigt sie verfehltes Leben an; und wer von den Juden die Trennlinie überschreitet, die die Thora gezogen hat, wird selber zum Sünder. Sie kann und soll das Verhältnis zwischen Juden und Gojim regeln. Nicht regeln kann sie das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in einer engen Gemeinschaft. Das ist so nicht vorgesehen. Die Thora der Sünde und des Todes macht das nur deutlich.
Dennoch ist in den Augen des Paulus, wie Jankowski annimmt, „die Thora“ insgesamt „weder mit Sünde noch mit Tod gleichzusetzen“. Auch die von ihm „auf den ersten Blick so negativ charakterisierte Thora“ ist und bleibt (J173f.)
nichts anderes als die einmal Israel gegebene Thora. Von der kann sich niemand, auch Paulus nicht, verabschieden oder distanzieren. Wohl aber kann er sich ihr gegenüber als ein Mündiger, als ein Freigelassener, verhalten. Und es ist die Thora selbst, die dazu anleitet. Mehr noch: Sie stellt die Mündigkeit her. Deswegen heißt es: „Die Thora des Geistes des Lebens hat dich freigelassen von der Thora der Sünde und des Todes.“ (8,2) Damit du im Leib des Messias als Jude und als Nichtjude zusammen leben kannst, so ist der Satz wohl konsequent fortzusetzen.
Hier scheint Jankowski anders zu argumentieren als in seiner Auslegung von Römer 7,23. Dort hatte er (J169) das heteron nomon en tois melesin mou {die andere Tora in meinen Gliedern} eine „widergöttliche“ andere „Thora des widergöttlichen und deswegen unmenschlichen Prinzips“ genannt, das im Krieg liegt mit „der heiligen Thora“ und „bei Paulus durchgängig Sünde“ heißt und „den Menschen völlig lähmt“. Müsste Jankowski nicht, wenn er in 8,2 zwei Aspekte derselben Tora einander gegenüberstellt, für 7,22-23 ebenfalls voraussetzen, dass die von der Sünde in ein widergöttliches Prinzip verwandelte Tora letzten Endes identisch ist mit der im Grunde heiligen, bewährten und guten Tora Gottes?
Zu Römer 8,2 entwickelt Jankowski diesen kühnen Gedanken folgendermaßen weiter (J174):
Die eine Thora bewirkt also einen Akt der Freilassung, wie er im damals herrschenden Institut der Sklaverei vorgesehen war. Freigelassene waren keine Sklaven mehr. Durch den Akt der Freilassung wurden sie aus der Hand ihres Herren entlassen. Sie waren danach emanzipiert, mündig. Die Thora setzt frei, sie macht mündig. Die Mündigen, Juden und Nichtjuden, leben zusammen, dazu ermutigt durch die Thora. Sie sind frei und brauchen nicht mehr die Gebote der Thora zu befolgen, die einteilen in Bewährte und Sünder, in Lebende und Tote, in Juden und Nichtjuden. Die Thora des Geistes des Lebens löst die Thora der Sünde und des Todes nicht ab. Beides ist in der einen Thora enthalten. Das eine aber, der Geist des Lebens, kann und muß zuweilen den Vorrang haben.
Jankowski ist es durchaus bewusst, dass Paulus damit „in Röm 8,2 eine neue Sicht der Thora vorlegt“ und dass diese „außerordentlich heterodox ist“, also der üblichen – orthodoxen – Lehre der Rabbinen radikal widerspricht. Trotzdem hält Jankowski die Position des Paulus keineswegs für wirklich „[a]ußergewöhnlich“ im Rahmen der innerjüdischen Diskussion:
Seit den Schulen Hillels und Schammais wurde über die Auslegung und Anwendung der Thora gestritten. Zuweilen wurde die Befürchtung laut, daß durch die verschiedene Auslegung der einzelnen Schulen die eine Thora in viele verschiedene Thoroth aufgesplittert wurde. Die Fixierung der Mischna hatte da das eindeutige Ziel, diese Aufsplitterung zu verhindern und die Einheit der Thora zu wahren. Zur Zeit des Paulus ist die Fixierung der Mischna noch nicht vollzogen, die Diskussion also noch in vollem Gang. Und sie wird scharf geführt, weil das Problem Israel und die Völker dringend der Lösung bedarf und die Stellung zur Thora dabei ein wichtiges Moment war. Auch in der Wortwahl des Paulus wird die Schärfe der Diskussion spürbar. Sie mußte polemisch geführt werden, um den eigenen Standpunkt zu kräftigen.
Die Vorstellung, dass Paulus, der sich doch im Römerbriefkapitel 7 ausführlich zur jüdischen Tora geäußert hatte, auch in 8,2 an einer innerjüdischen Debatte über die Auslegung der Tora beteiligt ist, scheint mir jedenfalls naheliegender als Wolters oben dargelegte Annahme (W474), dass hier auf einmal keiner der beiden nomos-Begriffe mit der Tora zu tun haben sollen. Wolter vermag die Spannung nicht auszuhalten, die Paulus unter heftigen Schmerzen erträgt, dass eine Tora, die durch „die Sünde … für ihre Zwecke instrumentalisiert“ wird, dennoch die heilige Tora Gottes bleibt und darum unter der Voraussetzung, dass der von Gott gesandte Messias eingreift, nun doch durch den Geist des Lebens „zum Subjekt der Befreiung … und … zu einer Heilsmacht“ wird, „die die Sünde und ihre Unheilsfolgen überwinden“ kann. Immerhin hat auch nach Wolter (W473, Anm. 14) nicht erst Jesus oder Paulus den „[z]um Leben bringenden Geist“ des befreienden Gottes Israels in die Welt gebracht.
↑ Römer 8,3-4: Durch die Sendung seines Sohnes verurteilt Gott die Verfehlung und lässt die wahr machende Kraft der Tora in uns erfüllt werden
8,3 Denn was dem Gesetz unmöglich war,
weil es durch das Fleisch geschwächt war,
das tat Gott:
Er sandte seinen Sohn
in der Gestalt des sündigen Fleisches
und um der Sünde willen
und verdammte die Sünde im Fleisch,
8,4 damit die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, in uns erfüllt werde,
die wir nun nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.
[12. Mai 2025] Seltsamerweise steht nach Michael Wolter (W474) in Römer 8,3 das Wort „nomos wieder für die Tora“, obwohl er diese Bedeutung für den vorigen Vers in beiden Fällen ausgeschlossen hatte.
Anders als die Mehrheit der Exegeten will Wolter (W474f.) „den Satz, den Paulus hier beginnt, nicht als Anakoluth enden lassen …, dessen ursprünglich geplante Fortsetzung Paulus unterwegs vergessen hat“, wobei dann wie in der oben zitierten Lutherbibel zum unvollständigen griechischen Text ein Satz wie „das tat Gott“ ergänzt werden muss. Seine eigene Übersetzung (W469) der Anfangsworte to gar adynaton tou nomou en hō ēsthenei dia tēs sarkos {„denn was die Machtlosigkeit des Gesetzes angeht, insofern es durch das Fleisch geschwächt war“}, worauf ein vollständiger Hauptsatz folgt, beruht stattdessen darauf (W475), dass er sie „als Akkusativ der Beziehung“ begreift.
Inhaltlich steht ihm zufolge das „substantivierte Adjektiv to adynaton {das Unmögliche, Unfähige, Machtlose}“ für „eine Eigenschaft der Tora“ und nicht einfach nur „für die Handlung, die das Gesetz nicht vollbringen kann.“ Von „dieser Interpretation“ her liegt für ihn der „Zusammenhang von V. 3 mit V. 4“ klar auf der Hand:
Die Machtlosigkeit des Gesetzes besteht darin, dass es nicht imstande ist, seine eigene Intention, nämlich die Erfüllung seiner Rechtsforderungen, durchzusetzen. Diese Erfüllung wird erst durch den Geist möglich (V. 4), nachdem die Herrschaft der Sünde im Fleisch gebrochen ist. To adynaton tou nomou {die Machtlosigkeit des Gesetzes} ist darum theologisch nicht mit V. 3c, sondern mit V. 4 zu verknüpfen. Dadurch bekommt auch das gar {denn} zu Beginn von V. 3a einen plausiblen Sinn als Begründung der in V. 2 formulierten Feststellung: Die Befreiung aus der Gefangenschaft irn „Gesetz der Sünde“ (7,23) hat zur Folge, dass die Rechtsforderung der Tora nun wieder erfüllt werden kann. Oder anders herum gesagt: Erst nachdem Gott die Herrschaft der Sünde gebrochen hat, ist auch to adynaton tou nomou {die Machtlosigkeit des Gesetzes} überwunden und kann das Gesetz wieder Menschen finden, die seine Rechtsforderung erfüllen.
Interessant ist in Wolters Argumentation hier die zweimalige Formulierung, die sich darauf bezieht, dass „nun wieder“ eine Situation eingetreten ist, in der „die Rechtsforderung der Tora … erfüllt werden kann“. Damit müsste Paulus aber voraussetzen, dass es früher durchaus Zeiten gab, in denen das möglich war. Anders als Jankowski stellt Wolter jedoch nirgends die Frage, welche konkreten Bedingungen seiner Zeit Paulus zu der Überzeugung gebracht haben, dass die Tora nicht getan werden kann – jedenfalls nicht, ohne dass es durch den Messias wieder möglich wird, sie erneut als die Tora des Leben schaffenden Geistes zu begreifen.
In den Worten en hō ēsthenei dia tēs sarkos {insofern es geschwächt war durch das Fleisch} ist (Anm. 25) der Ausdruck en hō {wörtlich: in dem} kausal auf to adynaton {die Machtlosigkeit} zu beziehen. So benennt Paulus (W475) als „den Grund … für die Machtlosigkeit der Tora“, dass der Mensch in „seiner Existenz durch das ‚Fleisch‘“ bestimmt ist, was er „bereits in 7,14.18 vorgetragen hatte, um das Gesetz von der Verantwortung für das Unheil des Menschen zu entlasten“, denn (W475f.) nur aufgrund dieser „Bestimmtheit“ kann „das Gesetz sich mit seiner Rechtsforderung gegen die Macht der Sünde“ nicht durchsetzen. Wolter betrachtet daher (W476) den Vers 8,3a als „eine Zusammenfassung von 7,13-25“ und schließt aus dem
Imperfekt ēsthenei {war geschwächt} …, dass Paulus aus der in V. 1 eingenommenen Perspektive (nyn {jetzt}) auf die in 7,13-25 skizzierte Situation zurückblickt: Sie ist für hoi en Christō Iēsou {die in Christus Jesus} Vergangenheit.
In Vers 8,3b-c „erklärt Paulus“ nach Wolter, auf welche Weise die eben beschriebene Situation zur Vergangenheit wurde, also „wie Gott die Macht der Sünde gebrochen hat, so dass eine Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes möglich wird.“
Auf die „Metapher der Sendung“, die er schon in Galater 4,4-5 verwendet hatte, greift Paulus zurück, um zu umschreiben, dass „Gott durch Jesus Christus zum Heil der Menschen gehandelt hat“. Während „in der johanneischen Literatur“ entsprechende „Aussagen über die Sendung des ‚Sohnes‘ durch Gott … in eine umfassende Sendungschristologie eingebettet sind“, tauchen sie bei Paulus nur an diesen beiden Stellen auf. Aber wozu dient nach Wolter die Metapher?
In Röm 8,3 handelt es sich wie in den anderen Texten um eine Metapher, die von Gottes Handeln in der Welt der Menschen sprechen will, ohne dabei die Vorstellung von seiner Transzendenz aufzugeben. Diese Distanz zwischen dem transzendenten Gott und der Welt der Menschen soll mit Hilfe der metaphorischen Rede von der ‚Sendung‘ überbrückt werden. Die Pointe der Aussage besteht darin, dass Gott selbst es ist, der durch den handelt, den er ‚sendet‘: Partizip (pempsas) und finites Verb (katekrinen {verurteilte}) haben ein und dasselbe Subjekt. Gott und sein Handeln stehen also im Mittelpunkt der Aussage.
Im Hintergrund stehen nach Wolter einerseits „menschliche Sendungsvorgänge“, aber auch (W476f.) eine Aussage über „das Handeln Gottes“ wie „in Num 20,16 (Gott aposteilas angelon exēgagen hēmas ex Aigyptou [‚… sandte einen Engel und führte uns aus Ägypten‘])“. Jedenfalls (W477) knüpft Paulus Wolter zufolge hier weder an „die Vorstellung von der Sendung der präexistenten Weisheit oder des Logos in die Welt“ an noch verbindet er „mit dieser metaphorischen Redeweise die Vorstellungen von Präexistenz und Inkarnation“. Und noch etwas ist nach Wolter besonders hervorzuheben:
In Röm 8,3 bezeichnen das Partizip pempsas {er sandte} und das Verbum finitum katekrinen {er verurteilte} nicht zwei verschiedene Handlungen Gottes, die aufeinander folgen, sondern ein und dieselbe.
Diese Handlung Gottes wird nun von Paulus in Vers 3b „mit Hilfe von zwei parallelen präpositionalen Wendungen“ erläutert.
Erstens wird „das Mensch-Sein des Sohnes“ mit der Wendung en homoiōmati sarkos hamartias {in der Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde} umschrieben, woran sich (Anm. 32) „schon in altkirchlicher Zeit eine intensive inkarnationstheologische Diskussion angeschlossen“ hat. Wie schon (W477) „in Röm 1,23; 5,14; 6,5“ wird durch das Stichwort homoiōma {Abbild, Modell, Ähnlichkeit} „das Ineinander von Gemeinsamkeit und Differenz“ angedeutet:
In Röm 8,3b bezieht homoiōma sich nicht nur auf „Fleisch“, sondern auf den gesamten Ausdruck „Fleisch der Sünde“. Er bringt dabei aber nicht zum Ausdruck, dass Jesus den Menschen lediglich ‚ähnlich‘ geworden sei, sondern er will gerade die Gleichheit hervorheben: Auch wenn Jesus anders als alle anderen Menschen Gottessohn und nicht „unter die Sünde verkauft“ war (Röm 7,14), war seine Präsenz unter den Menschen doch durch dasselbe Merkmal gekennzeichnet, das alle Menschen miteinander gemeinsam haben: Er trug dasselbe „Fleisch der Sünde“ mit sich herum wie alle anderen Menschen. homoiōma will deutlich machen, was Jesus und die Menschen miteinander gemeinsam haben, ohne dass dabei aber die vorausgesetzte Ungleichheit zwischen ihnen verlorengeht.
Dabei legt Wolter aber Wert darauf, dass der „Genitiv hamartias … hier ein genitivus qualitatis mit charakterisierender Funktion“ ist, das heißt: „Es gibt kein Fleisch, das nicht ‚Fleisch der Sünde‘ wäre.“ Verstünde man (Anm. 34) die so verstandene sarx {Fleisch} nicht (wie „schon in 7,5“) in diesem Sinne „als eine anthropologische Gegebenheit“, dann würde man „die Spannung, die in der paulinischen Formulierung steckt, doketisierend abmildern“, womit gemeint wäre, dass Jesus letzten Endes nur scheinbar den Leib eines Menschen gehabt hätte (W477):
Dass Jesus im „Fleisch der Sünde“ unter den Menschen gelebt hat und trotzdem der Gottessohn geblieben ist, der (mit den Worten von 2Kor 5,21 gesagt) im Unterschied zu allen anderen Menschen „keine Sünde kannte“ – diese Differenz markiert der Begriff homoiōma.
Zur (W478) „zweite[n] präpositionale[n] Wendung, mit der Paulus die ‚Sendung‘ des Sohnes charakterisiert“, nämlich peri hamartias {der Sünde wegen} äußert sich Wolter in einem ausführlichen Exkurs. Gestritten wird unter Exegeten darüber, ob Paulus mit dieser Wendung
einen „Fachausdruck der Opfersprache“ aus der Septuaginta übernimmt, mit dem er Jesus als „Sündopfer“ kennzeichnet, oder ob der Ausdruck als adverbiale Bestimmung einfach nur die mit Jesu Sendung verbundene Absicht nennen will: Jesus wurde ‚um der Sünde willen‘ gesandt, d.h. zur Beseitigung der Sünde, die die Menschen auf sich geladen haben.
Für die erstere Möglichkeit spricht, „dass dieser Ausdruck in der Septuaginta meistens für lɘchattaˀth (‚zum Sündopfer‘) steht“ oder „aber auch für chattaˀth (‚Sündopfer‘) selbst, d.h. für das Opfer, das der Opfernde als Kompensation für seine Sünde darbringt, um nicht von deren Unheilsfolgen getrolfen zu werden“. Auf der anderen Seite ist es aber auch möglich, dass schon
die Wiedergabe von lɘchattaˀth durch peri (tēs) hamartias in der Septuaginta nicht prädikativ („als Sündopfer“), sondern adverbial („um der Sünde willen“) verstanden werden will. Analoges würde dann auch in Röm 8,3b der Fall sein. Das gilt in jedem Falle überall dort, wo peri (tēs) hamartias für hebräisch ˁal-chattaˀth steht, wie z.B. in Lev 4,3: „… dann soll er um seiner Sünde willen, die er gesündigt hat (peri tēs hamartias autou hē hēmarten), einen jungen Stier bringen“ …
Da die Formulierung peri hamartias bei Paulus aber nur hier in Römer 8,3 vorkommt, während er (W479) in „vergleichbaren Formulierungen … sonst immer die Präpositionen hyper {für} + Genitiv (1Kor 15,3; 2Kor 5,21; Gal 1,4) und dia {durch} + Akkusativ (Röm 4,25)“ verwendet, und zwar anders als hier immer verbunden mit einem „Plural (hamartiōn {Sünden} oder paraptōmata {Übertretungen}“, hält es Wolter doch für „sehr wahrscheinlich, dass bei peri hamartias in Röm 8,3 der opferkultische Gebrauch dieses Ausdrucks in der Septuaginta mitgehört werden will.“
In Vers 3c schließlich greift Paulus mit katekrinen {er verurteilte} das Stichwort katakrima {Verurteilung} aus Vers 1 wieder auf:
Bei den christlichen Wir hat Gott der „im Fleisch“ wohnenden Sünde (7,18; s. auch 7,5.17.20.23) genau jenes Geschick bereitet, dem sie selbst entnommen sind. Weil katakrima hier aber auch im Lichte von 5,16.18 und 7,10-11 steht (s.o.) und von dem Unheilstod spricht, der über die Sünder verhängt ist, kann man das von Paulus in 8,3c Gemeinte mit Hilfe der metaphorischen Umschreibung erläutern, auf die er in 7,8c („ohne Gesetz [war] die Sünde tot“) zurückgegriffen hatte: Die Existenz der christlichen Wir ist dadurch gekennzeichnet, dass „die Sünde im Fleisch“ gewissermaßen wieder „tot“ (also wirkungslos) ist und damit keine Macht mehr über sie hat.
Die Aussage von Vers 4 knüpft wiederum mit hina {damit} an katekrinen {verurteilte} in Vers 3c an und beschreibt „die intendierte Folge des in V. 3b-c beschriebenen Handelns Gottes“.
Mit dem „Ausdruck dikaiōma tou nomou {Rechtsforderung des Gesetzes}“, der ansonsten (Anm. 40) in der gesamten „antiken Literatur“ nur noch in 4. Mose (Numeri) 31,21 vorkommt, nimmt Paulus nach Wolter „das Gesetz in seiner Gesamtheit in den Blick“. Indem Paulus das Wort nomos {Gesetz} aus Vers 3a aufnimmt, lässt er erkennen (W479f.), dass in seinen Augen Gott „die dort angesprochene ‚Machtlosigkeit des Gesetzes‘ … überwinden und dessen Erfüllung möglich … machen“ will.
Vers 4a: hina to dikaiōma tou nomou plērōthē en hēmin übersetzt Wolter so (W469):
damit die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt werde – durch uns…
Dabei kommt es ihm vor allem darauf an (W480, Anm. 42), die Wendung en hēmin {wörtlich: in uns} „instrumental aufzulösen“ und plērōthē {erfüllt werde} nicht als „passivum divinum“ zu verstehen, „mit dem Paulus das Handeln Gottes oder Christi ‚in uns‘ umschreiben“ wollte. Wäre Letzteres der Fall, hätte Paulus anschließend „die christlichen Wir nicht als peripatountes {einen Lebenswandel Vollziehende}, sondern als pisteuontes {Glaubende} kennzeichnen müssen.“ Indem das Gesetz also (W480) „durch uns“ erfüllt wird, nämlich durch „hoi en Christō {die in Christus}, d.h. die christlichen Wir“, folgt Paulus auch dem „sonstige[n] Sprachgebrauch:
In Gal 6,2 spricht Paulus vom „Erfüllen“ (anaplēroun) des nomos tou Christou {Gesetzes Christi} und in Röm 13,8.10 und Gal 5,14 vom „Erfüllen“ (plēroun) des Gesetzes durch die Liebe (mit Verweis auf Lev 19,8; s. auch Mt 5,17). Ansonsten ist nur recht selten davon die Rede, dass Gesetze „erfüllt“ werden: Die Septuaginta spricht niemals in dieser Weise von einem „Erfüllen“ der Tora und ihrer Rechtsforderungen.
Wichtig ist für Wolter auch das „Element der Vollständigkeit <214>“, das im Verb plēroō {erfüllen} „nicht nur mitgehört, sondern in den Mittelpunkt gestellt werden“ sollte:
In ihm artikuliert sich der Anspruch, dass die christlichen Wir der Rechtsforderung des Gesetzes nicht weniger als gänzlich und restlos nachkommen. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass sie alle Einzelforderungen der Tora erfüllen. Das von Paulus hier Gemeinte steht vielmehr der Auskunft von Röm 13,8 nahe („wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt [peplērōken]“; s. auch 13,10b; Gal 5,14). Hiernach ist schon mit der Beachtung des Liebesgebots der Rechtsanspruch der Tora vollständig erfüllt. Es ist darum kein Zufall, dass Paulus hier wie dort vom „Erfüllen“ (plēroun) des Gesetzes spricht, und hier wie dort trennt er die Erfüllung der Tora von der Observanz ihrer Einzelgebote.
Die „Pointe, die Paulus hier setzt“, möchte Wolter mit „Hilfe von Texten wie Lev 25,18; Dtn 6,24; 7,12; Röm 2,26“ sogar noch ein wenig weiter vorantreiben (W481):
Die christlichen Wir können das dikaiōma {die Rechtsforderung} des Gesetzes erfüllen, ohne dass sie dessen dikaiōmata {einzelne Forderungen} praktizieren. Aus diesem Grunde können auch Nichtjuden das dikaiōma tou nomou {die Rechtsforderung des Gesetzes} erfüllen, ohne dass sie Juden werden müssen.
Nähert sich Wolter hier, indem er sich für die Erfüllung der Tora in ihrer wesentlichen Zielsetzung durch Christen und Nichtjuden stark macht, der Position von Jankowski an? Immerhin erklärt Paulus die Geltung der Tora Gottes auch ihm zufolge nicht für aufgehoben. Indem er allerdings die christlichen Wir derart scharf von ihrer nichtchristlichen Vergangenheit unterscheidet, als ob die Juden unter ihnen ihre Identität als Juden verloren hätten, kann Wolter einem Paulus nicht gerecht werden, der als Jude gegenüber traditionell denkenden Juden als Anwalt der Nichtjuden für die messianische Gemeinschaft von Juden und Nichtjuden im Leib des Messias Jesus eintritt.
Worin konkret die Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes durch die Christen besteht, beantwortet Paulus nach Wolter in Vers 4b:
Speziell an die in Röm 13,8 explizit gemachte Erfüllung des Gesetzes durch die Nächstenliebe denkt Paulus hier aber wohl noch nicht. Nach V. 4b wird die Rechtsforderung vielmehr durch einen Lebenswandel erfüllt, der von dem Geist bestimmt ist, den Gott nach 5,5 allen Christen gegeben hat.
Damit greift Paulus den biblischen Gedanken auf, dass „das Geschenk von Gottes Geist die Erfüllung der Tora ermöglicht“. So erhält Israel in Ezechiel (Hesekiel) 36,27 die Verheißung:
„Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde machen, dass ihr in meinen Ordnungen wandelt (LXX: hina en tois dikaiōmasin mou poreuēsthe) und meine Rechtsbestimmungen bewahrt und tut“… Paulus selbst hatte zuvor schon in Gal 5,16-25; 6,8 die Opposition von Fleisch und Geist zum Leitparadigma von zwei einander antithetisch gegenüberstehenden Existenzweisen gemacht. Dieses Gegenüber nimmt er in Röm 8,4b auf und gestaltet es in den folgenden Versen dann noch weiter aus.
Besonders hebt Wolter zu Vers 4b hervor: Die christlichen Wir werden hier wie auch später in Vers 9 so charakterisiert, dass es unter ihnen keinen gibt, „auf den die hier formulierte Feststellung nicht zuträfe“, dass also der Lebenswandel aller Christen vom Geist bestimmt ist. Dabei (Anm. 45) „stellt sich Paulus hier nicht“ die „von Lambrecht <215> … formulierte Frage, ob denn Christen, wenn sie nicht kata pneuma {nach dem Geist} wandeln, auch ihre Zugehörigkeit zu Christus verlieren“.
Im gleichen Atemzug nimmt Paulus in Vers 4b (W481f.)
aber auch eine Abgrenzung vor: Die antithetische Struktur „nicht – sondern“ macht deutlich, dass die Erfüllung der Rechtsforderung der Tora nur denjenigen möglich ist, deren Lebensführung vom Geist bestimmt ist. Wie in V. 4a steht auch hier der entscheidende Gesichtspunkt betont am Ende. Was ein peripatein kata sarka {Wandeln nach dem Fleisch} kennzeichnet, können sich die Leser aufgrund des bisher Gesagten gut vorstellen: Es ist ein Leben, das von der Sünde beherrscht wird und darum deren „Begierden gehorcht“ (6,12) bzw. das von den „Leidenschaften der Sünden“ (7,5) bestimmt ist und darum der Rechtsforderung des Gesetzes nicht nachkommen kann. Mit dieser Charakterisierung der christlichen Wir ist die in V. 2 begonnene Begründung für die in V. 1 formulierte Behauptung abgeschlossen.
Alles in allem unterstellt Wolter also dem Apostel Paulus eine christliche Selbstgewissheit, die ganz allgemein darauf zu beruhen scheint, dass nur noch Menschen, die ihr Heil in Jesus Christus erkennen, von Gottes Geist bestimmt die wesentliche Rechtsforderung der Tora erfüllen können, während Juden ohne Christus-Glauben dazu nicht (oder nicht mehr?) in der Lage sind. Da Wolter anscheinend nicht meint, dass die jüdische Zuversicht, im Tun der Tora Gottes Willen erfüllen zu können, schon immer auf einem Trugschluss beruht hatte, bleibt bei ihm offen, warum es ihnen jetzt nicht mehr möglich sein soll und warum das Vertrauen auf den von Gott gesandten Messias Jesus notwendig sein soll, die Forderungen der Tora zu erfüllen.
[13. Mai 2025] Gerhard Jankowski (J174) hatte zu Römer 8,2 festgestellt, dass Paulus die jüdische Tora von zwei Seiten her in den Blick nimmt – sie kann sowohl die Tora des Lebensgeistes sein als auch die Tora der Sünde und des Todes. Diese „Sicht der Thora begründet Paulus wie immer messianisch“, wobei er in Vers 3a zunächst stockend, „mit einem Anakoluth“ beginnt, was Jankowski darauf zurückführt, dass Paulus „sich bei aller Polemik seines heterodoxen Ansatzes bewußt“ ist:
Als merke er, wie quer er zu allem liegt, was üblicherweise über die Thora gesagt und gedacht wird, bricht er einen angefangenen Satz ab: „Denn die Ohnmacht der Thora, in der sie schwach war des Fleisches wegen –“. Thora kann niemals schwach und ohnmächtig sein. Sie ist höchstens Schutz und Stütze der Schwachen und Ohnmächtigen. Vielleicht ist der Anakoluth auch in diesem Sinn zu verstehen. Im weiteren Verlauf des Briefes jedenfalls wird Paulus diejenigen, die sich in der messianischen Gemeinschaft nach wie vor an die Speisevorschriften der Thora halten, – und das sind die Juden –, die Schwachen nennen.
Auch Wolter (W476, Anm. 26) erwähnt übrigens am Rande Römer 15,1, wo der „Zusammenhang von adynatos {kraftlos, machtlos} und asthenein {geschwächt sein}“ in der Wendung ta asthenēmata tōn adynatōn {die Schwächen derer, die nicht stark sind} zu erkennen ist, aber er zieht daraus keine weiteren Schlüsse.
Ist es zu weit hergeholt, die hier angesprochene Geschwächtheit der Tora mit den anderswo von Paulus erwähnten Schwachen in der messianischen Gemeinde in Verbindung zu bringen? Jankowski führt ein weiteres Indiz an (J175), das „in diesem Zusammenhang auf das jüdische Umfeld“ hinweist, nämlich das Stichwort „Fleisch“, aber zunächst bleibt unklar, inwiefern es hier insbesondere um Juden nach dem Fleisch gehen soll und nicht ganz allgemein um Menschen, die in ihrer fleischlichen Existenz von Gott unterschieden sind. <216>
Klar ist allerdings nach Jankowski, dass der „Anakoluth … eine vom Üblichen abweichende Meinung und Kritik zugleich“ enthält, dem „natürlich jüdische Menschen widersprechen“ müssen. „Denn sie sahen gerade ihre Stärke und Überlegenheit in der ihnen gegebenen Thora.“
Erst nach dem Anakoluth lässt Paulus ab Vers 3b die eigentliche „Begründung“ von Vers 8,2 folgen, die „von der herrschenden Lehre“ erst recht abweicht und von Jankowski so übersetzt wird (J170f.):
3a Denn die Ohnmacht der Thora, in der sie schwach war des Fleisches wegen –
3b Gott schickte seinen eigenen Sohn in Ähnlichkeit von Fleischessünde
3c und um Sünde willen verurteilte er die Sünde in dem Fleisch…
4a damit der Wahrheitsanspruch der Thora in uns erfüllt werde,
4b die wir nicht den Weg nach dem Fleisch machen, sondern nach dem Geist.
Jankowskis Auslegung dieser Aussage ist von Friedrich-Wilhelm Marquardt <217> inspiriert, der schon zu Römer 8,2 betont [275], dass Paulus hier „von der ‚Tora des Geistes des Lebens‘ spricht“, das heißt:
Am von den Mächten der Sünde und des Todes befreiten Menschen bekommt die Tora wieder ihren originalen Sinn, Weisung des Lebens zu sein. Das „Gesetz des Geistes des Lebens“ ist die Tora: unter den Bedingungen des Geistes des Lebens, der dem auferweckten Jesus von Nazareth gegeben ist und von ihm her auf die Glaubenden wirkt und in ihnen.
Und dann fährt Marquardt fort, Römer 8,1-11 vor dem Hintergrund der Befreiung Israels aus ägyptischer Versklavung zu interpretieren [275f.]:
Röm 8,1-11 erzählt auf christliche Weise diejenige Geschichte der Befreiung, die in ihrer Substanz und auf ihrem Höhepunkt zur Verpflichtung wird. Wie Gott Israel von den verlockenden Zwangsmächten Ägyptens befreite, um es zum Sinai zu bringen und es dort auf die Weisungen seines neuen Lebens zu verpflichten, so hat Gott den Christus Jesus gesandt, um „die Sünde im Fleisch zu verurteilen“ (8,3), d. h. aber: sie in ihrer Zwangsmacht zu brechen und die darunter Geknechteten zu befreien. Dies geschah aber nicht selbstzwecklich, im Pathos einer absoluten Freiheit, sondern zielgerichtet, nämlich (8,4) dazu, daß die durch die Tora geforderte Gerechtigkeit in uns erfüllt würde, dazu also, daß die Tora auch an uns zu ihrem Recht komme.
Jankowski nimmt darauf Bezug (J175), indem er in der formelhaften Formulierung von Römer 8,3 eine Erinnerung „an das Exodusgeschehen“ wahrnimmt:
In Ex 4,22 heißt es: „Mein Erstlingssohn ist Israel.“ Israel, Gottes Sohn, wird aus Ägypten befreit, um dann am Sinai zum Dienst an der Thora verpflichtet zu werden. In Röm 8,3ff. heißt es: „Gott schickte seinen eigenen Sohn in Ähnlichkeit von Fleischessünde.“ Israel also wieder in Ägypten, versklavt der totalen Unfreiheit, die bei Paulus Sünde heißt. Die Sünde wird verurteilt. Die Verurteilung entspricht der Befreiung. Die so Befreiten können „den Wahrheitsanspruch (dikaiōma) der Thora erfüllen“ (8,4). Sie sind gleich denen, die am Sinai die Thora bekamen, um sie zu hören und zu tun. Was in Ägypten begann und am Sinai bestätigt wurde, das wird jetzt erneuert. In der messianischen Gemeinde aus Juden und Nichtjuden. Denn verurteilt ist die Sünde im Fleisch. Sie, die auch für die Zerstörung menschlicher Verhältnisse steht, machte es unmöglich, daß Juden und Gojim in einer Einheit zusammenwuchsen. Diese Einheit aber, die Einheit im Messias Jesus, ist nicht zu verurteilen. Damit ist der Weg offen zur wirklichen Erfüllung der Thora für die so Befreiten, „die nicht den Weg nach dem Fleisch machen, sondern nach dem Geist“ (8,4).
An dieser Stelle entscheidet sich Jankowski dafür, den Ausdruck kata sarka {nach dem Fleisch} in zugespitzter Weise auf die Juden als Teil der messianischen Gemeinde aus Juden und Nichtjuden zu beziehen:
Nach dem Fleisch, kata sarka, ist Abraham der Vater Israels (Röm 4,1); nach dem Fleisch sind die Juden die Verwandten des Paulus (Röm 9,3); nach dem Fleisch gehört der Messias zu Israel (Röm 9,5). Nach dem Fleisch, dieser Ausdruck bezeichnet eindeutig die fleischliche Einheit, in der Juden miteinander verbunden sind. Nach dem Fleisch, also auf ganz und gar jüdische Art, versuchen sie auch die Thora zu erfüllen. In der messianischen Gemeinschaft kann diese fleischliche Einheit nicht gelebt werden, weil zu ihr auch Nichtjuden gehören. Und auch die Thora kann auf diese Art nicht erfüllt werden. Das geht dort nur kata pneuma, nach dem Geist. Denn die messianische Gemeinschaft ist eine geistliche Einheit, von Gott inspiriert und so und nicht anders gewollt. Eine kreatürliche, gewachsene Einheit kann sie nicht sein. Aber gerade die geistliche Einheit ist nichts Flüchtiges. Auch sie hat ihre Norm.
Eine von Gottes Geist inspirierte messianische Gemeinschaft (J176) erfüllt den „Wahrheitsanspruch der Thora“, ohne Menschen aufgrund des Fleisches auszugrenzen oder zu verdammen, aber auch sie ist auf „eine Art Halacha, eine verbindliche Lebensgestaltung“ angewiesen, wofür „Paulus … das Wort peripatein {wandeln, den Weg machen}“ verwendet:
Das Verb steht im Griechischen für das Beschreiten eines bestimmten Weges. Innerhalb der hellenistischen Philosophie bezeichnet es eine bestimmte neue Form des Lehrgesprächs, die auf Aristoteles zurückgeführt wird. Folglich wurden, wenn auch nicht durchgängig, Schüler des Aristoteles Peripatetiker genannt. Von daher freilich ist das Wort in den biblischen Schriften nicht bestimmt.
In Hebr 13,9 steht das Verb für die Beachtung der Speisegesetze der Thora. Es ist davon auszugehen, daß das Verb eine Übersetzung der hebr. Wurzel hlkh, gehen, ist. Das davon abgeleitete Nomen Halacha, eigentlich das Gehen, hat eine besondere Bedeutung bekommen. Es meint die verbindliche Anweisung zur Ausführung der Thora, wie sie z.B. in der Mischna und im Talmud fixiert sind, und die ebenso verbindliche Lebensweise, die daraus folgt. Peripatein ist bei Paulus und anderen der Versuch, eine verbindliche und geregelte Praxis im Lebensvollzug der messianischen Gemeinde zu umschreiben. Wir übersetzen mit den Weg machen.
Für Jankowski bezieht sich die Geschwächtheit und Machtlosigkeit der Tora also nicht einfach allgemein auf die Schwäche der fleischlichen Existenz jedes Menschen, sondern auf die konkrete Situation des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden unter den Bedingungen der weltweiten Versklavung unter die Pax Romana als ein neues Ägypten, aus dem kein Auszug in ein Gelobtes Land mehr möglich ist, wo Israel getrennt von den Völkern nach der Tora leben könnte:
Befreit von der Sünde, herausgelöst aus verfehlten Verhältnissen, durch den Geist geeint, mit Hilfe des „neu organisierenden Prinzips“ den gemeinsamen Lebensvollzug verbindlich gestalten, das ist möglich geworden im Leib des Messias. In ihm verkörpern Juden und Gojim eine neue Lebensgemeinschaft. So werden sie dem von der Thora geforderten Wahrheitsanspruch gerecht.
↑ Römer 8,5-8: Wer auf das Fleisch bedacht ist, erlangt Tod statt Leben und Frieden
8,5 Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt;
die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt.
8,6 Denn fleischlich gesinnt sein ist der Tod,
doch geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede.
8,7 Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott,
weil das Fleisch sich dem Gesetz Gottes nicht unterwirft;
denn es vermag‘s auch nicht.
8,8 Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen.
[14. Mai 2025] In den Versen Römer 8,5-8 (W471), die „durch die 3. Pers. Plural gekennzeichnet“ sind, nimmt Paulus Michael Wolter zufolge
eine allgemeine Beschreibung von zwei Menschenklassen vor, die einander antithetisch gegenüberstehen: die vom „Fleisch“ bestimmten Menschen auf der einen Seite und die vom „Geist“ bestimmten auf der anderen. Diese Gegenüberstellung endet in V. 7-8 mit einer Beschreibung des Gottesverhältnisses der vom Fleisch bestimmten Menschen.
Es fällt auf, dass Wolter (W482) „das Gegenüber von kata sarka {nach dem Fleisch} und kata pneuma {nach dem Geist}“, das Paulus aus Vers 4b aufnimmt, als „einen Dualismus von zwei sich antithetisch gegenüberstehenden Menschenklassen“ im Sinne einer allgemeinen „anthropologischen Typologie“ versteht, wozu er sich begründend (Anm. 47) darauf bezieht, dass „Art und Inhalt“ dieser „Unterscheidung … im Wesentlichen der Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Menschen bei Philo <218>“ entspricht. Dabei verkennt er allerdings, dass Philo tatsächlich allgemeine philosophische Überlegungen über zwei Menschentypen anstellt, während für Paulus im Blick auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der messianischen Gemeinde ganz andere, viel konkretere Gesichtspunkte bedeutsam sind, auf die in der Beschäftigung mit Jankowskis Auslegung einzugehen sein wird.
kata sarka {nach dem Fleisch} ist hier gleichbedeutend mit „sarkikoi {fleischlich} in 1Kor 3,3, … aber auch … mit … en (tē) sarki {im Fleisch} in Röm 7,5a; 8,8“, nämlich bestimmt vom Fleisch „als Gott feindlich gegenüberstehende[r] Macht“. Ebenso entspricht „hoi … kata pneuma {die vom Geist Bestimmten}“ der Formulierung „hoi pneumatikoi {die geistlich sind} (vgl. 1Kor 3,1; Gal 6,1)“. Nach Wolter will
Paulus … in diesem Vers deutlich machen, dass das ‚fleischliche‘ bzw. das ‚geistliche‘ Wesen der beiden Menschenklassen auf beiden Seiten Existenzorientierungen nach sich zieht, die einander ebenfalls antithetisch gegenüberstehen.
Das „Verb phronein“, mit dem Paulus diese Orientierung bezeichnet, steht Wolter zufolge in seiner Bedeutung „gewissermaßen zwischen dem einai {Sein} und dem peripatein {Lebenswandel} (V. 4b) der beiden Menschenklassen“, indem also das „Sein … die Ausrichtung der menschlichen Intentionalität (das ‚Trachten‘ des Menschen)“ bestimmt, „die sich dann in einem ihr entsprechenden Lebenswandel objektiviert.“ Zugleich denkt Wolter, dass Paulus mit phronein ta tēs sarkos / tou pneumatos {Trachten nach dem, was fleischlich bzw. geistlich ist} „einen verbreiteten Sprachgebrauch“ übernimmt, der „in einem politischen Kontext“ angibt, „auf welcher Seite oder wofür man sich engagiert oder Partei ergreift“. Aber (W483) mit „Bezug auf das Gegenüber von Gott und Mensch, Himmel und Erde usw. wird diese Redeweise auch anderswo zur Bezeichnung der allgemeinen Existenzorientierung ausgeweitet“, wozu Wolter u.a. auf Mk 8,33; Phil 3,19; Kol 3,2 verweist.
Entscheidend für die Auslegung von Vers 5 ist Wolter zufolge:
Die beiden Menschenklassen stehen sich hier gegenüber. Es gibt keinerlei Zugleich; entweder gehört ein Mensch zu der einen oder zur anderen Klasse. Paulus kennt nur schwarz und weiß; Grautöne, wie er sie z.B. in 1Kor 3,1-3 oder in Gal 5,16-17 verwendet, gibt es hier nicht. ln V. 9a wird er diesen antithetischen Dualismus noch einmal deutlich auf den Punkt bringen.
In Vers 6 führt Paulus mit der „Konjunktion gar {denn}“ die Thematik der Bestimmtheit durch „Fleisch und Geist … auf die mit ihnen jeweils verbundenen Ergehensfolgen hin fort.“ Dabei nimmt er mit dem Substantiv phronēma „das jeweilige phronein {Trachten} im Hinblick auf seine Resultate in den Blick“, wobei er zum Teil von ihm längst dargestellte Zusammenhänge wiederholt:
Das Gegenüber der Prädikatsnominative „Tod“ und „Leben“ zur Beschreibung von faktischer Unheilsfolge (V. 6a; vgl. bereits 1,32; 6,16.21.23; 7,5.10.24) und Heilsfolge (V. 6b; vgl. bereits 2,7; 5,18; 6,22) übernimmt Paulus aus V. 2. Dasselbe Gegenüber hatte er bereits in Röm 5,17.21; 6,23 verwendet, und in 8,13 greift er noch einmal auf es zurück.
Aber zum Stichwort zōē {Leben} lässt er (W484) nun „auch noch eirēnē {Frieden} hinzutreten“, was sich nach Wolter „dem Interesse einer rhetorischen Hervorhebung der Heilsseite verdanken“ wird, die Paulus seit Vers 8,1 genauer betrachtet. Nicht unerwähnt lässt Wolter aber auch (Anm. 55) zwei parallele Formulierungen in der Schrift, nämlich „Spr 3,2 (die Gebote der Weisheit bereiten ‚Jahre des Lebens und Frieden‘)“ und „Mal 2,5 (Gottes Bund mit Levi war ‚das Leben und der Friede‘)“. Außerdem hebt er ausdrücklich hervor:
In Röm 8,6 ist „Friede“ nicht der „Friede mit Gott“ nach Röm 5,1, sondern wie auch schon in 2,10 komprehensive Bezeichnung für das eschatische Heil im Sinne von hebr. schalom …
Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass eschatisch-endzeitliches Heil in genau diesem Sinne von den biblischen Propheten her jedenfalls nicht einen Seelenfrieden nach dem Tod in einem jenseitigen Himmel meint, sondern ein Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes.
In den Versen 7 und 8 geht es nach Wolter (W484) nur noch „um die sarx-{Fleisch-}Seite der beiden Menschenklassen“. Mit denen, die „Paulus in V. 8 hoi en sarki ontes {die im Fleisch sind} nennt“, meint er hier nicht wie in 2. Korinther 10,3; Galater 2,20; Philipper 1,22 „ … die fortdauernde leibliche Existenz des christlichen Ich“, sondern nach wie vor dieselben kata sarka ontes {vom Fleisch Bestimmten} von Vers 5a:
Gegenüber V. 5-6 ist neu, dass Paulus nun Gott ins Spiel bringt (V. 7a.b.8). Von ihm her begründet er (dioti {darum} V. 7a wie 1,19.21), warum die ‚fleischliche‘ Existenzorientierung in den Unheilstod führt: weil sie dem in der Tora niedergelegten Willen Gottes widerspricht (V. 7b) und dadurch das Gottesverhältnis ruiniert (V. 7a.8).
Indem Paulus in Vers 7a „das phronēma tēs sarkos {Trachten des Fleisches} ‚Feindschaft gegen Gott‘ nennt“, nimmt er auf, dass er „bereits in 5,10 die Sünder, wie er sie in 1,18 – 3,20 dargestellt hatte, rückblickend als Gottes ‚Feinde‘ identifiziert.“ Als „Kriterium, das Gottes Urteil zugrundeliegt“, nennt er in Vers 7b den „Ungehorsam gegenüber der Rechtsforderung der Tora.“ Zur Wendung ouch hypothassetai {unterwirft sich nicht} erwähnt Wolter (Anm. 57), dass die Septuaginta sie im Zusammenhang mit der Tora nicht verwendet; „sie spricht aber von einem hypotassesthai tō theō/kyriō {sich Gott bzw. dem HERRN unterwerfen} (Ps 36,7; 61,2.6; 2Makk 9,12)“.
Zu Vers 7c, der nur aus den Worten oude gar dynatai {kann es ja auch gar nicht} besteht und zu denen (Anm. 58) „aus V. 7b tō nomō tou theou hypotassesthai {sich dem Gesetz Gottes unterwerfen}“ zu ergänzen ist, betont Wolter (W484f.), dass er
über to adynaton tou nomou {was die Machtlosigkeit des Gesetzes angeht} (V. 3a) noch einmal auf 7,13-25 zurück[greift] und … in Erinnerung [ruft], dass ein vom „Fleisch“ bestimmtes Leben von der Sünde beherrscht wird und darum prinzipiell nicht in der Lage ist, sich der Rechtsforderung der Tora zu unterwerfen und etwas anderes zu sein als „Feindschaft gegen Gott“. Wenn man beide Texte zusammenliest, kommt es darauf an, das phronēma tēs sarkos {Trachten des Fleisches} richtig einzuordnen: Es gehört nicht auf die Seite des „Wollens“ (thelein), mit dem das Ich die Tora erfüllen möchte, sondern auf die Seite des „Tuns“ (poiein und prassein), mit dem das Ich die Tora übertritt.
In Vers 8 fasst Paulus nach Wolter (W485) mit den Worten hoi de en sarki ontes theō aresai ou dynantai {so können die im Fleisch sind Gott nicht gefallen} „die drei Aussagen von V. 7 auf der Textebene von V. 5a zusammen“, wobei „‚Gott nicht gefallen‘ und ‚Feindschaft gegen Gott‘ (V. 7a)“ bedeutungsgleich sind und „sich darum gegenseitig“ interpretieren. Dabei nimmt Paulus mit theō aresai {Gott gefallen}
wohl Septuaginta-Sprachgebrauch auf (vgl. Lev 10,19; Num 23,27; Ps 68,32LXX; Spr 24,18; Mal 3,4; Jes 59,15; SapSal 4,14; Sir 48,22 sowie Bar 4,4 mit Bezug auf die Tora: „Selig sind wir, Israel, denn was Gott gefällt [ta aresta tō theō], ist uns bekannt“…
Da ich mit der Formulierung Gott gefallen früher nichts anfangen konnte und ihre Bedeutung durch Wolters Erläuterungen nicht wirklich klar wird, sei Ton Veerkamps <219> Erklärung der Wendung ta aresta in seiner Auslegung von Johannes 8,29 in Erinnerung gerufen, wozu er sich auf die Verdeutschung von Martin Buber beruft. Er begreift sie als Übertragung des hebräischen ha-jaschar, das sich auf ein Verhalten bezieht, das „gerade“ ist in den Augen des NAMENs, des befreienden Gottes Israels:
Der Ausdruck findet sich vor allem im Deuteronomium: 6,18; 12,25 usw. Der Dativ autō steht in diesem Zusammenhang für ha-jaschar be-ˁene JHWH, „das in SEINEN Augen Gerade“ (Buber). Jesus tut nicht das Optimale, wie der Superlativ suggeriert, sondern das, was Israel als Weg vorgegeben ist, daher „gerade“.
In den von Wolter (W485) angeführten Belegstellen für areskō bzw. ta aresta steht allerdings nicht überall ha-jaschar im Hintergrund, sondern manchmal auch jatab {gut sein} oder als Kontrastbegriff raˁ {böse}, womit ebenfalls zentrale Begriffe der jüdischen Tora und ihrer Auslegung aufgerufen werden.
In Wolters Augen beschreibt Paulus mit hoi en sarki {die im Fleisch sind} für „die Adressaten seines Briefes … hier die dunkle Folie der anderen Seite, von der er sie bereits in V. 4b abgegrenzt hatte“ und auch schon in 7,5a, als er „von der vorchristlichen Vergangenheit der christlichen Wir … (‚als wir en sarki {im Fleisch} waren‘)“, gesprochen hatte. Damit will er seine Leser nicht ermahnen, sondern sie „mit Hilfe der Konstruktion von Alterität … ihrer christlichen Identität vergewissern.“
[15. Mai 2025] Gerhard Jankowski sieht das anders. Ihm zufolge (J176) schreibt Paulus in Römer 8,5-8 nicht quasi zum Fenster hinaus, indem er Nicht-Adressaten verurteilt und adressierte Christen in ihrem positiven Anders-Seins bestätigt. Stattdessen können unter den Juden in Rom, die Paulus anspricht, durchaus auch solche sein, gegen die Paulus „polemisiert“, nämlich
gegen die, die nach wie vor „nach dem Fleisch“ ihr Leben gestalten wollen und die messianische Praxis des Paulus ablehnen. Sicher hatten sie gute Gründe dafür. Die äußern sich im Bedenken.
Mit „Bedenken“ gibt Jankowski die Worte phronein und phronēma wieder. Das Verb kommt in den messianischen (neutestamentlichen) Schriften fast nur bei Paulus vor (J176f.), und zwar
neben unserer Stelle noch in Röm 12 und 14 sowie im gesamten Phil. Das Nomen phronēma, Bedenken, findet sich nur in Röm 8. Im hellenistischen Griechisch hat das Verb die Bedeutung von die gleiche Gesinnung einer Gruppe oder Partei haben. <220> In Röm 12 und 14 wie im Phil gebraucht Paulus das Verb, um die Schwierigkeiten zu benennen, die im Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden auftreten. Vor allem die nichtjüdischen Menschen in der Ekklesia stießen oft genug an Grenzen. Galten die Speisegebote noch? Waren einige aufgehoben, damit das zentrale gemeinsame Mahl gefeiert werden konnte? Waren bestimmte Tage des jüdischen Kalenders weiter zu beachten? Ähnliche Bedenken hatten die Juden. Sie werden einen vernünftigen Umgang mit der Thora weiterhin eingefordert haben. Da die messianische Einheit aber nicht Unterordnung unter ein gleichgeschaltetes Reglement bedeutete, wurden die Fragen auch offen gestellt. Geschult an der Thora, machten die Juden ihre Bedenken gegenüber einem Verhalten geltend, das ihnen unerlaubt und ungewohnt war. Immer wieder wird Paulus darauf drängen, nicht das Trennende zu bedenken, sondern das Gemeinsame.
Insofern dieses „Bedenken … ein Bedenken des Fleisches ist“, ist es „[ä]ußerst negativ … charakterisiert“, denn es „hat Tod zur Folge, ist feindlich gegen Gott und der Thora nicht untergeordnet“. Damit könnte Paulus „die Metapher Fleisch hier so“ begreifen, „wie sie Rabbi Jochanan in bSota {Traktat Soṭa des babylonischen Talmud} 5a buchstabiert hat“, nämlich als „die Gesinnung, die in unmenschlichen Verhältnissen laut wird.“ Eine andere Auslegung ist aber für die Umstände, unter denen Paulus seinen Brief an die Römer verfasst, nach Jankowski noch wahrscheinlicher:
Die Metapher kann aber auch für die fleischliche Einheit der Nachkommen Abrahams stehen. Artikuliert sich deren Bedenken gegen die messianische Praxis, kann es in der Tat tödlich sein. Es ist dann der Anfang vom Ende der messianischen Gemeinschaft. Die tödlichen Gegensätze zwischen Juden und Gojim brechen wieder auf. Deswegen ist der Gegensatz zu diesen Bedenken das Bedenken, das Leben und Frieden zum Ziel hat, das Zusammenleben und den Frieden zwischen Juden und Nichtjuden. Es kann Gott gar nicht gefallen, wenn anderes bedacht wird, wenn sich eine Gesinnung bemerkbar macht, die Unterschiede nicht mehr wahrnimmt und nur noch auf die eigene Gruppe bedacht ist. Es war ja die große Hoffnung, daß die Bedenken, die da waren und auch da sein mußten, eben nicht Parteigesinnung widerspiegelten, sondern sich bündelten in einem gemeinsamen Ziel: die Einheit der Verschiedenen.
So gesehen philosophiert Paulus nicht allgemein über die Fleischlichkeit des Menschen im Widerstreit mit seiner Erkenntnisfähigkeit oder ethischen Kompetenz an sich und auch nicht über abstrakte Menschenklassen, sondern er konzentriert sich auf das konkrete „Fleisch“ von Juden und Nichtjuden in der gegenwärtigen Situation ihres besonderen „Verhaltens der Verschiedenen und der Verhältnisse, in denen sie lebten“, auf dessen radikale Veränderung Paulus seine gewisse Hoffnung setzt, da „mit dem von den Toten auferweckten Messias … die Umkehrung aller unmenschlichen Verhältnisse“ begonnen hat. Von ihr wird er in den folgenden Versen reden.
↑ Römer 8,9-11: In euch wohnt der Geist dessen, der den Messias auferweckt hat und auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wird
8,9 Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich,
da ja Gottes Geist in euch wohnt.
Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.
8,10 Wenn aber Christus in euch ist,
so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen,
der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen.
8,11 Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat,
in euch wohnt,
so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat,
auch eure sterblichen Leiber lebendig machen
durch seinen Geist, der in euch wohnt.
[16. Mai 2025] Nach den Versen Römer 8,5-8 thematisiert Paulus Michael Wolter zufolge (W471) in den Versen 9-11 „als antithetisches Pendant dazu das Gottesverhältnis der Menschen, die ‚im Geist‘ sind“, und zwar in der „2. Person Plural“, weil „zu ihnen auch die Adressaten gehören“. Damit sieht Wolter seinen Eindruck bestätigt (W485), dass es Paulus „in diesem Teil seines Briefes in erster Linie darum geht, den Lesern soteriologische {auf das Heil bezogene} Vergewisserung zukommen zu lassen.“ Wie in den Versen 7-8 (W485)
stellt Paulus auch hier den Bezug zu Gott her (V. 9b.11a.b.c). Von theologischer Bedeutung ist dabei vor allem, dass er Gott in diesen Versen christologisch auslegt: Nicht nur ist der eine Geist genauso „Geist Gottes“ wie „Geist Christi“ (V. 9b.c), sondern die Einwohnung von Gottes Geist „in euch“ (V. 9b.11c) kann auch als „Christus in euch“ umschrieben werden (V. 10a). Und schließlich wird Gott mit einer Prädikation versehen, die ihn durch sein Auferweckungshandeln an Jesus identifiziert (V. 11a.b).
Mit der „Formulierung ouk este en sarki {ihr aber seid nicht im Fleisch}“ in Vers 9a unterscheidet Paulus (W485f.)
die Adressaten trennscharf von den hoi en sarki ontes {die im Fleisch sind}: Sie gehören zur Menschenklasse der hoi kata pneuma {die im Geist sind} (V. 5b). … Der Ausdruck „en pneumati {im Geist} sein“ bezeichnet die existentielle Bestimmtheit durch den Geist. ln V. 14a wird Paulus sie „vom Geist Gottes angetrieben sein“ nennen. Auf der anderen Seite sind aber auch Mk 1,23; 5,2 nicht weit entfernt: Ein Besessener gilt jeweils als „ein Mensch in einem unreinen Geist (en pneumati akathartō)“.
In Vers 9b (W486) hat die „Konjunktion eiper {da ja} genauso wie in Röm 3,30a; 8,17e kausale Bedeutung“, so dass Paulus „hier also keine Bedingung“ formuliert, sondern „einen außer Frage stehenden Sachverhalt“ feststellt, wie es für ihn auch in Römer 5,5 schon selbstverständlich war, dass
Gott allen Christen den heiligen Geist ‚gegeben‘ hat (vgl. auch 8,15 sowie 1Kor 6,19; Gal 3,2.14; 1Thess 4,8). Geistbesitz gehört demnach genauso zur Grundausstattung eines jeden Christen wie der Glaube.
Mit eiper pneuma theou oikei en hymin {da ja der Geist Gottes in euch wohnt} überträgt Paulus „die Einwohnungsmetaphorik“, mit der er „in 7,17.20 … die Herrschaft der Sünde über das Ich“ charakterisiert hatte,
nun auf den Geist …, so … dass er diesem auf Seiten der Glaubenden nun die Stelle zuschreibt, die bei denen ‚im Fleisch‘ die Sünde innehat. … en hymin {in euch} ist nicht wie in 1Kor 3,16; 14,25; 2Kor 13,5 ekklesial gemeint (‚unter euch‘ oder ‚bei euch‘), sondern anthropologisch. Das geht nicht nur aus der individualisierenden Weiterführung dieser Aussage in V. 9c-d hervor, sondern auch aus dem Bezug, in den dieses en hymin in V. 10-11 eingestellt wird.
Wenn diese Argumente überzeugend wären, müsste noch einmal überlegt werden, ob Wolters anthropologische Deutung schon des Gegenübers von sarx und pneuma in den vorigen Versen 5-8 nicht doch zutrifft; dazu später mehr.
Zu der eigenartigen Art und Weise, dass „Paulus erst davon spricht, dass die Glaubenden im Geist (V. 9a) sind, und dann umgekehrt hervorhebt, dass der Geist Gottes in ihnen wohnt (V. 9b)“, verweist Wolter (Anm. 68) auf Parallelen im Markusevangelium (1,23-26; 5,2-13), denn der „unreine Geist, ‚in‘ dem der Besessene ist, kann ‚aus‘ ihm vertrieben werden.“ Damit bringt Paulus (W486)
zum Ausdruck, dass er den Geist sowohl als Macht versteht, die die Identität der Glaubenden bestimmt, wie auch als Gabe, die Gott den Glaubenden geschenkt hat. Darüber hinaus will er damit aber auch deren vollständige existentielle Bestimmtheit durch den Geist unterstreichen, denn die gleiche Reziprozität gibt es bei ihm auch mit Bezug auf Jesus Christus: Die Glaubenden sind „in Christus“ (Röm 8,1; 16,7.11; 1Kor 1,30; 2Kor 5,17; 12,2; Phil 3,9), und Christus ist in ihnen (Röm 8,10a; 2Kor 13,5; Gal 2,20).
Wolter erwähnt in diesem Zusammenhang (Anm. 70) auch „die johanneischen lmmanenzformeln“, die ebenfalls „reziprok“ sind, indem sie „vom ‚Sein‘ oder ‚Bleiben‘ der Glaubenden in Jesus und in Gott genauso sprechen (Joh 6,56; 14,20; 15,2.4-7; 17,21; 1Joh 2,5.6.24.28; 3,6.24; 4,13.15.16; 5,20) wie vom ‚Sein‘ oder ‚Bleiben‘ Jesu und Gottes in den Glaubenden (Joh 6,56; 14,20; 15,4.5; 17,23.26; 1Joh 3,24)“. Diese haben Autoren wie Klaus Scholtissek <221> dazu veranlasst, intensiv über „Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften“ zu spekulieren. Ob schon Paulus oder Johannes ein solches wechselseitiges Einwohnen so verstanden haben wie später etwa Augustinus, den Scholtissek im vorletzten Abschnitt seines Buches folgendermaßen zitiert und erläutert, muss jedoch offen bleiben:
In seiner Auslegung von 1 Joh 4,16 deutet Augustinus die Immanenz der Christen in Gott so: „Wechselseitig wohnen ineinander, der umfängt und der umfangen wird. Du wohnst in Gott, doch so, daß du umfangen wirst. Gott wohnt in dir, doch so, daß er dich umfängt, damit du nicht fällst. Meine doch nicht, du würdest Gottes Haus derart, wie dein Haus deinen Leib in sich trägt.“ Augustinus hält hier zwei Aspekte fest: Das Umfangenwerden des Menschen durch Gott: Gott ist und bleibt der Umfangende und der glaubende Mensch ist und bleibt der Umfangenwerdende. Zugleich gilt aber auch: Das Umfangenwerden von Gott, die Unmittelbarkeit zum Sohn und zum Vater ist so intensiv, daß die Kategorie eines polaren Gegenübers allein nicht mehr ausreicht: Der Vater als „Gegenüber“ des Sohnes bestimmt den Sohn ganz und gar, so daß er selbst in seinem Sohn und durch ihn zu Wort kommt, und so daß der Sohn selbst ganz im Vater eingeborgen ist. In Analogie gilt: Der glaubende Christ ist in der glaubenden Begegnung mit Jesus so von diesem umfangen, eingeborgen und bestimmt, daß Jesus selbst sich geistgewirkt im Glaubenden vergegenwärtigt. Zum christlichen Glauben gehört eine doppelstrukturierte Gotteserfahrung: das Eingeborgensein und Getragensein in Gott und Gottes Gegenwart im tiefsten Grund des Menschen.
Wenn man bedenkt, dass im Hintergrund der griechischen Vokabel en bei in den hebräischen Schriften verwurzelten Autoren wie Paulus oder Johannes auch das hebräische bɘ stehen kann, das eine große Bedeutungsbreite von „in, bei, durch, mit, von“ aufweist, müssen allerdings Aussagen über ein „in Christus“ Bleiben nicht unbedingt in Richtung auf eine religiöse Verinnerlichung oder gar mystische Verschmelzung gedeutet werden. Für einen der von Wolter aus dem Johannesevangelium angeführten Verse, nämlich 15,4: meinate en emoi, kagō en hymin, schlägt Ton Veerkamp <222> folgende Übersetzungen vor: „Bleibt mit mir verbunden, wie ich mit euch“, oder auch „Bleibt fest bei mir, wie ich bei euch.“ Dieses Bleiben „bei“ Jesus begreift er wie Jankowski im Sinne eines Festhaltens an dem, was er „messianische Vision“ nennt:
Die messianische Vision ist die Grundbedingung für ein wahrhaftes Leben. Wenn man nicht wirklich zuversichtlich ist, dass die herrschenden Zustände, eben die „Weltordnung“, nicht unveränderbar sind, sondern ein „Leben in der kommenden Weltzeit“ (zōē aiōnios) eine reale Perspektive für das Leben der Menschen auf der Erde ist, kann man nichts ausrichten: Denn „getrennt von mir (chōris emou) könnt ihr nichts tun“. Sonst ist alles Tun nutzlos, dürr, unfruchtbar.
Zurück zu Römer 8,9. Zum letzten Teil des Verses (W487), 9c-d: ei de tis pneuma Christou ouk echei, houtos ouk estin autou {wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm}, erwähnt Wolter, dass er „zahlreiche sprachliche Entsprechungen im Neuen Testament“ hat, aber (Anm. 71) nicht in „der Septuaginta“. Da diese Aussage vom Stil her (W487) nicht in „die Reihe der konditionalen en-hymin-{in euch-}Aussagen“ passt, haben einige Exegeten vermutet, dass Paulus hier auf eine überlieferte Formulierung zurückgreift, „die bestimmten Angehörigen der Gemeinde die Zugehörigkeit zu Christus absprechen will“, wovon Wolter nicht überzeugt ist:
Paulus sagt ja auch nicht, woran man erkennen kann, ob einer den Geist Christi hat oder nicht. Er stellt vielmehr lediglich fest, dass der Besitz des pneuma Christou {Geistes Christi} eine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zu Jesus Christus ist. Da V. 9c-d für sich genommen reichlich tautologisch und darum trivial wäre, könnte man vielleicht daran denken, ihn als Vorbereitung für das in V. 10 Folgende zu nehmen. Paulus will dann mit V. 9c-d nicht lediglich sagen, dass nur die, die den Geist Christi haben, Christen sind, sondern er verweist mit estin autou {gehört zu ihm} ganz gezielt auf die Gemeinschaft mit Christus als dem Auferstandenen: ‚Nur wer den Geist Christi hat, in dem ist bereits in der Gegenwart das Auferstehungsleben Christi präsent‘.
Erneut unterstreicht Wolter hier also, dass Paulus für jeden Christen den „Besitz“ des Geistes Christi voraussetzt. Interessant ist, dass er (Anm. 75) „die Rede vom ‚Haben‘ (echein) eines Geistes“ mit „der Beschreibung von Besessenheit“ in „Mk 3,30; 7,25; 9,17; Apg 8,7; 16,16; 19,13; vgl. auch Lk 13,11“ in Verbindung bringt. Aber gerade diese Stellen belegen auf jeden Fall nicht einen „Besitz“ im Sinne einer freien Verfügbarkeit über den Geist, den man hat bzw. von dem man besessen wird.
Dass Wolter (W487) die Aussage in „Vers 9c-d für sich genommen reichlich tautologisch und darum trivial“ findet, könnte genau daran liegen, dass er die beiden Seiten 9c und 9d dieses Satzes allzu kurzschlüssig und selbstverständlich miteinander identifiziert, nämlich einerseits das Haben des Geistes Christus und andererseits das zu Christus Gehören. Vielleicht setzt Paulus aber doch voraus, dass Ersteres die Bedingung für Letzteres ist, und dass nicht jeder, der sich zum Messias bekennt, ganz selbstverständlich auch von seinem Geist inspiriert handelt.
Zu den Worten ei de Christos en hymin {wenn aber Christus in euch} in Vers 10a muss aus Vers 9b oikei {wohnt} ergänzt werden:
Dass Paulus nach „Geist Christi“ jetzt „Christus“ sagen kann, hängt mit seinem Geistverständnis zusammen: Wie Gott durch seinen Geist in der Welt der Menschen präsent ist und wirkt, ohne dabei seine Transzendenz aufzugeben, so ist es auch der Geist, durch den der in Gottes himmlische Welt Erhöhte in den Seinen präsent ist. Die theologische Pointe dieser Geistkonzeption besteht aber darin, dass dieser „Geist“, der Christus in den Christen anwesend sein lässt, der „Geist Gottes“ ist, von dem Paulus ebenfalls gesagt hatte, dass er in ihnen „wohnt“ (V. 9b). Mit „der Geist Gottes in euch“ (V. 9b) und „Christus in euch“ (V. 10a) spricht Paulus von ein und demselben Sachverhalt. Es ist Christus, in dem der bleibend transzendente Gott in der Welt der Menschen präsent ist.
Was folgt aber nun aus dieser Gegenwart Gottes bzw. seines Geistes bzw. Christi in den von Paulus Angesprochenen? Darauf antwortet Paulus (W488) in Vers 10b-c, indem er drei Paare von Gegensätzen einander zuordnet: „sōma/pneuma {Leib/Geist}, nekron/zōē {tot/Leben} und dia hamartian / dia dikaiosynēn {wegen der Sünde / wegen der Gerechtigkeit}“. Und den „Schlüssel zum Verständnis dieses Halbsatzes“ entdeckt Wolter in einer angemessenen „Interpretation von V. 10b: dass der Leib ‚tot‘ ist (to men sōma nekron).“ Damit übernimmt Paulus, wie Wolter meint, „einen Sprachgebrauch, der in seiner hellenistischen Umwelt verbreitet ist. Ihm zufolge gilt der menschliche Leib als ‚tot‘ (nekron), obwohl die Menschen noch leben“. Dazu seien nur einige seiner Bezugnahmen auf Philo v. Alexandrien <223> erwähnt, der
ihn den „von sich aus toten Leib“ [nennt] (to nekron ex heautou sōma; Leg. All. 3,69), denn „der Leib wurde von Anfang an tot erschaffen“ (ex archēs nekron to sōma apeirgasato; ebd. 70). … Nach Leg. All. 3,72 kümmert der Philosoph sich nicht um „den wahrhaft toten Leib“ (tou nekrou ontōs sōmatos), und ebd. 3,74 spricht er vom „Tod des toten Leibes“ (thanatos … tou nekros sōmatos), durch den die Seele nach ebd. 1,108 „von dem schlechten und toten Zusammengebundenen, dem Leib“ (kakou kai nekrou syndetou tou sōmatos), befreit wird.
Obwohl Wolter also zunächst einmal davon ausgeht, dass Paulus hier „von der natürlichen Qualität des menschlichen Leibes“ spricht und sich dabei „in den Bahnen der hellenistischen Anthropologie“ bewegt, räumt er etwas später ein, dass Paulus aber doch (W488f.)
das „Tot“-Sein des Leibes nicht für eine natürliche Gegebenheit hält wie Philo, Leg. All. 3,69.70 …, sondern als Unheilsfolge der Sünde darstellt (dia hamartian). Er knüpft hier also erneut an Röm 5,12-21 an und geht davon aus, dass die Christen immer noch derselben Leiblichkeit unterworfen sind wie vor ihrer Bekehrung. In V. 10b beschreibt Paulus darum noch nicht die Folgen des „Christus in euch“ (V. 10a), sondern er stellt hier lediglich die anthropologische Gegebenheit fest, gegenüber der sich das mit der Gabe des Geistes einhergehende Heil auswirkt.
Ein erheblicher (W489) „weiterer Unterschied zur hellenistischen Anthropologie“ besteht nach Wolter außerdem „darin, dass Paulus dem sōma nekron {toten Leib} in V. 10c nicht die Seele gegenüberstellt, sondern den Geist“, und auch diesen begreift er hier „nicht anthropologisch“ als den „Geist des Menschen“, sondern als denselben
Geist, den er in V. 9b „Geist Gottes“ und in V. 9c „Geist Christi“ genannt und von dem er in V. 2a als dem „Geist des Lebens“ gesprochen hatte. Von dieser Bezeichnung her erschließt sich auch die Bedeutung des Prädikatsnominativs zōē {Leben} in V. 10b: Wie seine Analogien in V. 6a.b („Tod“ bzw. „Leben und Friede“) bezeichnet auch er die Folge der durch den Geist Gottes vermittelten Gegenwart des auferweckten und erhöhten Christus in den Christen: Sie bekommen Anteil an seinem Auferstehungsleben. Paulus nimmt damit eine dezidiert christologische Interpretation des Zusammenhangs von Geist und Leben vor: Es ist der Geist Jesu, der aus den Toten auferweckt wurde, der das Leben als Teilhabe an seiner Auferstehung vermittelt.
Angesichts dieser großen Unterschiede (W488) zwischen der „hellenistischen Anthropologie“ und der „paulinischen Rede vom sōma nekron {toten Leib}“, stellt sich die Frage, ob es nicht doch sinnvoll ist, „für die Erklärung“ der Letzteren „auf Röm 6,2.6.10-11 zurückzugreifen, wo Paulus vom Tauftod des Leibes mit Bezug auf das Verhältnis zur Sünde spricht“, was Wolter einerseits wegen des angeblich hellenistisch-anthropologischen Hintergrunds der paulinischen Formulierung als „nicht erforderlich“ bezeichnet und andererseits aus folgenden drei Gründen zurückweist, nämlich weil 1. nach Römer 6,5.8.12 „der Leib der Getauften gerade nicht in jenen Tod einbezogen war, den sie bei ihrer Taufe gestorben sind“, weil 2. in 8,10b der Leib der Christen tot ist dia hamartian {wegen der Sünde}, während es in 6,1-11 um den metaphorischen Tod geht, den die Christen sterben, um frei von der Sünde zu werden, und weil schließlich 3. die „men-de-{zwar-aber-}Struktur des Satzes unverständlich“ wäre, „wenn Paulus im ersten Teil eine Heilsaussage formuliert hätte.“ Aber 1. ist nach Philo die Aussage über den toten Leib ebenso metaphorisch wie die Aussage des Paulus in Römer 6 über den Tod bei der Taufe, 2. ist es auch nach Römer 6,6 doch gerade der Leib der Sünde, to sōma tēs hamartias, der metaphorisch sterben muss, um von der Sünde frei zu werden, und 3. ist doch nicht das metaphorische Mitgekreuzigt-Sein mit dem Messias als solches „eine Heilsaussage“, sondern dass in diesem Tod, wie Wolter übersetzt (W366), eben „der Leib der Sünde beseitigt wird“.
Im Grunde bestätigt Wolter selbst, dass Paulus sich mit seiner „Rede vom sōma nekron {toten Leib}“ wohl doch eher auf Römer 6 statt auf die „hellenistische Anthropologie“ bezieht, indem er (W489) zu Vers 10c u.a. ebenfalls auf Parallelen in Römer 6 hinweist:
Wenn Paulus zum Schluss als Gegenüber zu dia hamartian {wegen der Sünde} (V. 10b) den Ausdruck dia dikaiosynēn {wegen der Gerechtigkeit} findet, reproduziert er damit die Antithese von Sünde und Gerechtigkeit aus 6,13.18.20 (s. auch 4,25). Ebenfalls bekannt, nämlich aus 5,17.21, ist der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Leben. Gemeint ist jedenfalls die Gerechtigkeit des Menschen, die Gott ihm zuspricht. Eine inhaltliche Präzisierung ist nicht möglich und wohl auch nicht intendiert; die Glaubensgerechtigkeit (3,26c; 4,5; 9,30; 10,4.6.10) kann damit genauso gemeint sein, wie auch ein ethisches Verständnis im Sinne von Röm 6,13.16.18-20.
In Römer 8,11 folgt ein weiterer mit ei {wenn} eingeleiteter Satz, in dem Paulus die Aussage „vom ‚Geist Gottes‘ … in V. 9b” aufnimmt, jetzt aber spricht er (W489f.)
vom „Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat“. Er ersetzt das Wort ‚Gott‘ also durch eine partizipiale Gottesprädikation, die Gott durch sein Auferweckungshandeln an Jesus identifiziert. An dieser sprachlichen Substitution wird erkennbar, worauf es Paulus an dieser Stelle ankommt, und das gilt umso mehr, als er diese Prädikation in V. 11b mit ho egeiras Christon {der Christus erweckt hat} gleich noch einmal wiederholt und dafür eine nicht besonders gefällige stilistische Redundanz in Kauf nimmt. Unter Rückgriff auf diese Prädikation, die mit großer Wahrscheinlichkeit vorpaulinischer Herkunft ist, hatte Paulus bereits in Röm 4,24c von Gott gesprochen.
Im Zusammenhang von 8,11 (W490) will Paulus durch „das Auferweckungshandeln Gottes an Jesus Christus … die Gewissheit … vermitteln, dass Gott an den mit Christus verbundenen Christen in gleicher Weise handeln wird“, dass also ihre thnēta sōmata {sterblichen Leiber}, die „immer noch der Unheilsfolge der durch Adam in die Welt gekommenen Sünde unterworfen“ sind, „in das künftige Heilshandeln Gottes einbezogen“ werden. Mit dem Stichwort zōopoiein {lebendig machen} kann Paulus sowohl „die Auferstehung der Toten im Blick haben“ als auch eine „Verwandlung der noch nicht gestorbenen Christenmenschen in eine unsterbliche Leiblichkeit im Sinne von 1Kor 15,51c“ oder „auch Phil 3,21“. Indem es der bereits in Vers 2 „Geist des Lebens“ genannte Geist ist, „mit dem Gott diese Verwandlung der ‚toten‘ und ‚sterblichen‘ Leiber ins Werk setzt“, schreibt Paulus ihm „eine Kraft zu, die sichtlich in jener jüdischen Tradition steht, wie sie erstmals in Ez 37,4-14 greifbar ist und dann auch in … Apk 11,11: dass Gott mit ihm Tote auferweckt.“ Im Unterschied zu „dieser Tradition“ zieht aber in „der paulinischen Darstellung … die Geistgabe“ nicht „die Auferstehung der Toten unmittelbar nach sich“, obwohl die „Leben aus dem Tod schaffende Geistgabe Gottes … bereits erfolgt“ ist. Das heißt (W490f.:
die Auferstehungskraft „wohnt“ bereits in denen, die zu Jesus Christus gehören. Dass ihre „sterblichen Leiber“ lebendig gemacht werden, ist damit nur noch eine Frage der Zeit. Mehr nicht, denn mit der Geistgabe hat Gott die entscheidende Handlung bereits vollbracht. Dass dadurch aber auch eine nicht unerhebliche Spannung entsteht, liegt auf der Hand: Der „Geist des Lebens“ (V. 2), den die Glaubenden von Gott geschenkt bekommen haben, bewahrt sie nicht vor dem physischen Tod. lhr Leib bleibt „sterblich“. Das ist aber nur die eine Seite. Ebenso gilt nämlich auch, dass dieser Geist sie auch im Tod nicht verlässt. Durch ihn wird Gott sie „lebendig machen“ (V. 11b).
Rückblickend muss ich hier noch einmal auf die Argumentation von Wolter (W486) zur Bedeutung des Ausdrucks pneuma theou oikei en hymin {Gottes Geist wohnt in euch} in Vers 9b zurückkommen, innerhalb dessen en hymin {in euch} seiner Auffassung nach nicht „ekklesial … (‚unter euch‘ oder ‚bei euch‘), sondern anthropologisch“ gemeint sei, weil sowohl in Vers 9c-d von einem Individuum die Rede ist als auch der lebendig machende Geist in den Versen 10-11 auf die einzelnen Christen zu beziehen sind. Klar ist inzwischen, dass auch Wolter im Blick auf die Identifizierung der vom Geist bestimmten Menschenklasse der Christen als einer anthropologischen Kategorie zumindest eingeräumt hat, dass Paulus unter Geist etwas anderes versteht als ein jüdisch-hellenistischer Philosoph wie Philo. Ganz und gar nicht klar ist, ob die Metapher der Einwohnung des Geistes bei Paulus sich ausschließlich auf die Bestimmtheit einzelner Individuen durch Gott bzw. Christus analog zur Besessenheit einzelner Personen durch Dämonen bezieht, oder ob Paulus nicht zugleich an das Einwohnen göttlicher Inspiration im Vertrauen auf den Messias Jesus in der aus Juden und Nichtjuden zusammengeführten messianischen Gemeinde denken kann.
[17. Mai 2025] Für Gerhard Jankowski (J177) bestand für Paulus das zentrale Problem der Bestimmtheit vom Fleisch, wie es in den Versen Römer 8,5-8 entfaltet wurde, eben in der „Parteigesinnung“ von Juden, die Gojim in ihrer Gemeinschaft nur akzeptieren wollten, wenn sie sich beschneiden ließen und die Reinheitsgebote einhielten, und Gojim, die das Festhalten von Juden an Speisegesetzen für engstirnig und ein Zeichen schwachen Glaubens hielten. Ein gemeinsames Ziel im Sinne einer „Einheit der Verschiedenen“ setzte aber eine grundlegende Veränderung des Verhaltens beider Gruppen als auch der Verhältnisse, in denen sie lebten, voraus. Diese Veränderung „hatte für Paulus begonnen mit dem von den Toten auferweckten Messias“, auf die er in den Versen Römer 8,9-11 zu sprechen kommt:
Seine Auferweckung ist die Umkehrung aller unmenschlichen Verhältnisse. Sein Geist treibt schon jetzt Juden und Nichtjuden an, die veränderten Verhältnisse durch ein verändertes Verhalten zueinander mit Leben zu füllen. Wo das geschieht, da werden die Bedenken hinfällig, da beginnt der gemeinsame Weg, auf dem der Wahrheitsanspruch der Thora erfüllt wird. Da wird die Gemeinschaft aus Juden und Nichtjuden lebendig. Durch den Geist, der in ihnen wohnt.
Ganz anders als Wolter begreift Jankowski das Wort enoikein vor einem spezifisch jüdischen Hintergrund (J177f.):
Enoikein, einwohnen, meint ein sehr spezielles Wohnen. Es ist Übersetzung des hebr. schakhan. Davon abgeleitet ist Schekhina, die Einwohnung. Gemeint ist die Gegenwart Gottes. Der ursprüngliche Ort der Schekhina ist der Tempel in Jerusalem. Daß die Schekhina an bestimmten Orten anwesend ist, wie z.B. zwischen den Cheruben auf der Lade des Bundes, wird als Selbstbeschränkung Gottes verstanden. Sie kann aber auch da sein, wo Menschen sich mit der Thora beschäftigen oder sich zum gemeinsamen Gebet vereinen. Und natürlich ist sie im Volk Israel. Sie ist so an das Volk gebunden, daß es heißen kann, die Schekhina sei mit Israel in das Exil gegangen. Und schließlich gilt: Wer zu Israel kommt, kommt „unter die Flügel der Schekhina“, wie es in bSchab {Traktat Schabbat im babylonischen Talmud} 31a von den Proselyten heißen kann. Da Schekhina immer die Gegenwart Gottes meint, kann der Ausdruck auch als Synonym für Gott gebraucht werden.
Auch „der heilige Geist, Ruach ha-kodesch“, der in „enger Beziehung zu Schekhina“ kann wie die Schekhina sowohl „Synonym für Gott sein“ als auch „auf jemandem“ ruhen, also „bei denen sein, die Thora lehren und die einzelne Gebote der Thora vollkommen erfüllen“. So heißt es in mSota {Traktat Soṭa des babylonischen Talmuds} 9,15:
„Eifrigkeit bringt zur Unschuld, Unschuld bringt zur Reinheit, Reinheit bringt zur Enthaltsamkeit, Enthaltsamkeit zur Heiligkeit, Heiligkeit zur Demut, Demut zur Scheu vor der Sünde, Scheu vor der Sünde zur Frömmigkeit, Frömmigkeit zum heiligen Geist, und der heilige Geist bringt zur Wiederbelebung der Toten.“
Jankowski hält diese „Übereinstimmungen zu dem, was wir in Röm 8,11 als Abschluß des großen Kapitels über die Thora zu hören bekommen“, für
sicher nicht zufällig. Obwohl mehr als genug Neues in den Worten des Paulus anklingt, er kann sich schließlich doch auf das berufen, was andere aus seinem Volk mitgedacht und bedacht haben. Auch das gibt er seinen jüdischen Brüdern und Schwestern zu bedenken, vor denen er als Anwalt der Gojim redet und die er ermutigen will, wie er das messianische Experiment zu wagen. Und es ist Gott selbst, der sich auf dieses Experiment einläßt. Seine Schekhina ruht auf ihm.
Überdeutlich wird hier wieder einmal, dass Jankowski nicht wie Wolter auf alle philologischen Feinheiten des griechischen Textes eingeht. Das war von ihm, der als Gemeindepfarrer nicht über den akademischen Hintergrund eines Hochschulprofessors verfügte und seine Auslegung des Römerbriefs in einer begrenzten Auszeit von seinen gemeindlichen Verpflichtungen verfasste, ja auch nicht zu erwarten. Aber zu denken gibt doch, dass er immer wieder Gesichtspunkte in die Exegese einbringt, die bei Wolter zu kurz kommen oder einfach fehlen.
Im Zusammenhang mit der Auslegung von Römer 8,9-11 hält Jankowski noch eine „Nachbemerkung“ für notwendig:
Es war das Ziel des Paulus, die Einheit der Thora zu wahren. Er hat sie auch nicht als lebensgewährende Kraft für erledigt erklärt. Wohl kann der scharfe Gegensatz zwischen Fleisch und Geist, der überall greifbar ist, dazu verführen, Paulus für eine Position zu mißbrauchen, die in ihm einen Gegner des „gesetzestreuen“ Judentums sieht. Und das ist in der Theologiegeschichte oft genug geschehen. Fleisch, das war Sünde, seit Augustin fast gleichgesetzt mit sexuellen Vergehen oder Sexualität überhaupt. Fleisch bekam eine negative Qualitat. Der positive Gegensatz dazu war der Geist. Das „Israel nach dem Fleisch“ war negativ besetzt. Über dieses Israel feierte das „Israel nach dem Geist“ als Kirche Triumphe. Polemisches bei Paulus führte zur Verurteilung. Mit den bekannten Folgen, was das Judentum betrifft. Gerade aber die mörderischen Folgen gemahnen alle, die Paulus auslegen, ihn zuerst einmal in seinem jüdischen Kontext zu verstehen. Danach darf dieser Kontext nicht wieder christlich umgedeutet oder vereinnahmt werden. Er hat zunächst einmal als solcher Bestand. So ist die messianische Gemeinschaft aus Juden und Nichtjuden bei Paulus noch nicht die christliche Gemeinde und erst recht nicht die christliche Kirche.
Zu Recht hebt Jankowski (J178f.) zur „Lebensweise ‚nach dem Geist‘ in dieser Gemeinschaft“ hervor, dass sie „gewiß weitaus schwieriger“ zu vollziehen war „als das, was daraus dann im Christentum idealistisch nur noch von Christen verlangt wurde.“
Den Besitz des heiligen Geistes nur für Christen zu reservieren und nicht wie Paulus die inspirierende Kraft des Geistes als den Motor für die Versöhnung von Juden und Nichtjuden in den Blick zu nehmen, und zugleich zu vergessen, dass in der von Paulus angestrebten Einheit der Verschiedenen die Identität der Juden nach dem Fleisch nicht einfach eingeebnet oder sogar ausgelöscht werden darf, hat sich im Lauf der Kirchen- und Weltgeschichte verheerend ausgewirkt. Nach Jankowski ist es (179)
die Shoah, die uns heute dazu zwingt, unsere Theologie und das heißt sowohl unsere Auslegung biblischer Texte als auch unsere Praxis zu überdenken. Wir lassen uns daher von dem jüdischen Rabbiner Irving Greenberg <224> ins Gewissen sagen:
„Ist denn das Israel des Geistes nicht eine universalere und verpflichtendere Kategorie, ein geistig bedeutsamerer Zustand als die durch Zufall der Geburt verliehene Stellung (das Israel nach dem Fleisch, G.J.)? Als die absolute Macht erstand und behauptete, Gott zu sein, war Israels Existenz ihre Antithese. Das Israel des Fleisches legte durch seine bloße Existenz Zeugnis ab und war deshalb ‚objektiv‘ ein Feind des totalen Staates … Dieses Zeugnis, ob freiwillig oder unfreiwillig abgelegt, erweist sich als die verborgene Bedeutung des ‚Israel dem Fleische nach‘. Des Juden Leben exponiert, deshalb legt jeder Jude, gleich welcher Art, Zeugnis ab zu jeder Zeit.
Das Israel des Geistes legt gegen denselben Götzendienst und dasselbe Böse Zeugnis ab … Jedoch hat nur das Israel des Geistes die Möglichkeit, sich für das Schweigen zu entscheiden; kollaboriert es auch nur insofern es schweigt, kann es sicher und bequem leben.“
Und Greenberg empfiehlt uns Christen, „sich als Gottesvolk – eine durch gewisse Merkmale deutlich gekennzeichnete Glaubensgemeinschaft – zu verstehen, das vor der Welt Zeugnis ablegen muß“.
Von daher darf man nach Jankowski „[ü]ber dem Geist nicht das Fleisch vergessen“, man muss „vom Kopf auf die Füße kommen, so ist das auch gemeint“. Es werden keineswegs alle Unterschiede zwischen Juden und Völkern bis zur Unkenntlichkeit eingeebnet, vielmehr werden bei Paulus „die Gojim nach Israel hineingeholt. Damit sie mit Israel zusammen Zeugnis ablegen.“
↑ Römer 8,12-13: Nicht Schuldner des Fleisches sind wir, leben werdet ihr, wenn ihr durch Inspiration die Praktiken des Leibes tötet
8,12 So sind wir nun, liebe Brüder und Schwestern,
nicht dem Fleisch schuldig,
dass wir nach dem Fleisch leben.
8,13 Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt,
so werdet ihr sterben müssen;
wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Leibes tötet,
so werdet ihr leben.
[22. Mai 2025] Nach Michael Wolter (W471) folgt in Römer 8,12-13 nach den Versen 1-11 „auf die Beschreibung der neugewonnenen Identität der Christen“ eine Aufforderung an „die Adressaten …, diese Identität auch ethisch abzubilden“, ganz „ähnlich“ wie sich „Röm 6,12-23 zu 6,1-11“ verhält:
Es ist darum sicher kein Zufall, dass diese Weisung in 8,13 mit derselben Gegenüberstellung von Unheilsfolge („sterben“) und Heilsfolge („leben“) endet wie 6,12-23 in V. 23.
Wolter will aber nicht (W491) von einer „Paränese“ sprechen, also einer ausdrücklichen Ermahnung, „denn weder wird die konkrete Handlungsebene erreicht noch zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert“. Stattdessen „bewegt sich die Mahnung lediglich auf der Ebene der allgemeinen Lebensorientierung“ und bezieht sich auch nur auf das,
was man nicht tun soll: kata sarka {nach dem Fleisch} leben, d.h. man soll nicht mehr das Leben führen, das nach 7,5 das einstige Leben der Christen „im Fleisch“ gekennzeichnet hatte (und das Leben aller anderen auch jetzt noch kennzeichnet), als die „Leidenschaften der Sünden in unseren Gliedern wirksam waren“ (s. auch 6,12).
Das fehlende „Gegenstück“, also „die Aufforderung, kata pneuma {nach dem Geist} zu leben“, ist aber wohl mitzuhören, da Paulus „die Negation ou {nicht} der Feststellung opheiletai esmen {wir sind Schuldner} nicht voran-, sondern nachgestellt“ hat und „in V. 13 wieder mit dem ethischen Gegensatz von Fleisch und Geist arbeitet“. Da der Mensch „immer in einem Verpflichtungsverhältnis“ lebt, kann er der Verpflichtung (W492), „kata sarka {nach dem Fleisch} zu leben“, nur „durch ein anderes Verpflichtungsverhältnis“ entkommen, nämlich „dass er kata pneuma {nach dem Geist} lebt“.
In Römer 8,13
stellt Paulus die Lebensweisen, die sich aus den beiden Existenzorientierungen ergeben, und ihre jeweiligen Ergehensfolgen einander gegenüber. Er arbeitet dabei mit zwei verschiedenen Bedeutungen von „leben“: Während zēn in V. 13a die ethische Lebensgestaltung bezeichnet, steht es in V. 13d als komprehensive Umschreibung für das eschatische {endzeitliche} Heil wie in 2,7a; 5,17b.18b.21b; 6,8b.22b.23b; 8,2a.6b.10b.
Erneut stellt Paulus dabei in „idealtypischer Vereinfachung“ den „antithetischen Dualismus von Fleisch und Geist“ einander gegenüber, „der seine Darstellung seit V. 4 bestimmt und zuletzt in V. 9 vorkam“. Wolter erinnert dazu an
[v]ergleichbare Gegenüberstellungen von gegensätzlichen Verhaltensweisen und ihren jeweiligen Ergehensfolgen … mit Bezug auf die Befolgung und Nichtbefolgung der Gebote Gottes … in Lev 26,3-13.14-17; Dtn 28,1-14.15-44 (s. auch 30,15-20) … sowie am Schluss der Feldrede/Bergpredigt in Lk 6,46-49 par. Mt 7,24-27 mit Bezug auf die Gebote Jesu.
Dort aber kommt „immer erst der heilbringende Zusammenhang von Tun und Ergehen“, während „die Unheilsseite drohend am Ende steht“. Da „der positive Ausgang am Ende“ steht, kann „der rhetorische Affekt der Hoffnung (spes) den der Furcht (metus) <225> in den Schatten“ stellen.
Während Paulus auf „der Unheilsseite (V. 13a-b) … den Schluss von V. 12 … mit der entsprechenden Ergehensfolge“ versieht, „die den Lesern bereits aus 1,32b; 6,16d.21c.23a; 7,5c.10a.24b; 8,6a bekannt ist“, fordert er auf „der Heilsseite (V. 13c-d) … die Leser auf, die praxeis tou sōmatos {das Tun des Leibes} durch den Geist zu ‚töten‘.“ In dieser „Wortwahl“ spiegelt sich Wolter zufolge die „Bekehrungsthematik seiner Darstellung“ wider:
Die ‚Befreiung‘ vom „Gesetz der Sünde und des Todes“ durch das „Gesetz des Geistes des Lebens“ (V. 2) soll durch die Änderung der Lebensführung abgebildet werden. Dementsprechend meint „töten“ hier, bestimmte Verhaltensweisen nicht mehr zu praktizieren.
Zur selben (W493) „Metaphorik … in einem vergleichbaren Kontext“ verweist Wolter auf
Kol 3,5: „Tötet (nekrōsate) die irdischen Glieder“, nämlich die in dem folgenden Katalog genannten Laster. In Ebr. 69 interpretiert Philo <226> Ex 32,27 („jeder soll seinen Bruder und seinen Freund und seinen Verwandten töten“) als allegorische Aufforderung, „sich von allem Gewordenen abzuwenden“, und fährt dann fort (ebd. 70): „Darum werden wir den Bruder der Seele, den Körper, töten (apoktenoumen), d.h. wir werden vom Tugendliebenden und Göttlichen das Leidenschaftsliebende und Sterbliche (thnēton) trennen; töten werden wir (apoktenoumen) aber auch den Chor und die Festgesellschaft der sinnlich wahrnehmbaren Dinge (aisthēseōn) …; töten werden wir (apoktenoumen) auch den nächsten Verwandten, das ist die sprachlich sich äußernde Vernunft (ho kata prophoran … logos)“.
Die Frage, was „Paulus mit dem Ausdruck praxeis tou sōmatos {Praktiken des Leibes}“ meint, ist nach Wolter nicht leicht zu beantworten. Will Paulus „bestimmte Taten bezeichnen …, die der Leib hervorbringt (analog zu den erga tēs sarkos {Werken des Fleisches} in Gal 5,19 oder zu den Lastern von Kol 3,5)“ oder meint er „im Sinne von Kol 3,9 (bei der Taufe haben die Christen den ‚alten Menschen syn tais praxesin autou {mit seinen Praktiken} ausgezogen‘) die Handlungsweise des nach V. 10b ‚toten‘ Leibes“?
Schließlich gelangt Wolter zu folgender Einschätzung, in der er sich auf seine Auslegung von Römer 6,12 zurückbezieht:
Auch wenn sōma {Leib} in V. 13c nicht einfach für sarx {Fleisch} steht, kann man nicht sagen, dass Paulus den Leib hier für ethisch neutral hält und ihn lediglich in der Gefahr sieht, wieder unter die Herrschaft der Sünde zu geraten. Das „Tun“, zu dessen Tötung Paulus seine Adressaten hier auffordert, sind vielmehr Aktivitäten, wie sie für den Leib in seiner Gesamtheit typisch sind. Es liegt darum nahe, die praxeis tou sōmatos {Praktiken des Leibes} mit „seinen (sc. des Leibes) Begierden“ zu verknüpfen, von denen Paulus in 6,12 gesprochen hatte. Die Aufforderung, „das Tun des Leibes zu töten“, wäre dann gleichbedeutend mit der dort ausgesprochenen Mahnung, nicht mehr den „Begierden des Leibes“ zu gehorchen und sich dadurch wieder der Herrschaft der Sünde zu unterwerfen.
Wenn diese Auslegung angemessen ist, geht es Paulus in seiner Gegenüberstellung von Fleisch und Geist und in seiner Forderung, die Praktiken des Leibes zu töten, um das allgemein-menschliche Thema der Überwindung der Herrschaft von Begierden und damit der Sünde. Was die jüdische Tora allein nicht schafft, wird möglich, wenn Christen anfangen, an Jesus Christus zu glauben und sich durch den von ihm vermittelten Geist Gottes leiten zu lassen. Aber ein solch abstrakter Zugang zu den Gedankengängen des Paulus kann nicht erklären, aus welchen konkreten Gründen Paulus zu seiner Zeit die jüdische Tora für dermaßen machtlos hält und warum er sie im Römerbrief dennoch nicht für abgetan erklärt, sondern sich immer wieder mit ihr auseinandersetzt.
[23. Mai 2025] Gerhard Jankowski dagegen geht davon aus (J179), dass bei Paulus „die Gojim nach Israel hineingeholt“ werden und dass dieser Hintergrund bei der Auslegung des Römerbriefs nie außer Acht gelassen werden darf. Immerhin besteht darin (J180) eine so „große Veränderung“, dass sie bei der Mehrheit der Juden auf Widerstand stößt, und zwar bei den Juden, die die Tora, wie Paulus es formuliert, rein vom Fleisch her betrachten, nämlich von ihrer auf die jüdische Identität bezogenen Zielsetzung, die Trennung von den Völkern zu gewährleisten. Demgegenüber verweit Paulus auf „die inspirierte Thora, die zum gemeinsamen Leben ermutigt“, und auf den
aus den Toten erweckte[n] Messias, mit dem andere Verhältnisse unter den Menschen ihren Anfang genommen haben. Man beginnt zu leben. Auf völlig neue Art und Weise.
In diesem Zusammenhang ermutigt Paulus Jankowski zufolge nun noch einmal „die Juden, sich auf die messianische Praxis einzulassen, für die Paulus in diesem ersten Teil des Briefes geworben und die er ausführlich begründet hat.“ Wenn er in Römer 8,12 ausdrücklich seine adelphoi {Brüder, Geschwister} anredet, dann sind es seine „jüdischen Brüder“, an die er die eindringliche Ermutigung richtet: „ihr und ich, wir sind nicht mehr verpflichtet, kata sarka {nach dem Fleisch} zu leben“. Aber was konkret heißt das konkret für Juden?
Messianisch leben heißt für Juden, Grenzen zu überschreiten, heißt, nicht mehr verpflichtet sein, Fleisch gemäß zu leben. Und was bedeutet das, Fleisch gemäß, kata sarka, zu leben? Es bedeutet, nicht nur die fleischliche Einheit, die unter Juden durch die Generationen hindurch seit Abraham gegeben ist, zu sehen und hervorzuheben. Fleisch gemäß leben, das bedeutet auch, beschnitten zu sein. Und wer beschnitten ist, der hat die Thora und ihre einzelnen Mizwot zu halten. Da das unter den gegebenen Verhältnissen nach Meinung des Paulus unmöglich ist, bleibt eigentlich nur das, was die Thora von denen sagt, die die Mizwot nicht halten: „Sterben, sterben mußt du!“ In der messianischen Gemeinschaft aus Juden und Nichtjuden gilt das so nicht mehr. Wenn aber wieder einige anfangen, die fleischliche Einheit zu betonen und auf jüdische Art leben, dann trifft das wieder zu. Dann erstirbt der eine Leib und es erstirbt das Leben in diesem Leib. Damit aber gemeinsam gelebt werden kann, gilt es alles zu meiden, was die Gemeinschaft wieder zunichte machen könnte. Paulus verlangt, daß die Praktiken des Leibes getötet werden.
Jankowski interpretiert die „Wendung Praktiken des Leibes, praxeis tou sōmatos“, die nur bei Paulus vorkommt, also völlig anders als Wolter. Wie begründet er seine ungewöhnliche Auslegung?
Zunächst verweist er darauf, dass Paulus auch das Wort „praxis allein … neben unserer Stelle nur noch in Röm 12,4“ verwendet, wo „es auf die einzelnen Glieder an einem Leib bezogen“ ist (J180f.):
nicht alle Glieder haben dieselbe praxis, Handlung, Verrichtung. Das Nomen ist abgeleitet von dem Verb prassein, das uns schon häufiger, besonders aber in Röm 7, begegnet ist. In Röm 7 war es ziemlich negativ besetzt.
Außerdem findet er (J181) in Kolosser 3,5-11 das Wort „praxis in ähnlichem Zusammenhang“ wie in Römer 8,13. Anders als Wolter zitiert er jedoch nicht nur die Verse 5-9, sondern bezieht den Zusammenhang mit den Versen 10-11 in seine Überlegungen mit ein:
5 So tötet nun die Glieder auf der Erde,
Unzucht, Unreinheit, Leidenschaft, schlechtes Begehren, Habsucht,
die Götzendienst ist …
9 Täuscht einander nicht,
da ihr ausgezogen habt den alten Menschen zusammen mit seinen Praktiken.
10 Und ihr habt angezogen den neuen Menschen,
den zur Erkenntnis erneuerten nach dem Bild dessen, der ihn erschaffen hat,
11 wo nicht Grieche und Jude,
Beschneidung und Vorhaut,
Barbar; Skythe,
Sklave, Freier ist,
aber alles und in allen der Messias.Die Glieder werden hier genauer bestimmt, einmal durch Worte, die z.T. den sogenannten Noachidischen Geboten entstammen, die auch in der messianischen Ekklesia Geltung hatten. Zum anderen werden die den Noachidischen Geboten widersprechenden Handlungen als praxeis bezeichnet.
Im Blick darauf, dass der Kolosserbrief aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Paulus selbst stammt, vermutet Jankowski, dass „hier gute Schüler des Paulus seinen Ausdruck Praktiken des Leibes zu interpretieren versucht“ haben könnten:
Jedenfalls riefen sie dazu auf, all das, was Menschen in Kategorien einteilte, aufzugeben und dennoch auf Gebote zu achten, die ein Zusammenleben erst ermöglichten. Neue Menschen konnten trotz der bestehenden Unterschiede miteinander verkehren. Das ist das Ziel bei Paulus und bei seinen Schülern. Die Praktiken des Leibes sind gegen die Einheit aus Juden und Gojim gerichtet und verhindern das Ziel.
Um der Einheit willen, die ans Leben kommen soll, wird getötet, was ihr im Wege steht. Es ist ein merkwürdiges Töten. Es gibt keine Toten, wohl aber muß verschwinden, was wahrhaftiges Leben verhindert und meistens dann auch Tote produziert.
Einigermaßen deutlich wird hier der Unterschied zwischen den Auslegungen von Wolter und Jankowski: Die angebliche Einebnung aller Unterschiede von Juden und Nichtjuden mit dem Ergebnis einer um so größeren Kluft zwischen ungläubigen Juden und Geistbesitzern im wahren Christusglauben entsprach erst einer späteren Missachtung und Umdeutung der ursprünglichen Anliegen des Paulus. Paulus selbst und seinen unmittelbaren Schülern lag daran, die Unterschiede der in der messianischen Gemeinde zusammenlebenden Menschen ernst zu nehmen und ihre Konflikte im Geist der solidarischen Liebe des Messias Jesus zu überwinden.
↑ Römer 8,14-17: Von Gottes Inspiration geleitet sind wir Kinder Gottes, nicht Sklaven der Furcht, sowie Erben Gottes und Miterben des Messias
8,14 Denn welche der Geist Gottes treibt,
die sind Gottes Kinder.
8,15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen,
dass ihr euch abermals fürchten müsstet;
sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen,
durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
8,16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist,
dass wir Gottes Kinder sind.
8,17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben,
nämlich Gottes Erben und Miterben Christi,
da wir ja mit ihm leiden,
damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.
[24. März 2025] Die Verse Römer 8,14-18 thematisieren Michael Wolter zufolge (W471) „noch einmal das Gottesverhältnis der vom Geist Bestimmten“, bevor sie „mit einem eschatologischen {endzeitlichen} Ausblick (V. 17e)“ enden. Dass Paulus hier auf seinen eigenen Text in Galater 4,5-7 zurückgreift,
macht vor allem die Kombination der jeweiligen Formulierungen wahrscheinlich: Der Ausdruck krazein: abba ho patēr {‚Abba Vater‘ rufen}, die Begriffe hyiothesia {Sohnschaft}, pneuma {Geist} und doulos/douleia {Sklave/Sklaverei}, der Gegensatz „Sohn“/„Sklave“ bzw. „Sohnschaft“/„Sklaverei“ sowie die syntaktische und semantische Verknüpfung ei de tekna/hyios, kai klēronomoi/klēronomos {wenn aber Kinder/Sohn, dann auch Erben/Erbe}.
In Vers 14 (W494) geht Paulus mit hosoi gar pneumati theou agontai {denn alle, die vom Geist Gottes bestimmt werden} erneut auf das „Gottesverhältnis der Menschen, die ‚im Geist‘ sind“, ein,
die Paulus zuvor kata pneuma ontes {vom Geist Bestimmte} (V. 5b), die kata pneuma peripatousin {vom Geist bestimmt wandeln} (V. 4) und ta tou pneumatos phronousin {nach dem trachten, was geistlich ist} (V. 5b), genannt hatte und von denen er in V. 13b gesagt hatte, dass sie „mit dem Geist das Tun des Leibes töten“.
Daraus ist nach Wolter zu folgern, dass hosoi „zugleich inklusiv (‚alle, die‘) wie exklusiv (‚nur die‘)“ zu verstehen ist, wozu er sich (Anm. 105) auf „die hosoi-houtoi-{alle-die-}Konstruktionen in 4Makk 7,18; Gal 6,12“ beruft, obwohl das dort die Exklusivität hervorhebende monoi/monon {allein} in Römer 8,14 fehlt.
In der Formulierung (W494) agesthai {wörtlich: geführt werden} sieht Wolter „ganz allgemein die existentielle Bestimmtheit dieser Menschen“ bezeichnet, was er u.a. (Anm. 106) durch den Verweis auf „Sprüche 18,2LXX: agetai aphrosynē (‚er wird von Unverstand bestimmt‘)“ und „2Tim 3,6: ‚Frauen …, die von vielfältigen Begierden getrieben sind‘ (agonema epithymiais poikilais)“ begründet. Daher darf man ihm zufolge (W494) „das hier Gemeinte“ weder „auf außeralltägliche ekstatische oder enthusiastische Erfahrungen … eingrenzen“, noch ist darin (Anm. 107) eine „Anspielung auf die Exodustradition … zu erkennen.“
Worauf Paulus in Vers 14 hinaus will (W494), steht in der zweiten Vershälfte 14b: houtoi hyioi theou eisin {die sind Söhne Gottes}; dabei
handelt es sich um das pneumaseitige Gegenstück zu der in V. 8 formulierten Feststellung, dass die en sarki ontes Gott „nicht gefallen können“. In beiden Fällen geht es um das Gottesverhältnis der jeweils im Blick befindlichen Menschenklasse.
Was meint Paulus mit „der Bezeichnung hyioi theou {Söhne Gottes}“? Damit überträgt er
eine Metapher auf die durch den „Geist Gottes“ bestimmten Menschen, die wie die Begriffe agapētoi, klētoi und hagioi {Geliebte, Berufene, Heilige} in 1,7a zum Ausdruck bringen will, dass Gott Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat und Israel zu Gott gehört wie Kinder zu ihrem Vater. Nach Ex 4,22-23 soll Mose zum Pharao sagen: „So spricht der Herr: ‚Mein erstgeborener Sohn ist Israel (LXX: hyios prōtotokos mou Israēl), und ich sage dir: Lass meinen Sohn ziehen, damit er mir dient‘“. Außer in Hos 11,1 verbindet sich diese Metaphorik auch in mAv {Mischna Avot} 3,14 mit der Bezeichnung „Geliebte“, die Paulus in Rom 1,7 auf die römischen Christen überträgt: „Geliebte (sc. Gottes) sind die Israeliten, denn sie wurden Kinder des Ortes (= Gottes) genannt; als eine besondere Liebe wurde ihnen kundgetan, dass sie Kinder des Ortes (= Gottes) genannt werden“…
Hosea 2,1 ist eine der Stellen, die mit Hilfe dieser „Metaphorik“ die „Verheißung“ ausdrückt, dass Israel und sein Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird (W494f.):
„es wird geschehen, an der Stelle, an der zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk!, wird zu ihnen gesagt werden: Söhne des lebendigen Gottes“… Auf die Christen überträgt Paulus diese Bezeichnung außer in Röm 8,19.21 noch in Röm 9,26 (hier mit Bezug speziell auf die Heidenchristen); Gal 3,26; Phil 2,15 (s. auch 2Kor 6,18).
Zum Unterschied (W495) der Rede von der Gotteskindschaft bei Paulus und „der alttestamentlich-jüdischen Tradition“ hebt Wolter hervor, dass sich in der Letzteren
Erwählung und Geistgabe zu der Erwartung [verbinden], dass Gott seinen Geist wieder über sein Volk ausgießen oder ihn in die Herzen seines Volkes geben wird (z.B. Jes 32,15; 44,3; Ez 36,26-27; 39,29; Joel 3,1-2), um auf diese Weise die Gemeinschaft mit seinen Kindern wiederherzustellen. Hier geht also die bestehende Gotteskindschaft der Geistgabe voraus; sie wird durch den Geist lediglich wiederhergestellt. Demgegenüber sieht es bei Paulus so aus, als würde die Gotteskindschaft durch die Gabe des Geistes allererst hergestellt.
Das wird durch Vers 15 bestätigt, der die These von Vers 14 erläutert und begründet, indem diejenigen, die „vom Geist Gottes geführt werden, … Söhne Gottes“ sind, weil nach 15b „Gottes Geist ein pneuma hyiothesias {Geist der Sohnschaft} ist“. Diesen grenzt Paulus in 15a von einem pneuma douleias {Geist der Sklaverei} ab, wobei er „mit palin eis phobon {zurück zur Furcht} ein in seiner Umwelt verbreitetes Sklavenbild voraus[setzt]: dass Sklaven ständig in Furcht und Angst leben“, was u.a. in „Eph 6,5 (die Sklaven sollen ihren irdischen Herren meta phobou kai tromou {mit Furcht und Zittern} gehorchen)“ zum Ausdruck kommt. Das heißt Wolter zufolge: „palin eis phobon {zurück zur Furcht} soll nicht vor der Gefahr des Rückfalls warnen“, vielmehr will Paulus
den jetzigen Status der Leser gegenüber der Zeit vor ihrer Ausstattung mit dem Geist Gottes profilieren, als sie unter der Herrschaft der Sünde versklavt waren (Röm 6,17.19.20). Dass die Christen nach 6,18.19.22; 7,6 einen neuen Sklavendienst versehen, hat er jetzt nicht mehr im Blick. Hier entwirft er das Bild von Menschen, die nicht mehr Sklaven sind, weil sie durch Adoption in den Status von Kindern versetzt wurden.
Der Begriff hyiothesia {Sohnschaft} bezeichnet „in der hellenistischen Umwelt des Neuen Testaments als terminus technicus das Rechtsinstitut der Adoption als Sohn“. Entsprechend (W496) gibt es „thygatrothesia (Adoption als Tochter…) und teknothesia (Adoption als Kind…).“ Das Wort hyiothesia findet sich so „häufig wie bei Paulus … bei keinem anderen antiken Autor (vgl. noch Röm 8,23; 9,4; Gal 4,5; s. auch Eph 1,5).“
Indem Paulus in Römer 9,4 „auch Israels Erwählung hyiothesia“ nennt, deutet er
den Eintritt von Juden und Christen in die Gemeinschaft mit Gott mit ein und derselben Metapher. Beide haben Gott dadurch zum Vater bekommen, dass sie von ihm adoptiert wurden. Im Falle der Christen erfolgt diese Adoption durch die Gabe des Geistes, den Paulus darum pneuma hyiothesias {Geist der Sohnschaft} nennt.
Den Genitiv im Ausdruck pneuma hyiothesias vergleicht Wolter mit
dem Ausdruck pneuma tēs zōēs {Geist des Lebens} in 8,2 …: Wie der eine Geist Gottes Leben bringt, macht er auch die mit ihm Beschenkten zu Söhnen Gottes. hyiothesia bezeichnet hier also den auf dem Vorgang der Adoption beruhenden Status der Söhne Gottes. Wodurch der Empfang des Geistes bzw. die Adoption stattfand, sagt Paulus hier nicht. elabete {ihr habt empfangen} kann sich sowohl auf die Hinwendung zum christlichen Glauben (vgl. vor allem Gal 3,2.14, s. auch 1Kor 2,12; 2Kor 11,4 sowie Joh 7,39) als auch auf die Taufe im Sinne von 1Kor 12,13 beziehen.
In Vers 15c-d verweist Paulus auf die „aramäische Akklamation {Zuruf} ‚Abba‘… mit der Übersetzung ho patēr {Vater}“, die (Anm. 113) von der Grammatik her „einen Nominativ mit vokativischer Bedeutung“ darstellt. Anders als im Deutschen wird im Altgriechischen eine Anrede an beispielsweise den Vater, ein Mädchen oder einen Herrscher mit dem bestimmten Artikel gebildet, z.B. bei „to korasion {Mädchen} (Mk 5,41), ho kyrios mou kai ho theos mou {mein Herr und mein Gott} (Joh 20,28) oder ho despotēs ho hagios kai alēthinos {Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger} (Apk 6,10)“.
Aus der griechischen Übersetzung zieht Wolter den Schluss (W495), dass die Anrede „‚Abba‘ … ganz offensichtlich auch in den Gottesdiensten der heidenchristlichen griechischsprachigen Gemeinden ausgerufen“ wurde, womit er seltsamerweise für Heiden- und Judenchristen bereits zur Zeit des Paulus getrennte Gottesdienstfeiern vorauszusetzen scheint. Gerade die aramäische Formulierung samt Übersetzung legt aber doch eigentlich nahe, dass sie für gemeinsame Feiern verschiedensprachiger Menschen gedacht war.
Nach Paulus (W496f.) erfolgt „dieser Ruf ‚im Geist‘ (en pneumati)“. Damit (W497)
knüpft er an die Redeweise von V. 9a an und bringt zum Ausdruck, dass niemand von sich aus diese Akklamation ausspricht, sondern nur wenn der Geist ihn im Sinne von V. 14a „antreibt“ und diese Worte aussprechen lässt. In Gal 4,6 legt Paulus sie sogar dem Geist selbst in den Mund. Auch die Verwendung des Verbs „rufen“ (krazein) weist in diese Richtung: Mk 1,23 sagt von dem Menschen, der „in einem unreinen Geist“ ist, dass er „ausruft“ (anekraxen; s. auch Mk 3,11; 5,7.9 par. Mt 8,29; Mk 9,26 par. Lk 9,39; Lk 4,33.41; Apg 16,16f). Paulus spricht also auch hier vom Wirken des Geistes in einer Weise, die von den Beschreibungen von Besessenheit nicht weit entfernt ist.
Im Hintergrund der „Akklamation ‚Abba, Vater‘ (vgl. auch Gal 4,6)“ steht Wolter zufolge wahrscheinlich die „Jesusüberlieferung, wo die Anrede Gottes als ‚Vater‘ sehr dicht belegt ist (vgl. Mk 14,36; Lk 10,21 par. Mt 11,25; Lk 11,2; 23,34.46; Joh 11,41; 12,27.28; 17,1 u.ö.).“
„[F]alsch“ ist nach Wolter die „Behauptung, das aramäische ˀabbaˀ sei Kleinkindersprache (‚Papi‘)“; er sieht darin eher „einen Ausdruck des Respekts“, denn wenn Gott „einfach nur als ‚Vater‘… (patēr oder ho patēr…)“ angeredet wird,
handelt es sich um die Übertragung einer zwischenmenschlichen Anredeform auf das Gottesverhältnis. So konnten nicht nur leibliche Väter angeredet werden, sondern z.B. auch Propheten (2Kön 2,12; 6,21; 13,14 [hebr. jeweils ˀabij]…
Ohne Anschluss durch eine Konjunktion gibt Paulus in Vers 16 „seinen Lesern eine pneumatologische Interpretation ihrer gottesdienstlichen abba-ho-patēr-Akklamationen“, mit denen er erklärt,
was ‚vom Geist Gottes angetrieben werden‘ (V. 14) heißt. Mit to pneuma hēmōn {unser Geist} spricht Paulus anthropologisch vom menschlichen „Geist“, dem inneren Selbst eines jeden Menschen (vgl. auch Röm 1,9; 1Kor 2,11; 7,34; 14,14; 16,18; 2Kor 2,13; 7,13; 1Thess 5,23).
Mit dem aus syn- und martyrein {zusammen und bezeugen} zusammengesetzten Wort symmartyrein wird nicht einfach „eine Verstärkung“ ausgedrückt; vielmehr erklärt die Vorsilbe syn- (W497f.),
was passiert, wenn im Gottesdienst die Akklamation „Abba, Vater“ laut wird: Weil es der Geist Gottes ist, der die Christenmenschen „Abba, Vater“ rufen lässt (sie rufen „im“ Geist; V. 15c), kann Paulus sagen, dass der Geist sich ihres Selbst bedient, um zusammen mit ihm dem Sachverhalt, der sich in dieser Akklamation artikuliert, eine empirisch wahrnehmbare Gestalt zu geben. Damit bekommen die Christenmenschen durch das Wirken des Geistes selbst (auto) bestätigt, dass ihre Gotteskindschaft nicht lediglich ein theologisches Konstrukt, sondern existentiell erfahrbare Wirklichkeit ist.
Darin (W498), dass Paulus „in V. 16b nicht mehr von ‚Söhnen (hyioi) Gottes‘ spricht wie noch in V. 14b, sondern ‚Kinder (tekna) Gottes‘ sagt“, sieht Wolter nicht die Absicht, dass „Paulus … betont inklusiv formulieren will“, zumal er in Galater 3,26 alle Adressaten einschließlich der in 3,28 ausdrücklich erwähnten Frauen mit hyioi theou {Söhne Gottes} anredet:
Dass jemand auf die Idee kommen könnte, er würde mit der Rede von den hyioi theou die Frauen ausschließen, wird Paulus nicht einmal im Traum eingefallen sein. Jedenfalls ist der Ausdruck tekna theou {Kinder Gottes} nicht sehr gebräuchlich. Er findet sich in der griechischen Bibel nur bei Paulus (s. noch Röm 8,21; 9,8; Phil 2,15) sowie in der johanneischen Literatur (Joh 1,12; 11,52; 1Joh 3,1.2.10; 5,2).
Indem Paulus in Vers 17 „den Blick seiner Leser von der Gegenwart in die Zukunft“ lenkt, schließt er seinen Gedankengang auf ähnliche Weise ab wie zuvor
bereits in 5,21b; 6,23b; 8,11. Mit all diesen Texten hat der eschatologische {endzeitliche} Ausblick in 8,17 auch die christologische Grundlage gemeinsam. Paulus gelangt zu dieser Heilsaussage in zwei Schritten, die in dem Wechsel der Genitivverbindungen erkennbar werden: Der erste geht von „Kinder Gottes“ zu „Erben Gottes“ (V. 16b-17c) und der zweite von „Erben Gottes“ zu „Miterben Christi“ (V. 17c-e).
Im „Hintergrund“ der ersten Schlussfolgerung steht „die in V. 15 a-b formulierte Antithese“ des Geistes der Sklaverei und der Sohnschaft, denn „[a]nders als Sklaven sind Kinder erbberechtigt.“ Eine „Metapher …, die bereits seit dem Beginn der Zeit des zweiten Tempels die Zuweisung und Teilhabe des Heils an Israel bzw. die Frommen und Gerechten umschreibt“, überträgt Paulus Wolter zufolge hier also auf die „Christen“, indem er sie „als ‚Erben‘“ bezeichnet (W498f.):
Ihre Grundlage hat diese Metaphorik in den Verheißungen, die den Vätern zuteil wurden (vgl. Gen 15,7f; 28,4; Ex 15,17; 23,30; Lev 20,24 u.ö.). Die unter Rückgriff auf diese Begrifflichkeit (klēronomia, klēronomein {Erbe, erben}) formulierten eschatologischen {endzeitlichen} Heilszusagen in den frühjüdischen und frühchristlichen Texten beziehen sich auf das Land / die Erde (Jes 57,13; 60,21; 65,9; Ps 36,9.11LXX; … Mt 5,5) oder ganz allgemein auf das eschatische Heil (z.B. … PsSal {Psalmen Salomos} 12,6; 14,9-10; … Mk 10,17 par.; Mt 19,29; Lk 10,25 ;Tit 3,7) oder auf die Teilhabe an der Gottesherrschaft (Mt 25,34; 1Kor 6,9f; 15,50; Gal 5,21; Eph 5,5; Jak 2,5).
Dann folgt (W499) in einem „zweiten Schritt“ die Unterscheidung zwischen „zwei Relationen des ‚Erben‘-Seins der Christen“, nämlich „das Verhältnis zu Gott und das Verhältnis zu Christus.“ Diese Unterscheidung will Wolter folgendermaßen erklären: Zunächst umschreibt Paulus ähnlich wie in Galater 4,7 „die Einsetzung in den Status des Erben ‚durch Gott‘“, indem Gott „sie durch seinen Geist zu ‚Söhnen‘ gemacht hat (V. 15b).“ Und daraus ergibt sich dann „für das Verhältnis der Christen zu Christus“ eine erstaunliche weitere Konsequenz:
Als von Gott eingesetzte Erben haben sie bereits in der Gegenwart denselben Status erhalten wie Christus, d.h. sie sind zu seinen „Miterben“ (synklēronomoi) geworden. Diese Feststellung ergibt sich aus dem Zusammentreffen von V. 14e-15 (weil die Christen das pneuma hyiothesias {Geist der Sohnschaft} empfangen haben, sind sie hyioi theou {Söhne Gottes} mit dem in Röm 1,4a Gesagten (Christus horistheis hyios theou … kata pneuma hagiōsynēs {wurde eingesetzt als Sohn Gottes … nach dem Geist der Heiligkeit}).
Ein Unterschied besteht jedoch zwischen „den christlichen Wir“ und „Christus“, denn
Christus hat dieses Erbe – um es technisch zu sagen – bereits angetreten, denn Gott hat ihn von den Toten auferweckt und in seine himmlische Herrlichkeit erhöht. Demgegenüber sind die Christen zwar schon in den Status von Erben eingesetzt, die Übereignung des Heils an sie steht aber noch aus.
Es sind in Vers 17e „zwei weitere Mit-Christus-Aussagen“, durch die Paulus nach Wolter diesen Unterschied „einfängt“, indem sie
den Abstand zwischen Gegenwart und Zukunft überbrücken und der Zukunft den Charakter des Ungewissen nehmen wollen. Er konstruiert dafür eine Ergehensentsprechung zwischen Jesus Christus und den Seinen: Weil die Christen zu Christus gehören, partizipieren sie auch an seinem Geschick.
Ähnlich hatte Paulus „schon in Röm 6,4-8 … die Taufe … als homoiōma {Abbild} des Todes Jesu interpretiert“ und von daher „die Gewissheit der künftigen Teilhabe der Getauften auch an der Auferstehung Jesu“ erschlossen, wobei er „diese Entsprechung“ ebenfalls „mit Hilfe von ‚Mit‘-Aussagen zum Ausdruck gebracht“ hatte:
synetaphēmen {mitbegraben} (V. 4), symphytoi gegonamen {zusammengewachsen} (V. 5), synestaurōthē {mitgekreuzigt} (V. 6) und schließlich syzēsomen {mit ihm leben} (V. 8).
In Römer 8,17e ist es „aber nicht das einmalige Taufgeschehen, von dem aus die Gewissheit der Erlangung des noch ausstehenden Heils erschlossen wird, sondern die alltägliche Erfahrung von Leiden“, die „Paulus als ‚Mitleiden‘ (sympaschomen) mit Christus“ deutet. Aus ihm leitet er wiederum (W499f.) „die Gewissheit ab…, dass die mit Christus Verbundenen auch an der Herrlichkeit teilhaben werden (syndoxasthōmen), die Jesus bereits durch seine Auferstehung und Erhöhung zuteil geworden ist.“ Ähnlich wie hier (W500) werden auch in 2. Korinther 4,10-11; 13,4; Philipper 3,10-11; 1. Petrus 4,13; 5,1 durch Paulus oder andere „gegenwärtige Leidenserfahrungen von Christen als Bestandteil von deren Zugehörigkeit zu Christus“ gedeutet. Dabei sind
[w]ie in 5,3-4 … vor allem solche Leidenserfahrungen im Blick, die die Christen aufgrund ihres Christseins machen, denn sie geben der Rede vom „Mitleiden“ mit Christus ihre besondere Plausibilität: Nur unter solchen Erfahrungen leiden allein die Christen, und darum können sie in ihnen genauso ihre Alleinstellung wahrnehmen wie in ihrer Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Diese Leidenserfahrungen machen sie ja nur, weil sie zu Jesus Christus gehören. Hermeneutisch ist die paulinische Leidensdeutung aber offen für jedwede Leidenserfahrung, der Christen wie alle anderen Menschen unterworfen sind. Paulus interpretiert sie als Teilhabe an Jesu Leidensgeschick, die dann auch die Teilhabe an seinem Auferstehungsgeschick nach sich zieht.
In Wolters Augen ist es „alles andere als ein Zufall“, dass Paulus mit syndoxasthēnai {mit verherrlicht werden} als „dem letzten Wort dieses Abschnitts … den doxa-Begriff wieder ins Spiel bringt“, denn (W501) es ist ja „die doxa {Herrlichkeit}, die die Menschen durch die Sünde Adams verloren haben und deren Fehlen auch die christliche Existenz nach wie vor charakterisiert (Röm 3,23)“, so dass auch die Christen „in der Gegenwart nur auf sie hoffen können (Röm 5,2; s. auch 8,18.21; 1Kor 15,43; 2Kor 4,17; Phil 3,20-21; 1Thess 2,12).“
Zur „Konjunktion eiper, mit der Paulus die drei syn-Aussagen verknüpft“, betont Wolter, dass sie „hier genauso wie in Röm 3,30a; 8,9b kausale Bedeutung“ hat {da ja} und „nicht konditional <227> gemeint sein“ kann, „denn in diesem Fall würde Paulus das synklēronomoi Christou-{Miterben-Christi-}Sein der Christen unter den Vorbehalt des Leidens stellen“ und „indirekt zum Leiden“ auffordern. Darum geht es ihm nicht, auch wenn er „dem Leiden seinen Charakter als Differenzerfahrung … nehmen und als Bestandteil der christlichen Heilswirklichkeit … deuten“ will.
[25. Mai 2025] Während es für Wolter selbstverständlich ist (W502), dass Paulus in Römer 8,14-17 einfach nur von „Christen“ spricht, denen er „den Status von ‚Kindern Gottes‘ zuschreibt“, womit er auf sie „einen Begriff“ überträgt, „der schon im Alten Testament das Gottesverhältnis Israels charakterisiert“, dürfen nach Gerhard Jankowski (J181) die Unterschiede der in der messianischen Gemeinde zusammengeführten Menschen gerade um ihrer Einigung und Versöhnung willen nicht außer Acht gelassen werden. Das, was durch den Geist Gottes „ans Leben“ kommt, fasst er also nicht mit der missverständlichen Bezeichnung Christen ins Auge, sondern er nennt es eine „neue Menschheit“, die „geeint, gestärkt, neu inspiriert, vom Geist geführt“ ist.
Das Wort agontai in Vers 14 übersetzt Jankowski (J179) daher mit „geführt werden“ und bezieht es anders als Wolter bewusst auf die Exodustradition, denn (J181f.):
Das Heranwachsen dieser neuen Menschheit kann sich Paulus nur in Analogie zur Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens vorstellen. Dort, in Ägypten, wird Israel zum ersten Mal Sohn Gottes genannt (Ex 4,22). Dieser Sohn wird herausgeführt aus der Sklaverei. Er wird befreit. Und dann umsorgt geleitet. Dtn 32,6.10-12 heißt es von dieser fürsorglichen Leitung:
6 … Ist er nicht dein Vater, dein Stifter,
gemacht hat er dich, gegründet!
…
10 Im Wüstenland findet er es,
in Irrsal, Heulen der Ödnis,
er umwirbt es, er umwartet es,
er umwirbt es wie das Püppchen im Auge.
11 Wie ein Adler erweckt seinen Horst,
über seinen Nestlingen schwebt,
seine Flügel spreitet, eins aufnimmt,
es auf seinem Fittich trägt:
12 Einsam führt es der Ewige,
keine fremde Gottheit ist mit ihm.
Das Besondere, worauf Paulus hinaus will, ist nun (Vers 15), dass in „diese fürsorgliche Leitung“ durch den Gott Israels „nicht nur die aufgenommen“ sind,
die immer schon als Söhne Gottes galten. Aufgenommen sind auch die, die zwar nicht aus Ägypten befreit worden sind und die nicht durch das Lernfeld Wüste liebevoll geleitet wurden. Sie brauchen auch nicht nach Ägypten zurück, um aus der Sklaverei befreit zu werden. Der Geist der Sklaverei wird abgelöst vom Geist der Sohnschaft. Jetzt können alle Söhne, Juden und Nichtjuden, in der einen Sprache sich zu dem einen Vater bekennen und gemeinsam sagen: „Abba, Vater!“ Es sind die Befreiten, die das sagen können.
Dass Paulus hier wie in Galater 4,6 „diesen ungewöhnlichen Ausruf“ verwendet, dieses auffallende und „sonst nur in der liturgischen und biblischen Sprache benutzte hebräische Wort für Vater“, führt Jankowski darauf zurück, dass in den Augen des Paulus der „Vater auch der Gojim … nur dieser Gott sein“ kann, „der von den anderen Söhnen in der ihnen eigenen Sprache auch so angeredet wird: Abba, Vater.“
Welche „rechtlichen Folgen“ hat dieses „Vater-Sohn-Verhältnis“? Paulus umschreibt sie in den Versen 16-17 wie in Galater 4
mit dem Stichwort erben/Erbe. Es genügt also nicht, daß die Befreiten als Söhne Gottes anerkannt sind. Sie haben auch den rechtlichen Status eines Sohnes. Sie sind frei und sie sind Erben. Wer in diesem Zusammenhang von erben bzw. von den Erben redet, der kann sich nur auf die beziehen, die erben sollen, was Abraham verheißen wurde. So macht es Paulus in Gal 3,29: „Wenn ihr des Messias seid, seid ihr freilich auch Abrahams Same, Erben gemäß der Verheißung.“ Erbe gemäß der Verheißung sein, heißt Sohn Abrahams sein und das Abraham und seinen Nachkommen verheißene Land zum Erbteil erhalten.
Nach Jankowski bleibt „Paulus … auch in Röm 8 im Kontext der Abrahamsverheißung, obwohl er sie hier nicht erwähnt“, die aber (J182f.) „in dem langen Midrasch über Abraham … die Hauptsache“ war. Wir hatten gehört (J183), dass sie „nicht nur den rechtmäßigen und fleischlichen Söhnen Abrahams gelten“ sollte, „sondern den anderen vielen Söhnen auch“, die sich im Vertrauen auf den Messias Jesus „der messianischen Gemeinde“ anschlossen. Dass alle gemeinsam hier „Kinder Gottes“ heißen, scheint Jankowski in gendermäßig inklusivem Sinn zu verstehen, denn durch Gott „werden sie alle, die jüdischen Söhne und Töchter und die nichtjüdischen Töchter und Söhne, zu Erben der Verheißung an Abraham.“
Ausdrücklich spricht Jankowski einen wunden Punkt an, den Wolter in seiner Römerbriefauslegung nicht thematisiert, nämlich dass die „nichtjüdischen Kinder und Erben … nicht viel später die jüdischen und rechtmäßigen Kinder und Erben enterben“ werden. Jankowski zufolge ist Paulus dafür
nicht verantwortlich zu machen. Im Gegenteil. Er bindet die neuen Kinder auf zweierlei Weise an die anderen. Einmal werden sie Erben nur über den Messias, der aus Israel kommt. Er ist der wahrhaftige Sohn Abrahams und sein vollkommener Erbe. Er repräsentiert Israel. Um das zu unterstreichen, gebraucht Paulus hier den Titel ganz absolut. Wenn Gojim Miterben werden, dann ist das ein Geschehen, das nur aus Israel und von Israel her zu verstehen ist. Denn dieses messianische Geschehen kann nicht von Israel gelöst werden wie der Messias nicht von Israel gelöst werden kann.
Dieses Verständnis von synklēronomoi Christou {Miterben des Messias bzw. Christi} unterscheidet sich grundlegend von Wolters Annahme (W499), hier werde den Christen im Vorausblick die „himmlische Herrlichkeit“ übertragen, in der Christus schon jetzt lebt. Während Wolter sich auf die noch ausstehende „Übereignung des Heils“ an die Christen in Gestalt des ewigen Lebens nach dem Tod konzentriert, fasst Jankowski als Ziel des Paulus in erster Linie sehr konkret die Gemeinschaft derer ins Auge, die als Juden und Nichtjuden durch das Vertrauen auf den Messias zusammengeführt werden.
In diesem Zusammenhang hebt Jankowski (J183) eine „andere Anbindung“ der nichtjüdischen „neuen Kinder“ an die jüdischen Kinder hervor, die „noch viel weiter reichende Konsequenzen“ hat:
Das Erbe ist für Nichtjuden in der messianischen Gemeinde nicht billig zu haben. Es ist gebunden an das Leiden des Messias und damit an das Leiden Israels. Die werden mitgeerbt. Wer sich davon löst, nichts damit zu tun haben will, der kann auch nicht Erbe sein.
Inspiration, Begeisterung hat am allerwenigsten mit einem übersteigerten Enthusiasmus zu tun. Die Befreiten, die vom Geist Geführten können nicht die Verhältnisse, so wie sie nun mal sind, leugnen. Sie nehmen sie ernst, ohne sie anzuerkennen. Eins aber ist auf keinen Fall möglich: einen Teil der Erbschaft auszuschlagen. Erst die Annahme der ganzen Erbschaft, eben auch des Mitleidens mit dem Messias und damit mit Israel, kann dann zur Wertschätzung, zur Ehre führen. Es gibt eben nur ein Mit-Leiden und ein Mit-Geehrtwerden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Ohne mich, das können gerade die Gojim in der messianischen Gemeinschaft bei möglichen Leiden, die den Juden drohen, nicht sagen. Dennoch haben sie es oft genug und laut genug gesagt. Später. Sie haben dann das Mit-Leiden schlicht überlesen oder nicht hören wollen.
Wenn diese Auslegung Jankowskis zutrifft, wäre im Blick auf Wolters Auslegung zu beklagen, dass er die Thematik des „Mitleidens mit dem Messias“ als eines Mitleidens „mit Israel“ nicht einmal einer Erwägung für wert hält, sondern stattdessen (W500) die „Leidenserfahrungen …, die die Christen aufgrund ihres Christseins machen“ als ein Merkmal ihrer „Alleinstellung“ beurteilt.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 8,1-17
8,1 Keine Verurteilung also jetzt für die im Messias Jesus!
8,2 Denn die Tora der Inspiration des Lebens im Messias Jesus
hat dich befreit von der Tora der Verfehlung und des Todes.
8,3 Denn das der Tora Unmögliche,
insofern sie durch das Fleisch geschwächt war –
indem Gott den eigenen Sohn schickte
in der Ähnlichkeit des fehlgehenden Fleisches
und um der Verfehlung willen,
verurteilte er die Verfehlung im Fleisch,
8,4 damit die Rechtsforderung der Tora erfüllt werde – durch uns,
die wir nicht nach dem Fleisch den Gang gehen,
sondern nach der Inspiration.
8,5 Denn die nach dem Fleisch sind, bedenken die (Dinge) des Fleisches,
die aber nach der Inspiration die (Dinge) der Inspiration.
8,6 Das Bedenken des Fleisches nämlich: Tod!
Das Bedenken der Inspiration aber: Leben und Friede!
8,7 Darum: das Bedenken des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott,
denn es unterwirft sich nicht der Tora Gottes,
kann es ja auch nicht.
8,8 So können die im Fleisch sind Gott nicht gefallen.
8,9 Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern in der Inspiration,
da ja Gottes Inspiration in euch wohnt.
Wenn aber einer des Messias Inspiration nicht hat,
der ist nicht sein.
8,10 Wenn aber der Messias in euch ist,
ist zwar der Leib tot wegen der Verfehlung,
die Inspiration aber ist Leben wegen der Bewährtheit.
8,11 Wenn aber die Inspiration dessen,
der Jesus aus Toten erweckt hat,
in euch wohnt,
wird der, der den Messias aus Toten erweckt hat,
auch eure sterblichen Leiber lebendig machen
durch seine Inspiration, die in euch wohnt.
8,12 Also nun, Geschwister, sind wir Schuldner
nicht gegenüber dem Fleisch,
um nach dem Fleisch zu leben.
8,13 Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt,
werdet ihr sterben müssen.
Wenn ihr aber durch Inspiration die Praktiken des Leibes tötet,,
werdet ihr leben.
8,14 Denn alle, die von Gottes Inspiration geführt werden,
die sind Söhne Gottes.
8,15 Denn nicht habt ihr empfangen eine Inspiration der Sklaverei,
zurück zur Furcht,
sondern ihr habt empfangen eine Inspiration der Sohnschaft,
in der wir rufen: Abba, Vater!
8,16 Die Inspiration selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist,
dass wir Kinder Gottes sind,
8,17 wenn aber Kinder, dann auch Erben,
Erben Gottes zwar, aber Miterben des Messias,
da wir ja mitleiden,
um auch mit geehrt zu werden.
↑ Gewisse Hoffnung auf die Befreiung der stöhnenden Schöpfung durch Gottes Liebe (Römer 8,18-39)
[26. Mai 2025] Im vorletzten Abschnitt Römer 8,18-30 des ersten großen Teils der Römerbriefkapitel 1 bis 8 bleibt Paulus Michael Wolter zufolge (W534) zunächst „bei dem Thema, das er bereits im vorangegangenen Abschnitt (8,1-17) behandelt hatte: die Heilsgewissheit derjenigen, die zu Jesus Christus gehören.“ Anders als zuvor (W535) stellt er jetzt aber die endzeitliche „Heilserwartung … in den Mittelpunkt …, der die aus Glauben Gerechtfertigten und Getauften entgegengehen“. Dabei will er „mit den pathēmata tou nyn kairou {Leiden der Gegenwart} (V. 18b) die allgemeine existentielle Begrenztheit und anthropologische Schwäche ansprechen …, der auch die Christenmenschen noch unterliegen“, indem
er in V. 23c die „Erlösung des Leibes“ zum eschatologischen Zielpunkt der christlichen Hoffnung macht und damit konkretisiert, was er vorher „Offenbarwerden“ der Herrlichkeit „an uns“ (V. 18b), „Offenbarung der Söhne Gottes“ (V. 19) und „Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (V. 21c) genannt hatte.
Nach Wolter muss Paulus eine solche „eschatologische {endzeitliche} Vergewisserung“ deswegen als notwendig erachten, weil er zwar „in 6,1-11 herausgearbeitet hatte, dass durch die Taufe nicht etwas an den Getauften anders geworden sind, sondern sie in ihrer gesamten Existenz andere Menschen geworden sind“, er aber dennoch (W536)
mit der Erfahrung umgehen [muss], dass sich gegenüber vorher und im Vergleich mit den anderen Menschen eigentlich nichts geändert hat: Obwohl ihr „alter Mensch“ bei der Taufe mit Christus „mitgekreuzigt wurde“ (6,6) und obwohl „der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat“, in ihnen „wohnt“ (8,11), leiden die Christen nach wie vor unter denselben pathēmata tou nyn kairou {Leiden der Gegenwart} wie vor ihrer Taufe und wie alle anderen Menschen.
Zur „Anfrage an die Erfahrbarkeit von Gottes Heil in der Gegenwart“ weist Paulus seine Leser „in eine Existenz der Hoffnung ein, durch die das Noch-nicht des eschatischen Heils zu einem Schon-jetzt wird“, bei dem nur dessen „Transformation in eine die Christenmenschen auch leiblich ergreifende Realität“ noch aussteht.
Die (W506) „deutlich erkennbare Struktur“ des Abschnitts 8,18-30
beginnt in V. 18 mit einer These, die die Leidenserfahrungen der Christen in der Gegenwart in das Licht des zukünftigen Heils stellt und sie ihm gegenüber für bedeutungslos erklärt.
Diese These wird dann in V 19-27 durch drei Gedankengänge erläutert, die einerseits durch wechselnde Subjekte voneinander abgesetzt, andererseits durch die Rekurrenz {Wiederkehr} ein und desselben Wortstamms miteinander verbunden werden: ln V 19-22 ist die „Schöpfung“ Subjekt, in V. 23-25 beschreibt Paulus das Tun der christlichen Wir, und in V26-27 geht es darum, was der „Geist“ tut. Verbunden sind die drei Abschnitte dadurch, dass alle drei Subjekte „klagen“: Die Schöpfung „klagt gemeinsam“ (systenazei; V. 22b). Ebenso „klagen“ (stenazomen; V. 23b) die christlichen Wir. Und dann tritt auch noch der Geist „mit wortlosen Klagen“ für sie ein (stanagmois alalētois; V. 26c).
Dabei „nehmen die christlichen Wir“ die „Mittelpunktstellung“ ein, was dadurch unterstrichen wird, dass der mittlere Abschnitt „sowohl mit dem Schöpfungs-Abschnitt als auch mit dem Geist-Abschnitt durch exklusive Schnittmengen verbunden“ sind, „die in dem jeweils dritten Abschnitt fehlen“.
In den Versen 28-30 (W507) wird dann „Gott zum Subjekt“, aus dessen Perspektive mit „Hilfe eines fünfgliedrigen Kettenschlusses“ die „gegenwärtige Situation“ der „Christenmenschen … in den Blick“ genommen wird.
Der letzte Abschnitt Römer 8,31-39 des achten Römerbriefkapitels (W557f.) schließt „harmonisch … den übergreifenden Gedankengang des Briefes“ ab, „in dem Paulus ab 6,1 die neugewonnene Existenz derer dargestellt hatte, die von der Herrschaft der Sünde und des Gesetzes befreit sind“, und zwar (W558) indem Paulus „in V. 35a und V. 39 erkennen“ lässt, „dass alle Christen von Christus und Gott geliebt sind und dass diese Liebe unverlierbar ist.“ Indem Paulus hier aber auch „potentielle Unheilserfahrungen und Unheilsmächte, von denen die christliche Heilsgewissheit und Heilszuversicht sich bedroht und in Frage gestellt sehen könnte“, umschreibt, liefert er „mehr als eine bloße Wiederholung und Zusammenfassung von bereits Gesagtem“ (W559): Gerade weil die Christen
ihrer eigenen Wahrnehmung nach von Gott ‚berufen‘ und ‚gerechtfertigt‘ und ‚verherrlicht‘ sind, erfahren sie von Seiten ihrer Umwelt Ablehnung, Bedrängnis und Verfolgung. Gegen die von dieser Differenzerfahrung ausgehende mögliche Verunsicherung und Destabilisierung will Paulus die Heilsgewissheit und Heilszuversicht seiner Leser immunisieren, indem er sie daran erinnert, dass Gott es ist, dem alle Christen ihre Heilsgewissheit und Heilszuversicht verdanken… Paulus will nicht nur wie in V. 30 das Schon jetzt des Heils betonen, sondern er sieht es auch auf ewige Dauer gestellt: Die Christen sind und bleiben von Gott erwählt und geliebt – auf ewig und unverbrüchlich.
Im Ausblick auf die folgenden Kapitel Römer 8-11 weist Wolter darauf hin, dass Paulus sich nicht zufällig „gerade im Anschluss an diese Feststellung die Frage vorlegt, was denn nun mit den nichtchristlichen Juden ist, die im Christusgeschehen nicht das Handeln Gottes erkennen können“, denn auch sie gehören ja „zu dem Volk, das Gott schon immer geliebt und erwählt hat (Dtn 7,6-8)“.
Mit diesen zusammenfassenden Worten der Verse Römer 8,18-39 entwirft Wolter das Bild einer endzeitlichen Hoffnung, die allein und auf ewig denjenigen vorbehalten ist, die an Jesus Christus glauben, wobei ausdrücklich noch zu klären ist, was mit den Juden geschieht, die sich diesem Glauben verweigern, und unausgesprochen offen bleibt, ob sich diese Eschatologie vor allem auf ein Leben nach dem Tod bezieht.
Gerhard Jankowski (J184) besteht dagegen darauf, dass der Jude Paulus „am Ende des ersten großen Teils“ seines „Traktates“ die vor allem auf das Diesseits bezogene „Vision“ einer konkreten „anderen Welt, einer anderen Epoche, eines neuen Menschen“ vertritt, und er verdeutlicht das, worum es Paulus seiner Auffassung nach geht, indem er an eine „Anekdote“ erinnert, die Jacob Taubes überliefert hat:
Ein Jude flieht nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn von Budapest nach Wien. Dort bittet er um Asyl. Man sagt ihm, daß Österreich ihn nicht aufnehmen wird. Die Schweiz, Jugoslawien und andere Länder werden als mögliche Zufluchtsländer genannt. Man zeigt ihm diese Länder auf einem Globus. Der Flüchtling dreht an dem Globus herum und sagt dann nach kurzem Nachdenken: „Habt ihr keine andere Welt?“
Nicht nach einer jenseitigen Welt fragt dieser Jude, sondern danach, dass diese Welt anders wird. Und es ist diese Frage, die Jankowski zufolge auch den vom Messias Jesus in seinen Dienst genommene Apostel Paulus umtreibt und um die es Paulus im Unterabschnitt „Unterworfen 8,18-23“ geht. Wem ist die „Schöpfung unterworfen“, die „stöhnt“ und „Wehen“ hat? Durch wen kann sie „freigelassen werden von der Sklaverei der Verwüstung“:
Was ist das für eine Welt, daß nach einer anderen gefragt werden muß? Menschen fliehen. Menschen zerfleischen sich gegenseitig. Menschen werden unterdrückt. Nach der Thora, der guten Weisung für das Leben, kann nicht gelebt werden. Wir wollen, aber wir können nicht, was wir sollen. Was ist das für eine Welt? So wie sie ist, ist sie nicht auszuhalten. Deswegen wird Hoffnung laut. Mit der Hoffnung wird eine neue, andere Welt gesehen. Durch die Hoffnung werden neue Menschen erweckt, die nicht unter den Verhältnissen nur stöhnen, sondern sie mit neuem Leben durchsetzen. Sie sind solidarisch im Leiden. Sie werden geachtet und als wahr bestätigt. Eine große, von heiliger Ungeduld getragene Vision von der endlichen Befreiung durch den Messias wird laut. Die messianische Existenz ist durchdrungen von der Vision der anderen Welt, die kommen muß und kommen wird.
Aber was ist (J189) mit denjenigen, die „in Verhältnissen leben, die kaum noch auszuhalten sind“? Damit sie an der Vision der „Befreiung durch den Messias“ festhalten können, muss „Paulus sie das Hoffen“ lehren. Darum geht es nach Jankowski im Unterabschnitt „Die Hoffnung der Wahrgemachten 8,24-30“.
Am Ende schließlich folgen (J193) im Unterabschnitt „Worauf Verlaß ist 8,31-39“ Worte des Paulus (J194), die „überaus emphatisch“, ja, „[f]ast hymnisch erklingen“:
In ihrer Dichte vereinnahmen sie die Hörer. Fast übertönt der Wortklang den Inhalt. Nicht umsonst ist dieser Abschnitt einer der bekanntesten aus der gesamten Bibel. Was wird hier laut? Eine absolute christliche „Heilsgewißheit“, die niemals und durch niemanden und nichts zu erschüttern ist? Was aber, wenn der Klang der Worte nicht mehr hält, was er zu versprechen scheint? Es kommt eben auf den Inhalt an. Und der ist bei allem Enthusiasmus sehr ernüchternd.
Was nach Jankowski nicht überhört werden sollte, ist erstens, dass hier „das Plädoyer des Anwalts der Gojim vor den jüdischen Genossen“ abgeschlossen wird: „von Gott gewollt und durch den Messias Jesus möglich geworden ist das Israel aus Juden und Nichtjuden.“ Zweitens (J198) „übertüncht“ Paulus nicht „die Realität“ der „unmenschlichen Verhältnisse, die längst noch nicht abgelöst waren von der neuen Welt, die zu erwarten stand“, sondern er erinnert mit Vers 8,36 an Psalm 44,23,
damit die messianische Ekklesia die Solidarität mit den Unterdrückten, Verfolgten, Gefolterten, Hungernden lernt und nicht aufgibt. Vor allem aber, damit die Bindung an Israel bestehenbleibt. Denn in ihm ist trotz aller Bedrückung und Verfolgung die erfahrene Befreiung lebendig. Und durch Israel wird davon Zeugnis gegeben allen Unterdrückten. Und so endet dann das Schlußwort zum ersten Teil des Briefes mit einem Lied, das mit seiner Hoffnung auf die neue Welt ansingt gegen die herrschenden Mächte dieser Welt.
Während nach Wolter am Ende von Römer 8 nur von „Christen“ die Rede ist, geht es nach Jankowski hier darum (J200), dass
[i]m Messias Jesus, in der messianischen Gemeinschaft aus Juden und Gojim, … die ehemals Verfeindeten die Solidarität Gottes [leben]. Nichts kann sie trennen von dieser Solidarität. Sie ist bewährt und wird sich bewähren. Das ist in nuce der Sieg über die Mächte der Welt. Das ist die Perspektive der neuen Welt mit einer neuen Menschheit. Das ist neue Schöpfung. Das ist die Revolution Gottes, die begonnen hat mit der Auferstehung des Messias. Die messianische Praxis, das Zusammenleben der Verschiedenen ist die Vorbereitung auf die Revolution Gottes; sie ist das dieser Revolution adäquate politische Handeln, das möglich ist. Alles andere ist hoffnungslos.
↑ Römer 8,18: Gegenwärtige Leiden sind nichts wert gegenüber zukünftiger Ehre
8,18 Denn ich bin überzeugt,
dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen
gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.
[27. Mai 2025] In Römer 8,18 leitet logizomai {ich bin gewiss} Michael Wolter zufolge (W507) die „Feststellung eines Sachverhalts“ ein, indem „Paulus die Abfolge von ‚Leiden‘ und ‚Herrlichkeit‘“ aus dem vorigen Vers „mit einem zusätzlichen Akzent“ versieht, „indem er Gegenwart und Zukunft zueinander in Beziehung setzt.“ Er verwendet (W507f.) die „in seiner hellenistischen Umwelt“ geläufige „Formulierung ouk axia … pros {nichts wert … gegenüber}“, um das „Ungleichgewicht zwischen gegenwärtigem Leiden und zukünftiger Herrlichkeit“ zum Ausdruck zu bringen, greift dazu aber (W507)
auf eine jüdische Tradition des Umgangs mit Leidenserfahrungen zurück, die Fromme und Gerechte erdulden müssen, obwohl und manchmal auch weil sie fromm und gerecht sind. Diese Erfahrungen werden durch den Hinweis relativiert, dass das Leiden im Vergleich mit dem zukünftigen Heil, das denen verheißen ist, die auch im Leiden fromm und gerecht bleiben und nicht vom Gesetz abfallen, nur kurz oder geringfügig ist.
Zum Beleg für „diese Tradition“, die Paulus auch in 2. Korinther 4,17-18 aufnimmt, verweist Wolter u.a. auf 2. Makkabäer 7,36 und Weisheit Salomos 3,5 sowie „im Neuen Testament“ auf „Mk 10,29-30; 2Thess 1,4-7; 1Petr 1,4-6; 5,10“.
Hinter (W508) diesem „Umgang mit dem Leiden“ steht „bei Paulus“ nach Wolter die Absicht, „die Leser zum Ertragen des Leidens zu motivieren und sie von einer Abwendung vom christlichen Glauben abzuhalten“, aber er versteht die „christlichen Leidenserfahrungen“ nicht „als Leiden der Endzeit, die dem Beginn der Heilszeit unmittelbar vorausgehen“.
Nicht zu entscheiden ist die Frage, ob „Paulus mit mellein {bevorstehen, kommen} die Nähe des kommenden Heils hervorheben will oder einfach nur in die Zukunft blickt“, denn beides ist möglich; so steht das Wort (Anm. 14) in Offenbarung 12,4 „für einen kurzen Zeitraum“ und in Galater 3,23 „für einen langen“.
Zum Ausdruck apokalyphthēnai eis hēmas {die an uns offenbar wird} betont Wolter (W508), dass er „wie in Röm 1,17a.18 (s. auch Lk 17,30)… das In-Erscheinung-Treten oder Wirklich-Werden eines Geschehens“ ausdrücken will, nämlich (W508f.)
die Ausstattung der christlichen Wir mit der ihnen auch in der Gegenwart noch fehlenden doxa tou theou {Herrlichkeit Gottes} (Röm 3,23), dem Gegenstand ihrer Hoffnung (5,2). Aus 8,30c („die [Gott] gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht [edoxasen]“) wird man schließen können, dass Paulus sich die Sache so vorgestellt hat, dass die Herrlichkeit der zu Jesus Christus Gehörenden bereits jetzt bei Gott Realität ist und dereinst oder demnächst aus ihrer himmlischen Verborgenheit heraustreten (darum apokalyphthēnai) und für alle Christen zu einer erfahrbaren Wirklichkeit wird: Gottes Herrlichkeit greift auf sie über und bezieht sie – wie bereits in 8,17e angekündigt (s. auch Phil 3,20-21 sowie dann Röm 8,29c) – in die Herrlichkeit des Auferstandenen und Erhöhten ein.
Weniger ausführlich als Wolter geht Gerhard Jankowski auf Römer 8,18 ein, den er so übersetzt (J184):
Ich rechne nämlich so:
Die Leiden der Zeit jetzt sind nichts wert
im Verhältnis zur zukünftigen Ehre, die auf uns hin enthüllt werden soll.
Allerdings legt Jankowski Wert auf eine kritische Betrachtung der Folgen einer derart vollmundig ausgesprochenen Hoffnung, denen gegenüber gegenwärtige Leiden keine Rollen spielen sollen:
Die Vision von einer anderen Welt steht kräftig gegen die gegenwärtigen Zustände. Sie kann eine Ermutigung sein, nicht vor den gegenwärtigen Zuständen zu kapitulieren, sondern die unerledigten Hoffnungen zu leben. Sie kann aber auch zu einer billigen Vertröstung geraten: Es wird schon alles in Ordnung kommen, irgendwann. Noch aber ist die wirkliche Befreiung nicht greifbar. Noch herrscht Unterdrückung. Noch leiden Menschen. Nichts sieht danach aus, als könne es besser werden. Gerade wenn die Vision von einer anderen Welt aufblitzt, muß die Wirklichkeit ernst genommen werden.
In den folgenden Versen wird deutlich werden, dass Paulus genau das tut.
↑ Römer 8,19-22: Die der Nichtigkeit und Verwüstung unterworfene Schöpfung stöhnt in Wehen und wartet auf die Freiheit der Kinder Gottes
8,19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf,
dass die Kinder Gottes offenbar werden.
8,20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit
– ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –,
doch auf Hoffnung;
8,21 denn auch die Schöpfung wird frei werden
von der Knechtschaft der Vergänglichkeit
zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
8,22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung
bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.
[28. Mai 2025] Die vier Verse Römer 8,19-22 werden nach Michael Wolter (W509) durch das Stichwort „ktisis (‚Schöpfung‘) zusammengehalten“, womit hier nicht wie in 1,20 „der Vorgang der Schöpfung“, sondern wie in 1,25 „das von Gott Geschaffene“ gemeint ist, und zwar ist wie in Weisheit Salomos 2,6; 5,17; 19,6 „von der außermenschlichen Natur und Kreatur die Rede“, da die „Christen … in V. 23 … von der ktisis ausdrücklich unterschieden“ werden und ihr auch „die nichtchristliche Menschheit“ nicht zugeordnet werden kann, da die Schöpfung nach „V. 20b … ‚ohne eigene Schuld‘ (ouch hekousa) der ‚Nichtigkeit‘ unterworfen wurde“.
Das aus apo- und karadokia zusammengesetzte Wort apokaradokia {sehnsüchtiges Harren} in Vers 19 (W509f.) ist Wolter zufolge „wohl eine paulinische Neubildung“, da es „in der gesamten antiken Literatur nur hier sowie in Phil 1,20 zusammen mit elpis {Hoffnung}“ vorkommt. Auch karadokia und „das Verb apokaradokein“ sind selten, „während das entsprechende Verb karadokein in der jüdischen und nichtjüdischen Gräzität weit verbreitet ist“, wobei das „semantische Profil dieser Wortfamilie … von neutralem ‚abwarten‘ bis hin zu Positives erwartendem ‚hoffen‘“ reicht.
In Gestalt der apokaradokia tēs ktiseōs {des sehnsüchtigen Harrens der Schöpfung} (W509) schreibt Paulus dieser „abstrakten Eigenschaft … ein personhaftes Verhalten“ zu, indem er von ihr sagt, dass sie tēn apokalypsin tōn hyiōn tou theou apekdechetai {die Offenbarung der Söhne Gottes erwartet}. Das Verb (Anm. 21) apekdechesthai {warten} kommt „in der griechischen Bibel“ außer bei Paulus „in Röm 8,23.25; 1Kor 1,7; Gal 5,5; Phil 3,20“ nur noch in „Hebr 9,28; 1Petr 3,20“ vor; und auch an der letzteren Stelle heißt es (W510) ähnlich wie hier „von der ‚Langmut Gottes‘ …, dass sie ‚in den Tagen Noahs gewartet hat (apexedecheto)‘.“
Was meint Paulus „[m]it ‚Offenbarung der Söhne Gottes‘, auf die die nichtmenschliche Schöpfung wartet“? Nach Wolter ist es
dasselbe Geschehen, das er in V. 17e „unser Mitverherrlichtwerden“ und in V. 18b „die kommende Herrlichkeit, die an uns offenbar wird“ genannt hatte. Vorausgesetzt ist dabei, dass die nach V. 14-16 bereits bestehende Gotteskindschaft der Christen in der Gegenwart noch verborgen ist und erst durch das in V.17e.18b erwähnte Geschehen aus ihrer Verborgenheit heraustreten wird.
Später taucht (Anm. 25) in Kolosser 3,1-4 die „gleiche Erwartung“ auf:
Die christlichen Ihr sind bereits „mit Christus auferweckt worden“ (V. 1), doch ist ihr Leben „mit Christus in Gott verborgen“ (V. 3). Erst bei der Parusie {Wiederkunft}, wenn Christus „offenbar wird“ (phanerōthē), werden auch sie „mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit“ (syn autō phanerōthēsesthe)…
In Vers 20 begründet Paulus das in Vers 19 Gesagte, indem er darstellt, worauf die „Schöpfung wartet“, nämlich „darauf, dass mit der Verherrlichung der Söhne Gottes endlich die anthropologischen Folgen des Sündenfalls beseitigt werden“, die Wolter zufolge (Anm. 26) in der „Entfremdung von Gottes doxa {Herrlichkeit} als Folge des Sündenfalls“ bestanden, wozu er auf seine Auslegung von Römer 3,23 verweist. Diese (W510) „Einbeziehung der nichtmenschlichen Schöpfung in die durch den Sündenfall verursachte Lebensminderung“ hat ihre „Ausgangspunkt … aller Wahrscheirılichkeit nach in Gen 3,17-18 (‚verflucht sei der Erdboden um deinetwillen …, Dornen und Disteln wird er dir wachsen lassen‘)“, wo „die Verfluchung des Ackerbodens zur Strafe für die Menschen“ gehört.
Auch „in anderen jüdischen Texten“, z.B. (W511) im Bereshit Rabba, einem talmudischen Midrasch zum 1. Buch Mose, gibt es ähnliche Vorstellungen:
BerR 5,9: „Adam und Eva und die Schlange kamen ins Gericht, und die Erde wurde mit ihnen ins Verderben gerissen, wie es heißt: ‚Verflucht sei der Erdboden‘“; ebd. 12,6: „Obwohl alle Dinge in ihrer Fülle geschaffen worden waren, wurden sie verschlechtert, nachdem der erste Mensch gesündigt hatte, und sie werden auch nicht eher in ihren Zustand zurückkehren, bevor der Sohn des Perez (d.h. der Messias) kommen wird“.
Konkret „charakterisiert Paulus“ in Vers 20a „das Geschick, das der Schöpfung durch den Sündenfall zuteil wurde, als Unterwerfung unter die mataiotēs {Nichtigkeit}“. Zu diesem Stichwort bemerkt Wolter (Anm. 28), dass es
in der griechischen Bibel vor allen Dingen bei Kohelet {Prediger Salomo} belegt [ist], und zwar als Übersetzung von hebr. hevel (Pred 1,2.14; 2,1.11.15.17.19. 21.23.26; 3,19; 4,4.7f.16; 5,6.9; 6,2.4.9.11f; 7,6.15; 8,10.14; 9,2.9; 11,8.10; 12,8). Es ist aber auch in den Psalmen verbreitet; ebenfalls für hebr. hevel: Ps 30/31,7; 38/39,6; 61/62,10; 77/78,33; 143/144,4; für andere hebr. Wörter: rijq (Ps 4,3); schawɘˀ (Ps 25/26,4; 118/119,37; 138/139,20; 143/144,811) und hawah (Ps 37/38,13; 51/52,9); s. auch Spr 22,8dLXX; im Neuen Testament: Röm 8,20; Eph 4,17; 2Petr 2,18.
Aber wer ist derjenige (W511), durch den Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen wurde, hypetagē? Nach Wolter kann das entsprechend 1. Mose 3,17-18 nur Gott sein: „Im Hintergrund steht vermutlich die jüdische Vorstellung, dass die Welt um des Menschen willen erschaffen wurde“ oder auch (Anm. 29) „um Israels willen“ <228>.
Die mataiotēs {Nichtigkeit} der Schöpfung bestünde dann darin, dass sie ihres ursprünglichen Schöpfungsauftrags, nämlich für die Menschen da zu sein, entfremdet wurde, weil Gott sie dazu verurteilt hat, den durch Adams Ungehorsam unter die Herrschaft von Sünde und Tod geratenen Menschen das Leben schwer zu machen.
So gesehen ginge es nicht (Anm. 30), wie Gieniusz <229> meint, um
die Differenz zwischen dem faktischen Zustand der Schöpfung und unserer Erwartung an sie, sondern zwischen der Intention ihrer Erschaffung und dem ihr auferlegten Zwang, genau das Gegenteil tun zu müssen.
Auch mit „dem mataiousthai {der Nichtigkeit verfallen} von Röm 1,21 hat die mataiotēs {Nichtigkeit} der Schöpfung in Röm 8,20a“ Wolter zufolge „nichts zu tun“, denn „dort geht es um das Verhalten von Menschen und hier gerade nicht.“
Ausdrücklich sagt Paulus (W511) in Vers 20b, dass „die Schöpfung im Unterschied zu den Menschen gegen ihren Willen und gezwungenermaßen in diese Situation geraten ist“, und zwar mit den Worten: ouch hekousa alla dia ton hypotaxanta {nicht freiwillig, sondern durch den, der unterworfen hat}. Wolter verweist (Anm. 31) zum „hier maßgeblichen Verständnis von ouch hekousa, alla“ auf 2. Mose 21,12f.:
Den Tod verdient, „wer einen Menschen tot schlägt …; wer das aber ouch hekōn {nicht absichtlich} getan hat, alla {sondern} Gott es in seine Hände gegeben hat“, der kommt davon. Hier wie dort geht es um Schuld und Verantwortung.
Von daher übersetzt Wolter den Ausdruck in Römer 8,20b (W504) mit: „ohne eigene Schuld“.
Die Frage, wer „ho hypotaxas {der unterworfen hat} sein soll“, ist nach Wolter nur „auf den ersten Blick nicht ganz klar“, denn (W512) nach manchen Exegeten spricht
die grammatische Form (dia + Akkusativ nenne den Grund und nicht den Urheber) dafür …, dass Paulus hier an Adam denkt, denn nach Gen 3,17-18 und der von diesem Text ausgehenden Tradition (s.o.) sei es dessen Übertretung von Gottes Gebot gewesen, die zur Verfluchung der Schöpfung geführt hat (vgl. Gen 3,17MT: baˁavurekha [„um deinetwillen“]).
Wolter teilt aber die Mehrheitsmeinung der Ausleger, die „hypotaxas {der unterworfen hat} mit dem passivum divinum hypetagē {dem auf Gott zu beziehenden Passiv „unterworfen wurde“} (V. 20a)“ verbinden, so „dass Paulus auch hier von Gott spricht, der die Schöpfung der mataiotēs {Nichtigkeit} unterworfen hat“. Es kann nämlich „dia + Akkusativ der Person durchaus den Urheber bezeichnen …, und zwar vor allem dann (aber nicht nur), wenn dabei von Gott die Rede ist; es bedeutet in diesem Fall nicht ‚wegen‘ oder ‚um willen‘, sondern ‚durch‘“, wozu Wolter u.a. auf „Joh 6,57: kagō zō dia ton patera (‚und ich lebe durch den Vater‘)“ und auf Sirach 15,11 verweist. Von daher hält er es für
sehr wahrscheinlich, dass Paulus hier nicht von Adam, sondern wiederum von Gott spricht und nun hervorheben will, dass es nicht die Schuld der Schöpfung, sondern alleinige Entscheidung Gottes war, die Schöpfung der mataiotēs zu unterwerfen. Sprachlich und sachlich findet ouch hekousa alla dia ton hypotaxanta {ohne eigene Schuld, sondern durch den, der unterworfen hat} eine nicht nur entfernte Entsprechung darum in der Formulierung ouk ex ergōn all‘ ek tou kalountos {nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Rufenden} (Röm 9,12), mit der Paulus die von menschlichem Handeln gänzlich unabhängige, souveräne prothesis {Vorsatz, Entschluss} Gottes (9,11) umschreibt.
Am Ende von Vers 20 „führt Paulus“ mit eph‘ elpidis {auf Hoffnung hin} „einen neuen Gedanken ein“, der das eben Gesagte voraussetzt, dass Gott „die Schöpfung“, weil sie „im Unterschied zu den Menschen ohne eigene Schuld der mataiotēs {Nichtigkeit} unterworfen wurde, … sie gleichzeitig mit der Hoffnung ausgestattet“ hat, „dass sie aus diesem Zustand auch wieder entlassen wird“, so dass er vom Sinn her auch „apokaradokia {sehnsüchtiges Harren} und apekdechetai {wartet} aus V. 19“ aufnimmt. Damit unterscheidet Paulus Wolter zufolge (W512f.)
die Schöpfung sehr präzise von den Menschen, denn die wurden durch den Sündenfall der Herrschaft von Sünde und Tod unterworfen, ohne dass ihnen dabei Hoffnung auf eine Erlösung von diesem Geschick gemacht wurde. Für die Menschen gibt es Hoffnung vielmehr erst und nur durch den Christus-Glauben und die Gabe des heiligen Geistes (vgl. bereits Röm 5,2-5 sowie dann 8,24).
Die Konjunktion (W513) hoti bzw. dioti <230>am Anfang von Vers 21a kann sowohl eine Begründung einleiten, „warum die Schöpfung Hoffnung hat (kausal: ‚weil‘ oder ‚denn‘), als auch den Inhalt der Hoffnung kennzeichnen (explikativ: ‚dass‘)“. Zwar ist „[b]eides … sprachlich möglich“, aber (Anm. 38) das Wort dioti verwendet Paulus „sonst immer nur begründend (‚weil‘: Röm 1,19.21; 8,7; 1Kor 15,9; Phil 2,26; 1Thess 2,8; 4,6) oder folgernd (‚darum‘: Röm 3,20; 1Thess 2,18).“ Überhaupt ist es Wolter zufolge (W513) „wahrscheinlicher, dass Paulus hier die kausale Außenperspektive einnimmt und dabei bereits Gesagtes voraussetzt“, indem „er die Rettung der Schöpfung mit Hilfe derselben Metaphorik“ deutet, „mit der er zuvor die Heilserfahrung der Christen beschrieben hatte, nämlich als Befreiung von douleia {Sklaverei} (vgl. Röm 6,18.22; 8,2).“ Mit dem „Futur eleutherōthēsetai {wird – durch Gott – befreit werden}“ nimmt er „dasselbe Geschehen in den Blick, von dem bereits in V. 19 die Rede war: die noch ausstehende ‚Offenbarung der Söhne Gottes‘“, vor der „die Befreiung der Schöpfung“ nicht stattfinden kann.
Bezeichnend ist die Art und Weise, wie Wolter den Umstand beurteilt, dass „Paulus das Heilsgeschick der Schöpfung als ‚Befreiung‘ von Versklavung umschreibt“. Er hält ihn für „dadurch veranlasst, dass er in V. 20 ihr Unheilsgeschick als ‚Unterwerfung‘ dargestellt hatte“; ähnlich werden (Anm. 39) in Titus 2,9 Sklaven ermahnt, sich ihren Herrn zu unterwerfen, hypotassesthai. Dieses (W513) „Gegenüber von ‚Versklavung‘ und ‚Freiheit‘“ wird auf „das Gegenüber von ‚Vergehen‘ (phthora) und ‚Herrlichkeit (doxa) der Kinder Gottes‘“ übertragen, „auf das es Paulus eigentlich ankommt“. Dabei nimmt Paulus aber nun, indem er
auf der Seite der ‚Versklavung‘ die mataiotēs {Nichtigkeit} von V. 20 als phthora {Vergänglichkeit} interpretiert, … die Schöpfung unter dem Aspekt ihrer Materialität wahr, die dafür verantwortlich ist, dass es in der Schöpfung nichts gibt, was nicht dem Verfall und dem Vergehen unterworfen wäre. Alles, was in ihr entsteht, vergeht auch wieder.
Für dieses Verständnis von phthora als der normalen Vergänglichkeit, der alles in der Schöpfung unterworfen ist, beruft sich Wolter nur auf Belege beim jüdischen Philosophen Philo <231>, z.B.: „Decal. 58: genesis … phthoras archē (‚Entstehen ist der Anfang des Vergehens‘)“ und „Cher. 51: ‚Entstehen und Vergehen (genesin … kai phthoran) erfahren alle gemachten Dinge von Natur aus (physei)‘.“
Auf die Idee, das Stichwort phthora mit prophetischen Stellen wie Jesaja 24,3 und Micha 2,10 in Verbindung zu bringen, wo es im Sinne einer Zerstörung oder Verwüstung der Erde verwendet wird, die auf menschliche Verantwortung zurückzuführen ist, kommt Wolter vermutlich deswegen nicht, weil es seiner Auffassung nach ja Gott ist, der die Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen hat – allerdings doch als Strafe für Adam, der für die Menschheit steht.
In Wolters Augen (W514) ist dann aber
[ü]berraschend …, wie Paulus die Seite der „Freiheit“ beschreibt: Er stellt dem „Vergehen“ (phthora) der Schöpfung nicht nur nicht das Gegenteil gegenüber wie in 1Kor 15,42 („Unvergänglichkeit“ [aphtharsia]), sondern er verzichtet auch darauf, der von der douleia tēs phthoras {Versklavung des Vergehens} befreiten Schöpfung eine eigenständige Eigenschaft zuzuschreiben. Was die befreite Schöpfung auszeichnet, macht Paulus dadurch kenntlich, dass er vom Heilsgeschick der Kinder Gottes spricht und die befreite Schöpfung in das Licht von deren „Herrlichkeit“ stellt.
Wie in den Versen 17e und 18b bleibt also auch in Vers 21c „‚Herrlichkeit‘ das Merkmal der ‚Kinder Gottes‘ und wird nicht zu einer Eigenschaft der Schöpfung“, vielmehr ist es „die Freiheit von der phthora {Vergänglichkeit}, zu der Gott die Schöpfung befreien wird“, die aber lediglich als „Bestandteil der Verherrlichung, die Gott seinen Kindern verheißen hat“, in den Blick kommt, denn „[i]hnen wird zugesagt, dass sie bei ihrer ‚Offenbarung‘ als Söhne Gottes (V. 19) eine Schöpfung vorfinden werden, die ihrer ‚Herrlichkeit‘ entspricht.“ Damit lässt sich „Paulus hier von einer dezidiert anthropozentrischen Sicht auf die Schöpfung“ leiten:
Nicht nur das Unheilsgeschick, sondern auch das Heilsgeschick wird der Schöpfung um der Menschen willen zugewiesen. Umgekehrt geht aus V. 21c zwar deutlich hervor, dass Paulus sich auch die Verherrlichung der Kinder Gottes nicht ohne Einbettung in die nichtmenschliche Schöpfung vorstellen kann. Sie sind vielmehr bleibend auf die erneuerte Schöpfung angewiesen und können ohne sie nicht existieren. Trotzdem hat die erneuerte Schöpfung keinen Eigenwert, sondern ist einzig und allein für die Herrlichkeit der Kinder Gottes da.
Mit der Wendung oidamen … hoti {wir wissen ja, dass} in Vers 22 leitet Paulus erneut „eine Feststellung ein, von der Paulus annimmt, dass seine Leser ihr zustimmen“ und der „auch jeder Jude zustimmen kann“, indem er „der gesamten nichtmenschlichen Schöpfung hier erneut anthropomorphes Verhalten“ zuschreibt. Da diese „sich des Zustands der ‚Nichtigkeit‘ und des ‚Vergehens‘, in den Gott sie versetzt hat, voll bewusst“ ist, reagiert sie „so, wie jeder Mensch auf Leid und Schmerz reagiert: Sie jammert und klagt.“
Zu den (W515) „beiden Verben stenazein {klagen} und ōdinein {jammern}“ hebt Wolter hervor, dass sie „auch sonst miteinander verbunden“ werden, z.B. in Homers Odyssee. Aber auch in der Bibel werden
Leidenserfahrungen … metaphorisch als Geburtsschmerzen (ōdines) bezeichnet, wobei in erster Linie an die mit der Geburt einhergehenden Schmerzen gedacht ist und nicht notwendig auch an das Happy End: Ex 15,14; Dtn 2,25; 2Sam 22,6; Ps 114,3LXX (ōdines thanatou {Geburtsschmerzen des Todes}); Jes 13,8; 21,3; 26,17.18; Jer 30,16/49,22; Mi 4,9-10; … Apg 2,24…
Nur hier in Römer 8,22 „gibt es in der griechischen Bibel“ die mit der Vorsilbe syn- {zusammen} gebildeten Verben „systenazein und synōdinein im Sinne von ‚mit jmdm. mittrauern‘ oder ‚den Schmerz mit jmdm. Teilen‘.“ Damit sollen „nicht die christlichen Wir“ in das Klagen der Schöpfung mit eingeschlossen werden, „denn die werden erst in V. 23 nachgetragen“, vielmehr soll in Entsprechung zum Alles zusammenfassenden „pasa (hē ktisis) {die ganze Schöpfung} … die Vielfalt der gesamten nichtmenschlichen Schöpfung zu einer Einheit“ zusammengefasst werden:
Dem entspricht, dass der Zeitraum, den Paulus hier ins Auge fasst, bereits mit der Unterwerfung der Schöpfung beginnt und auch in der Gegenwart noch andauert (achri tou nyn). Die Schöpfung hat schon ‚geklagt und vor Schmerzen gejammert‘, als es die klagenden Wir (V. 23) noch gar nicht gab.
Warum Paulus Wolter zufolge „[a]us demselben Grunde … hier nicht von den „messianischen Wehen“ spricht <232>, erschließt sich mir nicht. Interessant ist, dass Wolter hier nun doch auf die Parallelstelle Jesaja 24,1-7 eingeht, allerdings nur, um diesen Hintergrund zu bestreiten <233>, da dafür „die beiden einzigen begrifflichen Überschneidungen nicht nur zu punktuell, sondern auch viel zu weit von Röm 8,19-22 entfernt“ seien. Mir erscheint es allerdings wesentlich naheliegender, dass der Jude Paulus auf eine solche biblische Stelle Bezug nimmt, zumal sie Erfahrungen wiedergibt, die der Situation im römischen Imperium durchaus entsprechen, als wie Wolter eine Formulierung im Dritten Buch der Sibyllinischen Orakel <234> als „dem von Paulus hier Gesagten viel näher“ einzuschätzen:
„Es wird fernerhin nicht tief aufstöhnend erschüttert die Erde (oude bary stenachousa saleusetai ouketi gaia); es herrscht nicht Krieg mehr dann auf Erden noch dürrender Misswuchs“ (Übers. J.-D. Gauger).
Abschließend bemerkt Wolter (W516) zu den vier Versen Römer 8,19-22, dass sie in „den zurückliegenden Jahrzehnten, in denen ein Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass die Menschen gehalten sind, mit ihrer Umwelt rücksichtsvoll und achtsam umzugehen, … eine große Bedeutung für die theologische Begründung einer christlichen Umweltethik erlangt“ haben:
Den paulinischen Ausführungen entnahm man vielfach „den dringlichen Appell an den glaubenden Menschen, eschatologische Verantwortung für die Schöpfung zu übernehmen“. <235> Dass die vier Verse damit exegetisch und theologisch überfordert werden, haben Ch. Hunt, D.G. Horrell und Ch. Southgate mit hinreichender Deutlichkeit gezeigt. <236> Es ist Gott selbst, der die Schöpfung von ihrer Unterwerfung unter die mataiotēs befreien wird. Niemand kann ihn dabei vertreten, denn hierbei handelt es sich um ein esehatisches Geschehen. Natürlich steht außer Frage, dass eine christliche Schöpfungsethik „gegen die zeitgenössische gnadenlose Profit- und Ausbeutermentalität im Umgang mit der Schöpfung“ <237> zu protestieren hat. Das weiß jeder Christenmensch aber auch so, denn sein Umgang mit Natur und Umwelt ist immer von dem Wissen getragen, dass sie Gottes Schöpfung sind, die Gott und nicht ihm, dem Menschen, gehört. Diese Einsicht ergibt sich aber nicht erst aus Röm 8,19-22, sondern das wissen die Christen auch so. Eine spezifisch christliche Umweltethik lässt sich mit Hilfe dieser Verse nicht begründen.
[29. Mai 2025] Für Gerhard Jankowski (J185) zeigt sich in Römer 8,19-22, dass Paulus gerade „mit seiner Hoffnung … die gegenwärtige Welt ernst“ nimmt:
Die Schöpfung ist unterworfen, aber sie ist voll fiebernder Ungeduld. Das Neue kündigt sich im Alten an. Paulus umschreibt das mit ungewöhnlichen Worten, die aufmerken lassen.
Jankowskis Erklärung des Wortes „ktisis, Schöpfung“, erinnert zum Teil an Wolters Erwähnung der rabbinischen Vorstellung, dass die Welt um Israels willen geschaffen wurde:
Die Grundbedeutung im Griechischen ist feste, gute Gründung (einer Stadt). LXX benutzt das Nomen auffallend selten. Das Verb ktizein hat sie häufiger, meistens als Übersetzung der klassichen Wurzel zur Bezeichnung des Schaffens Gottes, bara. Schöpfung, das ist Menschheit auf der Erde unter dem Himmel. Menschheit, geschaffen zum Leben; Erde, geschaffen nicht zum Irrsal und Irrwitz der Zerstörung. Schöpfung ist so immer das Ziel. Was geschaffen ist, das soll noch werden. Spätere werden sagen: Schöpfung, das ist Israel. Denn die Erde ist geschaffen, damit Israel wird. In diesem sehr speziellen Sinn ist hier Schöpfung gemeint. Und nicht in dem modisch-theologischen Sinn von Natur und Tierwelt.
Das Wort apokaradokia, „ungeduldig Fiebern“, das Paulus selbst geprägt hat und das außer an dieser Stelle nur in Philipper 1,20 vorkommt, begreift Jankowski ausgehend von gegenwärtigen Erfahrungen politischer Umbrüche und Verfolgung:
Das Nomen scheint eine Kompositum aus kara, Kopf; und dektein, ausstrecken nach etwas, zu sein. Was gemeint sein könnte, erschließt sich aus heutigen vergleichbaren Situationen. Man muß es erlebt haben, dieses gespannte Warten von Exulanten auf Nachrichten über Veränderung in ihren Heimatländern. Was muß noch geschehen? Wie weit ist es mit der politischen Opposition? Wie können wir von hier aus den revolutionären Prozeß in Gang setzen oder beschleunigen? Ungeduld paart sich mit Leidenschaft, das Warten wird unerträglich, manchmal führt es in Depressionen. Aber die Hoffnungen werden aktiv gelebt.
Vom seltenen Verb (J186) apodechesthai sagt Jankowski, dass es „nur Paulus an insgesamt sechs Stellen“ hat, „fast immer im Zusammenhang mit Aussagen zu messianischen Erwartungen“, wobei er allerdings die beiden Stellen Hebräer 9,28 und 1. Petrus 3,20 außer Acht lässt:
Erwarten, wie wir übersetzen, ist für das, was das Verb meint, immer noch zu schwach. Eine adäquate Übersetzung ist kaum möglich. In unserem Kontext unterstreicht es das ungeduldige Fiebern. Auffallend ist bei beiden Worten die Präposition apo, weg. In dieser Vorsilbe weg klingt die ganze Ungeduld und Spannung, um die es hier geht, geradezu herausfordernd mit: Weg mit den nicht auszuhaltenden Verhältnissen!
Die Bedeutung des Wortes mataiotēs, das in den messianischen Schriften „nur noch in Eph 4,17 und 2. Petr 2,18 zu finden“ ist, erläutert Jankowski von seinem relativ häufigen Vorkommen in der Septuaginta her, die „einen wichtigen Hinweis auf den Inhalt“ liefert:
LXX übersetzt mit dem Wort die hebräische Wurzel hvl, die als Nomen hevel eins der Hauptstichworte im Buch Koheleth {Versammler, Prediger Salomo} ist. Für Koheleth ist diese Welt nichts als Nichtigkeit und Dunst, für ihn Zeichen von Widergöttlichkeit und folglich auch Widermenschlichkeit. Das Wort umschreibt nicht nur die Sinnlosigkeit unmenschlichen Tuns. Dunst und Nichtigkeit, das ist auch, nicht den Durchblick haben.
Auch das insgesamt häufiger vorkommende „Wort hypotassein“ zählt Jankowski zu „dieser Reihe ungewöhnlicher Worte“, das bei Paulus später noch einmal in Römer 13,1ff. vorkommen wird, dort „freilich mit einer eindeutig politischen Konotation“, die „auch in Röm 8 mitzubedenken“ ist:
Die lateinischen Übersetzungen haben hier das Verb subicere, was am eindeutigsten mit unterwerfen zu übersetzen ist. Da ist dann die politische Konnotation eindeutig. In der Aeneis des Vergil ist gleichsam als römische Staatsideologie formuliert, was die Aufgabe Roms vorrangig zu sein hat, nämlich die Unterworfenen zu schonen (parcere subiectis) und die Überheblichen völlig zu überwinden (debellare superbos). Können wir davon ausgehen, daß auch Paulus bei hypotassein, unterwerfen, an die Unterwerfung unter die römische Herrschaft denkt?
Anders als Wolter sieht Jankowski unseren Abschnitt „in großer Nähe zu sogenannten apokalyptischen Texten“, was auch „die Wortwahl des Paulus“ beeinflusst haben mag:
Denn apokalyptische Texte sind nie neutrale Texte. Sie deuten die Wirklichkeit kritisch, auch und gerade die politische Wirklichkeit. Meistens negieren sie die politische Herrschaft, vor allem dann, wenn die sich verabsolutiert und religiös begründet. Genau dieses Geschehen wollen sie enthüllen und so deuten. Wenn Paulus in einem Schreiben an Menschen in der Hauptstadt des Imperiums apokalyptisch argumentiert, bedenkt er mit Sicherheit auch den politischen Kontext mit.
Von daher gelangt Jankowski auch zu völlig anderen Einschätzungen dessen, was Paulus mit douleia tēs phthoras {Sklaverei der Verwüstung} bezeichnet, als Wolter, der diesen Ausdruck lediglich auf die Versklavung unter die natürliche Vergänglichkeit der Schöpfung beziehen will:
Die Menschheit ist bestimmt zum Leben auf der Erde vor Gott. So ist sie Schöpfung. Sie ist aber unterworfen, versklavt. Die Welt ist ein einziges „Ägypten“. Nur daß Ägypten jetzt Rom heißt und nicht nur ein einziges Volk unterworfen ist, sondern eben die gute Schöpfung, die Menschheit. Das ist nicht auf freiwilliger Basis geschehen, denn wer begibt sich schon freiwillig in die Unterdrückung? Was geschieht, ist unmenschlich und widergöttlich. Niemand blickt mehr durch. Die Herrschenden verstehen es, einen Schleier über das ganze Geschehen zu legen. Diese Welt ist ein Dunst, preisgegeben der Nichtigkeit.
Hier wird nun klar, dass sich am Verständnis des Wortes hypotassein die gesamte Auslegung von Römer 8,19-22 entscheidet. Für Wolter ist, wie wir gesehen haben, Gott derjenige, der die nichtmenschliche Schöpfung der Vergänglichkeit unterwirft, indem er sie, obwohl sie unschuldig ist, mit Adam für seine Sünde mitbestraft. Und darum, weil sie im Gegensatz zu den Menschen ohne Schuld ist, konnte ihm zufolge auch nur sie und nicht die Menschenwelt mit Hoffnung ausgestattet sein, bevor es den Christus-Glauben gab. Für Jankowski dagegen ist ktisis die gesamte Menschenwelt, die von widergöttlichen Mächten ouch hēkousa {nicht freiwillig} – also vielleicht nicht ohne eigene Schuld, aber doch gegen ihren Willen – unterworfen, unterdrückt und der Nichtigkeit und Verwüstung preisgegeben wird. Damit wäre vorausgesetzt, dass Paulus unausgesprochen eine Unterscheidung innerhalb der Menschheit vollzieht, nämlich zwischen denjenigen, die andere Menschen unterwerfen, unterdrücken und ausbeuten, und der großen Mehrheit dieser schuldlos Unterdrückten. Dafür spricht, dass schon im 1. Buch Mose die Frau für ihre Gebotsübertretung dem Mann als ihren Herrn unterworfen wird (3,16), und in den folgenden Kapiteln besteht die tödliche Entwicklung der Menschheit jedenfalls nicht einfach in ihrer natürlichen Vergänglichkeit und Sterblichkeit, sondern in der katastrophalen Anhäufung von Gewalt und Unterdrückung von Kain (4,8) über Lamech (4,23) bis hin zu Nimrod, dem ersten Gewaltherrscher auf Erden (10,8). Meines Erachtens kann Paulus aber auch an beides denken, sowohl an die durch Gottes Strafe verfluchte nichtmenschliche Schöpfung als auch an eine gegen ihren Willen in eine weltweite Sklaverei von Ausbeutung und Gewalt verstrickte Menschheit.
Ob Paulus mit dem hypotaxas {der unterworfen hat}, möglicherweise auch wie in Römer 16,20 auf die Gestalt des satanas {Widersacher} als dem Gegenspieler Gottes anspielt, in dem sich das zerstörerische Handeln aller widergöttlichen Mächte auf Erden konzentriert, muss offen bleiben. Wie geläufig ihm die Rede vom satanas ist, zeigt sich außerdem noch in 1. Korinther 5,5; 7,5; 2. Korinther 11,14; 12,7; 1. Thessalonicher 2,18. An keiner Stelle bezeichnet er jedoch den Widersacher Gottes wie später z.B. Johannes mit dem Wort diabolos. <238>
Vertraut ist dem Juden Paulus und seinen jüdischen Zeitgenossen nach Jankowski (J187) auch die Vorstellung, ihre Erfahrung der Welt als ein einziges ägyptisches Sklavenhaus „auf Hebräisch ˁolam ha-se, diese Welt und Zeit“ zu nennen, innerhalb derer sie voller Sehnsucht „auf die Zeit und die Welt“ warten,
die kommen sollte und mußte, den ˁolam ha-ba. Mit der Hoffnung auf den
ˁolam ha-ba in dem ˁolam ha-se lebend, blickten sie wachen Auges genau hin, sahen, was sich abspielte und was menschlichem Leben hinderlich war. Und sie benannten es.Somit waren Menschen da, die wußten, daß diese Welt nicht für Unterdrückung bestimmt war. Mit ihren Hoffnungen hatten sie andere angesteckt. Ein ungeduldiges Fiebern auf Veränderung hatte die Schöpfung ergriffen. Die Zeit schien genaht, daß die großen Veränderungen sich einstellen mußten. Wenigstens ein paar Menschen mit ihren Hoffnungen mußten sich zeigen und sich einmischen in die Geschichte und in sie eine Bresche schlagen. Die Schöpfung erwartete das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Sie wartete nicht auf Göttersöhne, auf Heroen. Die gab es genug. Sie wartete aber auf Söhne Gottes, die von Befreiung nicht nur redeten, sondern sie auch lebten, die verantwortungsvoll und mündig an das Werk der Veränderung gingen. Sie wartete voller Ungeduld.
Dass Wolter jeden Gedanken so rigoros ablehnt, Paulus könne in Römer 8,19-22 apokalyptisch gedacht haben, mag daran liegen, dass er Paulus nicht unterstellen möchte, ein militant-zelotischer Widerstandskämpfer gegen Rom zu sein. Aber davon geht auch Jankowski nicht aus, indem er die jüdischen Gruppierungen differenziert betrachtet, die eine radikale Veränderung der Zustände erhoffen:
Paulus war nicht der einzige, der mit großer Ungeduld auf eine neue Menschheit und eine neue Erde wartete und die große Umwälzung fiebernd herbeisehnte. Es gab nicht wenige, die die Umwälzung herbeizwingen und als ersten Schritt die Unterdrückung durch die imperiale Macht beenden wollten. Auch sie sahen sich als Söhne Gottes und waren es sicher auch, die Männer aus Galiläa und in Judäa, die begonnen hatten, sich zu organisieren. Auch wenn Paulus nicht mit ihrer Strategie einig ging und sich deswegen auch von ihnen getrennt hatte, einig war er mit ihnen in der Einschätzung der Lage. Die Menschheit mußte befreit werden aus der Sklaverei des Verderbens und der Verwüstung. Wie sollte sie sonst leben können, autonom, mündig, in Gerechtigkeit? Was aber die einen nur für den jüdischen Teil der Menschheit wollten, das wollte Paulus für die ganze Menschheit, auch für die nichtjüdische.
Paulus muss die Spannung aushalten, dass es soweit noch nicht ist, aber trotzdem „die Zeit drängte“ und die „Verhältnisse … kaum mehr zum Aushalten“ waren. In diesem Zusammenhang ist nach Jankowski (J187f.) die Metapher der „Wehen“ auf die bevorstehende messianische Zukunft zu beziehen:
Es war, als hätten die Menschen Wehen. Paulus verwendet hier sehr gezielt diesen Ausdruck, der im Nachdenken über das Kommen des Messias und den Anbruch des ˁolam ha-ba eine große Rolle spielte. Die Bedrückung und das Leid, so hieß es, nehmen, bevor die zukünftige Welt kommt, unerträglich zu. Es ist wie bei den Wehen einer Gebärenden. Die Schmerzen vor der Geburt steigern sich. Und dann die Geburt des neuen Lebens. Die Wehe des Messias, so nannten die Lehrer Israels diese Epoche. Paulus sieht die Anzeichen der Wehen, spürt sie bei sich selbst und den anderen. Die neue Epoche mit der Geburt neuen Lebens kündigt sich an.
Noch aber ist ˁolam ha-se {diese Weltzeit}. Noch haben erst die Wehen eingesetzt. Noch sind alle, die vom neuen Leben inspiriert sind, in den alten Verhältnissen eingebunden. Noch wird das Gestöhn der unterdrückten Menschheit laut. Und noch bleibt das Warten auf die endgültige Auslösung.
↑ Römer 8,23-25: Mit der Erstlingsgabe der Inspiration – befreit auf Hoffnung hin – erwarten auch wir stöhnend im Dranbleiben die Auslösung unseres Leibes
8,23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst,
die wir den Geist als Erstlingsgabe haben,
seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft,
der Erlösung unseres Leibes.
8,24 Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.
Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung;
denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?
8,25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen,
so warten wir darauf in Geduld.
[30. Mai 2025] Nach Michael Wolter (W516) übernimmt Paulus in Römer 8,23-25 von „den Aussagen über die Schöpfung … die Stichworte ‚warten‘ (apekdechesthai; V. 19), ‚Hoffnung‘ (elpis; V. 20b) und ‚klagen‘ (stenazein; V. 22b) in seine Darstellung der christlichen Situation (V. 23b.24a.25a.b)“, um nun „die christliche Existenz unter den Bedingungen der pathēmata tou nyn kairou {Leiden der Gegenwart} (V. 18b)“ zu beschreiben.
In Vers 23 hatten offenbar schon die antiken Abschreiber des Römerbriefs erhebliche Schwierigkeiten mit der Art und Weise, wie sich Paulus auf diejenigen bezieht, die jetzt außer der zuvor genannten ktisis {Schöpfung} ebenfalls (und zwar in der Wir-Form) en heautois stenazomen {innerlich klagen}, denn Wolter (W504, Anm. 3) kann insgesamt 8 verschiedene Varianten für bestimmte Teile des Satzes auflisten. Unstreitig ist unter den Kopisten (W516/504)
- die „elliptische Überleitung ou monon de, alla kai {nicht nur aber, sondern auch}“, wobei zu ou monon de {nicht nur aber} … aus V. 22 pasa hē ktisis {die ganze Schöpfung} ergänzt werden“ muss,
- dass es in der alla kai-{sondern auch-}Seite des Satzes um Menschen geht, die tēn aparchēn tou pneumatos echontes {die Anfangsgabe des Geistes haben},
- von denen es in der 1. Person Plural heißt, dass sie en heautois stenazomen hyiothesias apekdechomenoi, tēn apolytrōsin tou sōmatos hēmon {wir klagen innerlich, weil wir auf die Sohnschaft warten, die Erlösung unseres Leibes}.
Sehr unterschiedlich gehen die Abschreiber mit den Anteilen des Satzes um, die vor und nach dem unter 2 genannten Ausdruck stehen, also davor nach ou monon de {nicht nur aber} und danach vor en heautois stenazomen {wir klagen innerlich}. Die von Wolter für ursprünglich gehaltene Variante lautet (W505, Anm. 3): „alla kai autoi … hēmeis kai autoi {sondern auch sie … auch wir selbst}“, während alle anderen Varianten „als Erleichterung“ des Umstands angesehen werden können, dass Paulus innerhalb des Satzes von der 3. Person Plural in die 1. Person Plural wechselt, indem z.B. das hēmeis {wir} mit „alla kai hēmeis autoi {sondern auch wir selbst“ nach vorne gezogen oder das autoi {sie} im vorderen Teil einfach weggelassen wird.
Inhaltlich will Paulus Wolter zufolge (W516) also „über die zuvor formulierte Feststellung hinausgehen und sie in einen anderen Zusammenhang hinein fortschreiben“, indem er „zunächst mit der 3. Person … (autoi {sie}) … der Schöpfung solche Menschen an die Seite [stellt], ‚die die Anfangsgabe des Geistes haben‘.“ Da (Anm. 53) das „Personalpronomen autoi … hier zum Partizip echontes {sie, die haben}“ gehört und zum Zweck der Hervorhebung „für den Artikel hoi {die} oder die Demonstrativa houtoi {diese} und ekeinoi {jene}“ steht, darf die „1. Person Plural hēmeis {wir} aus V. 23b … darum weder in der Übersetzung noch bei der Interpretation eingetragen werden“, wie es z.B. die oben zitierte Lutherübersetzung tut, „denn Paulus verwendet die 3. Person mit Bedacht“.
Dadurch (W516f.), dass diese autoi {sie} „alle den Geist ‚haben‘“, werden sie von Paulus „sofort als Christen“ identifiziert (W317):
Die aparchē {Anfangsgabe}, die den autoi {sie} gegeben wurde, ist der Geist. In semantischer {bedeutungsmäßiger} Hinsicht qualifiziert aber das nomen regens {herrschende Nomen} aparchē das nomen rectum {beherrschtes Nomen} tou pneumatos {des Geistes}. Die Aussage gewinnt ihr theologisches Proprium {Eigentümlichkeit} dadurch, dass Paulus den Geist, der zu Kindern Gottes macht, als aparchē charakterisiert.
Die Metapher aparchē {Anfangs- oder Erstlingsgabe} stammt aus dem
Bildfeld … der Übergabe des ersten Ertrags einer Ernte … an Gott …; vgl. z.B. Ex 23,19: „Die aparchē der erstgeernteten Früchte deines Landes sollst du in das Haus des Herrn … bringen“; Num 15,20-21: „Als aparchē eures Teigs sollt ihr ein Brot als Entnahme entnehmen …; so sollt ihr es entnehmen als aparchē eures Teigs und es dem Herrn als Entnahme geben“; Dtn 18,4: „Die aparchē deines Getreides, deines Mostes und deines Öles und die aparchē von der Schur deiner Schafe sollst du ihm geben“.
Mit „dieser Metaphorik“ ist „die Vorstellung“ verbunden, dass mit ihrer „Ablieferung … das Einbringen der gesamten Ernte bereits begonnen hat“. Mit diesem kultischen Begriff (W518) macht Paulus „deutlich, dass die Wirklichkeit des Geistes bereits Bestandteil der eschatischen {endzeitlichen} Vollendung ist.“
In Vers 23b findet dann der schon erwähnte Wechsel „von der 3. Person in die 1. Person“ statt, indem „Paulus nach hēmeis mit kai autoi weitermacht {auch wir selbst}“ und hervorhebt,
dass die christlichen Wir genauso „klagen“ wie die nichtmenschliche Schöpfung. Diese Gemeinsamkeit geht sogar so weit, dass beide aus demselben Grund „klagen“ und dass beider „Klagen“ ein und denselben Inhalt hat und beide auf dasselbe „warten“: auf die „Offenbarung der Söhne Gottes“ (V. 19) bzw. auf die hyiothesia {Sohnschaft} (V. 23b). Hierbei handelt es sich um ein und dasselbe Geschehen; von ihm hatte Paulus schon in V. 17 („mitverherrlicht werden“) und in V. 18 („die kommende Herrlichkeit, die an uns offenbar wird“) gesprochen.
Nicht überzeugend ist für mich, wie Wolter meint (W519), dass den Christen die Möglichkeit des Klagens „erst durch den ‚Geist der Sohnschaft‘ (Röm 8,16) eröffnet“ sein soll, also dass
„Klagen“ und „Warten“ … darum als Modus der Anwesenheit von Gottes Heil bei den Christenmenschen gelten [können]. In dieser Hinsicht werden sie durch die Gabe des Geistes nicht etwa von der Schöpfung getrennt, sondern mit ihr eng verbunden. Alle anderen Menschen, die nicht den Geist „haben“ (V. 23a), bleiben aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Sie können weder „klagen“ noch „warten“.
Ist es nicht eher so, wie z.B. Käsemann <239> meint, dass die Christen „seufzen …, obgleich sie ihn {den Geist} haben, und die Wiederholung des ‚auch wir selbst‘ dient diesem Skopus {zentrale Aussage}“? Käsemanns Auffassung jedoch, dass die „Partizipialwendung am Anfang“, nämlich tēn aparchēn tou pneumatos echontes {die die Anfangsgabe des Geistes haben} „konzessiven, nicht kausalen Sinn“ hat und „die thematisch in 18 herausgestellte Paradoxie des Christenstandes“ bekundet, weist Wolter (W517, Anm. 54) mit der Begründung zurück, dass diese Interpretation „das hēmeis {wir} aus V. 23b unter der Hand schon in V. 23a“ mitliest. Das muss in meinen Augen aber nicht der Fall sein. Auch wenn Paulus (W504) am Anfang diejenigen in der 2. Person nennt, „die die Anfangsgabe des Geistes haben“, und sich dann in der 3. Person mit „auch wir selbst“ auf diese bezieht und von ihnen sagt, dass sie „klagen“, muss er doch nicht meinen, dass sie nur wegen der Geistesgabe klagen können, sondern kann ebenso sagen wollen, dass sie dies trotz der Geistesgabe tun.
Bleibt noch der Schluss des Satzes, Vers 23c, zu klären, tēn apolytrōsin tou sōmatos hēmōn {die Erlösung unseres Leibes}, der „den Gegenstand der Erwartung“ konkretisiert, „von der das ‚Klagen‘ von Schöpfung und Christen bestimmt ist“. Nach Wolter verwendet Paulus das Wort apolytrōsis {Erlösung}
hier genauso wie in Röm 3,24, um Heil als Befreiung von Unheil zu umschreiben, d.h. ohne spezifischen Bezug auf den Freikauf von Kriegsgefangenen, Sklaven und Schuldnern oder auf die Herausführung Israels aus Ägypten. Er erwartet auch nicht im Sinne hellenistischer Anthropologie die Befreiung (der Seele o.ä.) vom Leib, sondern die Befreiung des Leibes. Gemeint ist damit im eigentlichen Sinne des Wortes die körperliche Existenz der Christen mit ihrer Schwäche und Hinfälligkeit.
Erneut spitzt Wolter also die Aussageabsicht des Paulus daraufhin zu, dass er (doch ähnlich wie Philo in den Bahnen griechischer Philosophie) den Menschen in seiner natürlichen Unvollkommenheit und Sterblichkeit im Blick hat und nicht (wie die jüdische Prophetie, Apokalyptik und messianische Strömungen) die Menschen im Volk Israel und anderen Völkern in ihrer Situation der Unterdrückung in einem weltweiten neuen ägyptischen Sklavenhaus. Es sind also nach Wolter einfach die alltäglich erfahrenen Probleme ihrer körperlichen Befindlichkeit, durch die sie, „die die ‚Anfangsgabe des Geistes haben‘, jeden Tag daran erinnert werden, „dass zu der ‚Erlösung‘, von der in Röm 3,24 die Rede war, auch noch die ‚Erlösung‘ des Leibes hinzukommen muss.“ Diese Erlösung muss Wolter zufolge nicht einfach nur in der „Auferstehung der Christen von den Toten“ bestehen, was die meisten Exegeten annehmen, sondern sie kann auch „als Erwartung eines eschatischen Verwandlungsgeschehens von der Art … wie … in 1Kor 15,52f und Phil 3,21“ verstanden werden:
Die „Erlösung des Leibes“ besteht darin, dass der „verwesliche“ und „sterbliche“ Leib in einen „unverweslichen“ und „unsterblichen“ Leib verwandelt wird (1Kor 15,53). Das bedeutet nichts anderes, als dass Jesus bei der Parusie „unseren Leib der Niedrigkeit verwandeln wird, gleichgestaltet mit dem Leib seiner Herrlichkeit“ (Phil 3,21). In diesem Geschehen kann die Auferstehung von den Toten eingeschlossen sein, sie muss es aber nicht.
Indem Paulus in Vers 24a auf „die Hoffnung“ zu sprechen kommt, macht er „ein weiteres Element geltend, das Schöpfung und Christen miteinander verbindet“, wobei er wieder denselben Unterschied zwischen beiden voraussetzt (W519f.)
wie beim ‚Klagen‘ und beim ‚Warten‘: Während die Schöpfung schon immer – gewissermaßen seit Gen 3,17 – Hoffnung hatte (V. 20b) und wusste, dass Gott ihren Unheilszustand auch wieder in Heil verwandeln wird, haben Christenmenschen diese Hoffnung erst gewonnen, als sie Christenmenschen wurden.
Mit dem Dativ tē elpidi {zur Hoffnung} drückt Paulus aus, „dass die Hoffnung die Art und Weise ist, in der das Heil der Zukunft, auf das Christen wie Schöpfung noch warten …, bereits in der Gegenwart präsent ist“, und mit dem Aorist esōthēmen {wurden wir gerettet} bezieht er
sich auf die Heilserfahrung der Christen durch den Gewinn des Glaubens, der das Christusgeschehen als Heilsgeschehen deutet (Röm 3,24-25), und die Taufe, die sie in eine Ergehensgemeinschaft mit Jesus Christus gestellt hat (6,5.8). Dass Christen Hoffnung haben, unterscheidet ihre gegenwärtige Situation von der Zeit vor ihrer Bekehrung. Ihre ‚Rettung‘ besteht darin, dass ihnen Hoffnung geschenkt wurde. Wir haben hier darum ein typisches Beispiel jener retrospektiven Eschatologie vor uns, wie sie für Paulus insgesamt charakteristisch ist.
In Vers 24b-c schiebt Paulus „einen kleinen Exkurs zum Thema ‚Hoffnung‘ … ein“, in dem er auf „den Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft“ eingeht und „ihn als Unterschied zwischen ‚hoffen‘ und ‚sehen‘“ erläutert. Diese „Antithese von elpis/elpizein {Hoffnung/hoffen} und blepein {sehen}“ gibt es „in der antiken griechischen Literatur nur noch in Hebr 11,1“, und im Blick auf den Glauben hatte Paulus in „2Kor 5,7 … genau dasselbe gesagt wie in Röm 8,24b-25a; an der Stelle von elpis {Hoffnung} steht dort lediglich pistis {Glauben}: „Denn dia pisteōs {durch Glauben} wandeln wir, nicht dia eidous {durch Schauen}“.
Wolter sieht aber in Römer 8,24b-25a einen Unterschied zu Hebräer 11,1, denn Paulus verwendet
„sehen“ hier mit einer Bedeutung …, die ihren Ursprung im Alten Testament hat, wo hebr. raˀah vielfach im Sinne von ‚erfahren‘ oder ‚erleben‘ verstanden ist; vgl. z.B. Jer 5,12: „Schwert und Hunger sehen“; Ps 34/33,13: „Gutes sehen“ (LXX: „gute Tage sehen“) sowie Ps 4,7; 27,13; 89,49; 98,3; Jer 20,18; Ez 39,21… Im Neuen Testament ist dieses Verständnis von „sehen“ z.B. in Lk 2,26 („den Tod sehen“); 9,27; 17,22 („einen der Tage des Menschensohnes sehen“); Joh 3,3; Apg 2,31; 13,36f; 1Petr 3,10 (zit. Ps 34,13) belegt.
Anders (W521) als in Vers 24a verwendet Paulus das Wort elpis in Vers 24b „nicht mehr … für das menschliche Hoffen, sondern“ für „das ‚Erhoffte‘“, die elpis blepomenē {Hoffnung, die gesehen wird} ist also „Wirklichkeit geworden … oder … in Erfüllung gegangen“. Insofern ist Vers 24c: ho gar blepei tis elpizei? {denn was man sieht, wer hofft (noch darauf)} „eine rhetorische Frage“, da in den Augen des Paulus „jeder weiß, dass die Erfüllung der Hoffnung … immer auch das Ende der Hoffnung bedeutet“.
Das heißt: Während Hoffnung in Vers 24a im „Modus der Gegenwart des Heils“ verstanden wird, liegt in den Versen 24b-25a der Akzent auf dem „‚Noch nicht‘ der Heilserfahrung“, was der in Vers 23 „beschriebene[n] Differenz zwischen dem Besitz des Geistes … (V. 23a), und der noch ausstehenden ‚Erlösung unseres Leibes‘ (V. 23c)“ entspricht.
In Vers 25 überträgt Paulus das in „dem kurzen Exkurs über die Eigenart der Hoffnung … Gesagte auf die christliche Existenz“. Mit ho ou blepomen {was wir nicht sehen} meint Paulus
ein Geschehen, das Paulus in V. 17 „mitverherrlicht werden“ genannt hat, in V. 18 „offenbar werden der Herrlichkeit an uns“, in V. 19 „Offenbarung der Söhne Gottes“ und in V. 23 „Erlösung unseres Leibes“. Weil dieses Geschehen noch aussteht – das merken die Christen jeden Tag –, haben sie dieses Heil ‚nur‘ (so muss man jetzt formulieren) als Hoffnung, die ihrer Erfüllung gewiss ist … Ihre Existenz ist also genauso wie diejenige der nichtmenschlichen Schöpfung durch „Warten“ gekennzeichnet …
Indem „Paulus diesem ‚Warten‘ … die Eigenart der hypomonē {Standhaftigkeit} zuschreibt“, greift er (W522)
auf dieselbe frühjüdische und frühchristliche Deutung von Leidenserfahrungen zurück, die er in Röm 5,3-4 zur Grundlage des dortigen Kettenschlusses gemacht hatte. In diesem Zusammenhang steht hypomonē für diejenige Reaktion auf das Leiden, die die Frommen kennzeichnet: dass sie auch in der Anfechtung des Leidens ihre Gottesfurcht und ihren Glauben nicht preisgeben, sondern standhaft bewahren.
[31. Mai 2025] Gerhard Jankowski setzt für Römer 8,23 ein Verständnis voraus, das wir oben bei Käsemann gefunden und gegen Wolter als angemessen empfunden haben, dass nämlich nach Paulus nicht etwa erst der Geist die auf Jesus Vertrauenden zur Klage befähigt, sondern dass sie trotz der Gabe des Geistes gemeinsam mit der übrigen Menschheit klagen und stöhnen (J187):
Das ist allen ins Stammbuch geschrieben, die meinen, in der geistgeeinten und geistbewegten messianischen Gemeinschaft aus Juden und Nichtjuden sei die Befreiung schon vollzogen. Der Geist der Freiheit, der in dieser Gemeinschaft wehen kann, läßt sie nicht erhaben sein über die Realität des Lebens im Imperium. Die Verhältnisse zwischen Juden und Nichtjuden in der Gemeinschaft sind in der Tat völlig verändert worden. Aber die Verhältnisse in der Welt, in der die messianischen Gemeinden auch leben, die warten noch auf die Veränderung. In diesen Verhältnissen hatten sich die Gemeinden zu bewähren. Und das heißt dann auch, sich einmischen und in die imperiale, von der Sünde beherrschten Welt eine Öffnung schlagen. Rückzug oder Ausstieg aus dieser Welt jedoch ist nicht möglich. Der Geist entbindet niemanden aus den Bindungen dieser Welt. Er führt in sie hinein, um in ihnen die unerledigten messianischen Hoffnungen zu leben. Und so strecken die in der messianischen Gemeinschaft den anderen die Hand entgegen, interessieren sich für sie, kurz, sie sind solidarisch mit allen, die nach Befreiung stöhnen und schreien. Damit Befreiung wird.
Dass Paulus ein Lehrstück über die Hoffnung schreibt (J189), hat nach Jankowski damit zu tun, dass es unter denen, „die nach Befreiung stöhnen“, auch die „Ungeduldigen“ gibt, die
vergessen haben, daß die Befreiung durch den Messias noch eine Vision ist. Mit allen Realisten wollen sie schon jetzt und hier das haben, was noch aussteht, erst recht, wenn sie in Verhältnissen leben, die kaum noch auszuhalten sind. Damit sie nicht vor den unabänderlich scheinenden Bedingungen kapitulieren, lehrt Paulus sie das Hoffen.
Mit seiner Lehre zum Hoffen lehnt Paulus sich an die biblischen Schriften an:
Hoffnung nimmt etwas vorweg, was erst noch sein wird. Hoffnung streckt sich danach aus. Sie verschafft einen fast unerschütterlichen Halt von dem Kommenden her für die Gegenwart. So ist in der Schrift das, was wir Hoffen nennen, zumeist eine feste Zuversicht, ein Sichfestmachen an dem, was zugesagt ist. Die Hoffenden wissen sich gesichert und geborgen. Solches Hoffen hat eine Nähe zum Vertrauen. lsrael soll lernen, dem befreienden Gott zu vertrauen und hoffend sich an ihm bergen. Von denen, die das tun, singen die Psalmen. Ebenso singen sie von denen, die die Befreiung schon jetzt wirklich werden lassen. Das ist die Aufgabe der Hoffenden.
Dazu zitiert Jankowski aus dem „Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch <240> folgende Sätze, in denen dieser in „fast adäquater Deutung dieses Geschehens … über das Hoffen“ sagt (J189f.):
„Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt, statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen fühlt, in undurchschautes, gar jämmerlich anerkanntes. Die Arbeit gegen die Lebensangst und die Umtriebe der Furcht ist gegen ihre Urheber, ihre großenteils sehr aufzeigbaren, und sie sticht in der Welt selber, was der Welt hilft; es ist findbar. Wie reich wurde allezeit davon geträumt, von besserem Leben geträumt, das möglich wäre. Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, läßt mit dem schlecht Vorhandenen sich nicht abfinden, läßt eben nicht entsagen. Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar.“
Von Bloch lernt Jankowski zu verstehen, was Paulus mit einer Hoffnung meint, die darin besteht, dass wir das, was wir nicht sehen, in einer Art und Weise erwarten, die er hypomonē nennt, was Luther hier mit „Geduld“ und Wolter (W505) mit „Standhaftigkeit“ übersetzt (J190):
Zu lernen ist also, den Blick auf das zu lenken, was am Tage ist. Die Hoffenden spekulieren eben nicht mit dem, was einmal sein wird, und malen es schon jetzt in rosigen Farben aus. Das ist vielfach versucht worden. Zu wissen, wie die Befreiung zu zimmern ist, und davon zu träumen, hat mit dem Hoffen wenig zu tun. Nüchtern wägende Urteile über das, was jetzt zu tun ist, sind eher gefragt.
Paulus nennt das durch Dranbleiben erwarten, di‘ hypomonēs apekdechesthai. Und dranbleiben, so haben wir weiter oben gesehen, ist Widerstandskraft, die die Fähigkeit zu leben nicht aufhören läßt. Es ist auch Kampf gegen die Bedrückung, nie aber ein stummes Sichabfinden oder Sichergeben in ein Schicksal, das sich nicht abwenden läßt.
↑ Römer 8,26-27: Die Inspiration trägt an unserer Schwachheit mit und tritt im Beten wortlos stöhnend für uns, für Heilige, ein
8,26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf.
Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich‘s gebührt,
sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.
8,27 Der aber die Herzen erforscht,
der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist;
denn er tritt für die Heiligen ein, wie Gott es will.
[1. Juni 2025] Dass in Römer 8,26 (W522) „nach der elpis {Hoffnung} erst die hypomonē {Standhaftigkeit} und dann das Gebet“ kommt, wird Paulus in Römer 12,12 knapp auf den Punkt bringen. Auch „der Geist“ arbeitet nun „auf das in V. 18 leitmotivisch angesprochene Ziel hin“, nämlich
dass „die kommende Herrlichkeit an uns offenbar wird“. Wenn Paulus diese Tätigkeit des Geistes als synantilambanesthai tē astheneia hēmōn {unterstützen in unserer Schwäche} bezeichnet, so will er damit nicht sagen, dass der Geist „unsere Schwäche“ aus der Welt schafft. Der Geist tut vielmehr etwas, wozu wir aufgrund unserer Schwäche nicht in der Lage sind.
Anders als „in Ex 18,22; Ps 88,22LXX; Lk 10,40“ wird hier „mit dem Dativ tē astheneia {in unserer Schwäche}“ nicht eine Person bezeichnet, „die bei der Verrichtung einer Tätigkeit Hilfe empfängt“, sondern das, wozu die Hilfe notwendig ist. Das Wort synantilambanesthai {unterstützen} (W522f.) kann „entweder intransitiv stehen … oder wie das einfache Kompositum antilambanesthai mit dem Genitiv hēmōn verbunden sein“ {er unterstützt in unserer Schwäche / er unterstützt uns in unserer Schwäche}.
In Vers 26b benennt Paulus (W523) „die Unfähigkeit, richtig zu beten“ als „eine ganz bestimmte Folge ‚unserer‘ kreatürlichen Schwäche … und … damit gleichzeitig den Ort, an dem der Geist unterstützend tätig wird“. Die Formulierung des indirekten Fragesatzes: to gar ti proseuxōmetha katho dei ouk oidamen {das „Denn was wir beten sollen, wie es sein muss, wissen wir nicht“} mit dem bestimmten Artikel to (Anm. 80) „ist im NT eine lukanische und paulinische Eigentümlichkeit“, die sich „nur noch in Lk 1,62; 9,46; 19,48; 22,2.4.23.24; Apg 4,21; 22,30; 1Thess 4,1“ findet.
Warum (W523) „Paulus gerade jetzt darauf zu sprechen kommt, dass die Christen nicht richtig beten können“, erklärt Wolter aus dem Zusammenhang „zwischen dem christlichen stenazein {Klagen} (V. 23b) und den ‚wortlosen stenagmoi‘ {Klagen} { (V. 26c), mit denen der Geist die Klagenden in einer Gott gemäßen Weise (V. 27b) ‚unterstützt‘ (V. 26a)“. Dahinter „steht ein Verständnis von ‚Klagen‘ (stenazein etc.), das sich als Hilfeschrei an Gott wendet oder als solcher von Gott ‚gehört‘ wird“, wozu Wolter u.a. auf folgende Beispiele in der Schrift verweist: „Ex 2,23-24 (‚und die Kinder Israel klagten [katestenaxan] und schrien, und ihr Schrei stieg auf zu Gott …, und Gott hörte ihre Klage [ton stenagmon autōn]‘)“, außerdem „PsLXX 37,9-10 …; 78,11 …; … Ex 6,5; PsLXX 11,6; 101,21; … Apg 7,34.“
Seltsam argumentiert Wolter, indem er meint, dass „die Klagenden“ von Vers 23b ihre „Bitte um Befreiung aus den ‚Leiden der Gegenwart‘ (V. 18)“ deswegen „aufgrund ihrer kreatürlichen Schwäche nicht in rechter Weise zum Ausdruck bringen können“, weil sie (W524) zwar wissen, „worum sie Gott bitten sollen“, nämlich um „die Transformation der ‚Sohnschaft‘ in erfahrbare Realität (V. 23b)“, aber „dass sie nicht in der Lage sind, ihre Klage in der Sprache des Himmels zu Gott emporzuschicken“, nämlich katho dei {wie es sein muss}. Aber warum sollte Gott für ein Gebet ein solches „Wie der Gott gemäßen Sprache“ fordern? Eine Begründung dafür erkennt Wolter ausgerechnet darin, „dass das Defizit des christlichen Betens nach V. 26c dadurch kompensiert wird, dass der Geist mit ‚wortlosen Klagen‘ die christliche Klage vor Gott bringt.“ Ist das nicht erst recht sinnfrei? Wäre das nicht nur dann logisch, wenn der Geist die Klage in die Sprache des Himmels übersetzen würde?
Das Wort alalētos, das „von lalein {sprechen} abgeleitet“ ist „wie z.B. adynatos {unmöglich} (Röm 8,3; 15,1) von adynatein {nicht können} oder ametanoētos {nicht umkehrbereit} (Röm 2,5) von metanoein {umkehren} oder aperitmētos {unbeschnitten} (Apg 7,51) von peritomein {beschneiden}“, ist „ein Verbaladjektiv, das sowohl aktivische (‚unaussprechlich‘) als auch passivische (‚unausgesprochen‘) Bedeutung haben kann“. Wolter versucht „einen Mittelweg zu gehen“, indem er „wortlos“ übersetzt.
Auf jeden Fall spricht Paulus hier ihm zufolge „nicht vom Beten der Christen“, sondern bezeichnet „mit stenagmoi alalētoi {wortlosen Klagen} diejenigen Klagen …, mit denen der Geist unsere Klage vor Gott laut werden lässt.“ Aber nun meint Wolter nicht etwa einfach, dass Gott durch seinen Geist auch wortlose Klagen vernehmen könnte, sondern (W525),
wenn er die vom Geist gesprochenen „Klagen“ alalētoi {wortlos} nennt, dann soll das für die Menschen gelten. Auch die Gebete, die Menschen sprechen können, partizipieren an ihrer „Schwäche“, und es ist kein menschliches Gebet denkbar, bei dem das nicht so wäre. Paulus will sagen, dass die Klagen, die der Geist vor Gott bringt, in eine Sprache gekleidet sind, die nicht nur niemals unter den Menschen laut geworden ist, sondern die auch kein Mensch sprechen kann, weil es sich um die Sprache von Gottes Transzendenz handelt, die nur zwischen denen gesprochen wird, die zu Gottes Welt gehören. Welche ‚Ausgangssprache‘ auf Seiten der Menschen den stenagmoi alalētoi {wortlosen Klagen} des Geistes zugrundeliegt, ist dabei völlig unerheblich. Das kann der unartikulierte Schrei der Klage genauso sein wie das Gebet, das keine Worte findet, oder all die sprachlich wohlgeformten Gebete, mit denen wir heute vor Gott treten.
Aus dem aus entynchanein hyper {eintreten für} gebildeten Verb hyperentynchanein schließt Wolter, dass sich Paulus „den Geist gewissermaßen als zwischen den Christen und Gott stehend“ vorstellt und ihm „die Rolle eines Mittlers“ zuschreibt, „der sich vor diesem zugunsten jener verwendet“. Dasselbe hatte „Paulus in V. 26a synantilambanesthai … hēmōn {unterstützt uns} genannt“. Unter Verweis u.a. auf das griechische und äthiopische Henochbuch hebt Wolter hervor, dass im „Hintergrund … die im antiken Judentum verbreitete Vorstellung [steht], dass die Engel oder andere himmlische Mittlergestalten die Gebete der Frommen und Gerechten, die unschuldig leiden, vor Gott tragen und dass sie sich vor Gott zu ihren Gunsten verwenden“. Aber nirgends (W5265) wird „in den frühjüdischen Texten“ dem „Geist Gottes… die Funktion des Vermittlers zugeschrieben“.
In Vers 27a wechselt das Subjekt von Wir zu Gott, wobei Paulus „über die christlichen Wir in der 3. Person“ spricht und „Gott nicht einfach ‚Gott‘ nennt, sondern ‚der die Herzen erforscht‘“. Die letztere Formulierung ho eraunōn tas kardias, mit der „Paulus ein schon im Alten Testament weit verbreitetes Gottesprädikat“ aufnimmt (vgl. 1Sam 16,7; 1Kön 8,39; 1Chr 28,9 …; Ps 17,3; 26,2; 44,22; 139,23; Sir 42,18… Spr 20,27… Apk 2,23… Jer 17,10a“), „lässt … erkennen, dass der Geist sich … in den Herzen derjenigen befindet, ‚für‘ die er vor Gott ‚eintritt‘“, das heißt, „[d]ie ‚Übersetzung‘ der Gebete in ‚wortlose Klagen‘ durch den Geist findet nicht im Himmel statt, sondern in den Herzen der Menschen.“ Das erklärt nun auch bis zu einem gewissen Grade, wie Wolter seine seltsamen Ausführungen über eine Gott gemäße Sprache gemeint hat: „Demnach hört Gott die Klagen, die der Geist ausspricht, weil er Zugang zum Herzen der Christenmenschen hat, in das er seinen Geist gegeben hat (Röm 5,5; 2Kor 1,22; Gal 4,6).“
Mit „der Rede vom phronēma {Anliegen} des Geistes“ bezeichnet Paulus Wolter zufolge (W527) „das Worauf …, das der Geist mit seinem Eintreten für die christlichen Wir erreichen will“, und mit hoti {weil} in Vers 27b erklärt Paulus,
warum es Gott möglich ist, das Klagen des Geistes in den Herzen zu verstehen – weil es kata theon, d.h. in einer Weise, die Gott entspricht, vorgebracht wird. Dieser Ausdruck weist auf katho dei {wie es sein muss} (V. 26b) zurück: Der Geist kann, was Menschen aufgrund ihrer kreatürlichen Schwäche nicht vermögen: in einer Gott entsprechenden Weise reden.
Indem „Paulus die christlichen Wir am Ende von V. 27b erstmals seit 1,7 wieder ‚Heilige‘ nennt“, bringt er „ihre Zugehörigkeit zu Gott zum Ausdruck“ und will
seinen Lesern damit bewusst machen, dass sie sich von allen anderen Menschen unterscheiden, denn es ist eben dieses Element der Abgrenzung vom Profanen, das zu den zentralen Merkmalen der Vorstellung von Heiligkeit gehört.
Fraglich ist, ob Wolter mit dieser allgemeinen Unterscheidung zwischen Heiligkeit und Profanität im Sinne von Weltlichkeit dem gerecht wird, was der Jude Paulus unter Heiligkeit versteht (vgl. dazu oben die Auslegung von Römer 6,19-22). Fraglich war ja schon, ob er in Römer 1,7 mit den klētois hagiois {berufenen Heiligen} wirklich römische Christen oder doch Juden angeredet hat. Von Jankowskis Auslegung her ist jedenfalls für Römer 8,27 klar, dass in den Kreis der Heiligen, für die der Geist eintritt, auch die Gojim eingeschlossen sind, die auf den Messias vertrauen.
Kommen wir also zu Gerhard Jankowskis Auslegung von Römer 8,26-27. Ihm zufolge (J190) knüpft Paulus mit seinen Aussagen über den Geist unmittelbar an Vers 25 an, in dem von der hypomonē, vom „Dranbleiben“ als einer „Widerstandskraft“, die Rede war, und legt sie vor dem Hintergrund einer Erzählung aus dem 4. Buch Mose aus:
Diese kämpferische und widerstehende Geduld ist nicht einfach. Sie verlangt einen langen Atem. Und den bekommt sie. Denn „der Geist trägt mit an unserer Schwachheit“ (8,26). Mit diesem Satz erinnert Paulus an eine Erzählung aus Num 11. Mosche hat es satt, so wird dort erzählt, das Volk, das sich zurück nach Ägypten sehnt, zu führen. Er beklagt sich bitter darüber, daß die ganze Last auf dem Weg in das Land Freiheit auf ihm allein liegt. Er will und er kann nicht mehr. Als Antwort bekommt er zu hören (Num 11,16f.):
16 Hol mir zusammen siebzig Männer von den Ältesten Israels
…
17 Ich will niederziehen,
will dort zu dir reden,
will aussparen vom Geist, der über dir ist, es über sie zu legen,
sie sollen mit dir tragen an der Tracht des Volkes,
nicht sollst tragen sie du, du für dich.
Mit „synantilambanesthai, mittragen“ übersetzt die Septuaginta hier „wie übrigens auch in Ex 18,22 in ähnlichem Zusammenhang“ die hebräische Wurzel naßaˀ {heben, tragen} (J190f.):
Durch den Geist wird die Verantwortung für den Weitergang der Befreiung von einem auf mehrere verteilt. Mitgetragen wird von anderen, was allen zugute kommen soll. So bei Mosche. Die messianische Gemeinde wird in ihrer Schwachheit inspiriert, solidarisch zu sein im Aushalten der Bedrängnisse, die sie treffen.
Auf die Art und Weise, wie der Geist im Blick auf das Beten für die messianische Gemeinde eintritt, geht Jankowskis nur mit wenigen Sätzen ein:
Fast bleiben da nur noch Gebete um die große Auslösung, die aus dem Stöhnen der Bedrängten herauswachsen. Und Gebete in dieser Form benennen dann nichts anderes als das Elend, das verschwinden soll und muß. Auch da ist der Geist ein guter Anwalt, der für die in ihrer Schwachheit Hoffenden eintritt.
Im Übrigen ist Jankowski misstrauisch gegenüber dem, was viele aus den Aussagen des Paulus über den Geist herauslesen:
Ach ja, der Geist! Für alles Mögliche und Unmögliche wird er bemüht. Das Phantastische und die Ekstase werden ihm zugeschrieben. Die freilich haben wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Sie überspielen sie höchstens. Diesen Geist kennt Paulus so nicht.
Da Paulus mit dem seltenen Wort synantilambanesthai {Mittragen} wohl tatsächlich auf 2. Mose 18,22 und 4. Mose 11,17 anspielt, spricht er vielmehr von dem
Geist, der Menschen solidarisch handeln läßt, der eintritt für die Schwachen. Dieser Geist hat nichts mit ausufernden Phantasien zu tun, die nur zu schnell umschlagen in Phantasmagorien. So „begeistert“ ist Paulus nicht, daß er sich dazu hinreißen läßt, die kommende Welt der Freiheit auszumalen. Das Erhoffte und Erwartete ist nicht in Worten auszudrücken, es bleibt unsagbar, alalētos. Es wird nichts Unsinniges dahergeschwätzt. Nüchternheit herrscht vor. Sie ist dem Erhofften am angemessensten.
[3. Juni 2025] Mir persönlich sind Römer 8,26 und 27 zur Zeit die wichtigsten Verse der Bibel. Wie soll ein Beten vor sich gehen, das millionenfaches Leiden der Menschen vor einen Gott bringen will, der doch besser als jeder Mensch wissen müsste, was in Gaza, im Ukrainekrieg, im Sudan oder in der Verborgenheit der Organisierten Rituellen Gewalt vor sich geht? Wie unfassbar ist angesichts solchen Grauens die Vorstellung, ein liebender Gott würde sich um die kleinen Nöte meines Lebens kümmern, wenn er sogar Menschen nicht hilft, die unter Berufung auf Gott an Seele und Leib zerstört werden! Paulus vertraut auf die pneuma hagiosynēs, eine bewegende, antreibende, befreiende Kraft Gottes, von mir gerne mit Inspiration der Heiligkeit wiedergegeben (vgl. meine Anm. 80), die uns der selber gefolterte, ermordete und auferweckte Messias wie Blütenpollen oder Inspirationspartikel in unser Herz einpflanzt, um uns Menschen, die wir immer in Täter-Opfer-Strukturen verstrickt sind, zur solidarischen Liebe fähig zu machen – und damit zu Menschen, die er hagioi, Heilige, nennt.
↑ Römer 8,28-30: Eine Synergie zum Guten für alle, die Gott lieben – gerufen und dem Messias gleichgestaltet, vorherbestimmt, wahr gemacht und geehrt
8,28 Wir wissen aber,
dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen,
denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.
8,29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt,
dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes,
damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
8,30 Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen;
die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht;
die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
[4. Juni 2025] Römer 8,28 (W527) beginnt erneut „mit oidamen … hoti {wir wissen, dass}“, weil Paulus „eine Sentenz theologischer Weisheit“ äußert, der „seine Leser“ und „auch jeder Jude beipflichten“ könnte,
die den Zusammenhang von Tun und Ergehen als heilvolle Ordnung Gottes beschreibt und feststellt, dass jedem, der nach Gottes Willen lebt, Heil widerfahren wird.
Mit der Wendung tois agapōsin ton theon {denen, die Gott lieben} „greift Paulus“ (W528, Anm. 106) wie schon in 1. Korinther 2,9 und 8,3 (W528)
auf ein Motiv zurück, das in Altem Testament und frühem Judentum nicht lediglich ein subjektives religiöses Gefühl bezeichnet, sondern in komprehensiver {zusammenfassender} Weise die Ausrichtung des gesamten Lebens auf Gott und seinen Willen umschreibt. Seine Bedeutung kann man nicht nur an der weiten Verbreitung erkennen, sondern auch daran, dass die Aufforderung, Gott zu lieben, in Dtn 6,4-5 mit dem Šɘmā {Höre} verbunden ist, dem monotheistischen Grundbekenntnis Israels: „Höre, Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH allein. Und du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft“. Auch dass ‚Gott lieben‘ und die Erfüllung der Tora häufig miteinander verbunden werden (z.B. Ex 20,6; Dtn 5,10; 7,9; 11,1; 30,16.20; Jos 22,5; Neh 1,5; Sir 2,15-16; Dan 9,4…), zeigt die große Bedeutung dieses Motivs an.
In die Mitte des sich anschließenden Textes panta synergei eis agathon {wirkt alles zusammen zum Guten} werden (W505, Anm. 5) in einer kleinen, aber „hochwertige[n] Zahl von Handschriften“ die Worte ho theos {der Gott} wiederholt, was „sowohl aus Gründen der Verdeutlichung ergänzt als auch zur Verbesserung des Stils weggelassen worden sein“ könnte. Inhaltlich (W527f.) kommen nur zwei Möglichkeiten in Frage, diesen Ausdruck zu verstehen:
(a) panta {alles} ist Subjekt von synergei {hilft}: ‚Alles hilft denen, die Gott lieben, zum Guten‘.
(b) panta ist ein Akkusativ der Beziehung …, und als implizites Subjekt von synergei ist Gott zu ergänzen: ‚Er hilft in allem zum Guten‘. … Paulus selbst hat panta als Akk. der Beziehung auch in 1Kor 9,25; 10,33; 11,2.
Die erstere Lösung (Anm. 103) „ist heute die Mehrheitsmeinung“, die schon in der lateinischen Vulgata-Übersetzung steht: diligentibus Deum omnia cooperantur in bonum {allen Gott Liebenden wirkt alles zum Guten}. Falls aber (Anm. 104) die oben genannte Lesart mit der Wiederholung von ho theos ursprünglich ist, kommt nur die zweite Lösung in Frage. Wolter selbst (W528) ist „aus zwei Gründen“ für „die zuletztgenannte Auflösung …: zum einen weil V. 29a voraussetzt, dass vorher von Gott als Subjekt die Rede gewesen ist, und zum anderen, weil die Form von V. 28a ihre engste Entsprechung in Texten hat, in denen Gott ebenfalls das Subjekt ist“, und zwar besonders in „Feststellungen, dass Gott denjenigen, die ihn lieben, sein Heil zuwendet“, z.B. (W529) in 2. Mose 20,6; 5. Mose 5,10; 7,9; Nehemia 1,5; Psalm 144,20LXX; Sirach 34,16. Allerdings sprechen fast alle
alttestamentlich-jüdischen Texte erst von Gott und dann von denen, die ihn lieben. Ihnen geht es also eigentlich um Gott, während bei Paulus die ihn Liebenden Thema sind: Erst beschreibt er ihr Tun, dann ihr Ergehen.
Für Paulus sind es im Zusammenhang von Römer 8,18-30
die Leser des Briefes, die sich mit ‚denen, die Gott lieben‘, identifizieren sollen. Es ist der Glaube der christlichen Wir und ihr standhaftes Warten auf das, was sie nur erhoffen, aber nicht sehen können (V. 24-25), wodurch sie zu solchen werden, die Gott lieben.
Auf der ‚Ergehen‘-Seite schließt das komprehensive {zusammenfassende} panta {alles} gerade auch die „Leiden der Gegenwart“ von V. 18 ein. Es bezieht sich aber nicht ausschließlich auf sie.
In Vers 28b (W530) werden diejenigen, die Gott lieben, außerdem als tois … klētois ousin {die berufen sind} bezeichnet. Damit überträgt Paulus „eine Charakterisierung auf die christlichen Wir, die der alttestamentlichen Gottesvolktypologie entnommen ist (vgl. Jes 41,9; 43,1; 48,12; 51,2; 54,6; Hos 11,1; Joel 3,5)“ und auf die er Wolter zufolge „schon in 1,6.7 zurückgegriffen“ hatte. Das heißt: „Gott ‚hilft‘ den christlichen Wir vor allem darum ‚in allem zum Guten‘, weil er sie selbst ‚berufen‘ hat.“
Mit der Wendung kata prothesin {nach Vorsatz, Beschluss}, die im außerbiblischen Griechisch ausdrückt, „dass Menschen bestimmte Handlungen ‚absichtlich‘ oder ‚nach Plan‘ oder ‚wie vorgehabt‘ ausführen“, geht Paulus „aber noch weiter zurück: Er verankert die christliche Heilsgewissheit nicht nur in Gottes ‚Berufen‘, sondern in dessen vorgängiger Entscheidung (prothesis) darüber, an welchen Kriterien sich sein ‚Berufen‘ orientieren wird.“ Aus dem Text geht zwar nicht hervor, dass „Paulus hier auf Gottes vorzeitlich, d.h. ‚vor Grundlegung der Welt‘ (… Joh 17,24; Eph 1,4; 1Petr 1,20) gefassten ‚ewigen‘ (Eph 3,11…) Entschluss Bezug nimmt, mit dem dieser den Ablauf der Geschichte bereits vor ihrem Beginn festgelegt hat“, es „kann aber auch nicht ausgeschlossen werden.“
Wolter wendet sich dagegen (W531), an dieser Stelle den „Gedanken einer individuellen Prädestination {Vorherbestimmung}“ einzutragen, denn
Paulus spricht hier von zwei Handlungen Gottes, die er zeitlich voneinander trennt: Seine prothesis {Vorsatz} bestand schon immer, während sein kalein {Berufen} sich dann ereignet, wenn Menschen zum Glauben an Jesus Christus kommen. Paulus sagt damit nicht, dass Gott die Christen dazu vorherbestimmt hat, dass sie ihn lieben.
Genauer gesagt besteht nach Wolter (W530f.) in Römer 8,28
Gottes prothesis {Vorsatz} darin, dass diejenigen, die seinen Willen dadurch erfüllen, dass sie zum Glauben an Jesus Christus kommen (die Gott also „lieben“), „Berufene“ sind.
In den Versen 29-30 werden nun (W531)
die beiden Handlungen Gottes, von denen in V. 28b die Rede war – seine prothesis {Vorsatz} und sein kalein {Berufen} – in einem Kettenschluss entfaltet, der seine engste formale Entsprechung in Röm 5,3-4 hat. Mit Anfangs- und Schlussglied besteht er aus fünf Stufen: proegnō {im Voraus erkennen} – prohōrisen {im Voraus einsetzen} – ekalesen {berufen} – edikaiōsen {rechtfertigen} – edoxasen {verherrlichen}. Die ersten beiden Stufen (V. 29a-b) beschreiben Gottes prothesis {Vorsatz}, die letzten drei (V. 30) sein kalein {Berufen}.
Die ersten beiden Kettenglieder proegnō und prohōrisen meinen „ein und dasselbe Geschehen“, obwohl sie „nicht synonym“ sind. Der „Erwählungsbegriff“ proegnō {im Voraus erkennen} (hebr. jadaˁ) stammt aus dem Alten Testament („vgl. Num 16,5LXX …; Dtn 34,10; Hos 12,1LXX …; 13,5; Am 3,2…“), und mit (W531f.)
prohōrisen symmorphous tēs eikonos tou hyiou autou {hat er im Voraus eingesetzt als der äußeren Erscheinung seines Sohnes Gleichgestaltete} erklärt Paulus, was mit Gottes progignōskein {im Voraus Erkennen} einhergeht. Es spricht viel dafür, dass Paulus sich hier auf Röm 1,4a zurückbezieht, wo er davon gesprochen hatte, dass Jesus „als Sohn Gottes eingesetzt wurde … aus der Auferstehung von den Toten“. Dafür spricht nicht nur, dass er hier wie dort dasselbe Verb mit doppeltem Akkusativ benutzt, sondern auch die erneute Rede von Jesus als Gottes Sohn und dann die Fortsetzung in V. 29c.
Dafür, dass symmorphoi {Gleichgestaltete} hier „nicht als Adjektiv, sondern als Substantiv“ verwendet wird, „spricht auch, dass es nicht mit einem Dativ, sondern mit einem Genitiv verbunden ist“. Der von eikōn {Bild, äußere Erscheinung} abhängige Genitiv tou hyiou autou {seines Sohnes} bezieht sich auf „denjenigen, der durch die eikōn abgebildet wird“, das heißt: Die Christen „werden nicht dem Sohn gleich gemacht, sondern lediglich seiner eikōn, d.h. seiner leiblichen Gestalt.“ Damit schlägt
Paulus … also einen Bogen, der von Gottes prohorizein {im Voraus Einsetzen} über die Gegenwart hinweg bis in die Zukunft reicht und den Blick auf die noch ausstehende Teilhabe der zu Jesus Christus Gehörenden an dessen Auferstehungsherrlichkeit richtet.
Ähnlich wie in Römer 8,17e oder 6,8 oder 6,5 schließt die Vorsilbe syn– {zusammen} also „die Christen mit Christus zusammen“. Da es „[b]egriffliche Querverbindungen … zu 1Kor 15,49 … und zu Phil 3,21“ gibt, spricht Paulus Wolter zufolge „wahrscheinlich … hier nicht von der gegenwärtigen Situation der Christen …, sondern von jenem Geschehen, das er in V. 19 ‚Offenbarung der Söhne Gottes‘ genannt hatte und auf das sich die christliche Hoffnung richtet“, und „von dem zuletzt in 8,23 als ‚Erlösung unseres Leibes‘ die Rede war: wenn Gott die ‚sterblichen Leiber‘ derjenigen lebendig machen wird, in denen sein Geist wohnt.“
Mit der Formulierung in Vers 29c: eis to einai auton prōtotokon en pollois adelphois {so dass er der Erstgeborene ist unter vielen Brüdern} stellt Paulus (W533) den „Auferstandenen und Erhöhten“ als ersten in eine „Reihe von ‚Söhnen‘, die alle denselben Vater haben“, nämlich „die Christen“, die nach Vers 17e „mit ihm ‚mitverherrlicht werden‘“. Schon in 1. Korinther 15,20.23 hatte Paulus gesagt, dass Christus
„als Anfangsgabe (aparchē) der Entschlafenen“ von den Toten aufeıweckt [wurde]. Später werden Kol 1,18c und Apk 1,5 Christus ebenfalls mit Bezug auf seine Auferstehung als prōtotokos (ek) tōn nekrōn {Erstgeborene aus den Toten} bezeichnen. In diesen beiden Texten soll die Metapher jedoch Jesu Hoheitsstellung begründen, die in Apk 1,5 wohl unter Rückgriff auf Ps 89,28 formuliert wird: Gott will den Messias „zum Erstgeborenen machen, zum Höchsten unter den Königen der Erde“ (vgl. auch Kol 1,18d: „damit er in allem der Erste sei [prōteuōn])“. Demgegenüber entfaltet Paulus die Sonderstellung Jesu in Röm 8,29c, indem er sie als ein Verhältnis charakterisiert, das auch Gemeinsamkeit und Egalität einschließt. Schließlich haben nur Geschwister Geschwister.
In Vers 30a wird mit hous de prohōrisen {die er aber im Voraus eingesetzt hat} die Aussage von Vers 29b aufgenommen, wobei man wieder „nicht den prädestinatorischen Gedanken eintragen“ darf,
dass Gott vorherbestimmt hat, wer glaubt (nach V. 28: ihn ‚liebt‘) und wer nicht. Es geht vielmehr auch in diesem Vers ausschließlich um Gottes (und nicht um menschliches) Handeln, und Paulus stellt nichts anderes fest, als dass Gott jetzt in Übereinstimmung mit seinem eigenen, vorausgegangenen Entschluss gehandelt hat: Er hat vorher festgelegt, dass er die Glaubenden berufen will, und das hat er jetzt auch in die Tat umgesetzt.
Auch „die drei Prädikate ekalesen, edikaiōsen und edoxasen {er hat berufen, gerechtfertigt und verherrlicht} … sind nicht synonym“, aber sie sprechen „von ein und demselben Handeln Gottes“, das heißt, Gott hat „schon durch sein ‚Rufen‘ ‚gerechtfertigt‘ und ‚verherrlicht‘“.
ekalesen {er hat berufen} (W534) meint also nicht einen „gewissermaßen noch ergebnisoffenen ‚Ruf‘ Gottes, der durch die Verkündigung des Evangeliums ergeht und dem man durchaus auch nicht folgen kann“, sondern hier wird „wie auch sonst oft die Hinwendung zum christlichen Glauben als ein Gerufen-Werden durch Gott“ gedeutet, wobei im „Hintergrund … derselbe alttestamentliche Gebrauch von ‚rufen‘ (qaraˀ) als Erwählungsbegriff“ steht, „der auch schon für klētoi {Berufene} in Röm 1,6.7a bestimmend war.“
Indem nach Vers 30b „dieses ‚Rufen‘ Gottes damit“ einhergeht, „dass er diejenigen, die er gerufen hat, eben dadurch auch ‚gerechtfertigt hat‘ (edikaiōsen)“, ruft Paulus „vor allem Röm 3,24; 5,1.9 wieder auf (s. aber auch 3,26.28.30)“.
Ganz „zum Schluss“ stellt Paulus in Vers 30c mit edoxasen {hat verherrlicht} als Höhepunkt „eine nicht zu übersehende Inklusion“ her, indem er an den „Ausgangspunkt in V. 18“ anknüpft, „wo er den Blick der Leser auf die ‚kommende doxa {Herrlichkeit}, die an uns offenbar wird‘, gelenkt hatte.“ Jetzt stellt aber
Paulus die ‚Verherrlichung‘ der Christen anders als bisher nicht als ein noch ausstehendes Geschehen, sondern als bereits erfolgt dar… Sie ist jetzt nicht mehr ein ‚Noch nicht‘, sondern ein ‚Schon jetzt‘. Gott hat die Glaubenden bereits verherrlicht, und zwar dadurch, dass er sie „gerufen“ und „gerechtfertigt“ hat bzw. – mit V. 17a-c gesagt – zu Kindern und Erben eingesetzt hat. Paulus will mit dem Aorist edoxasen zum Ausdruck bringen, dass die Entscheidung über die Ausstattung der Glaubenden mit der Herrlichkeit Gottes bereits gefallen ist, so dass sie genauso wie deren „Gerufen“- und „Gerechtfertigt“-Sein als eine bereits in der Gegenwart präsente Realität gelten kann. Was noch aussteht, ist lediglich, dass diese Realität auch „offenbar“ wird (V. 18) bzw. dass sie „gesehen“ werden kann (V. 24-25). Präsent ist sie aber schon im Modus der Hoffnung, und das heißt – in Anlehnung an Philo, Praem. 161 formuliert – als ‚Herrlichkeit vor der Herrlichkeit‘. <241>
[5. Juni 2025] Nach Gerhard Jankowski kann Paulus (J189) angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse, „die kaum noch auszuhalten sind“ in Römer 8,28-30 dennoch (J191) „wirklich und in voller Gewißheit … nur das eine“ sagen:
daß die jetzt Hoffenden zu denen gehören werden, die wahrhaftige Menschen sein werden, befreit zum Leben und sich in Gottes Recht bewährend (8,28-30). Aber das, was sich erst zukünftig und möglichst bald erweisen wird, das ist schon jetzt ansatzweise zu erkennen. ln der Gegenwart leben Menschen, die erst für die neue, kommende Welt erhofft wurden. Es sind die, die „Gott lieben, nach Vorsatz gerufen, vorhererkannt, vorherbestimmt sind“ (8,28f.).
Diese „Wortwahl“ ist Jankowski zufolge wieder „auffallend – und theologisch belastet“. Das seltene Wort „Vorsatz, prothesis“, das Paulus „nur noch in Röm 9,11“ hat und in der Septuaginta für die Schaubrote im Tempel verwendet wird, meint ursprünglich
ein amtliches Dekret, das der Volksversammlung vorgelegt wird. Protithenai heißt das entsprechende Verb für diesen Vorgang. Daraus entwickelt sich die Bedeutung Absicht, Entschluß, Vornehmen, Vorsatz. In diesem Sinn kann es dann fast Synonym zu boulē, Ratschluß, sein.
Daß Gott etwas in seinem Ratschluß beschließen kann, ist eine bekannte Aussage in der Schrift, so z.B. bei Ps 33,11; 73,24; Jes 5,19; 14,26. Der Beschluß besteht meistens in dem Vorsatz, Israel beizustehen.
Dass Paulus „hier prothesis {Vorsatz} in diesem Sinn“ gebraucht, wird nach Jankowski aus dem Kontext klar, zumal Paulus „ein Wort gefunden hat, das den Kontext allein durch das Wortspiel mit der Präposition pro- deutlich macht“, nämlich das (J191f.)
Wort progignōskein, vorhererkennen. Erkennen ist in der Schrift ein sehr qualifizierter Vorgang. Nicht sosehr der Vorgang des intellektuellen Verstehens ist gemeint, als vielmehr das unverstellte Begreifen und Ergreifen wie auch das Ergriffenwerden. Erkennen ist so auch das sexuelle Zusammensein von Mann und Frau. Amos läßt Gott zu Israel sagen: „Euch allein habe ich erkannt aus allen Geschlechtern des Erdlandes heraus“ (Am 3,2). Dieses Erkennen – Buber übersetzt an dieser Stelle mit auserkennen – kommt der Bedeutung von auserwählen sehr nahe. Sicher steht diese Bedeutung auch hinter dem von Paulus benutzten Kompositum. Die Vorsilbe setzt aber auch hier den Akzent.
Auch „das Verb prohorizein, vorherbestimmen“ passt „in diese Reihe“, das in „den apostolischen Schriften … sechsmal, davon dreimal bei Paulus und zweimal in Eph“ vorkommt. In der Septuaginta gibt es nur das Wort horizein ohne die Vorsilbe pro-, das „mit horos, Grenze“, zusammenhängt und
also soviel wie begrenzen, eine Grenze ziehen oder festlegen [bedeutet]. Daraus wird dann allgemein festlegen, bestimmen. Das äußerst seltene Kompositum erinnert sehr stark an rabbinische Aussagen, daß schon vor der Erschaffung der Welt einige Dinge bei Gott beschlossen waren, sie zu erschaffen. So heißt es im Midrasch BerR {Bereshit Rabba} 1,4: „Sechs Dinge gingen der Erschaffung der Welt voraus. Einige wurden sofort geschaffen, andere stiegen in Gedanken herauf … Die Väter, Israel und der Name des Messias stiegen in Gedanken herauf, um geschaffen zu werden.“ Will Paulus mit seinem Wortspiel mit der Präposition pro- an dieser Stelle auf diese Aussagen hinweisen? War für ihn das, was heranwuchs, das schon vor der Schöpfung von Gott her geplante und bestimmte Israel?
Auch Wolter erkennt ja den alttestamenttlichen Hintergrund verschiedener von Paulus verwendeter Worte in diesem Abschnitt. Für Jankowski (J192) ist fast
alles in diesen Sätzen … eine einzige große Erinnerung und Vergewisserung Israels. Israel, von Gott gerufen und herausgerufen, das ist fast eine steteotype Wendung bei Deutero- und Tritojesaja. Es ist die Aufgabe der Söhne und Töchter Israels, Gott zu lieben. So sagen sie es ständig im Schma Jisrael. Israel ist bekannt und erkannt von Gott. Israel ist erwählt, vorgesehen, vorausbestimmt schon vor der Schöpfung.
Weit über Wolter hinaus geht Jankowski allerdings mit seiner Einsicht, dass Paulus sich mit den Worten (J189) „Denn die er vorher erkannt hat, hat er auch vorherbestimmt zu Gleichgestalteten des Bildes seines Sohnes, damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei“, nicht unmittelbar und ausschließlich auf Jesus bezieht, sondern zunächst einmal auf Israel, das der Messias als Sohn Gottes repräsentiert und in das nun durch den Tod des Messias, den er am römischen Kreuz für Juden und Gojim erlitten hat, auch die auf ihn Vertrauenden aus den Völkern mit hineingenommen worden sind, denn (J192)
Israel ist der bechor, der Erstgeborene unter den Völkern, der Hoffnungs- und Zukunftsträger der Menschheit. Mit dieser Vergewisserung drängt Paulus geradezu auf die Aktualisierung des immer Gültigen. Israel, das ist jetzt das Israel aus Juden und Gojim. Wie wir es in Röm 4 gehört haben, sind sie, die Gojim, gerufen und geliebt. Auch sie sind von Anbeginn vorherbestimmt, zu Israel zu gehören. Durch den Messias gehören sie dazu. Ihm sind sie gleichgestaltet. Er ist als Erstgeborener der Repräsentant Israels und der Brüder und Schwestern aus den Gojim. Mit ihm wird neues Leben möglich. Und das alles von Gott so vorher gewollt, erkannt, bestimmt. Es ist dieses pro, vorher, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und die Zukunft eröffnet. So sind die vorher Bestimmten die Gerufenen, die Gerufenen die Wahrgemachten und die Wahrgemachten die Geehrten. Und sie sind es, die die zukünftige und unerläßliche Ehre der neuen Menschheit in einer neuen Welt schon jetzt repräsentieren. Das Vorher, das Voraus ist die Signatur für die Welt, die kommen muß und kommen wird, in der fast nicht mehr auszuhaltenden Gegenwart.
Damit steht Paulus an der Schwelle zur Überschreitung der Ausweglosigkeit, die in seiner „Confessio … in Röm 7“ zutage getreten war (J192f.):
Ich muß weitermachen. Ich kann aber nicht weitermachen. Ich vergewaltigter Mensch! … Das kann keine Perspektive sein. Ich werde weitermachen, weil ich weitermachen kann. Das ist die Perspektive des neuen Menschen der neuen, kommenden Welt. Von dieser Perspektive ist nun zu reden.
↑ Römer 8,31-32: Gott ist für uns, hat seinen Sohn ausgeliefert für uns alle
8,31 Was wollen wir nun hierzu sagen?
Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?
8,32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat,
sondern hat ihn für uns alle dahingegeben
– wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
[6. Juni 2025] In seiner Analyse vom Römer 8,31-39 hebt Wolter hervor (W537), dass der gesamte Abschnitt aus einer Antwort auf die in Vers 31a gestellte „rhetorische Frage“ besteht, in deren „Mittelpunkt … weiterhin die christlichen Wir“ stehen. Eine „dreiteilige Gliederung“ des Abschnitts ergibt sich für ihn dadurch, dass es in den beiden Unterabschnitten 31b-34a und 38-39 „um das Verhältnis der Wir zu Gott“ geht und im mittleren Unterabschnitt 34b-37 um „ihr Verhältnis zu Christus“. Allerdings stellt Wolter nicht nur enge Verknüpfungen zwischen dem ersten und zweiten bzw. zweiten und dritten Unterabschnitt fest, sondern auch (W538f.),
dass in jedem Unterabschnitt nicht nur von den christlichen Wir, sondern auch von Jesus Christus die Rede ist: lm zweiten Teil (V. 34b-37) ist er Subjekt des Heilsgeschehens, im ersten und im dritten Teil (V. 31b-34a und V. 38-39) derjenige, durch den Gott zum Heil der christlichen Wir gehandelt hat.
Die innere Verbundenheit (W538) der „ersten beiden Teile (V. 31b-34a und V. 34b-37)“ sieht Wolter insbesondere „durch die Parallelität des Gegenübers von ‚Gott‘ bzw. ‚Christus‘ auf der einen Seite und rhetorischer tis-{wer-}Frage auf der anderen“ hergestellt, womit Paulus „eine Form“ aufgreift, „die im Alten Testament vielfach belegt ist“ und bei der überall „die Antwort auf die tis-Frage ‚von vornherein feststeht: »Niemand!«.“
ln der Regel wird immer nur auf Jes 50,8-9 verwiesen: „Nahe ist, der mir Recht schafft. Wer (tis) will mit mir einen Rechtsstreit führen? … Siehe, der Herr, JHWH, hilft mir. Wer (tis) ist es, der mich verurteilt?“ – Diese Form ist jedoch viel breiter belegt als nur in diesem einen Text: vgl. z.B. 2Sam 16,10: „Der Herr hatte ihm aufgetragen, David zu verfluchen, und wer (tis) wird sagen ‚Warum hast du so gehandelt‘?“; Pred 7,13: „Wer (tis) vermag es, den zu schmücken, den Gott entstellt hat?“; Am 3,8: „Der Herrgott <242> hat geredet, wer (tis) wird nicht prophezeien?“; Jes 14,27: „Denn was Gott Zebaoth beschlossen hat – wer (tis) will es vereiteln?“; Jes 43,13: „Ich werde handeln, und wer (tis) will es abwenden?“; s. auch Ps 88/89,9 („Herr, Gott der Heerscharen, wer ist dir gleich [tis homoios soi]?“); Ps 112/113,5 („Wer ist wie der Herr, unser Gott [tis hōs kyrios ho theos hēmōn]?“); Num 24,23; 1Sam 2,25; 6,20; Ps 60,8LXX; Hiob 9,12; 11,10; 34,29ab; 36,22f; SapSal {Weisheit Salomos} 9,13; 12,12-13; Sir 18,5; Joel 2,11.
Die (W539) „in der Vergangenheit kontrovers geführte Diskussion über die Gattung des Textes“ hat nach Wolter inzwischen ergeben, dass er weder einen „Hymnus“ noch eine „Doxologie“ darstellt, sondern
einen argumentativen Text, der sich rhetorischer Mittel bedient, wie sie vor allem für die hellenistische Diatribe typisch sind. Die pathetische Rhetorik verdankt sich dem Bemühen, diesen Abschnitt mit einer Eindringlichkeit auszustatten, die seiner Bedeutung als Abschluss und Fazit eines brieflichen Hauptteils angemessen ist.
In Vers 31a folgt auf „die rhetorische Frage ti oun eroumen pros tauta? {Was sollen wir nun dazu sagen?} … anders als in Röm 3,5; 6,1; 7,7; 9,14 nicht eine falsche Schlussfolgerung“, vielmehr wirkt sie „als Gliederungssignal, mit dem Paulus den Beginn eines neuen Abschnitts kenntlich macht“. Die Formulierung pros tauta {dazu}
macht das Folgende zur Schlussfolgerung aus dem Vorangehenden. Paulus überträgt das, was er in V. 28-30 in der 3. Person gesagt hatte, nun auf die christlichen Wir und wendet den Blick wieder in die Zukunft.
In Vers 31b-c wird mit dem Gegenüber „von ‚für‘ (hyper) und ‚gegen‘ (kata)“ argumentiert, wozu Wolter (Anm. 14) auf ähnliche Formulierungen in Markus 9,40; Lukas 9,50; 2. Korinther 13,8; Weisheit Salomos 16,24; Sirach 6,12 verweist. Dabei stellt Paulus (W540) in 31b: ei ho theos hyper hēmon {Wenn Gott für uns} „einen gegebenen Sachverhalt fest“, auf den mit tis kath‘ hēmon? {wer gegen uns?} – ebenfalls „elliptisch formuliert“, also unter Auslassung eines Verbs, das „er gedanklich ergänzt wissen möchte“ – prägnant herausgestellt wird, „dass niemand und nichts denen etwas antun kann, die Gott auf ihrer Seite haben bzw. zu deren Gunsten Gott gehandelt hat.“
Wenn Paulus mit 31b eine biblische Redeweise aufnimmt, dann sind es Formulierungen „in der hebräischen Bibel“, denen zufolge „Gott ‚für‘ (hebr. lɘ) Israel oder den Frommen ist“, z.B. in 1. Chronik 17,24 oder Psalm 56,10 und 124,2, während in „der Septuaginta … in allen Fällen etwas ganz anderes“ steht. Nur in Judith 5,21 findet Wolter die griechische „Parallele: ‚… damit nicht ihr Herr einen Schild über sie hält (hyperaspisē … autōn) und ihr Gott für sie ist (kai ho theos autōn hyper autōn)‘“, wozu er bemerkt (Anm. 16), dass in den deutschen Übersetzungen „[n]ormalerweise … das zweite hyper ebenfalls durch ‚über‘ wiedergegeben“ wird.
Indem Paulus (W540) in Vers 31b-c sehr allgemein formuliert, stellt die Gegenüberstellung eine „Überschrift“ dar, „die dann in den parallelen rhetorischen Fragen, die in V. 33a.33b-34a sowie in V. 34b-35a folgen, konkretisiert wird.“
In Vers 32 fügt Paulus in „die Reihe der theos-tis-{Gott-wer-}Gegenüberstellungen … auf der Seite Gottes eine Reflexion über die eschatischen {endzeitlichen} Konsequenzen von Gottes ‚Für uns‘-Sein ein“, in der die Teile 32a-b ein „Pronominalsatz“ sind, „der als Subjekt fungiert und Gott durch sein Handeln identifiziert“, genau wie (Anm. 18) z.B. in „Röm 2,1c-d.23; 4,18; 14,2.5; 1Kor 11,27“. In 32c schließt Paulus (W540) „mit pōs ouchi {wie … nicht}“ eine „rhetorische Frage“ an, in der er (W541)
vom Schwereren (dass Gott seinen Sohn „für uns“ hingibt) aufs Leichtere [schließt] (dass er uns auch das eschatische {endzeitliche} Heil zuwenden wird). Im Blick auf die in V. 31b formulierte Feststellung von Gottes „Für uns“-Sein will er mit Hilfe dieser Argumentation zum Ausdruck bringen, dass man aus Gottes Hingabe „des eigenen Sohnes“ (V. 32a) „für uns“ schließen kann, dass er auch in Zukunft zu unseren Gunsten handeln wird.
Zur Frage, ob Paulus in Vers 32a „auf Gen 22,12.16LXX anspielen will, wo Gott zu Abraham sagt: ouk epheisō tou hyiou sou tou agapētou di‘ eme (‚du hast deinen geliebten Sohn um meinetwillen nicht verschont‘)“, wendet Wolter ein, dass erstens die „Leser … keinerlei Hinweis darauf“ erhalten, „wie sie diesen Zusammenhang zu verstehen hätten“, und zweitens „jeder inhaltliche Bezug auf Gen 22 vollends unerkennbar“ wird, wenn berücksichtigt wird, dass in 32b „Paulus seinen Lesern den Tod Jesu als Beleg für Gottes ‚Für uns‘-Sein vor Augen führen will“. Plausibel ist das allerdings nur, wenn man ausschließt, dass Paulus jüdische Adressaten anspricht, die mit dem Hintergrund von 1. Mose (Genesis) 22 ganz selbstverständlich vertraut sind. <243>
Wolter jedenfalls will darauf hinaus (W542), dass auf jeden Fall „V. 32a und b … gemeinsam interpretiert werden“ wollen, so dass „V. 32a … bereits im Blick auf V. 32b formuliert“ wurde und „die dortige Feststellung mit einer Hervorhebung“ versieht, „die das außerordentliche Engagement Gottes ‚für uns‘ zum Ausdruck bringen will“, wobei das Gegenüber von „‚nicht verschonen, sondern hingeben‘ auch noch durch das Gegenüber von idios (hyios) {eigener (Sohn)} und (hyper) hēmōn pantōn {(für) uns alle}“ verstärkt wird.
Dazu ergänzt Wolter drei Erläuterungen: Hervorhebend wirkt (Anm. 24) „die Partikel ge {sogar}“. Der Ausdruck (Anm. 25) ho idios hyios {der eigene Sohn} kommt außer in Apostelgeschichte 20,28 „sonst in der griechischen Bibel nicht vor“, und Haacker <244> interpretiert ihn mit der „glückliche[n] Formulierung …: ‚Paulus will herausstreichen, welches persönliche Opfer Gott für uns Menschen gebracht hat‘.“ Für (Anm. 26) „vielleicht doch etwas weit hergeholt“ hält Wolter die „Interpretation, dass Paulus komprehensiv von ‚uns allen‘ spricht, um hervorzuheben, dass es vor Gott keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden gibt“ <245>. Wenn es das zentrale Anliegen des Paulus ist, die nichtjüdischen Völker in die Gemeinschaft mit den Juden hineinzunehmen, könnte er aber trotz Anerkennung ihrer Unterschiede genau darauf hinweisen, dass Gott dennoch für sie alle seinen Sohn dahingegeben hat.
Zu Vers 32b wendet sich Wolter dagegen (W542), „Jesu Hingabe (paradidonai) durch Gott“ wie „in Röm 4,25a … möglicherweise durch Jes 53,12LXX“ beeinflusst zu sehen, da hier nicht „von einer Hingabe ‚um der Verfehlungen/Sünden willen‘ (dia tas paraptōmata/hamartias) die Rede“ ist, sondern von einer Hingabe, die „personal ausgerichtet ist (hyper hēmōn pantōn {für uns alle})“. Außerdem, so Wolter (W543), „geht es Paulus hier nur indirekt um die Heilsfolge von Jesu Tod“, sondern um
die Wahrnehmung des Todes Jesu durch die Glaubenden als ein Heilshandeln Gottes zu ihren Gunsten. Bei paradidonai {hingeben} ist nicht der häufig mitschwingende Gedanke der Auslieferung an einen Feind wichtig, sondern dass mit diesem Verb Gottes Handeln bezeichnet wird. Nach Gal 2,20 und Eph 5,2.25 kommt in Jesu paradidonai hyper {hingeben für} seine Liebe zum Ausdruck (s. auch Röm 5,8); diesen Zusammenhang wird Paulus mit Bezug auf Gottes Liebe dann auch in Röm 8,39 herstellen.
Dass Wolter beim Stichwort paradidonai in Vers 32b nur an „Gottes Handeln“ denken möchte, ohne darüber nachzudenken, was es denn bedeutet, wenn Gott selber den eigenen Sohn hingibt, ausliefert, der Ermordung am römischen Kreuz preisgibt, setzt die im Christentum vertraute Vorstellung als selbstverständlich voraus, Gott habe aus Liebe zu den auf ihn Vertrauenden den eigenen Sohn opfern müssen, da anders sein Zorn nicht zu besänftigen gewesen wäre <246>, und verharmlost sie zugleich. Ob (Anm. 27) „eine Verknüpfung mit den ‚Auslieferungs‘-Aussagen von Röm 1,24.26. 28“ tatsächlich „von dem“ ablenkt, „was Paulus in Röm 8,32 sagen will“, oder nicht vielmehr entscheidend zur Deutung beiträgt, wird in der Beschäftigung mit Jankowskis Auslegung des Verses zu überprüfen sein.
In Vers 32c: pōs ouchi kai syn autō ta panta hymin charisetai? {wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?} verwendet Paulus (W543) den Ausdruck syn autō {mit ihm} „so ähnlich wie in Röm 6,8; 8,17.29; 2Kor 4,14; 13,4; Phil 3,21; 1Thess 4,14.17; 5,10“, indem er „die Ergehensgemeinschaft der Christen mit Christus“ kennzeichnet und „das eschatologische {endzeitliche} Heilsgeschick, das die christlichen Wir noch vor sich haben, als Teilhabe am Heilsgeschick Jesu versteht.“
Zur zusammenfassenden und übertreibenden Formulierung ta panta {alles} will Wolter nicht entscheiden (Anm. 29), ob damit „(soteriologisch {auf das Heil bezogen}) die Fülle der Heilsgüter … oder (kosmologisch {auf die Welt bezogen} auf der Linie von Röm 4,13) die ganze Welt“ gemeint sein soll. Wahrscheinlich liegt ihm zufolge ein zurückverweisendes Polyptoton vor <247>,
und zwar gleich zweimal: Sollte das der Fall sein, würde Paulus zum einen mit ta panta hēmin {uns … alles} auf hēmōn pantōn {uns alle} (V. 32b) zurückverweisen und zum anderen mit syn autō {mit ihm} (V. 32c) auf auton {ihn} (V. 32b), um dadurch den sprachlichen Ausdruck eindringlicher zu gestalten: Gott hat „ihn“ „für uns alle“ hingegeben, so dass wir zuverlässig damit rechnen dürfen, dass er „mit ihm“ „uns alles“ schenken wird.
[7. Juni 2025] Nach Gerhard Jankowski (J194) hatte die in Römer 8,31 zum fünften Mal auftauchende Wendung: „Was werden, was sollen wir nun sagen?“ bereits in „3,5; 4,1; 6,1; 7,7 … wichtige Abschnitte des Schreibens“ markiert:
So auch an dieser Stelle, dieses Mal mit dem Zusatz pros tauta, zu dem, mit eindeutigem Bezug auf das bisher Gesagte. Was bleibt also noch zu sagen, jetzt, da alles eigentlich schon gesagt ist?
Zur Art und Weise des Stils kommt es Jankowski weniger auf genaue Gattungszuordnungen an, sondern eher auf den überschwänglichen Klang der Worte, bei dem zu prüfen ist, als wie tragfähig sie sich erweisen:
Das, was dann gesagt wird, ist überaus emphatisch. Fast hymnisch erklingen die Worte. In ihrer Dichte vereinnahmen sie die Hörer. Fast übertönt der Wortklang den Inhalt. Nicht umsonst ist dieser Abschnitt einer der bekanntesten aus der gesamten Bibel. Was wird hier laut? Eine absolute christliche „Heilsgewißheit“, die niemals und durch niemanden und nichts zu erschüttern ist? Was aber, wenn der Klang der Worte nicht mehr hält, was er zu versprechen scheint? Es kommt eben auf den Inhalt an. Und der ist bei allem Enthusiasmus sehr ernüchternd.
Als eine „erste Ernüchterung“ angesichts einer übertriebenen Euphorie kann schon die Erinnerung daran wirken, dass mit diesem „Schlußwort des ersten Teils des Schreibens … das Plädoyer des Anwalts der Gojim vor den jüdischen Genossen“ abgeschlossen wird: „von Gott gewollt und durch den Messias Jesus möglich geworden ist das Israel aus Juden und Nichtjuden“ – denn dieses Plädoyer ist bei der Mehrheit der Juden eben nicht auf Zustimmung gestoßen, und ebenso wenig sind die in Römer 8,18 erwähnten pathēmata tou nyn kairou {die Leiden der Zeit jetzt} vorüber.
Dennoch (J195) sind dem Paulus „seine Schlußworte … fast zu einem Lied“ geraten, in dessen Hintergrund Jankowski ein biblisches Lied wie Psalm 56 vermutet, das der „Struktur und dem Inhalt nach“ dem Schluss von Römer 8 „sehr ähnlich“ ist:
Beide sind Lieder des Vertrauens und der Hoffnung zugleich. Und beide sind trotz ihres fast unverschämt sicheren Vertrauens gerade nicht realitätsfern. Das Vertrauen und die Sicherheit bewähren sich gerade in der Wirklichkeit.
Aus (J194) Psalm 56, „einem Lied des Vertrauens“, zitiert Jankowski die Verse 10-14, die „einer den verfolgten David“ sagen lässt:
10 Dann müssen rückwärts sich kehren meine Feinde,
am Tag, da ich rufe, –
dies erkannte ich, daß Gott für mich ist.
11 An Gott, dessen Rede ich preise,
am EWIGEN, dessen Rede ich preise,
12 ich fürchte mich nicht,
was kann ein Mensch mir tun!
13 Deine Gelübde, Gott, liegen mir ob,
Dankbarkeit will ich dir zahlen,
14 denn du rettest meine Seele vom Tod
nicht wahr? Meine Füße vom Anstoßen,
einherzugehen vor Gottes Antlitz,
im Licht des Lebens.
Dieses Gottvertrauen überträgt Paulus in seine eigene Situation (J194f.):
Wenn Gott für uns ist – und er ist für uns, für das Zusammenleben von uns Juden und Nichtjuden, für unser messianisches Experiment –, wer kann dann gegen uns sein? Wer kann uns verfolgen, wer uns anklagen, wer uns verurteilen? Wir sind wie David in dem Psalm, zwar vielleicht verfolgt, aber gesichert an Gott. Und den wollen wir loben.
Während man Wolters und Jankowskis Auslegung von Römer 8,31 noch einigermaßen in Übereinstimmung bringen könnte, weicht Jankowski (J195) in seiner Auslegung von Römer 8,32, also „in der Begründung der Behauptung, mit der dieses Schlußwort beginnt“, entschieden von Wolter ab, indem er ihn von 1. Mose (Genesis) 22 her begreift:
Er hat seinen eigenen Sohn nicht geschont,
sondern für uns alle ausgeliefert.Der Satz ist in der Art eines Parallelismus membrorum gestaltet. Das erste Glied dieses Parallelismus erinnert an die Bindung Isaaks aus Gen 22,12.16: „… nicht vorenthalten hast du mir deinen Sohn, deinen Einzigen.“ LXX hat hier pheisesthai, schonen, als Übersetzung von chaßakh, vorenthalten. So hören wir es auch bei Paulus. Er erinnert also nicht nur an die Bindung Isaaks, er weist direkt auf sie hin.
Zum Stichwort der „Bindung Isaaks“ führt Jankowski im Einzelnen aus:
Die Bindung Isaaks steht innerhalb der Erzählungen vom Werden Israels im Buch Genesis zentral. Da der Sohn, der bechor {Erwählte}, nicht im Vertrauen empfangen wurde, muß er gegeben werden. Abraham muß als Vater mit seinem Sohn Isaak, also mit seiner Zukunft, brechen, um sie neu zu gewinnen. In Gen 22,12, wo unser Satz zum ersten Mal in der Erzählung fällt, erfolgt der Bruch mit der Vergangenheit: „… jetzt habe ich erkannt, daß du Gottes fürchtig bist.“ Das Vertrauen ist durch die Bindung da; erkennbar im Tun, in der Bindung Isaaks. In Gen 22,16, wo der Satz wiederholt wird, geschieht dann mit dem Schwur, mit dem sich Gott an seine Verheißung bindet, die Geburt des Sohnes gleichsam neu. Damit beginnt aber auch das Werden Israels unter den Völkern.
Die Bindung Isaaks erhält im Lauf der Zeit innerhalb der jüdischen Tradition noch einen anderen Akzent. Sie wird zum Mittelpunkt des jüdischen Märtyrergedenkens: Isaak ist in seiner Bindung das Vorbild aller Märtyrer des Volkes Israel. Das ist bis in die heutige Gegenwart so.
Wie nimmt Jankowski zufolge nun Paulus die Erzählung von „der Bindung Isaaks“ im Römerbrief 8,32 auf? In Genesis 22 „bricht Abraham mit seiner Zukunft und gewinnt sie dadurch neu“, es ist also
Abraham, der den Sohn bindet. Bei Paulus ist es Gott selbst, der seinen Sohn ausliefert, wie es im zweiten Glied des Parallelismus heißt. Das heißt nun, daß Gott selbst die Zukunft Israels ausliefert, aufgibt. Denn der eigene Sohn, das ist immer Israel, auch dann, wenn die Wendung sich, wie hier, auf den Messias bezieht. Denn der Messias repräsentiert Israel.
An dieser Stelle nimmt nun Jankowski die harte Aussage sehr ernst (J195f.): „Israel wird ausgeliefert von Gott her, wie die Gojim von Gott ausgeliefert wurden, wie es in Röm 1,24-28 sehr betont heißt.“ Führt die Notwendigkeit (J196), dass wir „diesen Zusammenhang mitbedenken“ müssen, nicht zu einer unmöglichen Konsequenz?
In letzter Konsequenz hieße das, daß Israel wie die Gojim von Gott her keine Zukunft zu erwarten habe. Daß freilich Israel keine Zukunft haben soll, das ist undenkbar. Denn dann hätten alle Völker der Welt keine Zukunft mehr. Daß Israel immer wieder den Völkern ausgeliefert war, das ist eine bittere Erkenntnis aus der Geschichte. Deswegen wird die Bindung Isaaks zum Paradigma für das Ausgeliefertsein des Volkes Israel an die Völker. Aber es ist der gebundene Sohn, der die Verheißung ist und sie in die Zukunft hineinträgt. Der Gebundene verkörpert die Zukunft.
Jankowski geht also davon aus, dass Paulus tatsächlich die reale Gefahr sieht, Israel könne wegen der Unmöglichkeit, unter den Bedingungen der Versklavung unter die weltweite Unterdrückungsordnung die Tora zu erfüllen, gemeinsam mit den Gojim dem Zorn Gottes ausgeliefert sein. Dazu kommt es aber nicht, weil Gott als die Verkörperung seines erstgeborenen Sohnes Israel den Messias Jesus in die Weltordnung hineinsendet. Und in der Gestalt dieses Jesus wird bei Paulus von Gott
der eigene Sohn, der Messias, ausgeliefert hyper hēmōn pantōn, für uns alle. Die Präposition hyper hat hier eine doppelte Bedeutung. Zunächst ist es mit anstatt, statt zu übersetzen. Nicht alle werden ausgeliefert, sondern der eine. Und der anstatt aller. Erst wenn das klar ist, dann wird aus dem anstatt ein für. Der Eine aber wird ausgeliefert für alle, und das sind Juden und Nichtjuden, also die, die immer ausgeliefert waren. Ihnen wird Zukunft geschenkt zusammen mit dem an ihrer statt und für sie Ausgelieferten. Diesen allen wird auch das Gesamt geschenkt werden.
Mit „[d]as Gesamt“ übersetzt Jankowski ta panta als „eine Wendung, die überwiegend nur Paulus hat“, vor allem (Anm. 58) in 1. Korinther 8,6; 11,12; 2. Korinther 5,18 und Galater 3,22, und die außerdem (J196) in den „von ihm abhängigen“ Briefen an die Epheser und Kolosser vorkommt.“ Unter Berufung auf J.J. Meuzelaar <248> hält Jankowski es für „eindeutig nachgewiesen“, dass von Paulus
mit dem Ausdruck, der ursprünglich alles Geschaffene oder die gesamte Menschheit meint, die Gemeinschaft aus Juden und Gojim umschrieben wird und somit in enger Beziehung zur Metapher vom Leib des Messias zu sehen ist. Das Gesamt manifestiert in diesem Leib die Vielheit und Verschiedenheit der beiden Gruppen. Es ist der starke Ausdruck für den Frieden und die Einheit zwischen Juden und Gojim in der messianischen Ekklesia.
Dieses Gesamt, die Einheit von Juden und Gojim in der messianischen Gemeinde, ist die neue eröffnete Zukunft. Es ist nicht gemacht. Es ist geschenkt. Und es ist nur möglich über den eigenen Sohn Gottes, über den Messias aus Israel. Für Paulus ist dieses Gesamt, dieses Zusammensein die Zukunft, die Israel neu eröffnet ist.
Was das bedeutet, wird Paulus nun „[geradezu] hymnusartig … in Worte zu fassen“ versuchen.
↑ Römer 8,33-35: Wer klagt die Auserwählten an, wer verurteilt, wer trennt uns von der Solidarität des Messias?
8,33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?
Gott ist hier, der gerecht macht.
8,34 Wer will verdammen?
Christus Jesus ist hier, der gestorben ist,
ja mehr noch, der auch auferweckt ist,
der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt.
8,35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?
Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger
oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
[8. Juni 2025] Zu den folgenden Versen Römer 8,33-37 schicke ich voraus, dass Ich die Einteilung, die Wolter vornimmt, nicht nachvollziehen kann. Mir persönlich fällt das dreimalige tis {wer} am Anfang der Verse 33a, 34a und 35a ins Auge, womit Fragen gestellt werden, von denen die ersten beiden in 33b und 34b-c recht kurz beantwortet werden, während die dritte in 35b um einen Leidenskatalog und in 36 um ein Psalmzitat ergänzt wird und erst in 37 ihre Antwort erfährt. Da ich dem Zitat aus Psalm 44 in Vers 36 einen eigenen Abschnitt widmen möchte, beschränke ich mich in diesem Abschnitt auf die Auslegung der Verse 33-35 und verschiebe die Beschäftigung mit Vers 37 auf den übernächsten Abschnitt.
In Michael Wolters Augen (W544) gehören die Verse 33-34a zusammen, indem die „beiden rhetorischen Fragen … diejenige von V. 31b“ konkretisieren:
Sie sind nicht nur durch die parallele Gegenüberstellung „Gott“ // „Wer?“ miteinander verbunden, sondern auch dadurch, dass sie mit ihrem Beginn („Anklage erheben“; V. 33a) und ihrem Ende („verurteilen“; V. 34a) den Beginn und das Ende und damit den Rahmen eines Gerichtsverfahrens konstruieren. Die Anordnung der Gegenüberstellung ist chiastisch {überkreuz}: (a) „Wer?“ mit futurischem Prädikat – (b) Gott // (b) Gott – (a) „Wer?“ mit futurischem Prädikat.
Aus dem Futur ist aber nicht zu „schließen, dass Paulus hier vom Endgericht spricht“, weil bei den schon zu Römer 8,31 erwähnten „analogen Gegenüberstellungen in der griechischen Bibel, an deren Form Paulus sich an dieser Stelle orientiert, … das Prädikat in der tis-{wer-}Frage mit ganz geringen Ausnahmen ebenfalls im Futur“ steht.
Gegen einen Bezug auf das Endgericht spricht auch, dass Paulus die „Wer?“-Frage in V. 35 wieder aufnimmt und das tis {wer} dann durch einen Katalog von sieben nicht-forensischen Leidenserfahrungen entfaltet, denen die christlichen Wir in der Gegenwart unterworfen sein können. Die forensische Sprache ist darum hier genauso wie in Jes 50,8 metaphorisch.
Das letztgenannte Argument gegen einen Bezug auf das Endgericht spricht aber auch dagegen, nur die Versteile 33-34a wegen ihrer Verwendung forensischer Vokabeln zusammenzufassen und davon zunächst die Verse 34b-36 und dann 37 abzugrenzen.
Indem die „beiden rhetorischen Fragen“ in 33a und 34a voraussetzen, dass dem, der „Gott auf seiner Seite hat, … schlechterdings niemand etwas anhaben“ kann, ist davon auszugehen, dass ein „bestimmter Ankläger … nicht im Blick“ ist, und zwar (Anm. 36) „auch nicht der Satan als himmlischer Ankläger, wie er aus dem Hiob-Buch bekannt ist und in welcher Rolle ihn auch Apk 12,10 präsentiert“.
Zu Vers 33b: theos ho dikaiōn {Gott, der gerecht spricht}, betont Wolter (W544), dass Paulus „im Präsens von Gottes Rechtfertigungshandeln spricht und damit nicht von einem bestimmten Handeln Gottes berichtet, sondern Gott in allgemeingültiger Weise charakterisiert“. Damit stellt er (Anm. 38) einen Unterschied zu Jesaja 50,8 heraus, wo ho dikaiōsas me {der mich gerecht gesprochen hat} im Aorist mit einem Objekt steht, das bei Paulus fehlt. Worauf es hinauslaufen soll, diesen Unterschied herauszuarbeiten, erschließt sich erst einigermaßen, wenn Wolter (W545) zu Vers 34a bemerkt:
Mit ti ho katakrinōn? {wer könnte verurteilen?} (V. 34a) greift Paulus möglicherweise auf Röm 8,1 zurück („kein katakrima {Verurteilung} gibt es für die in Christus Jesus“) und führt die dort ausgesprochene Feststellung weiter: Wen Gott nicht verurteilt, sondern rechtfertigt, den kann auch kein anderer verurteilen. Mit dem Gegenüber von dikaiōn {der gerecht spricht} und katakrinōn {der verurteilt} (V. 33b-34a) reproduziert Paulus eine Antithese, mit der er schon in 5,16.18 gearbeitet hatte. Außerdem weist er mit V. 33b (theos ho dikaiōn {Gott, der gerecht spricht}) über 8,30 (die Gott „berufen hat, hat er auch gerechtfertigt [edikaiōsen]“) auf 3,24.26.28.30; 5,1.9 zurück. Es sind darum diese Texte und nicht Jes 50,8, auf die Paulus hier den Blick seiner Leser lenkt.
Als (W544) wesentliche „Pointe der beiden rhetorischen Fragen“ in 33a und 34a stellt Wolter (Anm. 39) vor dem Hintergrund alttestamentlicher Formulierungen in der Septuaginta wie „eklektoi autou {seine (Gottes) Auserwählten}: 1Chr 16,13; 104,6.43; SapSal {Weisheit Salomos} 3,9; 4,15; Sir 46,1 und von eklektos/-oi mou/sou {mein/dein Auserwählter}: Tob 8,15; PsLXX 88,4; 105,5; Jes 42,1 und 45,4 (jeweils „lsrael, ho eklektos mou {mein Auserwählter}“); 65,9.15.23; Klgl 1,15LXX“ heraus (W544f.),
dass Paulus aus den Wir in der allgemeinen Gegenüberstellung V. 31b in V. 33a „Erwählte Gottes“ macht. Er überträgt mit dieser Bezeichnung (im NT auch Kol 3,12; Tit 1,1), einmal mehr einen Begriff, der im Alten Testament für das Gottesvolk Israel reserviert ist, auf diejenigen, die „in Christus Jesus“ sind (Röm 8,1). Für die Bezeichnung der christlichen Wir als eklektoi theou {Auserwählte Gottes} gilt insofern dasselbe wie für agapētoi theou {Geliebte Gottes} in Röm 1,7. Auch in Dtn 7,7-8 stehen Gottes Erwählung und Liebe mit Bezug auf Israel beisammen, und darum ist es nur konsequent, dass Paulus in Röm 8,39, d.h. bald nachdem er die Christen „Erwählte Gottes“ genannt hat, von Gottes Liebe zu ihnen spricht.
Indem dabei (W545) der „Genitiv theou {Gottes} in V. 33a“ in doppeltem Sinn verstanden werden kann, nämlich sowohl „als genitivus possessivus“ wie auch „als genitivus subjectivus“, da die Erwählten einerseits zu Gott gehören und andererseits von ihm erwählt sind, „verweist Paulus“ in Vers 31a wie in 31b „auf ein und dasselbe Handeln Gottes: Gott macht die christlichen Wir dadurch zu seinen ‚Erwählten‘, dass er sie ‚gerecht spricht‘.“
Wie bereits erwähnt, gehören nach Wolter die Verse 34b-36 „ebenfalls zusammen“. Um seine Begründung dafür herauszuarbeiten, gehe ich erst einmal nur auf die Teilverse 34b und 35a ein und lasse den Einschub 34c-e sowie die Entfaltung von 35a in den Versen 35b-36 zunächst außer Acht.
Erstens „schreibt V. 34b-35a die Struktur von V. 33b-34a christologisch fort“, das heißt, was zuvor von Gott gesagt wurde, wird nun auf Christus übertragen. Zweitens spricht Wolter von einem engen Zusammenhang zwischen „der Feststellung Christos Iēsous ho apothanōn {Christus Jesus (ist es), der gestorben ist} (V. 34b)“ und der ihr gegenübergestellten „rhetorische[n] Frage tis hēmas chōrisei apo tēs agapēs tou Christou? {wer könnte uns trennen von der Liebe Christi} (V. 35a)“.
Diesen Zusammenhang konkretisiert Wolter folgendermaßen (W546): Die Formulierung Christos Iesous ho apothanōn {Christus Jesus, der gestorben ist} in 34b nimmt die Rede von „Jesu Tod ‚für uns alle‘ (V. 32b)“ auf, ohne dass er hier ausdrücklich „als Tod ‚für uns‘ qualifiziert wird“. Diese Weglassung verdankt sich dem „Interesse an der Parallelität Gott // Jesus“, denn auch in der vorherigen Aussage über Gott in 33b fehlte das Objekt zu dikaiōn {der gerecht spricht}. Gemeint ist aber natürlich auch hier der Tod Jesu für uns, denn erst dadurch „kann man ihn als Ausdruck von Jesu ‚Liebe‘ zu uns wahrnehmen“.
Bestätigt wird die „Zusammengehörigkeit von V. 34b und V. 35a“ nach Wolter außerdem dadurch, „dass die Verknüpfung von ‚sterben für‘ und ‚Liebe‘ nicht nur im Neuen Testament, sondern auch in der hellenistischen Umwelt des frühen Christentums belegt ist.“ Dazu verweist er im „Neuen Testament“ auf die Deutung von „Jesu Sterben ‚für uns‘ oder ‚für unsere Sünden‘ in Röm 5,8 als Ausdruck der Liebe Gottes“ oder „in 2Kor 5,14; Gal 2,20; Eph 5,2.25; 1Joh 3,14-16; Apk 1,5 wie in Röm 8,34b.35a als Beleg für Jesu eigene Liebe zu uns“, und schlägt von „Joh 15,13 aus (‚keiner hat größere Liebe als die, dass er sein Leben einsetzt für seine Freunde [tēn psychēn autou thē hyper tōn philōn autou]‘)“ eine „Brücke“ zu „außerneutestamentlichen Texten“ beispielsweise von Plato, Aristoteles und Epiktet: „Sie machen erkennbar, dass es die hellenistische Freundschaftsethik ist, in der die Verknüpfung von ‚Liebe‘ und ‚sterben für‘ zu Hause ist“.
Das Verständnis von Wolters Ausführungen (W547) über den „Einschub V. 34c-e“, der den genannten Zusammenhang von 34b und 35a unterbricht und (W545) „mit dem Paulus drei weitere, von Christos Iēsous (V. 34b) abhängige Prädikationen ergänzt“, die wiederum (W546) „möglicherweise eine christologische Tradition“ aufnehmen, wird ein wenig dadurch erschwert, dass in Wolters Text zweimal ein Druckfehler übersehen wurde, so dass statt von 34c-e auf Seite 545 versehentlich von „34b-c“ und auf Seite 546 von „35c-e“ die Rede ist.
Inhaltlich hebt Wolter (W547) zu diesem „Einschub V. 34c-e“ zunächst hervor, dass er „konsequent bei demselben hyper hēmōn {für uns}“ endet, „das zuvor auch der Feststellung von Jesu Tod in V. 34b ihre theologische Pointe gegeben hat“. Zu dieser abschließenden Aussage gelangt Paulus in mehreren Schritten:
Zunächst ergänzt er zu apothanōn {gestorben} (V. 34b) ein syntaktisch paralleles egertheis {auferweckt} (V. 34c). Er verbindet die beiden Partizipien aber nicht mit kai {und} zu einer komplementären Doppelaussage (‚Christus, gestorben und auferstanden‘; vgl. Röm 4,25; 2Kor 5,15; 1Thess 4,14; s. auch Röm 5,9-10; 1Kor 15,3-5), sondern setzt sie durch mallon de {mehr noch} voneinander ab. Rhetorisch handelt es sich um eine Form von amplificatio <249>. Paulus unterstreicht, dass sich über Jesus noch mehr sagen lässt, als dass er gestorben ist: Er wurde auch aufeıweckt.
Mit der „Auferweckungsaussage“ bereitet Paulus „die beiden Relativsätze V. 34d-e“ vor, „mit denen Paulus den gegenwärtigen Status Jesu und dessen Eintreten für die christlichen Wir in den Blick nimmt“, wobei „der zweite … auf dem ersten“ aufbaut: „Die Position zur Rechten Gottes schafft die bestmögliche Voraussetzung dafür, dass Jesus sich bei diesem für die Seinen verwenden kann.“
Zur „Position zur Rechten des Herrschers“ verweist Wolter auf Frauen, die nach „1Kön 2,19 …; Ps 45/44,10 … und 1/3Esr 4,29“ den Ehrenplatz neben dem König zugewiesen bekommen, und auf außerbiblische jüdische Schriften, in denen Märtyrer und Gerechte wie Hiob, Henoch, Noah, Sem und die drei Erzväter zur Rechten Gottes sitzen oder stehen. Das frühe Christentum hat „unter dem Einfluss von Ps 110/109,1“ die „Erhöhung Jesu“ mit der „Vorstellung der sessio ad dextrum {Sitzen zur Rechten} gedeutet … (‚der Herr sprach zu meinem Herrn: »Setze dich zu meiner Rechten [LXX: kathou ek dexiōn mou«], bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache‘)“, aber diese „spezielle Grundlage ist“ Wolter zufolge „in Röm 8,34d nicht mehr erkennbar“, denn (Anm. 49)
Paulus lässt Christus nicht zur Rechten „sitzen (kathizein)“, sondern „sein“ (einai); statt ek dexiōn {wörtlich: „aus“ der Richtung von rechts her} hat er en dexia {wörtlich: „in“ Richtung der rechten Seite}; von der Unterwerfung der Feinde ist keine Rede.
Schließlich ist (W548) die „Vorstellung, dass der Auferstandene und Erhöhte ‚für uns‘ bei Gott ‚eintritt‘ (entynchanei hyper hēmōn; 8,34e), … im Neuen Testament auch in nachpaulinischen Texten belegt“, so benutzt etwa Hebräer 7,25 „dasselbe Verb wie Paulus, um Jesu Wirken als himmlischer Hohepriester zu umschreiben“, und nach 1. Johannes 2,1
ist Jesus als ‚Anwalt beim Vater‘ (paraklētos … pros ton patera) zugunsten der christlichen Wir tätig, für den Fall, dass die mal sündigen. Auf Jesus wird damit eine Funktion übertragen, die im Judentum den Engeln oder anderen Mittlern zugeschrieben wird, die zu Gott erhöht wurden. Paulus überträgt das „Für-uns“-Sein Jesu von dessen Tod aus über zwei Zwischenstationen bis zum himmlischen Eintreten des Auferstandenen und Erhöhten „für uns“, weil er es auf diese Weise bis in die Gegenwart hinein verlängern kann. Die in eine rhetorische Frage gekleidete Feststellung von V. 35a, dass niemand uns von Jesu Liebe trennen kann (tis hēmas chōrisei …;), bekommt von daher einen guten Sinn, denn sie setzt voraus, dass Jesus seine Liebe zu uns auch in der Gegenwart noch praktiziert.
So viel zum Einschub 34c-e in den von Wolter angenommenen Zusammenhang der Verse 34b und 35a. Unmittelbar nach 35a wird dann (W545) in Vers 35b „das tis {wer} der rhetorischen Frage in einem siebenteiligen Peristasenkatalog {Aufzählung von sieben exemplarischen Leidenserfahrungen}“ entfaltet, so dass (W548) „[s]owohl der Katalog insgesamt als auch jedes einzelne Element für sich … mit einem virtuellen Fragezeichen zu versehen“ ist.
In einem ausführlichen Exkurs verweist Wolter darauf (W549), dass sich „[v]ergleichbare Aufzählungen … nicht nur in anderen paulinischen Briefen (1Kor 4,11-13; 2Kor 4,7-12; 6,4-10; 11,23-29; 12,10; Phil 4,12), sondern auch in der gesamten Umwelt des Neuen Testaments, der jüdischen genauso wie der nichtjüdischen“, finden. Allerdings beschreibt „die Liste in Röm 8,35 … nicht individuelle apostolische Leidenserfahrungen …, sondern allgemein-christliche Erfahrungen“, die die „Leser … bereits gemacht haben“ oder „die ihnen möglicherweise noch bevorstehen.“ Dabei soll wie „beim Lasterkatalog in Röm 1,29-31 … die Katalogform auch hier den Eindruck von Vollständigkeit vermitteln“ und „das Pathos der Rede“ steigern, wozu „auch die Siebenzahl der Leidenserfahrungen“ beiträgt, aber ohne dass Paulus damit wie in der „Johannesoffenbarung … die sieben Leidenserfahrungen … als Bestandteil des Endgeschehens“ deuten würde.
In jüdischen Schriften gibt es sowohl „Leidenskataloge“, die „die allgemeine condicio humana charakterisieren (z.B. Sir 40,8-9…)“ als auch Aufzählungen der „Strafen …, die Gott über Sünder und Frevler sowie über sein Volk bringt, wenn es seinen Worten nicht gehorcht (z.B. Dtn 28,47-48…; Jer 27,8…)“, es „gibt sie aber auch als Bestandteil von Visionen, die kommendes Unheil ankündigen“. Außerdem erwähnt Wolter Leidenskataloge in „stoischen Texten“, die „hervorheben“ wollen, dass es gerade die Leidenserfahrungen sind, die den Charakter des weisen Mannes und des wahren Philosophen hervortreten lassen“. Unter all diesen Leidenslisten kommen Wolter zufolge diejenigen der
Intention von Röm 8,35 am nächsten …, die zusammengestellt werden, um die Größe des Heils zu veranschaulichen. Das gilt z.B. für äthHen 25,5-6: „Die Auserwählten werden sich freuen voller Freude und fröhlich sein, und in ihren Tagen wird sie weder Trauer noch Leid, noch Bedrängnis, noch Plage erreichen“; PsSal 15,7: „Hunger und Schwert und Tod sind fern von den Gerechten“. Auch in 2Chr 20,9 wird ein Leidenskatalog benutzt, um Heilsgewissheit zu artikulieren: „Wenn über uns kommt Böses, Schwert, Strafgericht oder Pest oder Hungersnot, und wir schreien zu dir um Hilfe aus unserer Bedrängnis, dann wirst du hören und retten“. Auf dieser Linie liegt auch, was Bileam nach Josephus <250>, Ant. 4,127f zu Balak und den Midianitern sagt: „Das Volk der Hebräer wird niemals vollständig vernichtet werden, weder durch Krieg noch durch Pest und einen Mangel an Früchten der Erde (out‘ en polemō out‘ en loimō kai spanei tōn apo gēs karpōn), noch kann eine andere unerwartete Sache (es) verderben, denn bei Gott gibt es Fürsorge für sie, um sie aus allem Bösen zu retten (pronoia gar estin autōn tō theō sōzein apo pantos kakou)“.
Als Gemeinsamkeit von Römer 8,35 mit der zuletzt erwähnten Leidensliste in den Jüdischen Altertümern des Josephus nennt Wolter nicht nur (W550f.),
dass die Aufzählung von Leidenserfahrungen Bestandteil einer Heilsaussage ist (vgl. hier wie dort oute <251>), sondern auch die Gewissheit, dass Gott sein Volk im Leiden nicht verlässt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass es bei Josephus die „Fürsorge“ (pronoia) Gottes ist, die Israel durch das Leiden trägt und vor dem Verderben bewahrt, während dies in Röm 8,35 der „Liebe Christi“ zugeschrieben wird.
Gegenüber der Gefahr (W551), „dass Leidenserfahrungen christliche Gemeinden destabilisieren können (vgl. Mk 4,17 parr.; 1Thess 3,3-4)“, versucht Paulus mit dem Leidenskatalog nach Wolter „die Heilsgewissheit seiner Leser gegen mögliche Zweifel und Verunsicherung zu immunisieren“, wobei (Anm. 59) die „paulinische Argumentation … fast wie eine Umkehrung der Beschreibung von Israels Unheil in Jes 51,19“ gelesen werden kann:
dyo tauta antikeimena soi: tis soi syllypēthēsetai? ptōma kai syntrimma, limos kai macharia; tis se parakalesei? („diese beiden stehen gegen dich: Wer wird mit dir trauern? Sturz und Verderben, Hunger und Schwert: Wer wird dich trösten?“).
Was die (W551) einzelnen „Elemente der Aufzählung von Röm 8,35“ betrifft, die alle „auch in anderen Leidenskatalogen belegt“ sind, möchte ich nur hervorheben, dass sich die Stichworte thlipsis {Bedrängnis} und stenochōria {Not} „als Begriffspaar vor allem in der Septuaginta“ finden, z.B. in 5. Mose (Deuteronomium) 28,53.55.57 und Jesaja 8,22; 30,6, und dass auch „Paulus … das Begriffspaar in Röm 2,9“ hat, „um die Strafen summarisch zu umschreiben, die Gottes Gericht über alle verhängt, die das Böse tun“. Zum Stichwort (W552) machaira {Schwert} ist zu sagen, dass es als „Umschreibung für den gewaltsamen Tod“ verwendet wird („vgl. vor allem Apg 12,2“) und dass sich in „vergleichbaren Unheilskatalogen … ‚Schwert‘ und ‚Hunger‘ besonders nahe“ stehen („vgl. z.B. Jes 51,19 …; Ez 14,21 und Apk 6,8 …; bei Jeremia, aber nicht nur bei ihm, findet sich häufig die Reihe ‚Schwert, Hunger und Pest …‘: Jer 14,12; 21,7.9 u.ö.; s. auch Ez 5,12; 6,11; 7,15; 12,16…“).
[9. Juni 2025] Gerhard Jankowski (J196) bezieht sich auf die Verse Römer 8,33-34 mit den Worten: das „kleine hymnusartige Stück“, das „durchsetzt“ ist (J196f.)
mit Worten aus dem Gerichtswesen: anklagen, enkalein; verurteilen, katakrinein; für jemanden als Anwalt eintreten, entynchanein. Paulus hat das Gericht im Blick, das für die messianische Zeit zu erwarten ist. Es ist notwendig, damit auf der Erde unter den Menschen Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Paulus ist sich sicher, daß in diesem Gericht die Praxis des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden Bestand haben wird. Recht getan, wahr gemacht! Das wird das Urteil des Gerichtes sein. Nicht zu verurteilen sind die, die mit ihrem Zusammenleben den Leib des Messias verkörpern.
Während in Vers 32 „noch in der Schwebe“ war, „ob der Sohn Gottes … lsrael oder der Messias ist, so wird … jetzt sehr deutlich“:
Der Sohn, der ausgeliefert wurde, ist der Messias Jesus. Nur von ihm kann es heißen, daß er gestorben ist und erweckt wurde. Und es ist dieser Gestorbene und Erweckte, der als Messias an der Rechten Gottes steht. Er ist der Anwalt der messianischen Gemeinde aus Juden und Gojim, er tritt für sie ein in dem zu erwartenden Gericht. Sie kann sich seiner Solidarität gewiß sein, vor allem da, wo Solidarität am dringendsten gebraucht wird: in Unterdrückung, in Verfolgung, im Hunger.
Hier zeigt sich, dass Jankowski in die hymnusartigen Verse 33-34 auch den Vers 35 mit hineinnimmt, in dem sich Paulus der harten Realität der Gegenwart stellt:
Das ist sie wieder, die Realität, die Paulus nie aus den Augen verliert, auch wenn ihm in seiner Gewißheit fast der Mund vor Jubel übergeht. Er übertüncht sie nicht. Er hatte sie auszuhalten. Wiederholt war er bei seiner Arbeit für die messianische Praxis verfolgt, verprügelt, diffamiert worden. Teilweise sah er diese Erfahrungen in Analogie zum Leben des Messias Jesus. Es war nicht so, daß die messianische Praxis erkennbar zum Erfolg führen mußte. Da waren eben immer noch die unmenschlichen Verhältnisse, die längst noch nicht abgelöst waren von der neuen Welt, die zu erwarten stand.
↑ Römer 8,36: Paulus erinnert an den Psalm der Leiden Israels um des Bundes willen
8,36 Wie geschrieben steht (Psalm 44,23):
„Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag;
wir sind geachtet wie Schlachtschafe.”
[10. Juni 2025] Da Paulus Michael Wolter zufolge (W545) den Leidenskatalog von Römer 8,35b „schließlich durch das Zitat von Ps 43,23LXX mit einer theologischen Deutung versieht“, endet die „durch tis {wer} in V. 35a eröffnete Frage … erst am Ende von V. 36“, und zwar (W552) knüpft das Zitat aus der griechischen Übersetzung von Psalm 44/43,23 in Vers 36 „mit thanatoumetha {wir werden umgebracht} unmittelbar an machaira (V. 35b) an, denn ‚Schwert‘ stand dort metonymisch für ‚Tod‘.“ Vom Satzbau her gehört das „Psalmwort… zu der durch tis hēmas chōrisei {wer könnte uns trennen} (V. 35a) eröffneten Frage“. Aus dem „[f]ormgeschichtlich“ als „Volksklagelied“ einzuordnenden Psalm greift Paulus auf eine „Passage“ zurück,
die im Exil entstanden ist <252> und Israels Festhalten an dem Bund mit seinem Gott als Ursache des Elends wahrnimmt, unter dem das Gottesvolk leidet. Die Sprache ist bildhaft und hyperbolisch {übertreibend}. „Deinetwegen“ bezog sich im Psalm auf Gott und verweist bei Paulus auf Christus. Analog wird das Wir Israels im Psalm bei Paulus zum christlichen Wir. Logisches Subjekt der beiden passivischen Prädikate sind hier wie dort die anderen: im Psalm die fremden Völker, in Röm 8,36 die nichtchristliche Umwelt. Paulus will mit Hilfe des Zitats dem christlichen Leiden seinen Charakter als Differenzerfahrung nehmen: Es gehört zum Wesen der von Christus Geliebten dazu, dass sie eben deswegen von Seiten der anderen Leiden erdulden müssen.
Kurz und bündig scheint also für Wolter der Sinn von Römer 8,36 abgehandelt zu sein. Eine alte Volksklage Israels, die in übertreibender Form längst vergangenes jüdisches Leiden zu deuten versuchte, wird von Paulus für die „christlichen Wir“ angeeignet und beschreibt nun das Leiden der Christen, das sie durch ihre „nichtchristliche Umwelt“ erfahren, also unausgesprochen durch Heiden und Juden, die den Glauben an Christus nicht annehmen.
Gerhard Jankowski dagegen (J197) hält es für wahrscheinlich,
daß die eigenen Erfahrungen des Paulus ihn ganz solidarisch an die Erfahrungen seines Volkes binden. So zitiert er ganz gezielt genau an dieser Stelle einen Satz aus Ps 44. Diesen Psalm zitieren die Weisen Israels immer dann, wenn sie nachdenken über die Existenz Israels, die gekennzeichnet ist von Unterdrückung und Gewalt und die aller Hoffnung auf Befreiung zu widersprechen scheint.
Da Paulus es für „dringend notwendig“ hielt, „seinen fast enthusiastisch klingenden Worten“, die er zuvor geäußert hat, „den Satz aus Ps 44 gegenüberzustellen“, einen Satz, der „ihn selbst aus den Höhen einer jubelnden Gewißheit in die Wirklichkeit seines Volkes“ zieht und mit dem er „sich selbst zur Nüchternheit“ gemahnt, zitiert Jankowsi „den Satz aus Ps 44 in seinem gesamten Kontext“, nämlich den Versen 10-18 und 23-27 (J197f.):
10 Wohl, du hast uns verworfen
und hast uns Schimpf angetan,
zogst in unseren Scharen nicht aus,
11 triebst uns von dem Bedränger zurück,
daß sich vollplünderten unsere Hasser,
12 gabst wie Schafe uns hin, die als Fraß gehen,
unter die Gojim worfeltest du uns,
13 verkauftest dein Volk für ein Ungeld,
nicht steigertest du ihren Preis,
14 machtest unseren Anwohnern aus uns einen Hohn,
Spott und Posse denen rings um uns her,
15 machtest ein Gleichnis aus uns unter Gojim,
ein Kopfschütteln unter Nationen.
16 All mein Tag ist mir mein Schimpf gegenwärtig,
die Schamröte meines Antlitzes hüllt mich,
17 vor der Stimme des Höhners und Hudlers,
vor des Feindes, des Rachsüchtigen Antlitz.
18 All dies ist gekommen an uns,
und doch haben wir dein nicht vergessen,
nicht gelogen haben wir deinen Bund.
23 Ja, um dich werden wir all den Tag getötet,
wie Schafe für die Schlachtbank geachtet.
24 Rege dich!
warum schläfst du, mein Herr!
erwache!
nimmer verwirf uns auf Dauer!
25 warum versteckst du dein Antlitz,
vergissest unsere Not, unsere Umklammrung!
26 Unsere Seele ist ja gesenkt in den Staub,
unser Leib klebt am Boden.
27 Steh auf
zur Hilfe uns!
gilt uns ab
deiner Huld zu willen!Die Worte sprechen für sich. Sie bedürfen nicht der Interpretation. Aus der Erfahrung heraus aufgeschrieben sind sie zu oft bezeugt worden durch die Unzähligen, die im Lauf der Geschichte den NAMEN heiligten. Sie sind zu hören als notwendiger Gegentext. Paulus hatte sie nicht vergessen. Er erinnert sich an sie und nimmt sich selbst mit ihnen in Disziplin, als er voller Gewißheit die messianische Perspektive in Worte zu fassen sucht.
Anders als Wolter besteht Jankowski darauf, daran zu erinnern, wie oft wohl (198f.)
die Worte aus Röm 18 als Hymnus von denen gesprochen worden [sind], die sich „vollplünderten“ und „haßten“, die mordeten und ausrotteten, was jüdisch hieß? Sie waren sich ja des Heils gewiß, das sie heraushörten aus diesen Worten. Deswegen war dieser sperrige Vers aus Ps 44 schnell überlesen oder wurde gar nicht gelesen, weil er störend war. Es ist bezeichnend, daß das Evangelische Gesangbuch <253> Röm 8,31-39 unter der Nr. 771 als „Psalm“ abdruckt, den Vers aus Ps 44 aber gestrichen hat. Diese Streichung ist eine beredte Interpretation.
Warum (J199) gehört „dieser Vers und mit ihm der ganze Ps 44 … genau an diese Stelle“? Jankowski nennt drei entscheidende Gründe:
Damit der Enthusiasmus nicht ins Irrationale abkippt; damit die messianische Ekklesia die Solidarität mit den Unterdrückten, Verfolgten, Gefolterten, Hungernden lernt und nicht aufgibt. Vor allem aber, damit die Bindung an Israel bestehenbleibt.
Warum die „Bindung an Israel“ nicht aufgegeben werden darf, begründet Jankowski mit dem Hinweis darauf, dass in dem Psalm „trotz aller Bedrückung und Verfolgung die erfahrene Befreiung lebendig“ ist, und es ist „Israel“, das davon „allen Unterdrückten“ Zeugnis gibt. Und genau dieses Zeugnis mag „mit ein Grund für Antijudaismus und Antisemitismus“ sein, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Jankowski zitiert dazu (Anm. 60) einen „der Vordenker des Faschismus, Edgar Jung <254>“, der die Meinung vertritt,
daß aufgrund der „volklichen“ Entwicklung die Juden geradezu prädestiniert sind, die Gedanken von „Menschlichkeit“ und „Internationalismus“ zu vertreten. Deshalb sei auch eine politische Gegnerschaft zwischen deutschem und jüdischem Volk unvermeidlich.
Was ganz am Ende des 8. Römerbriefkapitels nun noch kommt, ist daher ein „Lied, das mit seiner Hoffnung auf die neue Welt ansingt gegen die herrschenden Mächte dieser Welt.“
↑ Römer 8,37-39: In allem obsiegen wir, denn nichts kann uns trennen von Gottes solidarischer Liebe im Messias Jesus
8,37 Aber in dem allen überwinden wir weit
durch den, der uns geliebt hat.
8,38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
8,39 weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
[13. Juni 2025] Zu Römer 8,37 weist Michael Wolter darauf hin (W552), dass „sich en toutois pasin {in alledem} auf die in V. 35b genannten Leidenserfahrungen“ bezieht, „und dia tou agapēsontas hēmas {durch den, der uns seine Liebe erwiesen hat} weist auf V. 35a zurück.“ Damit bestätigt er, dass die Verse 35-37 einen Zusammenhang bilden.
Mit dem durch die Vorsilbe hyper- verstärkten Wort nikaō {siegen} drückt Paulus aus (Anm. 64), dass „die christlichen Wir einen ‚triumphalen Sieg‘ erringen“; er verwendet damit (W552f.) „eine Metapher …, die in seiner Umwelt vor allem in der Sprache des Wettkampfs und des Krieges gebräuchlich ist.“ Er sagt zwar nicht (W553), „dass das Leiden besiegt wird“, da das Wort „intransitiv gebraucht“ wird,
doch lässt das Präsens erkennen, dass Paulus hier nicht lediglich an einen Sieg nach dem Leiden denkt, sondern dass der Triumph im Leiden selbst errungen wird. Man kann die Gewissheit, die sich in diesen Worten ausspricht, vielleicht von Röm 5,2c-4 her interpretieren: Der Sieg, der den christlichen Wir bereits „mitten im Leiden“ zuteil wird, besteht darin, dass die Christen eine Hoffnung haben, die es ihnen erlaubt, sich ihrer Leiden zu „rühmen“ (5,3). Mit hypernikōmen {wir siegen überlegen} bezeichnet Paulus darum nicht etwas noch Ausstehendes; es findet vielmehr immer dann statt, wenn Christen sich im Leiden ihres Christus-Glaubens vergewissern. dia tou agapēsantos hēmas {durch den uns geliebt Habenden} verweist auf den vom Glauben als Heilsgeschehen gedeuteten Tod Jesu. Dass Paulus hier nicht einfach ‚durch Christus‘ sagt, sondern „durch den, der uns seine Liebe erwiesen hat“, ist durch V. 35a veranlasst.
Am Anfang von Vers 38 markiert das Wort pepeismai {ich bin überzeugt} „einen Einschnitt“, indem Paulus „seinen Lesern“ ankündigt, „dass er gleich Bedeutungsvolles sagen wird“, und zwar geht es wie in den Versen 31b-34a „jetzt wieder um Gott und das Verhältnis der Christen zu ihm.“ Allerdings (W554) übernimmt Paulus aus „dem Christus-Teil“ in den Versen 34b-37 die Frage „ti hēmas chōrisei apo tēs agapēs tou Christou? {wer könnte uns trennen von der Liebe Christi}) in das Gottesverhältnis hinein … (V. 39), wobei er aus der rhetorischen Frage eine Feststellung macht.“
In den Versen 33a-34a hatte „Paulus der Gewissheit, dass die heilvolle Gottesnähe der von Gott Erwählten und Gerechtfertigten von niemandem aufgehoben werden kann, … die Gestalt von zwei rhetorischen Fragen gegeben“, jetzt drückt er sie „ähnlich wie in V. 35b mit Hilfe eines Katalogs“ aus:
Von dem dortigen Katalog individueller und empirischer Leidenserfahrungen der menschlichen Lebenswelt unterscheidet sich der Katalog in V. 38-39 vor allem in den Dimensionen, die Paulus nun in den Blick nimmt: Es sind jetzt universale, ja kosmische Mächte und Gewalten, die er aufmarschieren lässt. Der Katalog besteht aus neun Elementen; acht von ihnen bilden vier Begriffspaare, die sich aber nicht antithetisch gegenüberstehen, sondern jeweils einen korrelativen Dualismus bilden. Sie markieren komplementäre Polaritäten, deren Aufgabe in jedem Einzelfall darin besteht, Gesamtheit und Vollständigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Nicht alle von Paulus aufgeführten „Begriffspaare sind auch anderswo belegt“. Er selbst führt in einer „Aufzählung in 1Kor 3,22 (‚Paulus, Apollos, Kephas, Kosmos, eite zōē eite thanatos, eite enestōta eite mellonta‘ {es sei Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges}), … gleich zwei Begriffspaare“ auf, „die es auch in Röm 8,38 gibt.“ Ansonsten verweist Wolter auf Belege aus der hellenistisch-römischen Literatur, z.B. bei Marc Aurel, Epiktet oder Plato, aber auch aus der Bibel, so erwähnt er, dass sich das „Paar thanatos und zōē {Tod und Leben} … in dieser Reihenfolge schon in 2Sam 15,21 und Spr 18,21“ findet, während das „Begriffspaar angeloi und archai {Engel und Mächte} … sonst nirgends belegt“ ist und vielleicht „himmlische und irdische Mächte in den Blick nehmen will“. Die Stichworte „hypsōma und bathos {Hohes und Tiefes} kommen zwar je für sich auch sonst bei Paulus und in der griechischen Bibel vor, jedoch nicht gemeinsam.“ Wolter schließt jedoch aus (Anm. 77), dass „Paulus mit hypsōma und bathos siderische Sachverhalte bezeichnen will“, die sich auf den gestirnten Himmel beziehen würden.
Warum (W555) das Stichwort „dynameis … für sich allein“ steht, kann nach Wolter damit zu tun haben, dass damit hier wohl himmlische „Gewalten“ ähnlich wie in 1. Petrus 3,22; 1. Korinther 15,24; Epheser 1,21 gemeint sind und
dass Paulus beim Diktat des Briefes zu dynameis kein Pendant eingefallen ist, das analog zu den anderen Dualen zusammen mit diesem Begriff ein polares Gegenüber bildete. Das ist auch kein Wunder, denn ein solcher Gegenbegriff müsste ja Instanzen bezeichnen, die keine Macht haben, und das würde nicht in den gegebenen Kontext und zum paulinischen Aussageinteresse passen: Was keine dynamis {Macht} ist oder hat, ist auch keine Bedrohung.
Indem sich „alle Begriffspaare … mehrfach überlagern…, … entsteht ein lückenloses Geflecht aller denkbaren Mächte, die es in der Welt gibt“, so dass diese „[w]eder je für sich noch zusammen genommen … etwas dagegen ausrichten“ können (W555f.),
dass die Christen von Gott geliebt bleiben. Weil Gott es ist, der sie liebt, kann es nirgendwo und nirgendwann eine Macht geben, die dieses Verhältnis zerstören könnte. Den Grund dafür nennt Paulus im letzten Glied seiner Aufzählung, oute tis ktisis hetera {noch irgendeine andere Schöpfung}. Obwohl es unterschiedliche Mächte sind, die er aufgezählt hat, haben sie Gott gegenüber doch ein Merkmal gemeinsam: Sie sind seine „Schöpfung“ (V. 39) und vermögen eben darum gegen seinen Willen nichts auszurichten. Das letzte Glied … nennt diejenige Eigenschaft, die ihnen allen gemeinsam ist: Sie sind Gottes Schöpfung und unterliegen damit seiner Verfügungsgewalt.
Zu der „mit tis … heteros“ {irgend … anders} formulierten Wendung fügt Wolter hinzu (W556), dass sie auch anderswo „dasjenige Merkmal nennen, das die zuvor genannten Elemente“ einer „exemplarische[n] Auswahl“ von Elementen einer Aufzählung „miteinander gemeinsam haben“, z.B. in Römer 13,9 oder 1. Timotheus 1,9-10.
Mit dem Stichwort der agapē tou theou {Liebe Gottes}, das „für Erwählung“ steht und „auf die ‚Erwählten Gottes‘ in V. 33a“ zurückweist, greift Paulus Wolter zufolge
wieder auf Israeltypologie zurück, um die christlichen Wir zu charakterisieren. ln derselben Weise hatte er die Adressaten zu Beginn seines Briefes (in 1,7) tituliert. Und wie in 1,6 verknüpft er auch am Schluss dieses Briefteils das Gottesverhältnis der Christen mit ihrem Christusverhältnis, indem er die Liebe Gottes zu ihnen durch das präpositionale Attribut hē en Christō Iēsou tō kyriō hēmōn {diejenige in Christus Jesus, unserem Herrn} näher bestimmt (V. 39).
Ich werde nicht müde zu betonen, dass Wolter damit erneut so tut, als ob Paulus etwas, was zuvor Israel zustand, nunmehr auf die Christen überträgt, so dass es Juden nun nicht mehr zusteht. Damit lässt er die Möglichkeit außer Acht, dass Paulus von Anfang des 1. Römerbriefkapitels an bis zum Ende des 8. Kapitels jüdische Adressaten anspricht und bei ihnen um die Einsicht wirbt, dass auch die auf den Messias vertrauenden Völker in die solidarische Liebe Gottes zum Volk Israel mit hineingenommen sind.
Wenn Wolter die Formulierung Christos Iēsous {Christus Jesus} „auch hier“ als „Umschreibung für das in V. 32b angesprochene Geschehen“ begreift, „dass Gott seinen Sohn ‚für uns‘ hingegeben hat, was Paulus in Röm 5,8 als Beleg dafür genommen hatte, dass Gott ‚uns‘ liebt“, dann könnte der falsche Schluss gezogen werden, der im Christentum ja auch bis heute von vielen vertreten wird, dass Gott denjenigen Juden, die nicht auf Jesus vertrauen, seine Liebe entzogen hat. Kann der Jude Paulus das aber wirklich angenommen haben? Mit dieser Frage werden wir uns ausführlich im Zuge der Auslegung der Kapitel Römer 9-11 beschäftigen müssen. Hier ist auf jeden Fall festzuhalten, welche ihn überwältigende Überzeugung Paulus durch seine Berufung durch den Messias Jesus gewonnen hat, nämlich dass in die gleiche Solidarität Gottes, die von jeher den Juden galt, nun auch die Völker einbezogen worden sind. In Wolters Augen bildet seine Aussage, die ich am Anfang dieses Absatzes zitiere, die „Grundlage“ dafür (W556f.),
dass die in V. 39 formulierte Feststellung (‚keine Schöpfung kann uns jemals von Gottes Liebe in Christus Jesus trennen‘) und die rhetorische Frage von V. 32c (‚wie sollte Gott uns nicht mit seinem Sohn alles schenken?‘) sich gegenseitig interpretieren: Von Gottes Liebe nicht getrennt werden zu können (V. 39) und von ihm alles geschenkt zu bekommen (V. 32c), laufen auf dasselbe hinaus.
Zusammenfassend betont Wolter (W558) zum Abschnitt Römer 8,31-39, dass er „mehr als eine bloße Wiederholung und Zusammenfassung von bereits Gesagtem“ liefert. Stattdessen stellt „Paulus die Heilsaussagen“ einer Reihe möglicher „Unheilserfahrungen und Unheilsmächte“ gegenüber, „von denen die christliche Heilsgewissheit und Heilszuversicht sich bedroht und in Frage gestellt sehen könnte.“ Und zwar (W559)
[g]erade weil sie {die Christen} ihrer eigenen Wahrnehmung nach von Gott ‚berufen‘ und ‚gerechtfertigt‘ und ‚verherrlicht‘ sind, erfahren sie von Seiten ihrer Umwelt Ablehnung, Bedrängnis und Verfolgung. Gegen die von dieser Differenzerfahrung ausgehende mögliche Verunsicherung und Destabilisierung will Paulus die Heilsgewissheit und Heilszuversicht seiner Leser immunisieren, indem er sie daran erinnert, dass Gott es ist, dem alle Christen ihre Heilsgewissheit und Heilszuversicht verdanken: Er ist es, den sie auf ihrer Seite haben (V. 31b), der sie erwählt hat und gerecht spricht (V. 33a.b) und der sie so sehr liebt (V. 39), dass er sogar seinen eigenen Sohn für sie hingegeben hat (V. 32a-b). … Paulus will nicht nur wie in V. 30 das Schon jetzt des Heils betonen, sondern er sieht es auch auf ewige Dauer gestellt: Die Christen sind und bleiben von Gott erwählt und geliebt – auf ewig und unverbrüchlich.
Im Anschluss an diese abschließende Einschätzung der ersten 8 Kapitel des Römerbriefs blickt Wolter mit folgenden Worten auf die Auslegung der folgenden Kapitel 9-11 voraus:
Dass Paulus sich gerade im Anschluss an diese Feststellung die Frage vorlegt, was denn nun mit den nichtchristlichen Juden ist, die im Christusgeschehen nicht das Handeln Gottes erkennen können, ergibt sich fast von selbst. Schließlich gehören auch sie zu dem Volk, das Gott schon immer geliebt und erwählt hat (Dtn 7,6-8).
[14. Juni 2025] Zum Hoffnungslied (J199), das Paulus in den letzten drei Versen von Römer 8 „gegen die herrschenden Mächte dieser Welt“ anstimmt“, hebt Gerhard Jankowski hervor, dass es mit seiner „Begrifflichkeit … – Engel, angeloi; Prinzipien, archai; Erhöhtes, hypsōma; Tiefe, bathos – … Ähnlichkeit mit Gedanken“ aufweist,
die in verschiedenen haggadischen Erklärungen geäußert werden. In diesen Stücken versuchen die Rabbinen zu erklären, wie die Geschichte der Völker, also die Menschheitsgeschichte, mit der Geschichte des Volkes Israel zusammenhängt. Diese Erklärungen sind außerordentlich vielfach und höchst kompliziert. Kurz gesagt geht es um folgendes: Die Schöpfung wird eingeteilt in eine untere und eine obere Welt. In der unteren Welt ereignet sich die wirkliche Geschichte. In der oberen Welt sind die einzelnen Völker durch Engel bei Gott vertreten. Diese Engel streiten mit den Dienstengeln Gottes, d.h., daß die Gegensätze zwischen den Völkern und Israel auch auf einer höheren Ebene ausgetragen werden. Dieser Kampf ist Gott nicht unbekannt. Meistens tragen in diesem Kampf die Vertreter der Völker den Sieg davon. Es ist Aufgabe der Engel aus dem „Hofstaat“ Gottes, diese Feindschaft möglichst für immer zu überwinden. Der Kampf, der sich in der oberen Sphäre abspielt, die Mächte, die diesen Kampf führen, sie alle haben ihre Entsprechungen auf der Erde. Was sich „oben“ abspielt, dient letztendlich nur dem Verständnis dessen, was sich „unten“ tatsächlich abspielt. <255>
Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass es hier nicht einfach um haltlose Spekulationen über obskure jenseitige Mächte geht. Vielmehr sind nach Jankowski (J200) die hier auf Erden herrschenden
Mächte, dynameis, … sehr wohl zu benennen, wenn sie sich auch zuweilen die Maske des Göttlichen überziehen. Die über Tod und Leben herrschen, die Gegenwart und die Zukunft handhaben, die von ganz oben herab die da unten noch mehr in den Dreck stoßen, sie sind wirksam noch. Sie wollen verhindern, was die Schöpfung zur Schöpfung macht. Sie setzen auf Feindschaft und Trennung.
Es ist diese Feindschaft und Trennung, die durch das Kommen des Messias in die Welt überwunden wurde:
Im Messias Jesus, in der messianischen Gemeinschaft aus Juden und Gojim, leben die ehemals Verfeindeten die Solidarität Gottes. Nichts kann sie trennen von dieser Solidarität. Sie ist bewährt und wird sich bewähren. Das ist in nuce {im Kern} der Sieg über die Mächte der Welt. Das ist die Perspektive der neuen Welt mit einer neuen Menschheit. Das ist neue Schöpfung. Das ist die Revolution Gottes, die begonnen hat mit der Auferstehung des Messias. Die messianische Praxis, das Zusammenleben der Verschiedenen ist die Vorbereitung auf die Revolution Gottes; sie ist das dieser Revolution adäquate politische Handeln, das möglich ist. Alles andere ist hoffnungslos.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 8,18-39
8,18 Denn ich rechne damit,
dass die Leiden der Zeit jetzt nichts wert sind
gegenüber der kommenden Ehre,
die auf uns hin enthüllt wird.
8,19 Das sehnsüchtige Harren der Schöpfung
wartet ja auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes.
8,20 Der Nichtigkeit nämlich wurde die Schöpfung unterworfen,
nicht freiwillig,
sondern durch den, der sie unterworfen hat
– auf Hoffnung hin,
8,21 dass auch sie, die Schöpfung, befreit werden wird
von der Sklaverei des Verderbens
zur Freiheit der Ehre der Kinder Gottes.
8,22 Wir wissen ja,
dass die ganze Schöpfung zusammen stöhnt
und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.
8,23 Nicht allein aber,
sondern auch sie, die die Erstlingsgabe der Inspiration haben,
auch wir selbst, wir stöhnen in uns selbst,
weil wir auf die Sohnschaft warten,
die Auslösung unseres Leibes.
8,24 Denn auf Hoffnung hin wurden wir befreit.
Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung.
Denn was man sieht, wer hofft (noch darauf)?
8,25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen,
warten wir mit Standhaftigkeit.
8,26 Ebenso aber trägt auch die Inspiration an unserer Schwachheit mit.
Denn was wir beten sollen,
wie es sein muss,
das wissen wir nicht.
Aber die Inspiration selbst tritt für uns ein mit unsagbarem Stöhnen.
8,27 Der aber die Herzen erforscht,
weiß, worauf die Inspiration bedacht ist,
weil sie Gott gemäß für Heilige eintritt.
8,28 Wir aber wissen,
dass denen, die Gott lieben,
er alles mit zum Guten wirkt,
denen, die gemäß Beschluss gerufen sind.
8,29 Denn die er im Voraus erkannt hat,
hat er auch im Voraus eingesetzt
als dem Bild seines Sohnes Gleichgestaltete,
damit er der Erstgeborene unter vielen Geschwistern sei.
8,30 Die er aber im Voraus eingesetzt hat,
die hat er auch gerufen.
Und die er gerufen hat,
die hat er auch wahr gemacht.
Die er aber wahr gemacht hat,
denen hat er auch Ehre gegeben.
8,31 Was wollen wir nun dazu sagen?
Wenn Gott für uns (ist), wer (ist) gegen uns?
8,32 Er, der sogar den eigenen Sohn nicht geschont,
sondern ihn für uns alle ausgeliefert hat,
wie wird er uns mit ihm nicht auch das Ganze schenken?
8,33 Wer könnte gegen Gottes Auserwählte Klage erheben?
Gott (ist es), der wahr macht.
8,34 Wer (ist es), der verurteilen könnte?
Der Messias Jesus, der gestorben ist,
mehr noch: der erweckt ist,
der auch zur Rechten Gottes ist,
der auch für uns eintritt.
8,35 Wer könnte uns trennen von der solidarischen Liebe des Messias?
Bedrängnis oder Angst oder Verfolgung oder Hunger
oder Entblößung oder Gefahr oder Schwert?
8,36 Wie geschrieben ist:
Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag,
wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden.
8,37 Aber in dem allen sind wir mehr als Überwinder
durch den, der uns geliebt hat.
8,38 Denn davon bin ich überzeugt,
dass weder Tod noch Leben,
weder Gottesboten noch Herrschende,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte,
8,39 weder Hohes noch Tiefes noch irgend eine andere Schöpfung
uns jemals trennen könnte von der solidarischen Liebe Gottes
– derjenigen im Messias Jesus, unserem Herrn.
↑ Fragt Paulus, ob nichtchristliche Juden ihr Heil verlieren oder wendet sich Paulus als Anwalt der Juden an die Gojim? (Römer 9,1-5)
[24. Mai 2025] Für Gerhard Jankowski (J201) steht außer Frage, dass Paulus in den ersten 8 Kapiteln des Römerbriefs „[z]uerst die Juden“ angesprochen hat, um ihnen darzulegen, „wie die Nichtjuden zu Israel gehören können“. Gerade deshalb haben wir schon bisher
fast nur von Israel und dem, was Israel ausmacht, gehört. Und es sind wirklich zuerst die Juden, denen er sehr breit seine These von der messianischen Zugehörigkeit der Nichtjuden vorlegt. Da ist er ganz und gar Anwalt der Gojim bei seinem Volk.
Indem Paulus „jetzt, im zweiten Teil des Briefes, sehr dezidiert von den Juden“ redet, „wird das Zuerst der Juden begründet, wieder sehr dezidiert und detailliert.“ Warum wird „dieser Teil des Briefes notwendig“? Das hat nach Jankowski zwei Gründe, nämlich
weil ihm einerseits von der jüdischen Orthodoxie vorgeworfen wurde, seine messianische Predigt und die daraus folgende Praxis habe mit Israel und dem Judentum nichts mehr zu tun. Auf der anderen Seite werden ihn die Nichtjuden in der messianischen Ekklesia gefragt haben, warum nur so wenige Juden bereit waren, in der messianischen Gemeinschaft aus Juden und Gojim zu leben. War denn diese Gemeinschaft noch das, was Paulus propagierte? Und wenn der überwiegende Teil der Juden an dieser Gemeinschaft so wenig Interesse zeigte, mußte dann nicht die Frage auftauchen, was die Nichtjuden in der messianischen Gemeinschaft denn noch mit Israel zu tun haben sollten? Sollte Gott sein Volk verstoßen haben?
Es ist eine beklagenswerte Tatsache, „daß diese Frage von der späteren Kirche genauso gestellt und entsprechend beantwortet wurde.“ Dafür, dass „Christen … nichts mehr mit Israel und den Juden zu tun“ hatten, berief man sich als Zeugen (J201f.) auf „Paulus mit den drei ‚Israel-Kapiteln‘ im Römerbrief“. Jankowski wird „im einzelnen“ noch darauf eingehen (J202),
wie diese Meinung bis heute von vielen Exegeten an den theologischen Fakultäten vertreten wird und tief in die Gemeinden hineinwirkt. Ob sie sich dabei in der Tat auf Paulus berufen können, ist zumindest zu bezweifeln. Wir gehen davon aus, daß Paulus hier als der Anwalt seines Volkes bei den Nichtjuden in der messianischen Gemeinde argumentiert. Er ist freilich ein kritischer Anwalt, wie er es auch als Anwalt der Gojim gegenüber seinem Volk ist. Und er mutet seinen nichtjüdischen Brüdern und Schwestern einiges zu. Er legt ihnen Zitat um Zitat aus der Schrift vor und gibt sie ihnen zu bedenken. Er erwartet also, daß sie sich auskennen in der Schrift, mit ihr umzugehen wissen, bereit sind, auf sie zu hören. Wie könnten sie es tun, wenn sie nichts mehr mit Israel, dem die Verheißungen gelten (9,4), zu tun haben wollen?
Was die Römerbriefkapitel 9 bis 11 betrifft, ist Jankowski also insofern einig mit Wolter, dass hier tatsächlich in erster Linie die römischen Nichtjuden angesprochen sind:
Der Anwalt seines Volkes nimmt die Nichtjuden mit in ein Lehrhaus, in dem die Schrift der Lehrer ist, um mit ihnen zusammen von Israel zu lernen. Und wir müssen in dieses Lehrhaus mit hinein.
Jankowski (J7) teilt die Auslegung dieses zweiten großen Hauptteils des Römerbriefs unter der Überschrift „Anwalt der Juden: Die Gojim und Israel“ in folgende vier Abschnitte ein: „Sie sind Israeliten“ (9,1-5), „Wer ist Israel?“ (9,6-33), „Zur Sache“ (10,1-21) und „Plädoyer für Israel“ (11,1-36).
Für Michael Wolter spielen Erwägungen über eine wechselseitige Anwaltschaft des Paulus für die Gojim gegenüber den Juden bzw. für die Juden gegenüber den Gojim innerhalb einer aus Juden und Gojim zusammengesetzten messianischen Gemeinde keine Rolle, da seines Erachtens in der von Paulus angesprochenen Gemeinschaft der Christen ja alle Unterschiede zwischen Juden und Heiden aufgehoben sind. Wie sollen sie auch eine Rolle spielen, wenn Paulus in seinen Augen ohnehin nur Heidenchristen anspricht? Dennoch (M23) <256> ist auch für Wolter das
Thema, das Paulus in Röm 9-11 erörtert, … kein Fremdkörper innerhalb des Römerbriefes, sondern es erwächst unmittelbar aus der theologischen Gedankenführung in Röm 1-8, wenn man sie mit jüdischen Augen liest. Dass Paulus an dieser Frage existentiellen Anteil nimmt, weil er Jude ist, kann man daran erkennen, dass er die nichtchristlichen Juden in 9,3 „meine Brüder“ und „Verwandte“ nennt und schreibt, dass „ihre Rettung“ es ist, auf die sich sein „Herzenswunsch und Flehen zu Gott“ richten.
Wie erwächst nach Wolter (M22) das Thema der Kapitel 9-11 aus den Kapiteln 1-8? Erstens vom Schluss in den Versen Römer 8,38-39 her, in denen
Paulus, der Apostel Jesu Christi, … festgestellt hat, dass es keine Macht der Welt gibt, die „uns“, d.h. die „in Christus Jesus“ sind (8,1), von Gottes Liebe „trennen“ könnte, weil die ebenfalls „in Christus Jesus“ ist…
Wenn es aber nun eine Mehrheit von Menschen „aus Israel“ gibt, „die einerseits nicht ‚in Christus Jesus‘ sind, andererseits aber zu dem Volk gehören, das Gott liebt und sich darum erwählt hat (Dtn 7,6-8)“, dann muss sich Paulus „als Juden“ sofort die Frage nach den „Konsequenzen“ stellen.
Aber schon „der Beginn seines Briefes“ lässt zweitens „Paulus nach dem theologischen Status der nichtchristlichen Juden fragen“, indem „er dort feststellt, dass das Evangelium von Jesus Christus (1,1-4) ‚für jeden, der glaubt, eine Macht Gottes zum Heil ist‘ (1,16)“. Michael Wolter formuliert diese Frage folgendermaßen (M22f.):
Was ist mit denen aus Israel, die einerseits die Verkündigung dieses Evangeliums zurückgewiesen haben und nicht ‚glauben‘, andererseits aber – weil sie Juden sind – zu dem von Gott erwählten und geliebten Volk gehören.
Bezeichnend ist, dass Wolter in seiner Bezugnahme auf Römer 1,16 den Schluss des Verses außer Acht lässt: Ioudaiō te prōton kai Hellēni {für den Juden zuerst und auch für den Griechen}. Die Frage bleibt also nach wie vor offen: ebnet Paulus wirklich alle Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden ein, indem er vom Judentum als Religion zugunsten des Christus-Glaubens als neuer Religion Abschied nimmt? Oder geht es Paulus um die Einbeziehung der Gojim in eine jüdisch-messianische Gemeinschaft mit den Juden, deren Zusammenleben sich in in versöhnter Vielfalt vollzieht?
Drittens schließlich (M23) hatte „Paulus bereits in Röm 3,3-4“ danach gefragt,
ob die „Untreue“ (apistia) von Angehörigen des Gottesvolkes gegenüber den „Worten Gottes“ (V. 2) Gott dazu veranlassen kann, nun auch seine eigene „Treue“ (pistis) ihnen gegenüber aufzukündigen. … In Röm 3,3-4 hatte Paulus die Frage, ob Gott auf Untreue mit Untreue reagiert, mit dem Hinweis auf das Gott-Sein Gottes verneint: Weil Gott nicht Mensch, sondern Gott ist, gilt die Zusage seiner Treue unbedingt und macht Gott sie nicht von menschlichen Qualitäten und Verhaltensweisen abhängig. Anders als Menschen kann Gott gar nicht untreu werden. – Aus Röm 9,6a und 11,29 geht hervor, dass Paulus auch die in 9-11 verhandelte Frage als Frage nach der Verlässlichkeit von Gottes Wort erörtert und dass er sie ebenfalls mit dem Hinweis auf die weiterhin bestehende Gültigkeit von Gottes Erwählungszusage beantwortet.
Zur „Gliederung dieses Briefteils auf der obersten Textebene“ folgt Wolter einem „recht weitgehenden Konsens“, bei dem lediglich strittig ist (Anm. 2), „ob Röm 9,30-33 mit 9,6-29 oder mit 10,1-4 zu verbinden ist“.
Im einzelnen überschreibt Wolter (WXII-XIII) und (MIX-X) nach den ersten beiden großen Hauptteilen des „Briefcorpus“ im Römerbrief: „1 Gottes Heil durch Jesus Christus für alle Menschen aufgrund des Glaubens (1,18 – 5,21)“ und „2 Das neue Leben der von der Herrschaft der Sünde Befreiten (6,1 – 8,39)“ den nun folgenden Hauptteil mit „3 Was ist mit Israel? (9,1 – 11,36)“ und unterteilt ihn weiter in insgesamt sechs unterschiedlich lange Abschnitte:
3.1 Das Problem: Der Widerspruch zwischen der gegenwärtigen Heilsferne der nichtchristlichen Juden und ihrer Zugehörigkeit zu Israel (9,1-5)
3.2 Gottes Wort ist nicht dahingefallen (9,6-29)
3.3 Warum die nichtchristliche Mehrheit Israels ihr Ziel nicht erreicht hat (9,30 – 10,21)
3.4 Ein Riss geht durch Israel (11,1-10)
3.5 Auch die nichtchristliche Mehrheit Israels wird gerettet werden (11,11-32)
3.6 Gottes Wege sind unbegreiflich (11,33-36)
Dabei bemerkt Wolter zum Abschnitt 3.3 (M24), dass Paulus trotz seiner Suche „nach einer Erklärung für die Zurückweisung der Christusbotschaft durch die nichtchristliche Mehrheit Israels“ dabei „einer Beantwortung seiner Ausgangsfrage“ doch nicht näherkommt. Und auch im Abschnitt 3.4 weist Paulus zwar die „Frage: ‚Hat Gott sein Volk etwa verstoßen?‘ (V. 1b)“ vehement zurück, aber lediglich unter Verweis „auf die Existenz des judenchristlichen Restes (V. 1c.5)“. Erst indem Paulus im Abschnitt 3.5 „den Blick in die Zukunft“ lenkt,
kommt es endlich zu einer Beantwortung der Ausgangsfrage: Die aktuelle Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels ist nur von vorübergehender Dauer, weil Gottes Erwählungszusage für sein Volk, dem auch sie angehören, „unbereut“ ist (V. 29). Darum wird Gott sich auch über sie erbarmen (V. 31-32), ihre „Verhärtung“ beenden (V. 25c-d) und sie genauso retten wie die christlichen Juden (V. 26a).
Im abschließenden hymnusartigen Abschnitt 3.6 kommt nach Wolter „zum Ausdruck“, dass Paulus „keine Vorstellung … davon hat“, wie Gott die „Rettung auch der nichtchristlichen Mehrheit Israels … in die Tat umsetzen wird.“
So viel zur Gliederung des gesamten Hauptteils der Kapitel 9-11 im Römerbrief. Und nun zur Auslegung der ersten fünf Verse von Kapitel 9 (M25), die „mit einem feierlichen Schwur“ beginnen und davon handeln, dass Paulus „von ‚großer Trauer‘ und ‚unaufhörlichem Schmerz‘ erfüllt ist“, weil „die nichtchristlichen Juden sich im Zustand der unheilvollen Christusferne befinden, obwohl sie doch zu dem Volk gehören, das Gott erwählt hat.“
↑ Römer 9,1-2: Paulus trauert voller Schmerz wegen seiner jüdischen Brüder und wünschte, selber anstatt ihrer anathema, gebannt, zu sein
9,1 Ich sage die Wahrheit in Christus
und lüge nicht,
wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist,
9,2 dass ich große Traurigkeit
und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.
9,3 Denn ich wünschte,
selbst verflucht und von Christus getrennt zu sein
für meine Brüder,
die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch.
[26. Juni 2025] Indem Paulus (M26) in Römer 9,1a-b „ein und dasselbe zweimal sagt“, nämlich „dass er die Wahrheit sagt und nicht lügt“, erhöht er Michael Wolter zufolge die „Eindringlichkeit der Beteuerung“ und verleiht ihr außerdem durch die Formulierung en Christō {in Christus} (Anm. 4) „einen Schwur-Charakter“ – ähnlich wie andernorts in der Bibel Gott angerufen wird, und zwar „[m]eistens als ‚schwören im Herrn‘ wie in Ri 21,7; 1Sam 24,22; 2Sam 19,8; 1Kön 1,17.30; 2,8; 2Chr 5,14“. Zusätzlich „ruft Paulus in V. 1c das eigene Gewissen“ als Zeugen dafür auf, dass er in Vers 2 „sein tatsächliches Empfinden“ ausdrücken wird und „nicht lediglich ein Lippenbekenntnis“, wobei er (M27) mit der zu en Christō parallelen Formulierung en pneumati hagiō {im heiligen Geist} hervorhebt,
dass das Zeugnis seines Gewissens … vom heiligen Geist geleitet wird. Das ist so, weil der „Geist Gottes“ wie in allen Christen natürlich auch in Paulus „wohnt“ (Röm 8,9; s. auch 5,5), so dass damit auch das Urteil seines Gewissens vom Geist „bestimmt“ ist (8,14). Das Urteil des Gewissens wird dadurch zum Urteil des heiligen Geistes. Paulus will mit dieser Formulierung seine Glaubwürdigkeit rhetorisch absichern, indem er die Bestätigung Gottes für die Aufrichtigkeit der in V. 2 folgenden Versicherung aufbietet.
Mit Hilfe eines „synonymen parallelismus membrorum“, bei dem jeweils drei Satzglieder der Verse 2a und 2b miteinander bedeutungsgleich sind (lypē {Traurigkeit} und odynē {Schmerz}, megalē {groß} und adialeiptos {unaufhörlich} sowie moi {mir} und tē kardia mou {meinem Herzen}, äußert Paulus in Vers 2 „einen Sachverhalt, der ausschließlich seine eigene Befindlichkeit betrifft“, nämlich „dass er unter großer Traurigkeit und innerem Schmerz leidet“. Auch anderswo in Bibel kommen „lypē und odynē sowie ihre Stammverwandten“ gemeinsam vor, z.B. in „Jes 35,10 und 51,11“ oder „in Spr 31,6“. Mit der Formulierung tē kardia mou {meinem Herzen} „nimmt Paulus das Herz als Zentrum der menschlichen Personalität und Intellektualität in den Blick“ und drückt aus, dass „Traurigkeit und Schmerz … seine gesamte Existenz erfasst“ haben.
Erst in Vers 3 lässt Paulus (M28) erkennen, was „für seinen Gemütszustand verantwortlich ist und wodurch Traurigkeit und innerer Schmerz veranlasst sind“, allerdings „muss man sorgfältig zwischen den Zeilen lesen, damit man erfährt, was Paulus so sehr bedrückt“, denn
die Hauptaussage dieses Verses… besteht aus einem Wunsch (ēuchomēn {ich wünschte}), der als solcher keine Klage begründen kann. Paulus benutzt die Form des Wunsches aber, um den eigentlichen Grund für seine Klage zu verstecken.
Indem er das tut, „bedient sich“ Paulus „der rhetorischen Figur der emphasis“, die Wolter unter Bezug auf die Handbücher der Redekunst von Lausberg und Quintilian <257> folgendermaßen erklärt:
Sie findet immer dann Verwendung {so Lausberg}, „wenn der Redner etwas Bestimmtes ausdrücken will, es aber der Umstände halber nicht kann oder nicht gerne tut“. Bei Quintilian gehört die emphasis zu den „Gedankenfiguren“ (Inst. 9,2,1). Er versteht unter ihr das, „was wir nicht sagen (quod non dicimus) – nicht gerade das Gegenteil wie bei der Ironie, sondern etwas, das verborgen ist und der Hörer gewissermaßen entdecken muss (aliud latens et auditori quasi inveniendum)“ (ebd. 65). Für die Verwendung dieser rhetorischen Figur gebe es drei mögliche Gründe: „Furcht“ (metus; ebd. 67.76), „Respekt“ oder „Scham“ (reverentia/pudor; ebd. 66.76) oder das Streben nach sprachlicher „Eleganz“ (venustas; ebd. 66) <258>.
Wolter zieht für Römer 9,3 den zweiten Grund in Betracht:
Paulus greift auf die Figur der emphasis zurück, weil er sich scheut, als Tatsachenbehauptung zu formulieren, was sein Wunsch nur indirekt mitteilt: dass die nichtchristliche Mehrheit Israels anathema … apo tou Christou {von Christus weg verbannt} ist. Erst dieser Sachverhalt ist als Grund und Gegenstand für die in V. 2 formulierte Klage sinnvoll. Er ist aus der Präposition hyper zu erschließen, die nicht nur „zugunsten von“, sondern auch „anstelle von“ bedeutet. Mit ihr macht Paulus kenntlich, dass er diejenigen Juden, die das Evangelium nicht angenommen haben, von dem in „Christus“ zugänglichen Heil ausgeschlossen sieht. <259>
Damit ist für Wolter klar (M28f.), warum Paulus eine derart „aufwendige rhetorische Verpackung“ für seine in diesen Versen ausgedrückte Aussage aufbietet (M29): Sie „soll die Härte der implizierten Sachverhaltsaussage abmildern.“ Der Wunsch des Paulus (M28) besteht also darin, mit den nichtchristlichen Juden „den Status von Heilsnähe und Heilsferne tauschen zu können.“
Keinen Anlass sieht Wolter (Anm. 17) für die Annahme vor allem von Abasciano <260>, Paulus wolle mit seinem Wunsch auf 2. Mose (Exodus) 32,31-33 Bezug nehmen, da es zwischen den beiden Texten „keine sprachlichen Gemeinsamkeiten“ gibt und „der Gedanke der Stellvertretung dem alttestamentlichen Text ganz fremd“ ist,
denn mit den Worten: „Wenn du doch ihre Sünde vergeben könntest! Wenn nicht, streiche mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast“ (Ex 32,32), bittet Mose entweder darum, das zu erwartende Unheilsgeschick Israels teilen zu dürfen… <261>, oder er droht damit, sich von Gott loszusagen, wenn dieser Israel nicht vergibt…
Stattdessen (M29) steht im Hintergrund der Aussage des Paulus, mit der er „die gegenwärtige Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels umschreibt“, der „aus der Septuaginta“ stammende „Begriff anathema“, der als „Übersetzung von hebr. cherem“ etwas bezeichnet,
das der Vernichtung anheimgegeben ist (vgl. z.B. Dtn 13,16LXX: „Du sollst alle Bewohner in jener Stadt unbedingt erschlagen mit der Schärfe des Schwertes; anathemati anathematieite, sie und alles, was in ihr ist“; s. auch Dtn 20,17; Ri 1,17; Sach 14,11). Zur Illustration des paulinischen Sprachgebrauchs an dieser Stelle sowie in 1Kor 16,22; Gal 1,8.9 kommen vor allem solche Texte in Frage, die von einem anathema-„Sein“ oder -„Werden“ oder -„Machen“ sprechen wie Dtn 7,26: „Du sollst kein Greuel in dein Haus bringen, damit du nicht anathēma (sic) bist wie dieses …; es ist ein anathēma (sic)“; Jos 6,17: „Und die Stadt selbst und alles, was in ihr ist, soll anathema sein; nur die Hure Rahab soll am Leben bleiben“; 6,18: „… dass ihr das Lager der Kinder Israel anathema macht und vernichtet werdet“; 7,12: „Die Kinder Israel werden vor ihren Feinden nicht bestehen können …, denn sie sind anathema geworden“… <262>
Ausdrücklich hebt Wolter (M30) „die Härte der paulinischen Aussage in 9,3“ hervor, die aus dem folgt,
was er noch wenige Sätze zuvor geschrieben hat, dass nämlich die „Liebe Gottes … in Christus Jesus, unserem Herrn, ist“ (8,39). Diese Feststellung impliziert, dass von der Liebe Gottes getrennt ist, wer von Christus getrennt ist.
Später wird Paulus in Römer 11,28b „von der nichtchristlichen Mehrheit des Judentums genau das Gegenteil sagen“, nämlich „dass sie immer noch von Gott geliebt sind“, aber dadurch wird das, was Paulus hier sagt, in seiner Schärfe nicht aufgehoben:
Beide Aussagen muss man vielmehr gerade in ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander stehen lassen. Sie lassen erkennen, dass Paulus bei der Abfassung des Beginns von Röm 9-11 noch nicht klar war, auf welche Weise er das hier beschriebene Problem am Ende dieser drei Kapitel lösen würde.
Wie bereits in Römer 4,1 schließt sich Paulus in „der Bezeichnung der nichtchristlichen Mehrheit Israels als ‚meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch‘ … mit allen nichtchristlichen Juden zusammen“. Schon dort und so auch hier (M31) „bezeichnet kata sarka {nach dem Fleisch} eine familiäre Zusammengehörigkeit, die durch genealogische Abstammung hergestellt wird“. Durch diesen Ausdruck
grenzt Paulus seine Verbundenheit mit den nichtchristlichen Juden von der Geschwistermetaphorik ab, mit der er ansonsten die Zusammengehörigkeit all derer charakterisiert, die zu Jesus Christus gehören. Als komplementäres Gegenstück zur Bezeichnung der nichtchristlichen Juden als „Brüder … nach dem Fleisch“ kann darum Phil 1,14 gelten („Brüder im Herrn“; s. auch Kol 1,2: „Brüder in Christus“). Paulus und die nichtchristlichen Juden sind „Brüder … nach dem Fleisch“, weil sie genealogisch miteinander verwandt sind; sie sind aber nicht „Brüder im Herrn“, weil sie innerhalb der Sinnwelt des Christus-Glaubens voneinander getrennt sind.
Wenn Wolter aber (Anm. 28) „allein im Römerbrief“ folgende Stellen anführt, in denen seiner Auffassung nach Paulus von christlichen Brüdern redet: „1,13; 7,1.4; 8,12.29; 10,1; 11,25; 12,1; 14,10.13.15.21; 15,14.30; 16,1.14.17.23“, dann ist zu bedenken, dass zumindest in Römer 7,1.4 torakundige Brüder angesprochen werden, mit denen Paulus ja auf jeden Fall auch kata sarka verbunden ist. Anders als Wilckens <263> geht Wolter jedoch nicht davon aus (Anm. 29),
dass Paulus seine „Verwandten nach dem Fleisch“ „in die Bruderschaft der Christen ein(bezieht)“. „Nach dem Fleisch“ zeigt vielmehr eine Verbundenheit an, die von der Verbundenheit ‚im Herrn oder ‚in Christus‘ unabhängig ist.
[27. Juni 2025] Auch Gerhard Jankowski (J203) stellt fest, dass trotz der Versicherung im „Schlußsatz des ersten Briefteils“: „Nichts vermag ‚uns zu trennen von der Liebe Gottes, der im Messias Jesus unserem Herren‘ (8,39)“, nun „aber doch welche geschieden zu sein“ scheinen
sowohl von der Solidarität Gottes als auch von der messianischen Gemeinschaft. Es gibt ein weg von dem Messias, apo tou Christou. Paulus ist dabei. Das ist vorauszusetzen. Aber er wünschte, flehte geradezu, weg zu sein von dem Messias – und nun wird das Problem benannt: anstatt meiner Brüder, hyper tōn adelphōn mou, seiner Stammesverwandten nach dem Fleisch. Das sind Juden. Wie er einer ist. Sie sind es, die weg vom Messias sind. So wenigstens ist es indirekt zu hören. Und Paulus sagt es noch schärfer: Er möchte anathema, gebannt, sein. Folgen wir wieder dem, was hier indirekt gesagt ist, dann müßten wir schließen, daß die Brüder unter dem Anathema standen, anders gesagt: verflucht waren.
So weit stimmt Jankowskis Auslegung einigermaßen mit der Auslegung Wolters überein. Allerdings fragt sich Jankowski, wer „diesen Fluch ausgesprochen“ haben sollte, „wer jüdische Brüder mit dem Anathema belegt haben“ konnte? Es sind „[s]chwierige Fragen, die da aufbrechen. Und die Antworten darauf können so fundamental die falschen sein.“
Auch Jankowski weist wie Wolter darauf hin, dass die Septuaginta „das hebräische cherem“ mit
anathema übersetzt … Es bedeutet Bann oder Gebanntes. Lev 27,28 umschreibt, was damit gemeint ist:
Jedoch alles Banngut, das jemand JHWH bannt,
von allem, was sein ist, vom Mensch und Vieh und vom Feld seiner Hufe,
soll nicht verkauft und nicht eingelöst werden,
alles Banngut, Abgeheiligung vor Darheiligung ist es JHWH.Was dem Gott Israels geweiht, zugewidmet wird, gehört ihm allein und steht in niemandes Verfügung. Gebannt wurde so alles, was in einem Krieg erobert wurde. Keiner sollte sich daran bereichern. Es gab also keine Beute. Was mit einem Bann belegt ist, ist das, was Gott im Sinn des Wortes überstellt ist (anatithēmi). Anathema ist in diesem Sinn nur am Rande ein Fluch.
Die Kehrseite dieser Aussage ist nach den biblischen Erzählungen allerdings, dass die Durchführung eines solchen Bannes im Fall der Kriegsführung gegen einen Feind, der Israel mit Vernichtung bedroht, auf die Vernichtung alles Gebannten hinausläuft, die allen modernen Vorstellungen von Menschlichkeit zuwiderläuft. <264>
Zur Zeit des Paulus hatte die Vorstellung vom Bann unter den Rabbinen eine andere Bedeutung erlangt. Dazu schreibt Jankowski (J203f.):
Wenn einer der Lehrer eine Lehrmeinung vertritt, die von der Mehrheit nicht getragen wird, kann er von dieser Mehrheit gebannt werden. Geradezu klassisch schildert das {der Traktat Bava Meṣi‘a im babylonischen Talmud} bBM 59b. In einem hochdramatischen Akt wird eine halachische Entscheidung des R. Eliezer in Jabne von der Mehrheit der Lehrer nach einer Abstimmung für ungültig erklärt. R. Eliezer wird verflucht, d.h., er wird gebannt. <265> An anderen Stellen wird diese Art des Banns auch mit cherem bezeichnet.
Dementsprechend ist nach Jankowski (J204) ein „Bann … immer die letzte Konsequenz aus einem Konflikt.“ Aber welche Folgen hatte solch ein Bann?
Zwar bedeutet der Bann die Verurteilung einer abweichenden Lehrmeinung und der Lehrer, der die abweichende Meinung vertritt, wird von weiteren Lehrentscheidungen ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen wird jemand durch den Bann aus der Synagoge und erst recht nicht aus Israel. <266> Die Lehrer Israels haben die mit dem Anathema Belegten nicht als Ketzer verbrannt. Das blieb der Inquisition vorbehalten.
Dass Paulus „dieses Bannen gekannt“ hat, geht nach Jankowski aus Galater 1,8 hervor. Dort
spielt er direkt darauf an:
Aber auch wenn wir oder ein Bote vom Himmel
euch mit guter Botschaft kämen
an der vorbei, worin wir euch mit guter Botschaft kamen,
anathema sei er!Hier geht es zwar nicht um halachische Lehrentscheidungen. Aber das mögliche Anathema wird in Erwägung gezogen, um einen scharfen Konflikt zu klären. Der Konflikt geht um die Legitimität der „Lehre“ und der Praxis des Paulus. Für Paulus ist sie gegeben und nicht zu bezweifeln. Deswegen bedroht er die nach seiner Meinung abweichende Meinung mit dem Anathema. Dabei ist er sich sicher bewußt, daß er nicht die Mehrheit auf seiner Seite hat. Innerhalb des Judentums war sein Weg der heterodoxe. Er vertrat eben eine hairesis, eine Partei, der „überall widersprochen“ wurde (Apg 28,22). Aber noch ist er nicht ausgestoßen, gebannt.
Großen Wert legt Jankowski darauf, dass zu der Zeit, in der Paulus seinen Brief an die Römer schreibt, die Verbindungen zwischen dem Mehrheitsjudentum und den messianischen Strömungen noch nicht endgültig abgerissen sind:
Noch ist niemand gebannt, ausgestoßen, verflucht. Weder Paulus noch die Brüder. Wir sollten uns hüten, hier den Irrealis zu überhören: ich wünschte … Dazu bezieht sich der irreale Wunsch nicht auf die Brüder, sondern ganz auf Paulus allein. Wenn denn jemand gebannt werden sollte, dann bitte er, aber um Gottes willen nicht die Brüder. Wohl empfindet er große Trauer, und es zerreißt ihm fast das Herz, daß nicht alle der Brüder seinen Weg mitgehen können. Daß einige von ihnen gegen ihn vorgegangen sind, handgreiflich wurden in den Auseinandersetzungen. Aber das hat ihn niemals dazu gebracht, sich von ihnen zu verabschieden. Er hat da andere Hoffnungen.
Anders als Wolter geht Jankowski also davon aus, dass Paulus in Römer 9,3 nicht eine bereits bestehende Verfluchung nichtchristlicher Juden annimmt, während ihm erst später Möglichkeiten der Hoffnung für diese jüdische Mehrheit einfallen. Stattdessen ordnet er das, was Paulus in den folgenden drei Kapiteln sagen will, von vornherein in die Zukunftshoffnung ein, von der bereits im Kapitel 8 die Rede war:
Nicht umsonst wählt er hier Worte, die anspielen auf den völligen Neubeginn, den er gerade vorher fast hymnisch besungen hat. Trauer und Weh, lypē und odynē, haben alle die, die in dieser Welt hoffen auf die kommende und sie schon fast spüren in der Wehe des Messias, deren Anzeichen sie überall wahrnehmen. Dann werden auch die Unterschiede aufgehoben sein.
In der Gegenwart des Paulus „sind sie es aber nicht“. Noch spielen die Unterschiede zwischen Juden und Völkern nach wie vor eine Rolle, noch sind sie eben nicht vollkommen eingeebnet, wie es Wolter annimmt, und „deswegen sind sie zu benennen, positiv.“ Da sie „das Fundament für Juden und für die hinzugekommenen Gojim“ bilden, darf „[n]ichts davon … aufgegeben werden“. Aus diesem Grund hebt Paulus zu einem umfassenden Lobpreis dessen an, was Israel von Gott gegeben wurde.
↑ Römer 9,4-5: Gott sei gelobt für alles, was Israeliten bleibend durch ihn empfangen haben
9,4 Sie sind Israeliten,
denen die Kindschaft gehört
und die Herrlichkeit
und die Bundesschlüsse
und das Gesetz
und der Gottesdienst
und die Verheißungen,
9,5 denen auch die Väter gehören
und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch.
Gott, der da ist über allem,
sei gelobt in Ewigkeit. Amen.
[30. Juni 2025] In den Versen Römer 9,4-5b wird nach Michael Wolter (M31) das „theologische Problem“ erkennbar, „das Paulus hier bearbeitet und das der eigentliche Grund der in V. 2 erhobenen Klage ist, nämlich dass auch „die nichtchristlichen Juden … zu Israel“ gehören,
das Gott sich aus den Völkern zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat. Darum steht ihre gegenwärtige Heilsferne in Widerspruch zu den Merkmalen, mit denen Gott sein Volk ausgestattet hat. Mit der Aufzählung dieser Merkmale begründet Paulus die in V. 2-3 formulierte Klage, indem er die gegenwärtige Unheilssitutation der nichtchristlichen Mehrheit Israels mit dem Heilsstatus konfrontiert, der Israel auf Grund seiner Erwählung zukommt. Diese Gegenüberstellung steht in einer gewissen Nähe zu vergleichbaren Argumentationsweiserı in Volksklagepsalmen, die Gott angesichts einer aktuellen Notlage Israels daran erinnern, dass er es doch erwählt und zu seinem Eigentumsvolk gemacht hat (Ps 44,2-4; 74,2.20a; 79,13; 80,9-12; 89,4-5.20-38; s. auch 4Esr 5,23-30). Während in den Psalmen diese Erinnerung Gott zum Eingreifen zugunsten seines Volkes bewegen will, beschränkt Paulus sich hier darauf, diesen Widerspruch zu konstatieren.
Die Worte hoitines eisin Israēlitai {die Israeliten sind} bilden eine Überschrift für die darauf „folgenden Relativsätze (hōn …, hōn … kai ex hōn {denen …, denen … und aus denen})“, die vom Satzbau her „alle von Israēlitai (V. 4a) abhängig“ sind. Da (M32) „Gott selbst … seinem Volk den Namen ‚Israel‘ gegeben“ hat, was aus 1. Mose (Genesis) 32,29 und Jesaja 43,1 hervorgeht, werden „die nichtchristlichen Juden“ schon dadurch „als Angehörige von Gottes Eigentumsvolk“ gekennzeichnet (M31f.), „dass Paulus hier nicht mehr von ‚Juden‘ spricht wie bisher im Römerbrief (vgl. 1,16; 2,9.10.17.28.29; 3,1.9.29), sondern von ‚lsraeliten‘“.
Dazu erläutert Wolter (M32), dass das Wort Israēlitēs/-tai, „das die Zugehörigkeit zu ‚lsrael‘ bezeichnet, nur sehr selten“ in der Septuaginta vorkommt, nämlich zusammen genommen mit der viermal auftauchenden weiblichen Form Israēlitidos lediglich insgesamt zwölfmal in 3. Mose (Levitikus) 24,10.11; 4. Mose (Numeri) 25,8.14, 5. Mose (Deuteronomium) 22,19; 2. Samuel 17,25; 4. Makkabäer 18,1; PsalmenLXX 87,1 und 88,1 – und in den beiden letztgenannten Fällen stellt es sogar eine versehentlich falsche Wiedergabe „von haˀesrachi (‚der Esrachiter‘)“ dar. Im Neuen Testament gibt es fünfmal den Ausdruck andres Israēlitai {israelitische Männer} in der Apostelgeschichte 2,22; 3,12; 5,35; 13,16; 21,28; außerdem lässt der Evangelist Johannes (1,47) „Jesus über Nathanael sagen, dass dieser ‚wirklich ein lsraelit sei‘, und in Röm 11,1d; 2Kor 11,22 nennt Paulus sich selbst einen ‚lsraeliten‘.“
Im Wesentlichen kommt es Paulus in Römer 9,4 darauf an (M33),
dass die nichtchristlichen Juden trotz ihrer ‚Verbannung‘ „von Christus weg“ auch weiterhin zu dem Volk gehören, das Gott sich als sein Eigentumsvolk erwählt hat. Darum kann er sie in 9,31; 10,19.21 auch „Israel“ nennen. Vermittelt ist diese Zugehörigkeit für ihn durch leibliche Abstammung.
Weiter zählt Paulus in Vers 4b eine Reihe „von sechs Merkmalen“ auf, „die mit dem ‚lsraeliten‘-Sein der nichtchristlichen Juden einhergehen“, wobei er durch die „Wiederholung der gleich klingenden Endungen –thesia, –a –ai // -thesia –a –ai … zwei Dreiergruppen“ bildet: hyiothesia, doxa, diathēkai – nomothesia, latreia, epangeliai, auf deren deutsche Bedeutung gleich noch ausführlich eingegangen wird. „Alle sechs Begriffe“ nennen
Alleinstellungsmerkmale …, die Israels Erwählung zu Gottes Eigentumsvolk kennzeichnen. Dementsprechend ist ihnen gemeinsam, dass sie auf das Gottesverhältnis Israels bezogen sind und die Unterschiede markieren, die das Gottesvolk von den anderen Völkern trennen. Die Einzelelemente wollen darum nicht voneinander abgegrenzt werden, sondern sie überschneiden sich und interpretieren sich gegenseitig, indem sie auf unterschiedliche Aspekte von Israels Erwählt-Sein verweisen.
Mit dem Begriff hyiothesia {Sohnschaft}, der „in der Umwelt des Neuen Testaments das Rechtsinstitut der Adoption“ bezeichnet und mit dem Paulus „bereits in Röm 8,15.23 … das Gottesverhältnis der Christen“ erklärt hatte, beschreibt er „den Status der Israeliten als Kinder Gottes“, wie er z.B. in 2. Mose (Exodus) 4,22; 5. Mose (Deuteronomium) 14,1f; Hosea 11,1 zum Ausdruck kommt. Dabei (M34) „interessiert Paulus hier nicht“ die „häufig diskutierte Frage, wie sich die hyiothesia Israels zur hyiothesia der Christen verhält“.
Das Stichwort doxa {Herrlichkeit, Ehre} hatte Wolter bisher im Sinne „jener anthropologisch verstandenen doxa der Gottebenbildlichkeit“ verstanden, „die den Menschen durch ihr Sündigen verloren gegangen ist (Röm 3,23) und auf die auch die Christen immer noch hoffen (5,2; s. auch 8,18)“. Aber hier kann es ihm zufolge
[a]uf Grund des erwählungstheologischen Kontextes … nur um diejenige doxa gehen, die Israel von den Völkern unterscheidet: die Anwesenheit der „Herrlichkeit“ (hebr. kavod; LXX: doxa) Gottes – rabbinisch gesprochen: der Schechina – bei seinem Volk in Vergangenheit und Gegenwart. Ihre Grundlage hat diese Gewissheit innerhalb der hebräischen Bibel in Texten wie z.B. Ex 16,10; 24,16f; 29,43 („… den Kindern Israel begegnen und sie heiligen durch meine Herrlichkeit“); 40,34-35 („die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnung [hamischkan]“; s. auch 1Kön 8,11); Ps 63,3; 96,6; Jes 64,10; Ez 8,3f; 9,3; 10,4…; vgl. auch Ps 106,20 und Jer 2,11: Gott als die „Herrlichkeit“ Israels …; Ps 85,10 („damit Herrlichkeit wohnt in unserem Land“)… <267>
Das dritte Merkmal der diathēkai {Bundeszusagen} bezieht sich nach Wolter nicht auf „bestimmte einzelne Zusagen und Verfügungen …, die Gott seinem Volk seit der Zeit der Väter immer wieder gegeben hat“, sondern ganz allgemein auf „alle diesbezüglichen alttestamentlichen Texte, vom ersten Abrahambund Gen 15,18 bis hin zur Verheißung des neuen Bundes Jer 31,31-33.“ Auch anderswo (M35) wird „auf die Bundeszusagen Gottes“ häufig „vor allem im Kontext der Erfahrung von Unheil“ Bezug genommen, z.B. in 2Makk 8,14f und Weish 18,22 oder auch in „Ex 2,24; 6,5; Lev 26,41-45; Ps 74,20; 106,45; Jer 14,21; 1Makk 4,10“.
Das Stichwort nomothesia {Gesetzgebung}
bezeichnet hier nicht den Vorgang der Gesetzgebung, sondern … die Tora als von Gott gegebene. … Paulus gibt hiermit das jüdische Selbstverständnis wieder, das die Tora als integralen Bestandteil von Israels Erwählung ansieht: Gott hat Israel aus den Völkern erwählt und ihm die Tora gegeben, damit es seine Ausnahmestellung tagtäglich praktizieren und zum Ausdruck bringen kann.
Mit dem fünften Merkmal der Israeliten, der latreia {Gottesverehrung}, wird zusammenfassend umschrieben, „was Gott von dem Volk einfordert, das er sich erwählt hat: dass es nur ihn als Gott verehrt.“ Dazu zitiert Wolter beispielhaft
Dtn 10,12: „Und nun Israel, was verlangt JHWH, dein Gott, von dir, als JHWH, deinen Gott, zu fürchten, auf allen seinen Wegen zu gehen und ihn zu lieben und JHWH, deinem Gott, zu dienen (laˁavod; LXX: latreuein) mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele“ (s. auch die Verknüpfung von hyios-Sein Israels und latreuein in Ex 4,23 sowie Dtn 10,20; Jos 22,5; 24,18.22). Paulus denkt hier kaum lediglich an den Tempelkult, sondern er nimmt die Gesamtheit von Israels exklusivem Ethos in den Blick, das Israel um seines Gottes willen bzw. um seiner Erwählung willen praktiziert.
Auch mit dem letzten Stichwort (M35f.) der epangeliai {Verheißungen} „verweist Paulus … auf eine Mehrzahl von nicht näher identifizierbaren Heilszusagen, die Gott seinem Volk gegeben hat.“ Dabei ist (M36) sowohl an die „an die Erzväter ergangenen Land-, Sohnes- und Mehrungsverheißungen“ als auch an „die späteren messianischen und eschatologischen Heilsverheißungen“ zu denken. So erinnern z.B. in „3Makk 2,10 … Juden, die von der Vernichtung bedroht sind, Gott an seine ‚Verheißung‘ (epēngeilō), sie aus jeder Notlage zu retten“.
In Vers 5a setzt Paulus mit „der Wiederholung des Relativpronomens …, das sich … auf Israēlitai zurückbezieht, … neu ein“ und fügt den „den ersten sechs Merkmalen der Erwählung Israels“ zwei weitere hinzu, die
keine Sachen, sondern Personen bezeichnen. Vielleicht kann man auch sagen, dass Paulus einen heilsgeschichtlichen Bogen schlagen will, der die Gesamtheit der Geschichte Israels von ihren Anfängen („Väter“) bis zur Gegenwart („Christus“) umfasst. Denselben Bogen schlägt er in Röm 15,8, wonach die den „Vätern“ gegebenen Verheißungen durch „Christus“ „eingelöst“ wurden (s. auch Gal 3,16: die an „Abraham“ ergangene Verheißung spreche von „Christus“; Apg 13,32f; 26,6-8). In Röm 9,5a-b ist dieser Bogen möglicherweise durch „Verheißungen“ am Ende von V. 4 veranlasst.
Mit der Formulierung hōn hoi pateres {denen die Väter gehören} in Vers 5a sagt Paulus „über die ‚Israeliten‘“, dass sie, „nicht nur durch die in V. 4b genannten Merkmale, sondern auch dadurch ausgezeichnet sind, dass die Patriarchen zu ihnen gehören.“ Etwas anders formuliert Paulus in Vers 5b: kai ex hōn ho Christos to kata sarka {und zu denen Christus in fleischlicher Hinsicht gehört} (M36f.):
Während das Relativpronomen hōn in V. 4b.5a genitivus possessivus {auf den Besitz bezogen} war, hat ex hōn partitive {auf einen Anteil bezogene} Geltung. Paulus will auf diese Weise zum Ausdruck bringen, dass „der Christus“ den „Israeliten“ nicht in dem Sinne ‚gehört‘, dass er ihnen zu eigen wäre, wie es die in V. 4b genannten Merkmale und die „Väter“ (V. 5a) sind, die die Erwählungsidentität des Gottesvolks konstituieren, sondern dass er lediglich zu ihnen gehört, ein ‚Teil‘ von ihnen ist. Auf der anderen Seite bezeichnet ex hōn aber auch nicht lediglich Abstammung oder Herkunft, sondern Zugehörigkeit. Paulus will ja nicht sagen, dass Jesus als „der Christus“ irgendwann aufgehört hat, zu den „Israeliten“ zu gehören.
An dieser Stelle meint Wolter (M37) im Blick auf die „vieldiskutierte Frage, ob Paulus den determinierten Ausdruck ho Christos hier titular als Antonomasie gebraucht (‚der Messias‘) oder wie z.B. in 1Kor 1,13 als Eigenname benutzt“, dass sie sich nicht entscheiden lässt und dass Paulus „[vermutlich … eine solche Alternative auch gar nicht intendiert“ hat. Aber gerade wenn diese Frage nach Wolter nicht entschieden werden kann, wundert es mich doch, dass er durchgehend davon absieht, darüber nachzudenken, ob der Jude Paulus mit dem Wort Christos nicht doch generell mehr meint als einen Eigennamen.
Dass Paulus die Bezeichnung ho Christos außerdem noch näher „mit Hilfe des substantivierten Adverbs to kata sarka {der nach dem Fleisch}“ erläutert, stellt Wolter zufolge eine „weitere Distanzierung des ‚Christus‘ Jesus von den ‚Israeliten‘“ dar. Paulus will nicht einfach „von Jesu leiblicher Existenz sprechen“, sondern von einer
Weise des Verstehens, das sich an äußerlich und empirisch wahrnehmbaren Sachverhalten orientiert und nicht auf der Wirklichkeitsannahme des Christus-Glaubens (der pistis Christou) basiert. Mit to kata sarka nimmt Paulus darum nicht ein Merkmal Jesu Christi in den Blick, sondern er charakterisiert mit ihm die hier formulierte Feststellung. Er kennzeichnet sie gewissermaßen als eine historische Aussage, der alle Menschen zustimmen können – auch solche, die nicht glauben, dass Jesus von Nazaret „der Christus“ ist. Man kann es auch mit den Worten von 2Kor 5,16 sagen: Dass Jesus Christus zu den Israeliten gehört, kann man auch sagen, wenn man ihn nicht aus der Perspektive des Glaubens betrachtet, sondern lediglich kata sarka „kennt“ oder „versteht“.
Erhebliche Schwierigkeiten hat den Exegeten die abschließende „Eulogie {Segensspruch}“ in Römer 9,5c bereitet, nämlich „die Frage, wie sie an das Vorangehende anschließt und wem die Eulogie gilt“, also ob sie auf Christus oder auf Gott zu beziehen ist. Wolter übersetzt sie folgendermaßen (M25):
Der über allem ist, Gott, (er sei) gepriesen bis in Ewigkeit. Amen.
Die Möglichkeit (M39), dass die Lesart ho ōn epi pantōn theos {der über allem ist, Gott} „durch einen Schreibfehler entstanden“ sein könnte und in Wirklichkeit hōn ho epi pantōn theos lauten müsste, was z.B. Karl Barth <268> mit „welche den über Allem herrschenden Gott haben“ übersetzt und womit die „Reihe der Genitive aus V. 4b-5b … fortgesetzt und Gott in die Aufzählung der Erwählungsmerkmale Israels eingereiht“ würde, schließt Wolter von vornherein aus:
Er hat nicht nur die gesamte handschriftliche Überlieferung gegen sich, sondern gegen ihn spricht auch das Fehlen eines verknüpfenden kai {und}, das nach dem partitiven kai ex hōn {und aus deren Mitte} in V. 5b unbedingt erforderlich wäre, um den Anschluss von V. 5c grammatisch und stilistisch wenigstens halbwegs erträglich zu gestalten.
Auszuschließen ist nach Wolter (M40) ebenfalls, dass „ho ōn {wörtlich: der Seiende} als Äquivalent zu hos estin {der ist} den vorangegangenen Satz“ fortsetzt und „auf ho Christos in V. 5b zurück“ verweist. Dann müsste nämlich „theos Gattungsname (Appellativum)“ sein, „der deutlich machen will, was Jesus ist – nämlich ein Gott.“ Aber „Paulus nennt Jesus niemals ‚Gott‘, um dadurch sein Wesen zu charakterisieren.“ Das ist auch in Philipper 2,6 nicht der Fall, denn:
Wenn es dort heißt, dass der Praexistente en morphē theou {in göttlicher Gestalt} und isa theō {Gott gleich} war, dann ist damit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, dass er gerade nicht theos {Gott} war.
Ebenso dürfen nach Wolter (Anm. 74) auch die „Bezeichnungen Jesu als kyrios in Röm 10,12b; 1Kor 8,6; Phil 2,11 … ohnehin nicht für diese Interpretation von Röm 9,5c in Anschlag gebracht werden.“ Außerdem betont Wolter (M40) zu 1. Korinther 8,4.6, wo theos als „Gattungsname“ verwendet wird,
dass es „für uns“ (hēmin; dativus iudicantis {auf eine Beurteilung bezogen}) nur ein einziges Exemplar dieser Gattung gibt: „der eine“ (V. 5), nämlich „der Vater, von dem alles herkommt und auf den hin wir (sind)“ (V. 6a-b). Von ihm wird Jesus in V. 6c-d ausdrücklich unterschieden. Würde Paulus in Röm 9,5c Jesus ebenfalls „Gott“ nennen, stünde das in direktem Widerspruch zu dem in 1Kor 8,4.6 Gesagten.
Dem entspricht, dass bei Paulus (Röm 1,25; 2Kor 1,3; 11,31) und anderswo im Neuen Testament (Lk 1,68; Eph 1,3; 1Petr 1,3) Eulogien immer nur auf Gott bezogen sind.
Gegen die „Behauptung“ (M41), dass auf die Formulierung „to kata sarka {der nach dem Fleisch} in Röm 9,5b … nach dem Muster von Röm 1,3b-4a eine christologische Hoheitsaussage als ‚Antithese‘ folgen müsse“, spricht nach Wolter „vor allem, dass to kata sarka“, wie bereits gesagt, „eine bestimmte Wahrnehmung der Beziehung Jesu zu Israel beschreiben will“ und in den Versen 9,4-5 ohnehin „nicht Christus, sondern … die Israeliten“ thematisiert werden. Und im Unterschied zu Römer 1,3b-4a fehlt hier sowieso eine dem dortigen Gegenüber zu to kata sarka entsprechende Formulierung wie kata pneuma hagiōsynēs {nach dem Geist der Heiligung}, denn „dass Jesus ho ōn epi pantōn theos {der über allem seiende Gott} ist, der ‚bis in Ewigkeit‘ zu preisen ist, kann schlechterdings nicht to kata sarka {in fleischlicher Hinsicht} (9,5b) gelten.“
Im Endeffekt steht für Wolter außer Frage (M40), dass „mit ho ōn {der Seiende} … ein neuer Satz“ beginnt, ein auch (Anm. 71) in „Mt 12,30 par. Lk 11,23; Joh 3,31; 8,47“ belegter „Sprachgebrauch“, und dass in „diesem Fall … theos Eigenname“ ist, „der erklärt, wer ho ōn epi pantōn {der über allem Seiende} ist – nämlich niemand anderer als der eine Gott.“ Einfach zu erklären (M41) ist „[v]or diesem Hintergrund“ auch, warum Paulus das Wort theos in Klammern einfügt: So will er nämlich
den syntaktisch nicht unmöglichen und vielleicht sogar naheliegenden Bezug von ho ōn epi pantōn (… eulogētos eis tous aiōnas) {der über allem ist, sei gepriesen bis in Ewigkeit} auf Christus abwehren und sicherstellen, dass sich die Eulogie auf Gott bezieht.
Damit steht der Segensspruch in Vers 5c – von Satzbau her von Vers 5b getrennt – auch seiner Bedeutung nach „außerhalb des Katalogs der Alleinstellungsmerkmale Israels in V. 4-5b“ und „bezieht sich auf den gesamten Abschnitt V. 1-5“, wie auch sonst solche „Eulogien“ häufig die
Schlussposition… in Klagen einnehmen (Ps 68,36; 89,53; 106,48; PsSal 2,37; vgl. auch Ps 28,6; 31,22). In ihnen wird jeweils die Gewissheit, dass Gott den Beter aus dem gegenwärtigen Unheil retten wird, mit Hilfe einer proleptischen {vorausgreifenden} Eulogie zum Ausdruck gebracht. Dasselbe kann auch für die Eulogie in Röm 9,5c gelten, denn zum Klage-Charakter von Röm 9,1-5 passt diese Intention genauso gut wie der Katalog in V. 4-5b: Angesichts des Widerspruchs zwischen der gegenwärtigen Heilsferne der nichtchristlichen Israeliten und ihrer nach wie vor bestehenden Erwählung vertraut Paulus zuversichtlich darauf, dass Gott diesen Widerspruch in dem Sinne überwinden wird, dass er auch den nichtchristlichen Angehörigen Israels sein Heil wieder zuwendet. Diese Intention kann man auch darin wahrnehmen, dass Paulus von Gott als dem ho ōn epi pantōn spricht und damit aus dem Inventar möglicher Prädikationen gerade diejenige herausgreift, die Gottes Hoheitsstellung und Allmacht umschreibt.
Zusammenfassend betont Wolter (M42) zu Römer 9,1-5, „dass Paulus seine Bibel gut genug kannte, um zu wissen, dass es nichts anderes als … die Liebe war, die Gott zur Erwählung Israels veranlasst hat“, was aus 5. Mose (Deuteromium) 7,7-9 hervorgeht. Paulus gibt sogar (M43) „seiner zuversichtlichen Gewissheit Ausdruck, dass Gott der aktuellen Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels auch wieder ein Ende setzen wird.“
[1. Juli 2025] Von Gerhard Jankowski wissen wir schon lange, dass er Paulus nicht etwa als einen zum Christus-Glauben bekehrten Juden betrachtet, der vom seinem jüdischen Glauben Abschied genommen hätte. Daher (J204) benennt Paulus ihm zufolge auch sehr „positiv“ die noch lange nicht aufgehobenen „Unterschiede“ zwischen Juden und Völkern, die in der messianischen Gemeinde „das Fundament für Juden und für die hinzugekommenen Gojim“ bilden (J205):
Nach wie vor ist und bleibt Paulus Jude. Er ist einer der vielen Stammesverwandten nach dem Fleisch, kata sarka. Untereinander sind sie verbunden durch die Generationen hindurch durch die gemeinsame Abstammung von Abraham. Sie gehören durch die Generationen hindurch zu dem einen Bund. Die Männer unter ihnen tragen das Zeichen des Bundes an ihrem Fleisch: Sie sind beschnitten. Auch Paulus ist es.
Folgendermaßen geht Jankowski auf die verschiedenen Merkmale ein, die den Juden im Unterschied zu den anderen Völkern zukommen (die Hervorhebungen in Fettschrift stammen von mir):
Sie alle sind Söhne Israels, Israēlitai. Denn sie kommen alle von Jaakob her, der als erster Israel genannt wurde (Gen 32,28). Israel – jetzt alle Söhne Israels, die nach Ägypten kamen in die Sklaverei – wird noch in der Unterdrückung Gottes Erstlingssohn genannt (Ex 4,22). „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“, heißt es bei Hos 11,1. So ist Israel als der Sohn Gottes auch der Erstling der Befreiten. Die haben so die Sohnschaft, die hyiothesia. Die macht sie zu Trägern der Zukunft unter den Völkern.
Zum Stichwort der doxa hebt Jankowski hervor, dass es „die Ehre Gottes“ ist, die bei „diesen Söhnen ist“, und dass die Bedeutung dieser „Ehre“ auf das hebräische Wort kabod zurückgeht:
Jesaja hat gesehen, wie der kabod die ganze Erde füllte (Jes 6,3). Er ist der Ehrenglanz, die Ausstrahlung Gottes. Er war im Zelt während des Zuges durch die Wüste, er war auch im Tempel. Was da in der Ehre Gottes ausstrahlt, ist seine Gegenwart bei seinem Volk. Die Weisen sagen, daß die Ehre Gottes die Einheit des Volkes Israel manifestiert. <269>
Die drei nächsten Merkmale, die Israel von Gott verliehen wurden, sieht Jankowski in engem Zusammenhang miteinander:
Mit Israel wurde der Bund, diathēkē, am Sinai geschlossen. In ihm bindet sich Gott an sein Volk und das Volk an seinen Gott. Am Sinai wurde dem Volk die Thora gegeben, die Weisung für das Leben. Für die meisten in Israel ist die Gabe der Thora, nomothesia, gleichzusetzen mit der Gabe des Lebens. Israel lebt von der Thora her und mit ihr.
Indem Israel die Thora annimmt, verpflichtet es sich zum Dienst, latreia. Das ist nicht nur Gottesdienst. Es ist wirklicher Dienst im Lebensvollzug, gestützt und angeleitet von der Thora. Dieser Dienst der Befreiten begann ebenfalls am Sinai. Und er ist nicht zu Ende.
Das sechste Stichwort der „Verheißungen, epangeliai“, von denen „dieses Volk“ begleitet ist, verbindet Jankowski sogleich mit den folgenden auf die Väter und den Messias bezogenen Aussagen in Vers 5a-b (J205f.):
Zum Inhalt haben sie die Zusage des Landes, ein zukünftiges großes Volk, die Zukunft schlechthin. Es waren die Väter, die diese Verheißungen zuerst hörten. Und die Väter sind Abraham, Jizchak und Jaakob. Aus ihnen werden die vielen Kinder Israels, alle miteinander verbunden. Aus ihnen wird auch der eine Sohn, der Israel repräsentiert, der Messias. Und das nach dem Fleisch. Denn der ist nicht vom Himmel gefallen, sondern durch die Zeugungen der Väter ganz irdisch geworden, fleischlich verwachsen mit seinem Volk und von ihm nicht zu trennen.
Während Wolter aus der Aussage to kata sarka eine Einschränkung der Verbindung Jesu mit seinem Volk herausliest, sieht Jankowski in ihr vielmehr eine Verwurzelung, die nicht aufgehoben werden kann.
Auf Vers 5c bezieht sich Jankowski zunächst mit dem einen Satz (J206):
Schließlich vor allem und über allem der Eine Gott, offenbart in dem NAMEN, dem befreienden Programm in die Zeit hinein. Der ist zu loben.
Er muss nicht einmal hervorheben, dass mit theos hier nicht Jesus gemeint sein kann, weil das für Paulus selbstverständlich ist; ob Jankowski hier der Vorgabe von Karl Barth folgt, auch den einen Gott mit dem befreienden NAMEN in die Reihe der Israel von den Völkern unterscheidenden Merkmale eingefügt zu sehen, kann offen bleiben. Viel wichtiger ist, mit welcher Absicht Paulus in Jankowskis Augen die Verse 9,1-5 seinen drei Kapiteln 9-11 voranstellt:
Was wie ein Gebet begann – ich wünschte, ich flehte –, das endet auch wie ein Gebet. In das Gebet eingeschlossen die Essentials Israels. Das zeigt den ganzen Ernst, mit dem Paulus seine Aufgabe als Anwalt seines Volkes bei den Nichtjuden wahrnimmt. Was er aufzählt an dem, was Israel eignet, kann nicht aufgegeben werden. Es ist diesem Volk gegeben worden von Gott. Der wird darüber wachen, daß das so bleibt. Deswegen sollte niemand von den Nichtjuden in der messianischen Ekklesia auf den Gedanken kommen, die Verbindung zu Israel zu zerschneiden. Denn ohne das, was Israel eignet, wäre die messianische Ekklesia nichts.
Paulus pocht also mit aller Vehemenz darauf, dass die Nichtjuden keineswegs „ohne Israel auskommen könnten“, obwohl „nur wenige aus Israel sich auf das Zusammenleben mit den Nichtjuden eingelassen haben“.
Zugleich aber muss er sich mit der Frage auseinandersetzen, „warum die Mehrheit in Israel wohl meint, ohne die Nichtjuden auskommen zu können und die Zuwendungen Gottes anscheinend nur für sich leben will“, also auch ohne das Vertrauen auf denjenigen, den Paulus als den Messias für Juden und Gojim erkannt hat. Mit der Frage „Wer also ist Israel?“ wird sich Paulus nun ausführlich auseinandersetzen.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 9,1-5
9,1 Ich sage die Wahrheit im Messias, ich lüge nicht,
mein Gewissen bezeugt es mir in heiliger Inspiration:
9,2 Große Traurigkeit ist mir und unaufhörlicher Schmerz in meinem Herzen.
9,3 Denn ich wünschte, verbannt zu sein, ich selbst, weg von dem Messias,
anstatt meiner Geschwister, meiner Stammverwandten nach dem Fleisch,
9,4 Sie sind Israeliten,
denen die Sohnschaft (ist) und die Ehre und die Bundeszusagen
und die Gesetzgebung und der Dienst und die Verheißungen,
9,5 denen die Väter (sind)
und aus denen der Messias (ist) nach dem Fleisch.
Der über allem ist, Gott,
gesegnet er in die Zeitalter hinein. Amen, ja wahr.
↑ Der befreiende Gott erwählt und verhärtet souverän, er ruft und befreit Gojim zusammen mit dem Rest aus Israel (Römer 9,6-29)
[2. Juli 2025] Bevor Paulus (M44) ab Römer 9,30 „nach dem Grund für die augenblickliche Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels“ fragt, schiebt er nach Michael Wolter (M43) unter der Überschrift „Gottes Wort ist nicht dahingefallen“ in den Versen 9,6-29 (M44) einen „Gesprächsgang“ ein, der „aus vier Teilen“ besteht.
In Vers 6a weist Paulus „mit einer als These formulierten Feststellung“
eine Schlussfolgerung ab…, die man aus dem Widerspruch zwischen der Erwählung Israels und der gegenwärtigen Heilsferne von dessen nichtchristlicher Mehrheit ziehen könnte…: dass Gottes Heilshandeln im Christusgeschehen die Erwählung Israels außer Kraft gesetzt hat.
Die Verse 6b-13 enthalten eine „Erläuterung“ dieser These, indem Paulus „einen doppelten Israel-Begriff kreiert“, demzufolge man „[n]icht von allen Menschen, ‚die zu Israel gehören‘, … sagen“ kann, „dass sie Israel sind“. Zur Begründung verweist er auf die „Unterscheidung unter den Kindern Abrahams“ und „zwischen den beiden Söhnen Rebekkas“.
An dritter Stelle schließt sich Wolter zufolge in den Versen 14-26
ein dialogisch gestalteter Abschnitt an, in dem es um Gottes absolute Souveränität und sein uneingeschränktes Recht auf ‚Willkür‘ geht: Weil Gott Gott ist, kann er mit den Menschen so umgehen,wie er „will“ (V. 18.22), ohne dass er vor irgendwem Rechenschaft ablegen müsste. V. 24-26 gehören auch noch zu diesem Abschnitt, weil sie durch das Relativpronomen hous {die} (V. 24) eng mit den voraufgegangenen Bemerkungen über die „Gefäße des Erbarmens“ (V. 23) verbunden sind.
Erst in den Versen 27-29 (M45) „kommt Paulus auf die Israelfrage zurück, mit der er in V. 6 begonnen hatte“, indem er in 27a die Worte Ēsaïas de krazei hyper tou Israēl {Jesaja aber ruft über Israel} „den folgenden Zitaten voranstellt“ und „die Unterscheidung zwischen Mehrheit und Minderheit in Israel aus V. 6b wieder“ aufnimmt.
Gerhard Jankowski (J207) geht davon aus, dass Paulus nach der „katechismusartig“ aufgelisteten „Grundlage jüdischer Existenz in Geschichte und Gegenwart“ nun die Frage stellen muss, ob „die gewichtigen Worte“ mehr „als Worthülsen sind“. Ist immer noch Verlass „auf das Wort Gottes …, das zur Handlung drängt, das Israel gemacht hat und immer noch macht?“
Um diese Frage zu beantworten (J211), bezieht sich Paulus auf die „Toledot {Zeugungen} der Väter Israels“, die „vom Werden Israels“ erzählen:
Sie sehen aber Israel nie isoliert, sondern erzählen von seinem Werden unter den Völkern. Der erste von Abraham gezeugte Sohn, Ismael, wird zu einem großen Volk, wie Israel es werden wird. Auch aus dem zuerst geborenen Sohn Jizacks, Esaw, wird ein großes Volk werden. Beide Völker stehen später in einem besonderen und gespannten Verhältnis zum Volk Israel. Aus Esaw wird Edom, ein Brudervolk, ein Volk mit gemeinsamer Wurzel. Und doch steht Edom in schärfstem Gegensatz zu Israel. Es wird zum Feind Israels schlechthin. Bis dann Edom mit Rom gleichgesetzt wird.
Für Jankowski ist es kein Zufall, dass Paulus in solcher Schärfe auf diesen Gegensatz ausgerechnet „in einem Schreiben“ eingeht, „das an Israel gerichtet ist, das inmitten des gehaßten Edom lebt.“
Während Wolter die gesamten Verse 14 bis 26 im Lichte dessen betrachtet, was er (M44) Gottes „uneingeschränktes Recht auf ‚Willkür‘“ nennt, hat es für Jankowski (J214) nichts mit Willkür zu tun, sondern mit der Besonderheit der Souveränität des Gottes Israels, dass er aufgrund von „Erbarmen“ das Volk Israel „aus seinem beklagenswerten Zustand“ herausholt, während (J215) der „Pharao, das Gegenbild zu dem befreienden Gott schlechthin“, auf andere Weise „erwählt“ wird. „Er wird erwählt, damit … erkannt werde, wie trotz aller Härte des Unterdrückers ein Volk aus der Unterdrückung befreit wurde“, wobei Paulus „diesen souveränen Akt verhärten, sklēroun“ nennt. Insofern auch „Israel … sich verhärtet“ zeigen kann, „wenn es seine Erwählung nicht anzunehmen bereit ist oder wenn es sie nichtig macht“, aber trotzdem „erwählt“ bleibt, fasst nun Paulus in seiner Situation die Möglichkeit ins Auge, dass Gott „sich neben Israel noch ein anderes Volk erwählen und nach wie vor Teile des Volkes Israel verhärten kann.“
Jankowski unterscheidet daher zwischen den auf Israel und Pharao bezogenen Versen 14 bis 18 und den Versen 19 bis 29, in denen es (J220) „um das erwählte, gerufene, geliebte Israel“ geht. „Es kann von Gott verworfen werden. Und es hat doch Zukunft. Denn aus dem Nicht-mein-Volk werden Söhne.“ Gerade indem es in diesem Text „zutiefst um Israel geht“, ist Paulus ebenso tiefgreifend davon überzeugt, dass „die Gojim nun mit dazugerufen“ sind (J220f.):
Sie, die gar nicht Gottes Volk sein können, werden zu seinem Volk: Sie, die Nicht-Geliebte Gottes sein können, sind zu seinen Geliebten geworden. Sie können nicht umkehren. Sie sind gerufen und werden befreit werden. Zusammen mit dem Rest aus Israel, der umkehren wird. Darin liegt Israels Zukunft. Es hat Samen, aus dem Söhne und Töchter wachsen werden. Und so wird es nicht zu Sodom und Gomorrah, das eben keine Zukunft hatte.
Von entscheidender Bedeutung ist nach Jankowski (J221), dass „[n]irgendwo in diesem Kapitel … Israel enterbt, verlassen oder aufgegeben“ wird. Zwar übt Paulus scharfe „Kritik an den Teilen aus Israel, die sich nicht zusammen mit den Gojim gerufen sehen“, aber er tut es
mit Zitaten …, die Worte der Verheißung zum Inhalt haben und nicht Verurteilungen. In diese Verheißungen sind die Nichtjuden mit hineingenommen. Wenn sie das nicht mehr sehen, die Verheißungen nur noch auf sich beziehen, da muß es dann zu Verurteilungen kommen. Doch soweit ist es bei den Gojim, an die Paulus schreibt, noch nicht. Denn sie erleben ihn als einen guten Anwalt seines Volkes bei ihnen, den Nichtjuden.
↑ Römer 9,6: Gottes Wort ist nicht dahingefallen, doch nicht alle aus Israel sind Israel
9,6 Aber ich sage damit nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei.
Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen…
[7. Juli 2025] Den Satz in Römer 9,6a: Ouch hoion de hoti ekpeptōken ho logos tou theou {Es ist aber nicht so, dass das Wort Gottes dahingefallen ist} betrachet Michael Wolter (M45) als Überschrift zum hier beginnenden Abschnitt 9,6-29, denn aus
der Perfektform ekpeptōken {dahingefallen} geht hervor, dass Paulus die Gegenwart im Auge hat und den Blick noch nicht in die Zukunft lenkt; das wird er erst ab 11,11 tun. Darum ist 9,6a auch nicht die Überschrift zu Röm 9-11 insgesamt. Die Perspektive der paulinischen These reicht vielmehr nicht über 9,29 hinaus.
Mit „seiner These“ nimmt Paulus die biblische „Versicherung“ auf, „dass keines der Worte Gottes ‚dahingefallen‘ ist“, wozu Wolter (Anm. 3) auf einige Stellen verweist:
Jos 21,45: „Nicht ist hingefallen ein Wort von allen guten Worten, die JHWH zum Haus Israel gesprochen hatte; alles traf ein“; s. auch Jos 23,14; 1Sam 3,19; 1Kön 8,56; 2Kön 10,10; Esth 6,10; Jdt 6,9; Tob 14,4S.
Mit dem Ausdruck „Wort Gottes“ meint Paulus (M45) „hier nicht das Evangelium wie anderswo in den paulinischen Briefen“, sondern „die Gesamtheit der Zusagen und Verheißungen Gottes, die mit der Erwählung Israels einhergehen.“ Er will eindeutig klarstellen,
dass die gegenwärtige Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels ihren Grund nicht darin hat, dass Gottes Heilshandeln im Christusgeschehen die Erwählung Israels außer Kraft gesetzt hätte.
Wenn das so ist, kann in Vers 6b: ou gar pantes hoi ex Israēl houtoi Israēl {Doch nicht alle, die zu Israel gehören, sind Israel} (M46) die „Konjunktion gar“ nicht wie in den meisten Fällen mit dem begründenden „denn“ übersetzt werden, „sondern muss als ‚anknüpfend und fortführend‘ aufgefasst werden“, daher übersetzt Wolter auch mit „doch“. Würde man dagegen (Anm. 9) das Wort gar „begründend“ verstehen,
wird das zweite „Israel“ in V. 6b unweigerlich zu einem Unheilskollektiv, denn im Umkehrschluss würde aus der paulinischen These folgen, dass Gottes Wort dahingefallen wäre, wenn „alle aus Israel“ dieses „Israel“ wären.
In Wolters Augen ergänzt Paulus in Vers 6b
die in V. 6a formulierte These, indem er mit einem weiten und einem engen Israel-Begriff arbeitet und postuliert, dass es innerhalb Israels noch ein anderes Israel gibt, das nur aus einem Teil derer besteht, die zu Gesamt-lsrael gehören.
Mit der verneinenden Form ou pantes {nicht alle} (M47) benutzt Paulus wohl „die Stilfigur der Litotes, also der Verneinung des Gegenteils, „um indirekt deutlich zu machen, dass ‚nur ganz wenige‘ von hoi ex Israēl {denen aus Israel} ‚lsrael‘ sind“, was auch dem Verhältnis, das „nach 9,27b zwischen der ‚Zahl der Söhne Israels wie Sand des Meeres‘ und dem ‚Überrest‘ besteht.“
Wen meint Paulus nun mit pantes hoi ex Israēl {wörtlich: alle die aus Israel}? Nach Wolter ist dies
die Gesamtheit aller Juden, die zu dem in Abraham erwählten Gottesvolk gehören. Sie sind dieselben, die er in 9,4 „Israeliten“ genannt hatte und die er in V. 27b mit den Worten von Hos 2,1 „die Söhne Israels“ nennen wird oder in 11,26a „ganz Israel“. Jes 10,22, woraus Paulus in 9,27 ebenfalls zitiert, nennt sie „das Volk (ho laos) Israel“.
Auszuschließen ist nach Wolter, dass sich hoi ex Israēl auf die Abstammung vom Stammvater Jakob bezieht, „der von Gott selbst den Namen ‚Israel‘ empfangen hat (Gen 32,29)“, vielmehr wird damit (M48) die „Zugehörigkeit von Individuen oder Gruppen“ zum Volk Israel beschrieben, wozu er auf „2Sam 19,23… Num 24,17; 1Sam 4,10; 26,2; 2Sam 6,1; 1Chr 19,10; 21,14; 1Makk 1,30; 6,21; 7,5; 9,73d; 10,61; 1/3Esr 8,27; 9,26“ verweist.
Mit den Worten houtoi Israēl {wörtlich: diese [sind] Israel} unterscheidet Paulus von „diesem Israel … ein ‚Israel‘, das er als einen Ausschnitt aus Israel identifiziert, als ein Teil-Israel in Gesamt-Israel, ein Israel in Israel.“ Dieses Israel meint jedoch kein Israel, „zu dem auch Nichtjuden gehörten“, sondern es „überschreitet nicht die Grenzen des Judentums“. Hier sagt er nur, „dass es unter den Angehörigen von Gesamt-Israel, also unter den Juden, welche gibt, die dem zweiten Israel nicht angehören“, aber er
lässt hier offen, aus wem das zweite Israel besteht. Aus dem weiteren Verlauf seiner Erörterung geht aber hervor, dass er mit ihm an die christlichen Juden denkt, die er in 9,27e „Überrest“ (hypoleimma), in 11,5 „Rest“ (leimma) und in 11,7d „Auswahl“ (eklogē) nennt. Zu denjenigen „aus Israel“, die nicht zum zweiten „Israel“ gehören, sagt er in 11,7e „die Übrigen“ (hoi loipoi). Die sind hier aber noch nicht im Blick.
In diesem Zusammenhang führt Wolter in einem Exkurs fünf verschiedene Arten und Weisen für den Gebrauch des Begriffs „Israel“ bei Paulus auf. Insgesamt verwendet er ihn 16mal, davon allein 11mal im Römerbrief und außerdem (M49) „in 1Kor 10,13; 2Kor 3,7.13; Gal 6,16; Phil 3,5. Hinzu kommt noch Israēlitēs (Röm 9,4; 11,1d; 2Kor 11,22).“ Die Hervorhebungen in den folgenden Zitaten stammen von mir:
Erstens besteht „Israel“ an 7 Stellen (Röm 9,6bα.27a; 11,7b.25.26.27 und Phil 3,5
aus allen Juden, und zwar sowohl aus den christlichen als auch aus den nichtchristlichen … Nach diesem Verständnis reicht Israel bis in die christlichen Gemeinden hinein. Wer sich als Jude zu Jesus Christus bekennt, gehört auch weiterhin zu Israel. Denselben Umfang hat auch die Bezeichnung „Israelit(en)“ in Röm 9,4; 11,1d; 2Kor 11,12.
Zweitens meint Paulus an 5 Stellen (Röm 9,31; 10,19.21; 11,7c; 1Kor 10,18) „mit ‚Israel‘ nur die nichtchristlichen Juden“, ein Israel nach dem Fleisch, kata sarka, wie es an der letztgenannten Stelle heißt.
Drittens geht Wolter an 3 Stellen (Röm 11,2; 2Kor 3,7.13) davon aus, dass Paulus mit „‚Israel‘ eine Größe der Vergangenheit“ meint, nämlich „das Gottesvolk, das in den Zeiten Elias und Moses lebte.“
Viertens ist es allein die hier ausgelegte Stelle Röm 9,6bβ, an der „Paulus mit ‚Israel‘ einen Ausschnitt aus jenem ‚Israel‘“ bezeichnet, von dem (siehe „erstens“)
in V. 6bα die Rede war … Dieser Ausschnitt ist identisch mit dem „Überrest/Rest“ von 9,27c und 11,5 sowie mit der „Auswahl“ von 11,7. Er besteht aus den christlichen Juden.
Fünftens stellt Paulus „[d]as ‚Israel Gottes‘ (Gal 6,16)“ dem „‚Israel nach dem Fleisch‘ (1Kor 10,18…)“ (siehe „zweitens“) gegenüber, und zwar „als Metapher“ für
die Gesamtheit all derer, die „Kinder Gottes sind in Christus Jesus durch den Glauben“ (Gal 3,26) bzw. die „zu Christus gehören“ (V. 29). Dieses Israel besteht darum aus den jüdischen und den nichtjüdischen Christen. Die nichtchristlichen Juden gehören ihm nicht an.
Fragwürdig finde ich in dieser Auflistung nach wie vor die Verwendung des Begriffs „christlich“, um diejenigen Juden zu bezeichnen, die auf den Messias Jesus vertrauen und demzufolge zu einem Israel gehören, das in den Augen des Paulus in der Kontinuität mit dem Israel der Mose- und Elia-Zeit steht. Immerhin räumt Wolter an dieser Stelle ein, was er im gesamten ersten Band seines Kommentars nicht so deutlich hervorgehoben hat: „Wer sich als Jude zu Jesus Christus bekennt, gehört auch weiterhin zu Israel.“
Gerhard Jankowski (J207) übersetzt das Wort ekpiptein in Römer 9,6 wortwörtlich mit „ausfallen“ und erläutert die Verneinung dieser Aussage durch Paulus im Kontext der gesellschaftspolitischen Verhältnisse seiner Zeit:
„Gottes Wort ist ausgefallen“ (9,6), es hat nichts bewirkt, zu diesem Urteil kann man kommen, wenn die Situation des Judentums damals gesehen wird. Denn es gab Juden, die um ihrer gesellschaftlichen Karriere willen sich vom Judentum total gelöst hatten, wie z.B. der Prokurator Tiberius Julius Alexander. Er entstammt einer angesehenen jüdischen Familie aus Alexandrien, zu der auch Philo gehörte. Tiberius Alexander stellte sich ganz in den Dienst der Römer und wurde dann von 46 bis 48 u.Z. Prokurator der Provinz Judäa. Für die dort sich formierenden Widerstandsgruppen war das ganz gewiß eine Provokation und bestärkte sie in ihrer Opposition. Tiberius Alexander war sicher nur eine Ausnahme, was seinen erreichten Rang als römischer Offizier und Beamter betrifft. Aber auch andere, vor allem in der Diaspora, werden ähnliche Wege gegangen sein. Es war schwierig, in der Diaspora die Gebote der Thora, zumal die halachischen Gebote, zu halten. Genau das aber forderten die zum Widerstand bereiten Gruppen in Judäa. Da waren die Essener, die einen völlig neuen Tempel mit einem völlig erneuerten Tempeldienst propagierten, aus Jerusalem auszogen und sich auf das Neue in der Wüste vorbereiteten. Und da waren die verschiedenen anderen Parteien, die alle unterschiedliche Definitionen Israels propagierten.
Innerhalb dieser von mannigfaltigen Konfliktherden geprägten Situation im Römischen Reich der Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. (J207f.) vertrat „Paulus mit seiner Öffnung Israels für alle Nichtjuden“ eine sehr spezielle und alle beteiligten Seiten extrem herausfordernde Antwort auf die Frage: „Was ist Israel?“ Paulus konnte dieser Frage nicht ausweichen, und wird sie in den folgenden Versen „von der Schrift her“ zu beantworten suchen. Doch zuvor „spitzt“ er sie „zu“, indem er „fragt: Wer ist Israel? Wer gehört dazu?“
Normalerweise wird damals als selbstverständlich geltend vorausgesetzt: „Alle aus Israel sind Israel“. Aber der messianische Jude Paulus vertritt von seinem Vertrauen auf den Messias Jesus her eine einschränkende „These …: ‚Nicht alle aus Israel sind Israel‘. Um diese These in angemessener Weise zu begreifen, muss man nach Jankowski die Argumentation der folgenden Verse in Augenschein nehmen.
↑ Römer 9,7-9: Nur Kinder der Verheißung sind Same Abrahams, nicht Kinder nach dem Fleisch
9,7 … auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind,
sind darum seine Kinder.
Sondern „nach Isaak soll dein Geschlecht genannt werden“.
9,8 Das heißt:
Nicht das sind Gottes Kinder,
die nach dem Fleisch Kinder sind;
sondern nur die Kinder der Verheißung
werden zur Nachkommenschaft gerechnet.
9,9 Denn dies ist ein Wort der Verheißung,
da er spricht:
„Um diese Zeit will ich kommen,
und Sara soll einen Sohn haben.“
[9. Juli 2025] Der Satz: oud‘ hoti eisin sperma Abraam pantes tekna {wörtlich: und nicht, dass Same Abrahams sind alle (seine) Kinder}, in Römer 9,7a stellt Michael Wolter zufolge (M49) eine Parallele zu Vers 6b dar. Dabei ist „tekna (Abraam) {Kinder (Abrahams)} der weitere Begriff“, zu dem „sperma Abraam {Same Abrahams}“ als Teilmenge gehört: „Nicht alle, die leiblich von Abraham abstammen und damit seine „Kinder“ (tekna) sind, gehören dadurch auch schon zu seiner ‚Nachkommenschaft‘ (sperma)“, wobei (M49f.) „der Ausdruck ‚sperma Abrahams‘ in der griechischen Bibel stets die Gesamtheit des von Abraham abstammenden und mit ihm erwählten Gottesvolkes beschreibt“, z.B. (Anm. 28) in „2Chr 20,7; 3Makk 6,3; Ps 104,6; PsSal 9,9, 18,3; Jes 41,8; Joh 8,33.37; Röm 11,1d; 2Kor 11,22; Gal 3,29; Hebr 2,16“. Damit nimmt Paulus (M50)
einen Gedanken wieder auf…, den er bereits in Röm 4,12a ausgesprochen hatte: Wie Abraham dort nur für diejenigen Juden „Vater der Beschneidung“ war, die nicht nur beschnitten sind, sondern auch wie er glauben, so entscheidet derselbe Unterschied in 9,7a darüber, ob man lediglich zu seinen „Kindern“ (tekna) gehört oder auch „Nachkommenschaft“ (sperma) ist.
Indem Paulus in Vers 7b wortwörtlich die Worte aus 1. Mose (Genesis) 21,12e aufnimmt: en Isaak klēthēsetai soi sperma {in Isaak soll dir Same gerufen werden}, verweist Paulus darauf, dass „zwischen tekna und sperma Abrahams bereits in der biblischen Abrahamgeschichte“ unterschieden wurde. Wolter vermutet, dass „dabei nicht lediglich wie in Gal 4,22f.28f das Gegenüber von Isaak und Ismael“ im Blick ist, „sondern alle Kinder Abrahams, d.h. auch die Söhne, die Abraham nach Saras Tod von Ketura geboren wurden (vgl. Gen 25,1-2).“ Auf diese Weise macht Paulus „die gegenwärtige Unterscheidung innerhalb Israels (V. 6b-7a) zu einer Analogie derjenigen Unterscheidung, die Gott zwischen Isaak und den anderen Söhnen Abrahams getroffen hat.“
Die Frage (M51), „ob V. 7b individuell oder kollektiv zu verstehen ist, d.h. ob sich das ‚Rufen‘ von ‚Nachkommenschaft‘ nur auf Isaak bezieht oder auch die von ihm abstammenden Nachkommen einschließt“, ist nach Wolter
wohl so zu beantworten, dass man aus den beiden Interpretationsmögliehkeiten keine Alternative konstruieren darf. … Durch die Einfügung des Zitats an dieser Stelle konstruiert Paulus so etwas wie eine prototypische Inklusivität, wie er das mit Hilfe der Präposition en auch anderenorts tut; vgl. z.B. 1Kor 15,22 („wie en tō Adam {in Adam} alle sterben, so werden auch en tō Christō {in Christus} alle lebendig gemacht“); 2Kor 13,4 (Christus „wurde aus Schwachheit gekreuzigt …, und wir sind schwach en autō {in ihm}“) sowie vor allem Gal 3,8-9, wo Paulus erst Gen 12,3 und 18,18 miteinander kombiniert („en soi {in dir } werden alle Völker gesegnet“) und das Zitat dann als ein „mit (syn) Abraham“ Gesegnet-Sein interpretiert. In allen Fällen – und das dürfte auch für Gen 21,12e in Röm 9,7b gelten – geht es darum, dass das Geschick eines Ersten das Geschick all derer bestimmt, die mit ihm verbunden sind.
In Vers 8 wird „eine Erklärung des Schriftzitats“ mit tout‘ estin {das ist, das bedeutet} eingeleitet, allerdings bezieht „die Erklärung sich nicht nur auf das unmittelbar voranstehende Schriftzitat …, sondern auf V. 7a-b insgesamt“, indem „Paulus … den Unterschied zwischen Isaak und den anderen Kindern Abrahams zu einer theologischen Grundsatzaussage“ verallgemeinert. Jetzt greift er nicht mehr (M52) wie in 6b und 7a „aus einer Gesamtheit einen Ausschnitt heraus“, sondern er formuliert
eine Antithese … Unter „allen Kindern“ (V. 7a) gibt es zwei Sorten: „Kinder des Fleisches“ (V. 8b) und „Kinder der Verheißung“ (V. 8c); nur die Letztgenannten können als „Nachkommenschaft“ (sperma) gelten sowie – das sagt Paulus indirekt – als „Kinder Gottes“. Er setzt den Ausschnitt damit nicht mehr wie in V. 6b-7a in Beziehung zum Ganzen, sondern er stellt ihn einem anderen Teil des Ganzen gegenüber. Dieser Wechsel vom Ausschnitt (ou pantes {nicht alle}) zur Antithese (ou …, alla {nicht …, sondern}) markiert eine Weichenstellung innerhalb der paulinischen Erörterung der Israel-Frage, die sie auf ein ganz neues Gleis führt. Auf ihm wird Paulus bis V. 26 bleiben.
Wie bereits in Galater 4,23 verwendet Paulus das „sonst nirgends belegte Gegenüber von sarx {Fleisch} und epangelia {Verheißung}“, um zu umschreiben,
dass Ismael auf die unter Menschen übliche Weise gezeugt und geboren wurde, während Isaak nur dadurch das Licht der Welt erblicken konnte, dass Gott mit seiner Verheißung aktiv wurde. Schließlich war Sara nicht nur unfruchtbar, sondern auch bereits 90 Jahre alt, als Gott Abraham die Geburt eines Sohnes ankündigte (Gen 17,17). Und Abraham war schon 100. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Paulus mit „Kinder des Fleisches“ Kinder, die auf die unter Menschen übliche Weise gezeugt werden, während „Kinder der Verheißung“ Kinder sind, die ihren Eltern allein durch Gottes Eingreifen geschenkt werden.
Nach Wolter kommt es in diesem Zusammenhang vor allem darauf an, dass Paulus „hier also Mensch und Gott einander gegenüber[stellt]: die leibliche Abstammung auf Grund natürlicher Fortpflanzung und die ‚Abstammung‘ von Gottes Verheißungswort.“ Zugleich (M53) verallgemeinert Paulus
die Vorgänge um Zeugung und Geburt der Kinder Abrahams und wendet sie ins Grundsätzliche: „Kinder“, die wie Ismael und die Söhne der Ketura von einem Menschen gezeugt werden, können niemals durch ihre Zeugung „Kinder Gottes“ im Sinne von V. 8b werden. Das werden vielmehr allein solche Kinder, die ihre Existenz dem Verheißungswort Gottes verdanken.
So verstanden besteht allerdings ein Unterschied der „Formulierung in Röm 9,8b vom Ausdruck esmen tekna theou {wir sind Kinder Gottes} in 8,16 …, wo Paulus von den Christen gesprochen hatte.“
Zum Begriff sperma {Same, Nachkommenschaft}, den Paulus „in V. 7a.b mit Bezug auf Abraham eingeführt hatte“ und „am Ende von V. 8c erneut“ mit der Formulierung logizetai eis sperma {werden als Nachkommenschaft angesehen} wieder aufgreift, betont Wolter, dass logizomai hier nicht im Sinne der Anrechnung oder „Beurteilung eines Tuns“ wie in der Aufnahme „von Gen 15,6 in Röm 4,3.5.9.22“ verwendet wird, sondern im Sinne der „Zuweisung von Identität“. Als Parallelen zu dieser Verwendung von logizomai benennt Wolter u.a. „Hi 41,24: elogisato abysson eis peripaton (‚er sah die Unterwelt als Spazierweg an‘)“ und „Röm 2,26: hē akrobystia autou eis peritomēn logisthēsetai (‚seine Vorhaut wird als Beschneidung angesehen‘).“ Hinzu kommt Wolter zufolge, dass Paulus „[a]uch mit dem Ausdruck ‚Kinder der Verheißung‘ … nicht auf Kap. 4 (V. 13.14.16.20.21) zurückverweisen“ will, „denn der Inhalt der Verheißung ist dort ein ganz anderer als hier“, nämlich „die Erwählung der Heiden oder der Christusgläubigen“, die in Römer 9,8 noch nicht „im Blick“ ist.
Im Blick auf den Satzbau von Vers 9a: epangelias gar ho logos houtos {wörtlich: der Verheißung nämlich (ist) dieses Wort} erläutert Wolter, dass am Anfang ein zweites logos {Wort} als „Subjekt“ zu ergänzen ist, worauf sich das tatsächlich da stehende ho logos houtos {dieses Wort} als „Prädikatsnomen“ bezieht.
In Vers 9b (M54) bringt Paulus ein aus Worten von 1. Mose (Genesis) 18,10 kata ton kairon touton {zu dieser Zeit} und 18,14 kai estai tē Sarra hyios {und Sara wird einen Sohn haben} zusammengesetztes Zitat, wobei Paulus die an den zitierten Stellen verwendeten Prädikate hēxō bzw. anastrepsō für das Wiederkommen Gottes durch das Prädikat eleusomai {werde ich kommen} ersetzt. Im Unterschied zu „den Verheißungen …, auf die Paulus in Röm 4,13.17-18 Bezug genommen hatte“, beschränkt sich die in diesem Zitat eröffnete „Perspektive“ allein auf die „Reichweite“ der „Lebensgeschichten der ‚historischen‘ Erzeltern“. So wird allein Isaak
zu einem ‚Kind Gottes‘ bzw. zu einem ‚Kind der Verheißung‘, das ‚als Nachkommenschaft gilt‘ (V. 8b.c). Nicht Abraham bestimmt über die Identität seiner Kinder, sondern einzig und allein Gott.
[10. Juli 2025] Nach Gerhard Jankowski (J208) antwortet Paulus auf die Frage „Wer ist Israel? Wer gehört dazu?“, wie „er es gelernt hat“, nämlich „von der Schrift her…, … in einem kleinen Midrasch“ mit dem Thema: „Wer ist Same Abrahams, wer ist Sohn Abrahams?“ Den Beginn dieses Midrasch in Römer 6b und 7a legt Jankowski so aus:
Es gilt: Alle aus Israel sind Israel. Das konnte man so begründen: Abraham ist der Vater Israels. Alle, die von ihm abstammen, sind seine Söhne. Der Akzent liegt hier auf der Genealogie, fast könnte man sagen: auf der Fortpflanzung. Nicht umsonst benutzt Paulus hier dreimal das Wort Samen, sperma. Seine These lautet nun so: „Nicht alle aus Israel sind Israel“ (9,6). Und: „Nicht, weil sie Same Abrahams sind, sind sie Kinder“ (9,7).
Aus Samen eines Mannes entstehen gewöhnlich Kinder. Das ist von Natur aus so. Der zweite Satz in der These des Paulus widerspricht völlig der Natur. Er widerspricht aber nicht der Schrift. Auch die weiß um Zeugung und Geburt, ohne die kein Mensch wird. Wir fragen aber nicht nach dem Werden des Menschen, sondern nach dem Werden Israels. Und da geht es gehörig anders zu, gerade in der Schrift. Also, wie war das bei Abraham?
Hier habe ich Schwierigkeiten mit Jankowskis Argumentation. Nicht mit dem, worauf er am Ende hinaus will, dazu gleich mehr. Aber sein Ausgangspunkt stimmt nicht. Er unterstellt nämlich Paulus zu Unrecht, er wolle mit dem Wort sperma {Same} auf die natürliche Art und Weise hinaus, wie normalerweise Kinder gezeugt werden. Aber genau diese Bedeutung hat das Wort sperma in Vers 7b und 8c, wo Paulus es zum zweiten und dritten Mal verwendet, eben gerade nicht. Hinzu kommt, dass Jankowski in seiner Übersetzung von Vers 7a das Wort pantes {alle} unterschlägt <270> und daher verkennt, worauf Wolter zu Recht hinweist, dass die Sätze 6b und 7a parallel aufgebaut sind. Ebenso wie Paulus in 6b von Israel sagt: „Nicht alle aus Israel sind Israel“, sagt er in 7a von Abraham: oud‘ hoti eisin sperma Abraam pantes tekna, also wörtlich: und nicht sind Same Abrahams alle (seine) Kinder. Dabei ist das hoti nicht mit weil zu übersetzen, sondern wie schon zu Beginn von Vers 6a mit dem Relativpronomen dass, das in der Übersetzung – sozusagen einen Doppelpunkt markierend – wegfallen kann. Aus seiner schiefen Anfangsargumentation zieht Jankowski allerdings dennoch zutreffende Schlussfolgerungen:
Wir erinnern uns: Dem Abraham wird große Nachkommenschaft verheißen. Aber den Sohn, der der Erste in der Kette der vielen Nachkommen werden soll, den kann Abraham nicht zeugen. Dann zeugt er einen Sohn, macht ihn gleichsam. Bei dem muß er lernen, daß dieser Sohn aber nicht der Träger der Zukunft sein kann. Es kommt also nicht auf die mehr oder weniger starke Potenz des Abraham oder auf die Fertilität seines Samens an, wenn es um die Nachkommenschaft Abrahams, wenn es um Israel geht. Nur eines von den Kindern Abrahams ist der verheißene Zukunftsträger, aus dem Israel werden soll. Kinder, tekna, sagt Paulus, und eben nicht Söhne. Denn Sohn, das heißt immer auch Abkömmling, Abstammung, Herkunft, Genealogie.
Wenn es aber nun auch nach Jankowski so ist, dass Paulus unter den vielen Kindern Abrahams nur den einen Sohn als den „Zukunftsträger“ hervorhebt, widerlegt er damit im Grunde selbst seine oben genannte Übersetzung von Vers 7a: „Nicht, weil sie Same Abrahams sind, sind sie Kinder“, denn offenbar ist es nicht der weiter gefasste Begriff tekna {Kinder}, der von Paulus mit dem Zukunftsträger verknüpft wird, sondern es sind die Begriffe hyios {Sohn} und sperma {Same}.
Interessant ist nun, auf welche Weise Jankowski zufolge die Schrift im 1. Buch Mose (Genesis) vom bɘkhor {Erstgeborenen} als dem „Zukunftsträger“ im Prozess des Werdens Israels inmitten der Völker spricht:
Die Schrift nennt den Zukunftsträger den bechor. Das kann der erstgeborene Sohn unter vielen Kindern sein, muß es aber nicht. Er ist es besonders da nicht, wo es um das Werden Israels geht. Der bechor Abrahams ist Jizchak. Denn es heißt Gen 21,12 – und Paulus zitiert hier wörtlich: „In Jizchak wird dir Same gerufen.“ Nicht der gezeugte Sohn also ist der Zukunftsträger, sondern der verheißene, der gerufene, über dessen Zeugung durch Abraham nichts zu hören ist.
Ausführlich geht Jankowski auf das ein (J209), was er von dem biblischen Theologen F. Breukelman über „die Struktur des Buches Genesis“ gelernt hat, nämlich dass diese „in weiten Teilen“ durch die „Zeugung des Erstgeborenen bestimmt“ ist:
So weit ich sehe, ist F. Breukelman der erste, der diese Struktur erkannt und für das Verständnis des Buches Genesis sowie der gesamten Schrift nutzbar gemacht hat (in: Bijbelse Theologie <271>). Die entsprechenden Stücke werden mit dem Satz eingeleitet: „Dies sind die Zeugungen, toledot, des N.N.“ Geradezu der klassische Ort der biblischen Toledot ist Gen 5. Die Struktur ist dort folgende:
Als A n Jahre gelebt hatte, zeugte er B.
Und nach der Erzeugung Bs lebte A m Jahre und zeugte Söhne und Töchter
und aller Tage As waren n+m Jahre.B ist in dieser Reihe der Erstgeborene. Er ist der, der das Leben des Erzeugenden fortsetzt. Und nach ihm sind es seine Brüder und Schwestern. Die Bedingung aber, daß die Menschheit und später Israel innerhalb dieser Menschheit wird, ist das Zeugen des Erstgeborenen. Seine Zeugung ist der entscheidende und einschneidende Punkt im Leben des Erzeugers.
Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass es „in dieser Struktur Abweichungen“ gibt:
Zum einen ist nicht immer der zuerst Gezeugte auch der Erstgeborene, der bechor. Zum anderen ist an den entscheidenden Stellen in den Toledot der Väter Israels die Rolle des Erzeugers bei der Zeugung des bechor passiv. Es bleibt in der Schwebe, wer den bechor, von dem das weitere Werden Israels abhängt, zeugt. Die gleiche Struktur finden wir im biblos geneseōs, dem sefer toledot {Buch der Zeugungen } des Messias Jesus bei Mt 1. 39mal hören wir dort das Wort gennan, zeugen, im Aktiv. Und es sind selbstverständlich Männer, die das Zeugen besorgen. Nur beim Messias Jesus wechselt die Verbform ins Passiv über. Von ihm heißt es, daß er gezeugt wurde. Es bleibt offen, von wem.
Mit den Worten tout‘ estin {das ist} legt Paulus in Vers Römer 9,8 das in Vers 7b über Isaak Gesagte aus:
„Nicht die Kinder des Fleisches, die sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden zum Samen gerechnet“ (9,8). Das will sagen: Nicht die gezeugten, die „gemachten“ Kinder, die fleischlich mit ihrem Erzeuger verbunden sind durch Abstammung, sind automatisch die Kinder der Verheißung. Paulus nennt sie Kinder Gottes, anders gesagt: sie sind „gezeugt“ von Gott.
An dieser Stelle kommt Jankowski noch einmal auf seine Annahme zurück, die erste Erwähnung des sperma {Samens} durch Paulus in Vers 7a beziehe sich auf die fleischlich gezeugten, wortwörtlich dem väterlichen Samen entstammenden Kinder, wovon er eine positive Bedeutung des in Vers 8c erwähnten Samens unterscheidet:
Es sind nicht die, die aus dem Samen entstammen, sondern zum Samen gerechnet werden, logizetai.
Aber, wie gesagt, näher liegt es doch, dass Paulus den Begriff sperma gar nicht auf die Zeugung nach dem Fleisch bezieht, sondern umgekehrt von vornherein mit denjenigen Kindern Abrahams verbindet, die tatsächlich zu Israel gehören. Erneut ist den schlussfolgernden Aussagen Jankowskis trotzdem zuzustimmen (J209f.):
Es gibt also für Paulus auch keinen Automatismus bei der Zugehörigkeit zu Israel. Für ihn ist diese Zugehörigkeit nicht genealogisch begründet. Sie liegt auch nicht in der Fertilität der Väter Israels. Sie wird gewährt, geschenkt, zugesagt von Gott her. Erst nachdem das geklärt ist, kann jetzt auch wieder vom Sohn gesprochen werden, in entsprechender Weise. Paulus zitiert aus der Erzählung vom Werden Israels, aus Gen 18,10 bzw. 18,14, noch einmal die Verheißung des bechor an Abraham:
Zu dieser Frist werde ich zu dir kommen,
und der Sara wird ein Sohn sein.Sara und Abraham sind, als diese Verheißung laut wird, in einem Alter, in dem Frauen nicht mehr gebärfähig sind und die Zeugungsfähigkeit von Männern zumindest angezweifelt werden muß. So bleibt auch unklar, wer der Erzeuger des bechor ist. Das soll auch so sein. Denn vor allem soll gehört werden, daß der bechor völlig eine Größe der Verheißung ist und bleibt und allem menschlichen Planen und Handeln entnommen ist. Er ist keine berechenbare, weil nicht machbare Größe.
↑ Römer 9,10-13: Von den Söhnen Rebekkas erwählt und liebt Gott den Jüngeren
9,10 Aber nicht allein hier ist es so,
sondern auch bei Rebekka,
die von dem einen, unserm Vater Isaak, schwanger wurde.
9,11 Ehe die Kinder geboren waren
und weder Gutes noch Böses getan hatten,
da wurde, auf dass Gottes Vorsatz der Erwählung bestehen bliebe –
9,12 nicht aus Werken, sondern durch den, der beruft –,
zu ihr gesagt: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen“,
9,13 wie geschrieben steht (Maleachi 1,2-3):
„Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.“
[11. Juli 2025] In Römer 9,10a (M54) „kommt Paulus auf Rebekka“ zu sprechen, unmittelbar nachdem von Sara die Rede war. Aber es geht ihm nicht (Anm. 44) um Rebekkas „Unfruchtbarkeit“, die „beide Frauen miteinander verbindet“, sondern (M54) es ist sie und „nicht Isaak“, die er mit „Hilfe der Überleitung ou monon de, alla kai {nicht nur, sondern auch}“ dem „Abraham an die Seite“ stellt, da auch sie „ein Gotteswort empfangen“ hat, von dem in Vers 12b-c „ausdrücklich als an sie gerichtet“ die Rede sein wird, „das zwischen ihren Kindern unterscheidet.“
Dabei dient die Aussage ex henos koitēn echousa {die von einem schwanger war} in Vers 10b dazu, „die Situation zu bestimmen, in der Rebekka Gottes Wort empfing: zwischen Empfängnis und Geburt ihrer Kinder (Gen 25,21 und 25,24-26).“ Zugleich wird (M55) in Vers 10b-c
erkennbar, was sie von Abraham unterscheidet: Zwar wird auch ihr von mehreren Söhnen nur einer von Gott erwählt, doch werden alle von ein und derselben Mutter geboren und nicht von drei verschiedenen Müttern wie bei Abraham. Außerdem sind beide Kinder – mit Röm 9,8a gesagt – „Kinder des Fleisches“, denn sie wurden wie die Kinder Hagars und Keturas im Sinne von Gal 4,23.29 kata sarka {nach dem Fleisch} gezeugt. Anders als bei Isaak ist es darum bei Jakob nicht schon seine Existenz, die er dem Eingreifen Gottes verdankt.
Zum Ausdruck koitēn echousa {wörtlich: einen Koitus habend} erläutert Wolter, dass
koitē … ursprünglich die Stätte [bezeichnet], auf der man sich niederlegt, um zu schlafen, sich auszuruhen, zu sterben (z.B. Ex 21,18; 2Sam 11,13; 1Makk 1,5; Lk 11,7; hebr. schɘkhavah) oder um sexuell zu verkehren (z.B. Gen 49,4; 1Chr 5,1…; Hebr 13,4…).
Von letzterer Bedeutung ausgehend „kann der auf einer koitē vollzogene Beischlaf ebenfalls koitē heißen“, wiederum „[d]avon abgeleitet, kann der Ausdruck koitē spermatos den beim Beischlaf erfolgenden Samenerguss des Mannes“ meinen, und schließlich kann in 3. Mose 18,23 und 4. Mose 5,20 „auch der Same, den der Mann beim sexuellen Verkehr ‚gibt‘, koitē genannt werden“. Indem Paulus mit koitēn echousa „den von der Frau empfangenen Samen“ bezeichnet, bringt die Formulierung, dass dieser Same ex henos {von einem} stammt,
nicht lediglich zum Ausdruck …, dass die Kinder Rebekkas ein und denselben Vater haben, sondern dass Rebekka beide Kinder durch ein und denselben Samenerguss empfangen hat. Paulus hebt auf diese Weise die ursprüngliche Gleichheit der Kinder hervor, um deren spätere Unterscheidung umso deutlicher einzig und allein Gott zuschreiben zu können.
Dazu, dass „Paulus Isaak ‚unseren Vater‘ nennt“, hebt Wolter hervor, dass er sich damit „wie in Röm 4,1 wieder mit allen anderen Juden – christlichen wie nichtchristlichen – zusammen[schließt]“, während die „heidenchristlichen Adressaten des Römerbriefes … hier wie dort nicht dazu“ gehören. Seltsam ist Wolters sich daran anschließende Formulierung: „Hieran wird einmal mehr deutlich, dass der Jude Paulus sich unablässig an der Abfassung des Römerbriefes beteiligt.“ Könnte das nicht einfach daran liegen, dass Paulus eben tatsächlich noch kein Christ ist, der sich von seinem Jude-Sein verabschiedet hat, sondern seinen Brief wirklich als Jude verfasst, der sich im Römerbrief ebenso an Juden wendet, um sich für Nichtjuden einzusetzen, wie er jetzt als Anwalt der Juden nichtjüdische Adressaten anspricht?
Was genau nun bei Rebekka so ist wie bei Abraham (M56), das nimmt Paulus in den Versen 11-13 in den Blick, indem er zunächst mit dem Wort mēpō {noch nicht} in 11a „die Situation, in der Rebekka Gottes Wort empfing, … von der Zukunft“ abgrenzt und den hier beginnenden Satz in Vers 12b „mit dem Hauptsatz errhethē autē … {wurde zu ihr gesagt}“ weiterführt. In der Formulierung mēpō gar gennēthentōn mēde praxantōn ti agathon ē phaulon {denn bevor sie geboren worden sind, bevor sie irgend etwas getan haben, sei es Gutes oder Böses} in Vers 11a fehlt das Subjekt, das sich aber nach Wolter „leicht ergänzen“ lässt, „am besten passt vielleicht ‚ihre Söhne‘ oder ‚Jakob und Esau‘.“ Dass Paulus über die „Abgrenzung von der noch ausstehenden Geburt der beiden Söhne“ hinaus
die Situation, in der Rebekka Gottes Wort empfing, auch noch vom späteren Verhalten ihrer beiden Söhne abgrenzt, hebt seine Argumentation auf eine sachlich-theologische Ebene.
Aus dieser Abgrenzung ergibt sich nämlich für Paulus eine „theologisch bedeutsame Konsequenz“, die er in Vers 11c mit den Worten entfaltet: hina hē kat‘ eklogēn prothesis tou theou menē {damit Gottes auswählender Beschluss bleibt}. Dabei versteht Wolter „die Formulierung hē kat‘ eklogēn prothesis {der auf Auswahl bezogene Beschluss}“ vom Satzbau her „analog zu to kat‘ eme prothymon {auf mich bezogene Bereitwilligkeit} in Röm 1,15“, was dann auch hier zu seiner Übersetzung „‚der Beschluss der Auswahl‘ oder ‚der auswählende Beschluss‘“ führt. Das Wort menē {bleibt} hebt dabei – anders als (Anm. 54) in Jesaja 14,24 – nicht (M56) den „fortdauernden Bestand“ des von Gott Beschlossenen hervor, sondern „dass Gott auch bei seiner Auswahl unter den Kindern Rebekkas an dem Grundsatz festgehalten hat, von dem sein Auswahlbeschluss immer bestimmt ist“; von daher ergänzt Wolter (M46) seine Übersetzung von Vers 11c folgendermaßen: „damit Gottes auswählender Beschluss (maßgeblich) bleibt“.
In Vers 12a (M56) erklärt Paulus dann diesen „Grundsatz …, an dem Gottes ‚auswählender Beschluss‘ sich stets orientiert“, indem er das „Gegenüber von ex ergōn {aufgrund von Werken} und ek tou kalountos {aufgrund des Rufenden}“ benennt, in dem sich „das Gegenüber von Mensch und Gott“ abbildet. Der Grundsatz besagt (M56f.),
dass Gott sich bei seinen Beschlüssen prinzipiell nicht an dem orientiert, was die Menschen getan haben, sondern gänzlich frei entscheidet. Gottes Erwählung erfolgt niemals a posteriori {nachträglich, aufgrund von Erfahrungen}, sondern immer a priori {von vornherein, grundsätzlich}; sie ist niemals Reaktion, sondern immer Aktion. In V. 14-26 wird Paulus diesen Aspekt von Gottes Handeln ausführlich erörtern.
Zum Ausdruck ouk ex ergōn {nicht aus Werken} betont Wolter (M57), dass er damit lediglich das in Vers 11b über „die Ambivalenz des Tuns“ Gesagte aufnimmt und nicht auf seine „Rechtfertigungslehre“ zu sprechen kommt, „denn es fehlen nicht nur deren Zentralbegriffe ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Glaube‘, sondern die ‚Werke‘, von denen in V. 12a die Rede ist, sind hier selbstverständlich nicht die ‚Werke der Tora‘.“ Jedenfalls begründet Paulus die „Unterscheidung zwischen Jakob und Esau“ ganz anders als der jüdische Philosoph Philo <272>, demzufolge (M44) nach Virt. 208 „Jakob … ‚beiden Eltern gehorsam‘ [war], Esau hingegen ‚unfolgsam und maßlos in der Befriedigung leiblicher und sinnlicher Genüsse‘“. Und auch (M57)
in Leg. All. 3,88 sind es die jeweiligen Werke Jakobs und Esaus, die Gott dazu veranlasst haben, Jakob gegenüber Esau vorzuziehen. Philo verweist ebenfalls auf Gen 25,23 und sieht die Unterscheidung zwischen Jakob und Esau darin begründet, dass Gott schon im Voraus wusste, was aus den beiden Kindern später einmal werden würde: „Gott, der Bildner der Lebewesen, kennt seine Gebilde auch vor ihrer letzten Vollendung recht gut nebst den Kräften, die sie entfalten werden, und allen Werken (erga) und Leidenschaften“. In LibAnt 32,5 wird demgegenüber zwar Mal 1,2-3 zitiert, doch ist die Begründung fast dieselbe wie bei Philo: „Gott liebte den Jakob, Esau aber hasste er wegen seiner Werke (propter opera eius)“.
Indem Paulus Gott „ho kalōn {den Rufenden} nennt“ und damit „auf ein Gottesprädikat zurück[greift], das es schon bei Deuterojesaja gibt (vgl. Jes 41,4; 45,3; 46,11), wo es das Erwählungshandeln Gottes umschreibt (vgl. Jes 41,9; 42,6; 43,1; 48,12.15; 51,2 sowie 1Thess 5,24)“, nimmt Paulus zwei Formulierungen der vorigen Verse auf, nämlich erstens das „Zitat von Gen 21,12e in Röm 9,7b … (‚en Isaak klēthēsetai soi sperma‘ {in Isaak wird dir Nachkommenschaft gerufen werden}), wo das Passiv als passivum divinum ebenfalls Gottes Handeln umschreibt“, und zweitens die Formulierung „kat‘ eklogēn {auf Auswahl bezogen} aus V. 11c“. Dazu bemerkt Wolter, dass Paulus auch „in Röm 11,28-29 und 2Petr 1,10“ die beiden Begriffe klēsis {Ruf, Berufung} und eklogē {Auswahl, Erwählung} parallel verwendet und „[v]om ‚Rufen‘ Gottes … erneut in Röm 9,24 sprechen und es durch zwei Hosea-Zitate erläutern (V. 25.26)“ wird.
In Vers 12b-c setzt Paulus dann endlich „den in V. 11a-b begonnenen und durch V. 11c-12a unterbrochenen Satz fort“, indem er in 12b mit dem im passivum divinum {göttlichen Passiv} formulierten Satz errhethē autē {wurde zu ihr gesagt} umschreibt, was Gott Rebekka mitteilte. In 12c folgt dann (M58) das „wörtlich mit der Septuaginta-Fassung des Schlusses von Gen 25,23“ übereinstimmende Zitat: ho meizōn douleusei tō elassoni {der Ältere wird dem Jüngeren dienen}. In dem, was in 1. Mose (Genesis) 25,23 den so „zitierten Worten vorausgeht“, ist allerdings
nicht von zwei Menschen die Rede, sondern von zwei „Völkern“: „Zwei Völker (gojim/ethnē) sind in deinem Leib, und zwei Völker (lɘˀummim/laoi) werden sich aus deinem Schoß trennen; und ein Volk wird dem anderen Volk überlegen sein (lɘˀom milˀom jeˁemaz / laos laou hyperexei)“. Daraus darf man jedoch ebenso wenig wie aus dem Zitat aus Mal 1,2-3 in V. 13 den Schluss ziehen, dass Paulus hier von kollektiver Erwählung und Verwerfung spricht. … Es geht Paulus einzig und allein darum, die Beweggründe zu identifizieren, von denen Gott sich bei seinen Erwählungsentscheidungen leiten lässt.
Bisher hat Paulus die beiden Bibelzitate aus dem 1. Buch Mose einfach in seine Erzählung eingebaut; erst in Vers 12 „zitiert [er] die Schrift als Schrift, indem er sie mit den Worten von Mal 1,2-3 Gottes auswählendes Wort an Rebekka kommentieren lässt“. Dabei stellt er „in der ersten Hälfte“ des Zitats „das Objekt voran“, so dass sie „dieselbe Wortfolge wie die zweite“ erhält und „die Antithese zwischen den beiden Brüdern noch deutlicher in den Vordergrund tritt“: ton Iakōb ēgapēsa, ton de Ēsau emisēsa {Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst}. Dabei bezeichnet misein „hier nicht das affektive ‚Hassen‘, sondern steht für ‚verwerfen‘, ‚ablehnen‘ oder ‚zurückweisen‘ (hebr. ßanaˀ)“, wozu Wolter (Anm. 60) auf „Gen 29,31.33; Dtn 21,15-17; Ri 15,2; Ps 97,10; 119,113.163; Spr 8,36; Mi 3,2; Sir 7,20; Mt 5,43; Lk 14,26; 16,13 par. Mt 6,24; Joh 12,25; Röm 7,15; Hebr 1,9“ verweist.
Auch im Blick auf (M58) dieses „Maleachi-Zitat“ hebt Wolter hervor, dass Paulus die Namen Jakob und Esau „auf die beiden Söhne Rebekkas, also auf Einzelpersonen“ bezieht, während sie „in Mal 1,2-3 Kollektiva sind, die für Israel und Edom stehen“. In seinen Augen wäre es (M58f.) „ein grobes Missverständnis der paulinischen Darstellung…, Gottes seinerzeitigen Umgang mit Rebekkas Sohn Esau auf seinen Umgang mit der nichtchristlichen Mehrheit Israels zu übertragen“, wie es z.B. (Anm. 61) bei Hübner <273> mit der Formulierung geschieht: „… dann ist für ihn die Situation Esaus die der Juden, wie die Jakobs die der Judenchristen ist“.
Zusammenfassend betont Wolter (M59) zu „diesem Abschnitt“ Römer 9,6-13, dass Paulus hier keineswegs „den Erwählungsanspruch Israels“ zerstören will, vielmehr entfaltet er
die Gewissheit, dass Israels Erwählung nicht außer Kraft gesetzt wurde, indem er in Gesamt-Israel, d.h. unter allen Juden, ein Teil-Israel ausdifferenziert (V. 6b). Später, in 11,1-7, wird er es mit den christlichen Juden identifizieren. Paulus siedelt dieses Teil-Israel strikt innerhalb Gesamt-Israels an. Er überschreitet mit dem in V. 6bβ eingeführten Israel in Israel also nicht die Grenze des Judentums. Das ist aber nur die eine Seite, denn auf der anderen Seite handelt es sich bei diesem Israel um ein theologisches Konstrukt. Nach paulinischem Verständnis gehören ihm nur solche Menschen an, die zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen Juden sein, und sie müssen – wie Paulus es dann in Röm 10,9 formulieren wird – Jesus Christus als Herrn bekennen.
Der Versuch des Paulus, „dieses Israel-Modell mit Hilfe der Kinder Abrahams und Rebekkas zu erläutern“, unter denen „Isaak und Jakob jeweils Ausschnitte aus der Gesamtheit aller Kinder ihrer Väter waren“, ist aber nicht ganz stimmig (M59f.),
denn sowohl bei Abraham als auch bei Rebekka hat Gott nicht Unterscheidungen innerhalb Israels vorgenommen: Nur Isaak und Jakob werden gewissermaßen ‚Israel‘, während alle anderen Kinder aus ‚Israel‘ ferngehalten werden. … Ab V. 8 geht es nicht mehr um das Verhältnis eines Teils zum Ganzen, sondern um die Gegenüberstellung zweier Teile.
Um zwei Themen geht es Wolter zufolge (M60) in Römer 9,6-13 ausdrücklich nicht: weder um „die Folgen des Unglaubens der nichtchristlichen Juden“ noch um „die nichtchristliche Mehrheit Israels in seiner Gegenwart“. Stattdessen geht es „ihm um die Prinzipien, an denen Gottes Erwählungsentscheidungen sich orientieren“. Es ist nämlich
ausschließlich die freie Entscheidung Gottes …, die festlegt, welche Kinder ‚drin‘ und welche ‚draußen‘ sind, d.h. welche er erwählt und welche nicht, welche Gott „liebt“ und welche er „hasst“. … Diese Autonomie der Entscheidung Gottes grenzt Paulus nach zwei Seiten hin ab: zum einen von der Gemeinsamkeit der jeweiligen Väter sowie – bei der Unterscheidung zwischen Jakob und Esau – von der Lebensführung der Kinder. Beide Abgrenzungen sind im Blick zu behalten, denn sie lassen nur gemeinsam die Pointe der paulinischen Argumentation zutage treten: Paulus will nicht zeigen, dass bei der Erwählung Isaaks und Jakobs die leibliche Abstammung keine Rolle gespielt hat. Im Zentrum steht vielmehr der Gedanke, dass Gott sich in beiden Fällen auch nicht am Verhalten der Menschen orientiert hat. Die in V. 11-12a vorgetragene These, dass Gott von der Lebensführung Jakobs und Esaus abgesehen hat, drängt sich sogar so sehr in den Vordergrund, dass Paulus sich ab V. 14 genötigt sieht, den Vorwurf abzuwehren, dass Gott ‚ungerecht‘ ist.
[12. Juli 2025] Gerhard Jankowski (J210) beginnt seine Auslegung von Römer 9,10-13 mit der Überlegung, ob das, was „bei Abraham so war, … bei Jizchak, dem Zukunfts- und Verheißungsträger“ genau so sein muss, mit dem „das Werden Israels weitergehen“ soll, so dass „wieder nach dem bechor gefragt werden“ muss, nach einem neuen Zukunftsträger. Die Adressaten des Paulus kennen natürlich die Geschichte:
Zunächst scheint sich das gleiche Dilemma wie bei Abraham und Sara abzuzeichnen. Die Frau Jizchaks, Rebekka, ist unfruchtbar. Dennoch wird sie schwanger. Auch hier ist es also so, daß die natürlichen Gesetze und Ordnungen durchbrochen werden. Das Problem aber ist ein anderes. Denn Rebekka ist mit Zwillingen schwanger. Der bechor ist gleichsam in nuce in zweifacher Gestalt vorhanden. Wer von beiden wird es sein? Schon vor der Geburt scheint es zwischen den beiden Ungeborenen einen Kampf um die bechura zu geben: „Die beiden Kinder stießen einander in ihrem Inneren“ (Gen 25,22). Die Mutter bekommt u.a. gesagt (Gen 25,23):
Größerer (Älterer) muß Geringerem (Jüngeren) dienen.
Damit wird angedeutet, wer nach der Geburt der Zwillinge der bechor sein wird. Als erster wird Esaw geboren. Er müßte also der Verheißungsträger sein. Er verkauft aber seine bechura an den Zweitgeborenen, den Jaakob; er hat sie verachtet, wie es bei Gen 25,34 heißt. Und so wird Jaakob der bechor und dann zum Vater vieler Söhne, von denen wiederum einer der letzten, Joseph, zum bechor wird.
Indem Paulus in seinem „kleinen Midrasch über den Samen Abrahams“ auch auf die „Erzählung aus den Toledot Israels“ von (J211) „den Zwillingsbrüdern Esaw und Jaakob“ eingeht, nimmt er ernst, dass das „Werden Israels … von Gott her recht unordentlich geregelt“ erscheint. Aber obwohl zwischen den Brüdern „so gut wie nichts in Ordnung“ ist,
setzt sich die Verheißung auch in dieser Unordnung durch. Denn die Verheißung kann nicht vereinnahmt werden. Sie verwirklicht sich überraschend neu. Sie hält sich nicht an geregelte Abläufe oder Gesetzmäßigkeiten. Aber sie hält sich durch. Von Gott her. Es liegt bei ihm, nie aber in menschlicher Hand, wer mit der bechura im gerade gewordenen Israel und wer damit im ständig neu werdenden Israel betraut ist. So schließt sich der Satz des Paulus auf, daß nicht alle, die aus Israel sind, auch Israel sind. Für ihn hat Israel keine abgeschlossene Geschichte, die zu Ende kommen könnte oder zu Ende gekommen ist.
Wolter (M58) hatte die beiden Schriftzitate über Jakob und Esau nur auf diese beiden Individuen bezogen und Käsemanns <274> Feststellung zugestimmt: „Die Zitate sind aus ihrem Kontext herausgerissen und mißachten dessen Sinn“. Obwohl seiner damit verfolgten Absicht zuzustimmen ist, dass Paulus den Gegensatz von Jakob und Esau hier nicht kollektiv auf die Unterscheidung von Judenchristen und nichtchristliche Juden beziehen will, sollte doch nicht außer Acht bleiben, dass dem Juden Paulus die Zusammenhänge der von ihm zitierten Schriftverse bewusst sein müssen, auch wenn er sie hier nur knapp andeutend aus der Septuaginta zitiert. Das gilt sowohl für das Maleachi-Zitat über die Völker Israel und Edom als auch für das Wort an Rebekka aus 1. Mose (Genesis) 25,23, das nach Jankowski (angelehnt an Martin Buber) nach dem hebräischen Text vollständig so lautet (J210, Anm. 5):
Zwei Gojim sind in deinem Leib, / zwei Volkshaufen von deinem Schoß an getrennt, / Hauf überwältigt Hauf, / Älterer muß Jüngerem dienen.“
Jedenfalls (J211) erzählen in diesem Buch die „Toledot {Zeugungen} der Väter Israels … vom Werden Israels“, das immer sein „Werden unter den Völkern“ ist. Wie schon neben Israel der „erste von Abraham gezeugte Sohn, Ismael, … zu einem großen Volk“ wird, wird auch
aus dem zuerst geborenen Sohn Jizacks, Esaw, … ein großes Volk werden. Beide Völker stehen später in einem besonderen und gespannten Verhältnis zum Volk Israel. Aus Esaw wird Edom, ein Brudervolk, ein Volk mit gemeinsamer Wurzel. Und doch steht Edom in schärfstem Gegensatz zu Israel. Es wird zum Feind Israels schlechthin. Bis dann Edom mit Rom gleichgesetzt wird. Das ist freilich eine andere Geschichte. Aber es ist erstaunlich, daß Paulus seinen kleinen Midrasch über das Werden Israels schließt mit einem geradezu vernichtenden Urteil über Esaw/Edom. Er zitiert aus Maleachi 1,2f.:
Ich liebte Jaakob
und Esaw haßte ich.
Nach Jankowski ist in diesem Wort „unüberhörbar“ vom „Werden Israels unter den Völkern“ die Rede, und dieses Thema ist „zur Zeit des Paulus“ schon lange
zum Problem „Israel und die Völker“ geworden“. Jaakob, der als erster den Namen Israel trägt, von Gott geliebt, nach wie vor – Esaw gehaßt, nach wie vor und wohl intensiver denn je. Schärfer kann der Gegensatz nicht benannt werden. Schärfer aber kann auch nicht das Problem benannt werden in einem Schreiben, das an Israel gerichtet ist, das inmitten des gehaßten Edom lebt. Warum ist Jaakob/Israel so geliebt? Darauf erfolgt nun eine erste Antwort.
↑ Römer 9,14-16: Gott ist keineswegs ungerecht in seinem souveränen Erbarmen
9,14 Was wollen wir hierzu sagen?
Ist denn Gott ungerecht?
Das sei ferne!
9,15 Denn er spricht zu Mose:
„Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig;
und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
9,16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen,
sondern an Gottes Erbarmen.
[13. Juli 2025] In dem mit Römer 9,14 beginnenden Abschnitt (M62) wird Paulus ein weiteres Mal „aus der Geschichte Israels … ein Gegensatzpaar“ herausgreifen, um eine kritische Frage zu beantworten. Die Gegenüberstellung „Mose und Pharao“ ist jedoch
auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt, weil es jetzt nicht mehr darum geht, dass Gott unter Geschwistern, die auf Grund ihrer Herkunft gleich sind, die einen auswählt und die anderen nicht.
Schon in Römer 3,5 hatte Paulus gefragt, ob Gott etwa ungerecht ist, mē adikos ho theos; jetzt fragt er ähnlich: mē adikia para tō theō? {gibt es bei Gott etwa Ungerechtigkeit?}, wobei die Formulierung mit mē {nicht etwa} die betreffende „Schlussfolgerung … von vornherein … als falsch kennzeichnet“. Diese aus der Sicht „eines fiktiven Lesers“ formulierte Frage reagiert auf das von Paulus (M63)
in V. 11-13 über Gottes Umgang mit Jakob und Esau Gesagte: dass Gottes Entscheidung über Erwählung und Verwerfung allein auf seinem eigenen Gutdünken basiert (ek tou kalountos {aufgrund des Rufenden}; V. 12a) und vom Tun der Betroffenen gänzlich absieht (ouk ex ergōn {aufgrund von Werken}; ebd.). Paulus hält es für denkbar, dass ein solches Vorgehen Gott den Vorwurf der Ungerechtigkeit eintragen könnte. Das ist aber vom biblischen Gottesbild her ausgeschlossen, und darum muss Paulus diese Möglichkeit entschieden zurückweisen (mē genoito {natürlich nicht}).
Zum „biblischen Gottesbild“ verweist Wolter (Anm. 8) u.a. auf
Dtn 32,4 („Gott ist treu, und [bei ihm] ouk estin adikia {ist keine Ungerechtigkeit}“); 2Chr 19,7 („bei dem Herrn gibt es weder adikia {Ungerechtigkeit} noch Ansehen der Person noch Annehmen von Geschenken“); Ps 91,16LXX („rechtschaffen [euthēs] ist der Herr …, und in ihm ouk estin adikia“); s. auch Hi 34,10…
Die letztgenannte Stelle (Hiob 34,10), die Wolter nur knapp erwähnt, ohne sie zu zitieren, ist insofern interessant, als dort ein gottesfürchtiger Mann namens Elihu die Gerechtigkeit Gottes gegenüber Hiob verteidigt, dem er vorwirft (Hiob 32,2), sich selber für gerechter zu halten als Gott. Es wird zu fragen sein, ob Paulus über Gott genau so denkt wie Elihu oder ob das, was Paulus sagt, nicht doch von der Haltung des Hiob her angemessener verstanden werden kann.
Die „Zurückweisung“ der Unterstellung, Gott könne ungerecht sein, „begründet Paulus“ in Vers 15 „mit einem Zitat, das wortwörtlich mit der Septuaginta-Fassung von Ex 33,19d-e übereinstimmt.“ Dort „spricht Gott zu Mose, und auch Paulus wird sich Gott als Subjekt von legei {er spricht} vorgestellt haben.“ Mit den beiden bedeutungsgleichen Verben eleeō und oiktirō {sich erbarmen, Mitleid haben} bringen die „beiden Teile“ des Zitats „ein und denselben Gedanken zum Ausdruck (synonymer parallelismus membrorum)“ (M61):
„Ich werde Mitleid haben, mit wem ich Mitleid habe,
und ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme“.
Während (M63) Gott gegenüber Mose auf diese Weise „seinen Namen JHWH“ erklärt und mit dieser zweimaligen „Tautologie an die Tautologie von Ex 3,14“ erinnert, „wo Gott sich gegenüber Mose mit dem Namen ‚Ich bin, der ich bin‘ (ˀehjeh ˀascher ˀehjeh) vorgestellt hat“, hat bei Paulus „die Tautologie eine andere Funktion“ (M63f.):
Er will mit ihrer Hilfe deutlich machen, dass der Grund für Gottes Erbarmen und Mitleid nicht auf Seiten des Menschen zu suchen ist, der Gottes Barmherzigkeit erfährt, sondern einzig und allein auf Seiten Gottes. Mit der Zuwendung von Gottes Erbarmen und Mitleid verhält es sich genauso wie mit seiner Erwählung: Sie ist niemals Reaktion, sondern geht immer nur von Gott aus. Auf dieser Linie liegt jedenfalls die Erläuterung, die Paulus dem zitierten Gotteswort im nächsten Vers gibt.
Mit dieser Erläuterung schließt Wolter aus (Anm. 11), dass „auch Paulus das Zitat als ‚Paraphrase des Gottesnamens‘ verstanden wissen wollte“ <275>, denn „das geht aus dem Text nicht hervor“. Kann und muss er, der Jude, dieses zentrale Wort über die Barmherzigkeit Gottes aber nicht doch auch unausgesprochen als selbstverständliche Anspielung auf dessen befreienden NAMEN begreifen?
Auch dass „die aus Ex 33,19 zitierten Worte in ihrem ursprünglichen Kontext Gottes Antwort auf Moses Eintreten zugunsten Israels“ gewesen seien <276>, weist Wolter mit den Worten zurück: „Gott antwortet hier auf Moses Bitte, seine Herrlichkeit sehen zu dürfen.“ Aber besteht die doxa des Gottes Israels, seine Herrlichkeit oder Ehre, nicht eben in der Befreiung Israels (vgl. dazu oben die Auslegung von Römer 5,2)?
In Römer 9,16 stellt Paulus (M64) „dem Erbarmen Gottes“ mit dem „Begriffspaar ‚wollen‘ und ‚laufen‘ … die Intentionalität des menschlichen Handelns“ gegenüber, also „das Aus-Sein des Menschen auf etwas“. Damit will er sagen,
dass Gott nicht darauf achtet, was ein Mensch ‚gewollt‘ hat und auf welches Ziel hin er ‚gelaufen‘ ist, wenn er ihm Erbarmen schenkt, bzw. dass kein Mensch etwas dafür tun kann, dass Gott sich seiner erbarmt.
Zum Stichwort trechein {laufen} betont Wolter, dass Paulus damit „nicht lediglich auf antike Wettkampfsprache“ zurückgreift, „denn ‚laufen‘ ist als metaphorische Umschreibung für die menschliche Lebensführung weit verbreitet“, z.B. in Psalm 118,32; Sprüche 1,16; Jesaja 59,7; Jeremia 8,6.
Indem Paulus mit den Worten „Wollen und Laufen“ in sehr allgemeiner Form „auf der Seite des Menschen aus V. 11 mēde praxantōn ti agathon ē phaulon {bevor sie irgend etwas getan haben, sei es Gutes oder Böses} und aus V. 12a ouk ex ergōn {nicht aufgrund von Werken}“ wieder aufnimmt und „auf der Seite Gottes alla tou eleountos theou {sondern des sich erbarmenden Gottes} (V. 16) seine Entsprechung in all‘ ek tou kalountos {sondern aufgrund des Rufenden} (V. 12a)“ findet, wird (M64f.)
[d]er Grundsatz, der Gott in den Verdacht der Ungerechtigkeit gebracht hat, … damit sprachlich zwar leicht modifiziert, inhaltlich aber ohne jede Abschwächung wiederholt: Wenn Gott sich eines Menschen erbarmt, achtet er nicht darauf, ob dieser Mensch auf Gutes oder auf Böses aus gewesen ist. Paulus weist damit einen Vorwurf zurück, indem er einfach die Aussage erneuert, gegen die der Vorwurf erhoben wurde.
Wolter meint (M65), dass Paulus „so argumentieren“ kann, „weil er die rhetorische Frage nicht auf der Sachebene diskutiert, sondern auf einer übergeordneten Ebene als unangemessen zurückweist“, was er „[g]anz ähnlich … auch in Röm 3,6“ getan hat, während er das hier „erst ab V. 19“ tun wird.
[14. Juli 2025] Gerhard Jankowski (J212) übersetzt adikia in Römer 9,14 nicht einfach mit Ungerechtigkeit, sondern ihm zufolge fragt Paulus: „Ist etwa Unwahrhaftigkeit bei Gott?“ Er begründet das nochmals mit auf Martin Buber zurückgehenden Überlegungen, nämlich dass
alle griechischen Worte von der Wurzel dik– in der LXX Übersetzungen von Worten sind, die von der hebräischen Wurzel zdq abgeleitet sind. Von Buber haben wir gelernt, daß solche Worte im Deutschen tunlichst mit Worten übersetzt werden, die mit der Wurzel wahr– zusammenhängen. adikia ist Gegensatz zu dikaiosynē. Wenn diaiosynē = zedakah, Bewährung, Wahrhaftigkeit ist, dann ist adikia = lo-zedakah, das, was sich nicht bewährt, die Unwahrhaftigkeit. Gott ist wahrhaft, weil er getreu ist. Was sich nicht bewährt, das kann jeweils benannt werden. Eine Fülle von verschiedenen hebräischen Worten übersetzt die LXX deswegen mit diesem einen Wort adikia: Fehler, Abtrünnigkeit, Untreue, Ungerechtigkeit und eben auch Unwahrhaftigkeit, also das, was der Treue Gottes widerspricht oder die falsche Antwort auf die wahrhaftige und sich bewährende Treue Gottes ist.
Warum Jankowski an dieser Stelle die Übersetzung „Unwahrhaftigkeit“ angemessener erscheint als „Ungerechtigkeit“, entfaltet er von der Frage her, die sich vom vorangegangenen Vers her stellt:
Warum ist Jaakob geliebt und Esaw gehaßt? Warum wird der eine bevorzugt und der andere ins Abseits gestellt? Warum wird der eine ausgewählt und der andere benachteiligt? Beide Söhne, beide Zukunftsträger, warum also nicht beide geliebt oder eben beide gehaßt? Da scheint was nicht zu stimmen. Deswegen die sich ebenso notwendig ergebende Frage: Ist etwa Unwahrhaftigkeit bei Gott?
Die Antwort ergibt sich für Paulus nach Jankowski von der Treue Gottes her (J212f.):
Gott ist in seiner Verheißung treu. Er ist es auch dann, wenn alles gegen diese Verheißung zu sprechen scheint. Das war aus dem kleinen Midrasch über den Samen Abrahams zu lernen. Wie ist das aber, so mag ein Einwand sein, wie ist das, wenn Gott Jaakob/Israel geliebt und Esaw/Edom, den Goij, gehaßt hat, können dann überhaupt die Gojim zu Israel hinzukommen? Ist an der Treue Gottes gegenüber seinem geliebten Volk zu zweifeln? Ist er ihm untreu geworden, weil es ihm untreu geworden ist? Ist an der Wahrhaftigkeit Gottes etwa zu zweifeln? Anders gefragt: Hat sich die Erwählung Israels erledigt?
Dass es hier (J213) „um die Erwählung Israels“ geht, wird in den Augen von Jankowski „gerade durch das Zitat aus dem Propheten Maleachi auf den Punkt gebracht“, denn „Erwählung, das heißt dann eben geliebt und nicht gehaßt sein“. Im Hintergrund steht die historische Erfahrung, dass genau „diese Kategorie das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern bestimmt“ hat, „freilich mit umgekehrten Vorzeichen“, denn es war immer anders herum: „Israel wurde gehaßt von den Völkern“. Das Außergewöhnliche, Überraschende ist in der Bibel, dass Israel „gerade deswegen … geliebt [war] von seinem Gott.“ Am deutlichsten tritt dies im 5. Buch Mose (Deuteronomium) 7,6-7 hervor, dem „klassische[n] Ort für die Erwählung Israels in der Schrift“, wo es heißt:
6 Denn ein heiliges Volk bist du dem Ewigen deinem Gott,
dich erwählte der EWIGE dein Gott, ihm ein Sondergutsvolk zu sein,
aus allen Völkern, die auf der Fläche des Erdbodens sind.
7 Nicht weil euer ein Mehr wäre gegen alle Völker,
hat der Ewige sich an euch gehangen, euch erwählt,
denn ihr seid das Minder gegen alle Völker:
sondern weil euch der EWIGE liebt
und weil er den Schwur wahrt, den er euren Vätern zuschwor.In den weiteren Sätzen ist dann auch davon die Rede, daß dieser Gott nicht zögert, seine Hasser schwinden zu lassen. Nicht die Größe zählt und nicht die Macht. Auserwählt ist Israel, weil es das Mindere ist. Dieses Mindere wird geliebt. Geliebt, indem es als Sklavenvolk aus der Unterdrückung befreit wird. Geliebt ist Israel, weil es ein minderes Volk ist, aber nicht, weil es ein kleines Volk ist. Es geht hier nicht um Minderheit als Quantität, sondern um den Zustand, in dem sich das geliebte Volk befand und befindet. Auf die beiden Brüder bezogen heißt das: Jaakob wurde als der Zuspätgekommene geliebt. Gehaßt wurde Esaw/Edom vor allem deswegen, weil er/es das Mindere, das Zuspätgekommene, das Schwache verfolgte. Deswegen ist dann auch Edom/Rom gehaßt. Die Erwählung Israels beruht also auf der Liebe Gottes zu einem erniederten Volk. Die Liebe wiederum gründet in der Souveränität dieses Gottes, der durch nichts und niemanden in seiner Entscheidung zu beeinflussen ist. Das mag man despotisch nennen. Aber welcher Despot liebt ein minderes Volk und erwählt es sich?
So bringt Jankowski sehr klar den Unterschied zur Auffassung Wolters auf den Punkt, der ja annimmt, dass Paulus die Beschlüsse Gottes eben als despotisch-souveräne Entscheidungen rechtfertigt, ohne dass ihn irgendeine Handlung oder ein Merkmal der von ihm Erwählten oder Verstoßenen dazu veranlasst. Dabei lässt Wolter vollkommen außer Acht, dass der Gott Israels im Unterschied zu allen anderen Göttern, die eben deswegen falsche Götter sind, gerade kein Despot ist, kein Gott, der Unterdrückung und Ausbeutung legitimiert, sondern ein befreiender Gott, der den Unterdrückten und Erniedrigten ihr Recht verschafft. Genau dasselbe war es, was Elihu völlig ausblendete, als er Hiobs Anklage gegen einen Gott, der ihm sein Recht verweigert, als ungerechtfertigt zurückwies.
Nach Jankowski hat es also durchaus
seinen guten Grund, daß die Erwählung Israels ganz auf die Seite Gottes verlegt wird. Die Erwählung war keine Auszeichnung. Sie sollte nicht als Bevorzugung verstanden werden. Sie war auch nicht Kennzeichen eines elitären Volkes. Deswegen schärft das Buch Reden (Dtn) geradezu ein, daß das Volk Israel erwählt wurde, weil es ein minderes Volk war. Und deswegen ist die Erwählung in Liebe, sagen wir ruhig: in Solidarität, begründet. Die freilich beruht nicht in irgendwelchen Qualitäten und Eigenschaften.
So viel zum Hintergrund, der nach Jankowski bedacht und vorausgesetzt werden muss, wenn man den Gott Israels theologisch angemessen verstehen will. Betrachten wir unter diesen Voraussetzungen die in Römer 9,14b gestellte Frage (J214):
Ist Gott unwahrhaftig, wenn er den einen liebt und den anderen haßt? Für Paulus ein unmöglicher Gedanke. Wenn das so wäre, dann wären die großen Erzählungen von einer neuen Menschheit auf der Erde zu Ende, dann wären Treue und Bund und auch Erwählung nichts als leere Worte. Daß dieser Gott dieses Volk Israel erwählt und mit ihm den Bund geschlossen hat und dazu getreu steht, das beruht allein auf seiner Souveränität.
Dass Gott souverän handelt, steht also für Jankowski wie für Wolter außer Frage. Nach Jankowski darf man aber nicht einfach wie Wolter so tun, als sei es völlig egal, von was für einem Gott wir reden, also welchen NAMEN er trägt. Der Gott Israels ist nicht einfach ein Allerweltsgott, wie ihn Religionen und Philosophien aller Kulturen mit allgemeinen Kategorien wie Allmacht und Allwissenheit entwerfen, sondern eben der treue Gott Israels. Um die Souveränität dieses besonderen Einen Gottes „zu verstehen, nimmt uns Paulus wiederum in ein kleines Lehrhaus mit“ und legt „[z]wei Schriftstellen“ aus, die beide „aus der großen Befreiungserzählung Israels“ stammen:
Die erste findet sich in Ex 33,19. Nach dem Desaster mit dem Goldenen Kalb bittet Mosche um Gegenwart Gottes inmitten des Volkes, damit sich das Desaster nicht noch einmal wiederholt. Der entscheidende Satz dabei ist folgender {2. Mose (Exodus) 33,16}:
Woran dann würde erkannt,
daß ich Gunst in deinen Augen gefunden habe,
ich und dein Volk?
nicht einzig, wann du mit uns gehst
und wir ausgesondert sind,
ich und dein Volk,
von allem Volk, das auf dem Antlitz des Erdbodens ist?So fragt Mosche. Er fragt nach Zeichen der Erwählung, damit ihm die Führung des Volkes erleichtert wird. Die werden ihm nicht gewährt. Und dabei fällt dann der von Paulus zitierte Satz {Vers 19}:
Ich werde begünstigen, wen ich begünstige,
ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme.
Bei der Übersetzung fällt auf, dass Jankowski den zweiten Satz genau so übersetzt wie Wolter, während er im ersten, wohl bezogen auf das hebräische Wort chanan {gnädig sein, eine Gunst erweisen}, eine geringfügig vom Sinn des Erbarmens oder Mitleids abweichende Bedeutung wahrnimmt:
Die zweite Zeile erklärt hier die erste. Die Erwählung liegt allein in der Gunst des Souveräns. Die aber beruht nicht auf despotischer Willkür, sondern auf Erbarmen. Gunst wird gewährt, ist aber auch denjenigen gegenüber, denen sie gewährt wird, verpflichtend. Erbarmen hat es mit Mitleid zu tun. Wer sich jemandes erbarmt, bemitleidet ihn aber nicht nur, sondern leidet mit ihm mit und holt ihn aus seinem beklagenswerten Zustand heraus. In diesem Sinn kommt Erbarmen der Solidarität sehr nahe. Der Gunst Gewährende und der Erbarmende sind immer aktiv, die Begünstigten passiv.
Ob tatsächlich die „zweite Zeile“, die vom Erbarmen und Mitleid redet, „die erste“ erklärt, aus der man willkürliche Bevorteilung von Günstlingen herauslesen könnte, ist fraglich, weil das in der ersten Zeile stehende Wort eleeō ebenso für Erbarmen und Mitleid steht wie das Wort oiktirō in der zweiten <277>. Trotzdem behält Jankowski insofern Recht mit diesen Worten, als Gott mit beiden Sätzen seine Souveränität als diejenige eines mit erniedrigten Menschen solidarischen Gottes definiert und keinesfalls als die Despotie eines Unterdrückers. Obwohl Jankowski den von Paulus zitierten Vers nicht ausdrücklich als Anspielung auf den befreienden NAMEN dieses Gottes benennt, umschreibt er mit seiner Auslegung genau dessen entscheidende Charakteristika.
Auf Römer 9,16, mit dem Paulus das Zitat aus 2. Mose (Exodus) 33,19 auslegt, geht Jankowski nur mit drei Sätzen ein. Er übersetzt ihn folgendermaßen (J212/214f.):
Nun also:
Es ist nicht Sache des Wollenden und auch nicht des Laufenden,
sondern des begünstigenden Gottes. …[E]rwählt werden nicht die, die das wollen oder sich aktiv darum bemühen. Die Erwählung liegt bei dem erbarmenden Gott. Das mag im Blick auf Israel noch verständlich sein, denn schließlich ist der zitierte Satz gleichsam aus dem Selbstverständnis Israels, dem Ringen Mosches um die Führung des Volkes, entnommen.
Auf die hier anklingende Einschränkung, dass schwer oder gar nicht verständlich sein könnte, warum Gott bestimmte Menschen oder Völker nicht erwählt, wird in der Auslegung des folgenden Verses einzugehen sein.
↑ Römer 9,17-18: Um seinen NAMEN auf Erden zu proklamieren, erweckt Gott den Pharao und verhärtet ihn
9,17 Denn die Schrift sagt zum Pharao:
„Eben dazu habe ich dich erweckt,
dass ich an dir meine Macht erweise
und dass mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde.“
9,18 So erbarmt er sich nun, wessen er will,
und verstockt, wen er will.
[15. Juli 2025] In Römer 9,17 stellt Paulus Michael Wolter zufolge (M65) dem Schriftzitat über die Erwählung Israels „ein weiteres Beispiel aus der Geschichte Israels… antithetisch gegenüber“, indem er
den Pharao, Moses Gegenspieler in der biblischen Exoduserzählung, zum Empfänger eines Gotteswortes macht. … Das Zitat stammt im Wesentlichen aus Ex 9,16. Es gehört dort zu den Worten, die Mose vor der siebten Plage von Gott aufgetragen bekommt, um sie dem Pharao zu übermitteln.
Unter den Veränderungen, die Paulus an dem im Wesentlichen nach der Septuaginta zitierten Schriftwort vornimmt, hebt Wolter besonders hervor, dass Paulus in Vers 17b
das Prädikat dietērēthēs (‚… wurdest du aufbewahrt‘; passivum divinum) durch exēgeira se {habe ich dich erweckt} ersetzt, weil er das Zitat aus seinem literarischen Zusammenhang herausgelöst hat. Es spielt bei ihm keine Rolle, dass bereits sechs Plagen voraufgegangen sind, in denen Gott dem Pharao auch ans Leben gekonnt hätte.
Es gibt zwar Exegeten <278> (Anm. 19), die annehmen, „dass Paulus sich hier am hebräischen Text orientiert habe“, in dem von der Wurzel ˁamad {sich stellen} die Form he-ˁemadɘthijkha im Hifil {stehen lassen, aufrichten} verwendet wird. Wolter geht allerdings davon aus (M66), dass Paulus mit der „Änderung (exēgeira se statt dietērēthēs) … einen Sprachgebrauch der Septuaginta“ übernimmt: „Wenn Gott von ihm ausgewählte Menschen in eine bestimmte Aufgabe einsetzt, nennt sie das ‚erwecken‘ ([ex]egeirein; hebr. qum hif)“, wozu Wolter (Anm. 21) u.a. auf „Ri 2,16.18; 3,9.15; 1Kön 11,14.23; Sach 11,16“ sowie „Dtn 18,15.1.8; Jer 23,4.5; Hab 1,6…; Lk 1,69; 7,16; Apg 13,22“ verweist:
Nach diesem Modell interpretiert Paulus die Rolle des Pharao in der Exoduserzählung. Er ist das Werkzeug, das Gott sich für seine eigene Selbstdarstellung hergestellt hat. Im Hintergrund steht die gesamte Exoduserzählung, deren Kenntnis Paulus hier voraussetzt. In ihr kündigt Gott an, dass er den Pharao „verstocken“ wird (sklērynein; Ex 4,21; 7,3), noch bevor Mose überhaupt zu ihm gegangen ist und verlangt hat, Israel ziehen zu lassen. Auf dieses vorgängige Verstockungshandeln Gottes am Pharao nimmt Paulus in Röm 9,18 mit hon de thelei sklērynei {wen er will, verstockt er} Bezug.
Nach Wolter hat Gott demzufolge „dem Pharao einzig und allein um seiner, Gottes, selbst willen die Aufgabe zugewiesen, Israel nicht ziehen zu lassen“, denn er will „Gelegenheit“ bekommen (M66f.),
die Herausführung seines Volkes aus Ägypten als Demonstration seiner göttlichen Macht zu inszenieren und dadurch seinen Ruhm in der ganzen Welt zu verbreiten. Aus diesem Grunde sollte man auch der Versuchung widerstehen, der Rede vom Erweis der Macht Gottes eine bestimmte Referenz zuzuweisen, und respektieren, was Paulus hier nicht sagt: dass er den Pharao „um der Befreiung Israels aus Ägypten willen“ <279> in seine Aufgabe eingesetzt hat. Hiervon ist bei Paulus mit keinem Wort die Rede. Ziel und Zweck von Gottes ‚Erweckungs‘-Handeln am Pharao war vielmehr einzig und allein der Erweis von Gottes Gott-Sein.
Kann aber der Umstand, dass Paulus etwas für jeden Juden so Selbstverständliches wie Gottes Absicht der Befreiung Israels bei der Beauftragung des Pharao nicht ausdrücklich erwähnt, ein Argument dafür sein, Paulus eine vom Wesen des Gottes Israels völlig abstrahierende allgemein-heidnische Gottesvorstellung zu unterstellen, derzufolge Gott sein „Gott-Sein“ absolut willkürlich und beliebig demonstriert?
Wolter unterstreicht seine Auslegung, indem er (Anm. 23) zusätzlich betont, dass man die „beiden durch hopōs {zu dem Zweck} eingeleiteten Sätze … nicht auf zwei verschiedene Handlungen Gottes verweisen lassen“ darf <280>, nämlich:
Gott erwecke Pharao, um seine Macht zu erweisen, und er befreie Israel, damit sein Name in der ganzen Welt verkündet wird… Gottes Befreiungshandeln an Israel ist vielmehr Bestandteil seines Machterweises an Pharao, und die Folge dieses Machterweises ist die Verkündigung von Gottes Namen.
Sicher hat Wolter insofern Recht, als man die Macht des Gottes Israels nicht von seinem Befreiungshandeln trennen kann, aber durch Letzteres bestimmt Gott ja selber seinen heiligen NAMEN, indem er ihn in 2. Mose (Exodus) 3,13-17 unlöslich eben damit verbindet. Genau dadurch schränkt aber dieser Eine und einzig existierende Gott die Willkür und Beliebigkeit seines „Gott-Sein[s)“ in entscheidender Weise ein. Dasselbe gilt für den weiteren Beleg 3. Makkabäer 2,6, den Wolter zitiert:
„Du hast den frechen Pharao, der dein Volk … versklavte, mit vielfältigen und zahlreichen Strafen geprüft und deine Macht kundgetan über sie, kundgetan deine große Kraft (egnōrisas tēn sēn dynamin eph‘ hois egnōrisas to mega sou kratos)“.
Auch hier bleibt im Zitat selbst vorausgesetzt, dass die Machtentfaltung Gottes im Dienst der Befreiung seines versklavten Volkes erfolgte und nicht im Sinne der Zurschaustellung brutaler Übermacht einer Herrschergestalt, die es sich ohne jede Einschränkung erlauben darf, einfach alles zu machen, was sie will.
In seiner Auslegung von Römer 9,18: ara oun hon thelei eleei, hon de thelei sklērynei {darum: wessen er will, erbarmt er sich, doch wen er will, verstockt er} hebt Wolter hervor (M67), dass „das Gegenüber von eleein {sich erbarmen} und sklērynein {verstocken}, das Paulus hier konstruiert“, nur vom „Bezug auf die Exodus-Erzählung“ erklärt werden kann, denn
[n]irgendwo sonst in der nichtchristlichen Literatur der Antike stehen sich diese beiden Verben oder ihre Stammverwandten als semantische Oppositionen gegenüber. Der antithetische parallelismus membrorum, den Paulus hier bildet, verdankt sich darum nicht der Bedeutung der beiden Verben, sondern dem Gegenüber von Mose und Pharao in der biblischen Exoduserzählung.
Das Wort sklērynein
kommt in dem Zitat von Ex 9,16 zwar nicht vor, doch wird es in der biblischen Exodus-Erzählung durchgängig benutzt, um den Pharao zu charakterisieren und dessen Verhalten zu erklären: Gott selbst „verstockt“ ihn (Ex 4,21; 7,3; 9,12; 10,1.20.27; 11,10; 14,4.8), damit er Israel nicht ziehen lässt und Gott sich dadurch die Möglichkeit verschaffen kann, seine „Macht“ zu erweisen (vgl. Röm 9,17c).
Indem Paulus im Blick auf „beide Beispiele“, sowohl auf Mose als auch den Pharao, „auf Gottes ‚Wollen‘ (thelein)“ verweist, drückt er aus, „was schon vorher unausgesprochen im Zentrum stand: dass Gottes Handeln nicht von menschlicher Seite aus beeinflusst werden kann, sondern immer nur auf seiner eigenen Entscheidung basiert“, ein „Prinzip“, das „sich auch auf Gottes Umgang mit den Söhnen Abrahams und Isaaks in V. 6b-13 übertragen“ lässt. Anders als dort (M67f.)
geht es jetzt allerdings nicht mehr um den Status von Menschen, sondern es geht um Gott selbst und um seine durch niemand und nichts einschränkbare Macht, mit den Menschen so umzugehen, wie er „will“. Weil Gott Gott ist, muss er sich nicht am „Wollen“ und „Laufen“ der Menschen orientieren (V. 16), sondern darf im buchstäblichen Sinne des Wortes „will“kürlich agieren.
Wenn bei Exegeten (Anm. 25) „an dieser Stelle nicht von Gottes Willkür, sondern von seiner ‚Freiheit‘ die Rede“ ist, werden nach Wolter „Anstoß und Zumutung des Gottesbildes, das Paulus in diesen Versen entwirft, in ein zu mildes Licht gestellt.“ Er selbst geht davon aus (M68), dass Paulus hier sogar „noch seine These“ verschärft:
Gottes Entscheidungen über die Menschen gehen nicht nur deren Verhalten voraus, sondern er kann Menschen auch zu einem solchen Verhalten bestimmen, das sie in den Untergang führt, und zwar einzig und allein, weil er das so „will“.
In dieser abstrakten Weise formuliert, klingt das ungeheuerlich. Aber Wolter scheint zu meinen, dass gerade diese Ungeheuerlichkeit nun einmal das Wesen Gottes kennzeichnet, wie Paulus es versteht. Mir ist es aber völlig unverständlich, dass Wolter, der doch selber den Hintergrund von Römer 9,17-18 in der „Exodus-Erzählung“ hervorgehoben hat, in seiner Auslegung von dieser konkreten Situation dann doch total absieht. Dass man die Verstockung oder Verhärtung des Pharao durch Gott auch anders einschätzen kann, zeigt Ton Veerkamp <281> in seiner Auslegung von Johannes 12,40:
Wenn ein Volk in einem Zustand politischer Verblendung verkehrt, ist jeder Appell an die Vernunft nicht nur vergeblich, sondern führt zu einer zunehmenden Verhärtung. Die Erzählung über die Verhandlungen Moses und Aarons mit Pharao hat nichts als Verstockung zur Folge: „ICH werde sein Herz verstockt machen“, Exodus 4,21. Die Konfrontation des Sklavenhalters mit den Forderungen der Freiheit bestätigt notwendig seine Haltung, sonst müsste er aufhören, Sklavenhalter und Pharao zu sein. Die Folge ist, dass die Gewalt das letzte Wort hat: „ICH bringe deinen Sohn, deinen Erstgeborenen, um“, 4,23.
Nicht um reine Willkür eines sehr abstrakt und allgemein als allmächtig definierten Gottes geht es hier, sondern um einen realistischen biblischen Blick auf strukturelle Gewalt, die nicht durch bloße Appelle an die Umkehrwilligkeit unterdrückerischer Herrscher zu überwinden ist.
Gleichwohl weist Wolter richtig darauf hin (M68), dass „Paulus mit Einwänden“ gegen das von ihm skizzierte „Gottesbild gerechnet hat“, denn „[g]leich im nächsten Vers lässt er einen fiktiven Leser protestierend seine Stimme erheben.“
[17. Juli 2025] Auch Gerhard Jankowski ist es bewusst (J214), dass die Argumentation des Paulus in Römer 9,15-18 nicht leicht nachzuvollziehen ist. Auch er sieht gegenüber dem, was Paulus in Vers 15-16 „im Blick auf Israel“ gesagt hat (J215), in dem zweiten von ihm angeführten Schriftzitat aus 2. Mose (Exodus) 9,16 eine „Verschärfung“:
Jedoch eben deswegen habe ich dich erweckt,
daß ich an dir meine Kraft erzeige,
und damit mein NAME vermeldet werde auf der ganzen Erde.Hier ist nun Pharao, das Gegenbild zu dem befreienden Gott schlechthin, angesprochen.
Für Jankowski ist zum Verständnis wichtig, den Zusammenhang des zitierten Verses anzuschauen. Dort wird nämlich die Frage beantwortet, warum Gott nicht seine Allmacht einsetzt, um das Problem der Unterdrückung durch den Pharao auf einfache Weise zu lösen:
Der Pharao, der sich der Befreiung des Volkes Israel widersetzt, wird nicht schlicht ausgelöscht. „Ich schickte jetzt schon meine Hand aus und schlüge dich und dein Volk mit der Pest, daß du von der Erde schwändest“, heißt es in Ex 9,15 in dem Satz, der zu dem zitierten hinführt. Der Pharao wird gebraucht. Von Gott. Er wird erwählt, damit auf der Erde unter den Menschen der NAME erkannt werde, d.h., daß erkannt werde, wie trotz aller Härte des Unterdrückers ein Volk aus der Unterdrückung befreit wurde. Gerade dazu ist gleichsam der Pharao geschaffen worden, wie Paulus interpretierend den Text der LXX an dieser Stelle abändert.
Genauer gesagt (Anm. 6), setzt „Paulus … anstelle von dietērēthēs ein exēgeira se, also anstelle von du wurdest erhalten – ich habe dich erstehen lassen.“ Zugleich ist egeirein {erwecken} aber auch „das Verb, das gerade von Paulus für das Auferstehungsgeschehen des Messias verwendet wird.“
Sowohl Israel als auch der Pharao (J215) dienen Paulus als Beispiel „für die ‚Erwählung‘ durch Gott“ und als „Zeichen für die Souveränität Gottes“. Allerdings weist Jankowski darauf hin, dass die „Erwählung des Pharao … aber nicht dieselbe sein“ kann
wie die Erwählung Israels. Es geht nicht an, daß ein Unterdrücker erwählt sein kann. Deswegen nennt Paulus diesen souveränen Akt verhärten, sklēroun. Das ist freilich ein Stichwort, das auch auf Israel angewandt werden kann. Israel zeigt sich verhärtet, wenn es seine Erwählung nicht anzunehmen bereit ist oder wenn es sie nichtig macht. Das weiß auch die Schrift, wie es in Dtn 9,27; 31,27 u.a. zu hören ist. Die Erwählung verliert aber ihre Gültigkeit auch dann nicht, falls sich das Volk verhärtet. Israel ist und bleibt erwählt.
Einer solche Betrachtung der Schrift eröffnet nach Jankowski „noch eine andere Möglichkeit“, Gottes souveränes Erwählungshandeln zu begreifen:
Wenn es in der Souveränität Gottes liegt, wen er begünstigend erwählt und wen er verhärtet, dann könnte es ja auch sein, daß er sich neben Israel noch ein anderes Volk erwählen und nach wie vor Teile des Volkes Israel verhärten kann. Das gilt es jetzt zu bedenken.
↑ Römer 9,19-21: Darf der Mensch Gott Widerworte geben, das Gebilde dem Bildner, der Ton dem Töpfer?
9,19 Nun sagst du zu mir:
Was beschuldigt er uns dann noch?
Wer kann seinem Willen widerstehen?
9,20 Ja, lieber Mensch, wer bist du denn,
dass du mit Gott rechten willst?
Spricht etwa ein Werk zu seinem Meister:
Warum hast du mich so gemacht?
9,21 Hat nicht der Töpfer Macht über den Ton,
aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem
und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?
[18. Juli 2025] In Römer 8,19a bezieht sich Paulus (M68) mit ereis moi oun {jetzt wirst du mir sagen} auf „seinen Gesprächspartner“ in ähnlicher Weise, wie er es später in Römer 11,19 noch einmal tun wird. Aber Wolter hebt hervor, dass die „beiden rhetorischen Fragen, in denen der Einwand sich in 9,19b-c artikuliert, … sprachlich ganz unpaulinisch“ sind. Die Stichworte
memphomai {tadeln} und boulēma {Vorhaben, Wille, Beschluss} kommen bei Paulus nur hier vor, anthistēmi {widerstehen} ist nur noch in Röm 13,2 (2mal) und Gal 2,11 belegt. Fast sieht es so aus, aus wolle Paulus sich schon durch die Wortwahl von diesem Einwand distanzieren. Inhaltlich kann er von jedem Menschen stammen, der gelernt hat, dass Gott nicht damit einverstanden ist, wenn Menschen Böses tun.
Zum Thema gemacht wird in Vers 19 aus dem vorigen Vers nicht , „dass Gottes Erbarmen auf Menschen trifft, die es nicht verdient haben“, sondern
nur die andere Seite: Wenn alles menschliche Handeln immer nur nach Gottes Willen geschieht, ist der Mensch auch nicht mehr für seine bösen Taten verantwortlich, und es ist darum nicht einzusehen, warum Gott ihm noch diesbezügliche Vorhaltungen macht. Gegenüber Röm 3,5.7, wo von Gottes „Zorn“ und „Richten“ die Rede war, drückt Paulus sich hier sehr viel zurückhaltender aus.
Dass in Vers 19c das Objekt tō boulēmati {dem Beschluss} außerhalb des nachfolgenden Satzes als casus pendens {hängender Kasus} erscheint, das innerhalb des Satzes durch ein rückbezügliches (aber hier ausgelassenes und zu erschließendes) Pronomen wiederaufgenommen wird: tō gar boulēmati autou tis anthestēken? {denn seinem Beschluss – wer hat (ihm) widerstanden?}, deutet an, dass „wie im Satz … auch in der Sache Gottes Beschluss“ dem menschlichen Handeln vorausgeht. Die Formulierung (M69) der „These, dass es keinen gibt, der dem Beschluss Gottes jemals widerstanden hat“, stammt aus der Septuaginta, allerdings (Anm. 32) ohne den „Ausdruck boulēmati/boulēmasin“, den es „in der antiken griechischen Literatur erstmals in Röm 9,19 und danach nur in christlichen Texten“ gibt. In der griechischen Bibel
wird stets mit den Worten tis antistēsetai …? gefragt, wer Gott widerstehen kann, bzw. es wird betont, dass kein Mensch gegen Gott etwas ausrichten kann: Ps 75,8: „Du bist furchtbar, und tis antistēsetai soi?“; Hi 9,19b: „tis … antistēsetai seinem Gericht?“; 41,3: „tis antistēsetai moi, und wer kann aushalten, wenn alles unter dem Himmel mein ist?“; Weish 11,21 wie Röm 9,19c mit casus pendens: „Der Kraft deines Armes – tis antistēsetai?“; 12,12: „tis antistēsetai deinem Gericht …?“; Nah 1,6: „tis antistēsetai im Zorn seiner Wut?“; Jer 49,19 und 50,44 = 30,13 und 27,44: „Wer ist wie ich, und tis antistēsetai moi?“.
… Jes 14,27 steht Röm 9,19c strukturell und begrifflich am nächsten: „Denn was Gott Zebaoth beschlossen hat (bebouleutai) – wer (tis) will [es] vereiteln? Und die erhobene Hand – wer (tis) wird [sie] abwenden?“
Im Unterschied zu den Septuaginta-Texten verwendet Paulus aber nicht antistēsetai {wer wird widerstehen} im Futur, sondern anthestēken {wer hat widerstanden} im Perfekt. Damit erhebt der „Einwender“ Protest „gegen die Vorwürfe, die Gott gegen ihn erhebt, weil sie sich auf Handlungen beziehen, die das Ergebnis von Gottes eigenem Beschluss sind.“
Die Reaktion des Paulus auf den Einwand ist für Wolter „überraschend“, denn er versteht ihn nicht als
Missverständnis, das argumentativ ausgeräumt werden kann, sondern er bestreitet seinem Gesprächspartner überhaupt das Recht, Gott einen solchen Einwand entgegenhalten zu dürfen. Mit Hilfe von drei rhetorischen Fragen wird der Sprecher von V. 19b-c zurechtgewiesen. Die erste (V. 20a) formuliert das theologische Sachargument, das in den beiden anderen (V. 20b-c.21) durch zwei alltagsweltliche Beispiele suggestiv verstärkt wird.
In Vers 20a fällt auf, dass er „durch die Antithese von ‚Mensch‘ und ‚Gott‘ gerahmt“ ist: ō anthrōpe, menounge sy tis ei ho antapokrinomenos tō theō? {wörtlich: o Mensch, ja freilich du, wer bist du, der Widerworte gibt dem Gott?}. In diesem Satz (M70) macht Paulus „mit der rhetorischen Frage sy tis ei? {du, wer bist (du)?}“ nachdrücklich auf „den kategorialen Unterschied, der ihn von Gott trennt“, aufmerksam.
Ausführlich geht Wolter darauf ein, dass die „paulinische Reaktion … an das Hiobbuch“ erinnert:
In Hi 9,32 hatte Hiob noch zu Gott gesagt: sy gar ei anthrōpos kat‘ eme hō antikrinoumai („denn du bist kein Mensch nach meiner Art, dem ich widersprechen kann“). Hierin spricht sich Hiobs resignierte Einsicht aus, dass „bei Gott Recht gleich Macht ist“ <282> und darum kein Mensch gegen ihn ankommt. – Im weiteren Verlauf klagt Hiob dann aber doch gegen Gott (31,35-40) und wird von einem seiner Freunde beschworen (34,36): „Lerne, Hiob, gib nicht weiterhin Widerwort (antapokrisin) wie die Toren“. Außerdem wird er rhetorisch gefragt (35,2): „Du – wer bist du (sy tis ei?), dass du sagst, ‚Ich bin gerecht vor dem Herrn‘?“ (vgl. auch Jak 4,12). Zum Schluss schlägt Gott selbst Hiobs Anklage nieder, indem er ihn darauf aufmerksam macht, dass es ihm als einem Menschen nicht zukommt, Gott zur Rechenschaft zu ziehen. Hiob wird nun mit Fragen konfrontiert, die demselben Zweck dienen wie die rhetorische Frage, die Paulus in Röm 9,20a seinem fiktiven Gesprächspartner entgegenhält. Sie sollen ihm sein Menschsein und damit seine prinzipielle Unterlegenheit gegenüber Gott bewusst machen (Hi 40,7-9): „Gürte deine Lenden wie ein Mann. Ich will dich fragen, du aber antworte mir (sy de moi apokrithēti): Willst du etwa mein Urteil zerbrechen, mich für schuldig erklären, damit du als gerecht dastehst? Oder hast du einen Arm wie Gott, und donnerst du mit einer Stimme wie er?“
Aufgrund dieser Auslegung des Hiob-Buches zieht Wolter klare Schlussfolgerungen für die Aussage von Römer 9,20a:
Wie Hiob bekommt auch der paulinische Gesprächspartner keine Antwort auf seine Beschwerde, sondern er wird regelrecht abgebürstet, weil er es wagt, sich über Gott zu beschweren. Wie Hiob wird ihm bescheinigt, dass Gott kein Funktionär des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ist, sondern der allmächtige Gott, der tut, was er will, ohne dass er sich irgendwem gegenüber verantworten müsste. Die paulinische Reaktion auf den Einwand entspricht theologisch darum nicht der Position der Freunde Hiobs, sondern der Antwort Gottes.
Sowohl gegen diese Hiob-Auslegung als auch gegen ihre Übertragung auf Paulus lege ich entschieden Einspruch ein. Es war Ton Veerkamp <283>, der in einer detaillierten Analyse des Buches Hiob die Einsicht herausgearbeitet hat, dass Hiob von dem Gott, den er anklagt, eben gerade nicht „abgebürstet wird“ – jedenfalls nicht zu Recht. Aufschlussreich ist nach Veerkamp [212], dass JHWH die Antwort, die Hiob ihm in 40,4-5 auf seine erste Rede aus dem Sturm (38,1 – 40,2) zuteil werden lässt, offenbar nicht als zufriedenstellende Anerkennung seines Gott-Seins interpretiert, denn in 40,8 fährt er fort, Hiob zu fragen: „Willst du etwa mein Recht brechen, mich zum Verbrecher machen, damit du bewahrheitet wirst?“ Nach Veerkamp geht aus diesen Worten hervor, dass der so redende Gott
klüger [ist] als die meisten Kommentatoren. Er weiß, daß Ijjobs {Hiobs} Antwort keine Unterwerfung ist. Er wird zornig, er sagt ihm: „Willst Du den Spieß etwa umdrehen?“ Spürt er, daß er im Unrecht ist?
An dieser Stelle dreht wiederum „der EWIGE den Spieß um“ und zwar [213], indem er sozusagen sich selber auf seine Macht als Schöpfergott zurückzieht, aber den Hiob dazu auffordert, doch gefälligst selber „für seine eigene Befreiung“, für den Exodus Israels [212], für das Recht der Unterdrückten zu sorgen (Hiob 40,12-14):
„… siehe auf das Stolze, demütige es,
zerstampfe die Verbrecher an ihrem Platz,
verscharre sie im Staub zusammen,
ihre Visagen verstecke, verscharrt.
Auch ich werde dich rühmen,
daß deine Rechte dich befreit hat.“
Kurz gesagt will Veerkamp darauf hinaus, dass sich den Verfassern des Hiob-Buches in der Zeit, in der sich Israel nach den Makkabäerkriegen in eine hellenistische Monarchie verwandelte, die Frage aufdrängt, ob Gott eigentlich noch gemäß seinem befreienden NAMEN handelt oder sich in einen hellenistischen Herrschergott verwandelt hat, der sich seiner brutalen Stärke und seiner Schöpfermacht brüstet, aber vergessen hat, der erbarmende, befreiende und Recht schaffende Gott Israels zu sein.
Am Ende weigert sich Veerkamp, Hiob 42,6 als Zeugnis für Hiobs Unterwerfung unter einen ihn verhöhnenden Allmächtigen zu lesen, der ihn in seinem Elend allein lässt, so dass er übersetzt [218]:
„Darum werfe ich es hin und bin es leid,
auf dem Staub und der Asche …“
Nur so ist verständlich, dass unmittelbar anschließend [223] Gott dem Hiob Recht gibt, weil dieser (Hiob 42,7.8) anders als seine Freunde über ihn „begründet geredet“ hat. In 42,10 ist sogar von „Gottes Bekehrung“ die Rede [226], nämlich mit den Worten wa-JHWH schav ˀeth-schɘbith ˀIjjob: „Und der EWIGE kehrte Ijjobs Wiederkehr“. Die Pointe des Hiob-Buches ist mithin gerade nicht, dass Hiob seine Anklage gegen einen Herrschergott bereut und verwirft [213], der „unter dem Etikett JHWH“ nunmehr als ein hellenistisches „Monstrum sein Unwesen“ treibt, sondern dass der Gott Israels sich an seinen befreienden NAMEN erinnert und Hiob Recht gibt, ja sogar sein Recht wiederherstellt.
Natürlich könnte es sein, dass Paulus das Hiob-Buch dennoch in dem Sinne versteht (M70), dass Hiob von Gott zu Recht „abgebürstet“ wird. Aber die vorangegangenen Verse zum Gegenüber von Gottes Erbarmen gegenüber Israel und der Verhärtung des Pharao lassen klar erkennen, dass Paulus jedenfalls nicht den Gedanken zulassen würde, Gott sei einem hellenistischen Willkür-Gott zu vergleichen. Vielmehr weiß er, dass der Gott Israels einen bestimmten NAMEN trägt, aufgrund dessen er sich selbst in seinem Tun und Lassen jede unterdrückerische und unbarmherzige Willkür verbietet.
In den Versen Römer 9,20b-c und 21 fügt Paulus seiner „Zurückweisung“ des in Vers 19 geäußerten Einwands „zwei weitere rhetorische Fragen“ hinzu, die Wolter zufolge „typisch weisheitlich argumentieren, indem sie den theologischen Gedanken mit Hilfe von Alltagswissen erläutern“. Dass es hier jedoch nicht nur um ganz allgemein verfügbares „Alltagswissen“ geht, lässt Wolter sofort erkennen, indem er für beide Fragen einen biblischen Hintergrund belegt.
In Vers 20b-c nimmt Paulus aus Jesaja 29,16 die Worte mē erei to plasma tō plasanti {sagt etwa das Gebilde zum Bildner} und me epoiēsas {hast du mich gemacht} wortwörtlich auf, wobei er (M71) den zweiten Teil des Zitats vorne durch ti {warum} und hinten durch houtōs {so} ergänzt {warum hast du mich so gemacht?}. Das ti „übernimmt er aus V. 19b“, das houtōs verweist nach vorn „auf die unterschiedlichen Zweckbestimmungen der ‚Gefäße‘, die der Töpfer herstellt (V. 21).“
Außerdem stellt Wolter hier auch einen „sprachlichen Anklang an Gen 2,7“ fest, „wo es heißt, dass ‚Gott‘ den ‚Menschen‘ ‚als Staub von der Erde bildete (eplasen)‘.“ Damit stellt Paulus
die Relation von Mensch und Gott aus V. 20a als Relation zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer dar, um den Protest des fiktiven Gesprächspartners gegen Gott noch weiter zu delegitimieren. … Im Unterschied zu Röm 9,7-18 argumentiert er hier also nicht unter Rückgriff auf die Geschichte Israels, sondern schöpfungstheologisch.
In Vers 21 werden die Metaphern von 20b-c insofern verändert, als „aus dem ‚Bildner‘ (plasas) der Töpfer (kerameus) und aus dem ‚Gebilde‘ (plasma) das ‚Gefäß‘ (skeuos)“ wird. Zum biblischen Hintergrund (M72) verweist Wolter außer nochmals auf Jesaja 29,16 zunächst auf Jesaja 64,7 und Jeremia 18,6. Viel näher steht der
in Röm 9,19-20 verhandelten Frage … der hebräische Text von Jes 45,9: „Wehe dem, der mit seinem Töpfer (jozru) streitet: ein Tongefäß unter irdenen Tongefäßen! Sagt etwa der Ton zu seinem Töpfer (chomer lɘjizru): Was machst du?“
Eine „noch größere Nähe zu dem von Paulus hier ausgesprochenen Gedanken“ findet Wolter jedoch in Weisheit 15,7 und Sirach 33,10-13. Allerdings entfaltet
Weish 15,7 … das Bild ohne Bezug auf Gott und seinen Umgang mit dem von ihm ‚gebildeten‘ Menschen: „Der Töpfer (kerameus) … bildet (plassei) zu unserem Gebrauch jedes einzelne (Stück). Aber aus demselben Ton (ek tou autou pēlou) hat er gebildet (aneplasato) sowohl die Gefäße (skeuē), die reinen Tätigkeiten dienen, als auch die gegenteiligen (ta te enantia), alle in gleicher Weise. Was aber der Gebrauch (chrēsis) eines jeden von diesen ist, entscheidet der Tonhandwerker (kritēs ho pēlourgos)“. Die in diesem Text noch fehlende Analogie zwischen der Tätigkeit des Töpfers und dem Umgang Gottes mit den Menschen findet sich dann aber in Sir 33,10-13: „Und die Menschen wurden alle aus Sand und Adam aus Erde geschaffen. In der Fülle des Wissens hat der Herr sie getrennt und ihre Wege unterschiedlich gemacht. Manche von ihnen hat er gesegnet und erhöht und manche von ihnen geheiligt und sich nähergebracht. Manche von ihnen hat er verflucht und erniedrigt und aus ihrer Stellung entfernt. Wie Ton des Töpfers (hōs pēlos kerameōs) in seiner Hand, um ihn zu formen (plasai auton) nach seinem Wohlgefallen, so sind die Menschen in der Hand dessen, der sie gemacht hat, um ihnen zuzuteilen nach seiner Entscheidung (kata tēn krisin autou)“. Obwohl es in diesem Text nicht so viele sprachliche Überschneidungen mit Röm 9,21 gibt wie in Weish 15,7, steht er dem paulinischen Text theologisch näher.
Vier Punkte sind es, die von diesen Texten her „helfen, das Töpfer-Beispiel in den Gedankengang ab Röm 9,6 einzuordnen“. Erstens entspricht „die Gleichheit der Herkunft aller Gefäße ‚aus ein und derselben Masse‘ … der Gleichheit der Abstammung der Kinder Abrahams und lsaaks von jeweils ein und demselben Vater (V. 7-8.10).“ Zweitens „läuft das Gegenüber von ‚zur Ehre‘ und ‚zur Unehre‘ parallel zum Gegenüber von ‚lieben‘ und ‚hassen‘ in V. 13.“ Drittens legt (M72f.) „der Töpfer den Zweck der Gefäße von vornherein fest… und nicht erst, nachdem er sie hergestellt hat“, genau wie (M73) „Gott über Jakob und Esau entschieden“ hat, „bevor sie geboren worden waren und etwas tun konnten (V. 11a-b).“ Und viertens schließlich
veranschaulicht die „Macht“ des Töpfers über den Ton …, dass Gott wie ein Töpfer das Recht hat, sich über die Gleichheit der Herkunft (beim Töpfer der Ton, bei Gott die Abstammung der Menschen) hinwegzusetzen und sie in Ungleichheit, ja Gegensätzlichkeit zu überführen.
Um mehr als dieses „Verhältnis zwischen Gott und Mensch“, das „dem Verhältnis zwischen Töpfer und Topf“ entspricht, geht es Paulus Wolter zufolge in diesem Text nicht. Erneut wendet er sich dagegen, ihn „allegoretisch“ zu interpretieren und „den Prädestinationsgedanken“ einzutragen, indem
das „zur Ehre“ hergestellte „Gefäß“ mit der judenchristlichen Minderheit in Israel (oder gar mit der Kirche) identifiziert wird und das „zur Unehre“ hergestellte mit der nichtchristlichen Mehrheit Israels. Gegen eine solche Interpretation spricht schon, dass in jedem Haushalt die „zur Unehre“ hergestellten Gefäße genauso unentbehrlich sind wie die Gefäße „zur Ehre“. Die Gegenüberstellung der beiden Verwendungsweisen der Gefäße soll vielmehr zum Ausdruck bringen, dass Gott über die uneingeschränkte Macht verfügt, nicht nur dieses zu tun, sondern auch das genaue Gegenteil davon. Die Metapher will darum Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln an den Kindern Abrahams und Isaaks erklären, wie Paulus es in V. 7-9.10-13 beschrieben hat.
[19. Juli 2025] Gerhard Jankowski (J217) unterscheidet anders als Wolter im Blick auf Gottes Handeln, wie es Paulus beschreibt, zwischen Willkür und Souveränität: „Was wie Willkür erscheinen mag, daß da jemand erwählt und jemand anders gehaßt wird, für Paulus sind das souveräne Entscheidungen Gottes.“ So „richtig“ das sein mag, kann doch eine Frage offen bleiben, die Jankowski so formuliert:
Aber wenn die Entscheide so ausfallen, wie sie nun einmal augenscheinlich gefallen sind, was wird dann immer noch das erwählte Israel getadelt, daß es nicht auf dem rechten Weg ist? Und was werden die getadelt, die eindeutig auf dem falschen Weg sind, weil sie eben verworfen und nicht erwählt sind?
Für Paulus ist das eine Frage, die zwar „gestellt werden“ kann, „und Paulus stellt sie ja rhetorisch auch“, aber „sie muß nicht unbedingt gestellt werden.“ Paulus geht auf sie ein „mit einem Bild, das auch schon der Prophet Jesaja benutzt hat.“
In Jes 29,16 heißt es:
Ist dem Ton gleich der Bildner zu achten,
daß von dem, der es machte, das Gemächt sprechen dürfte:
Er hat mich nicht gemacht!
ein Gebild von seinem Bildner sprechen:
Er hat‘s nicht ersonnen.
Um diesen biblischen Hintergrund zu verstehen, zieht Jankowski nicht die von Wolter bevorzugten weisheitlichen Stellen heran, sondern die Kapitel 44 und 45 im Jesaja-Buch. Dort heißt es in Jesaja 45,9:
Weh,
der mit seinem Bildner streitet,
Scherbe unter Scherben vom Lehm!
spricht zu seinem Bildner der Ton:
Was machst du?Diese Stelle steht in einem größeren Zusammenhang, der vom Stichwort bilden, jazar, geprägt ist (Jes 44-45). Israel ist von Gott gebildet, geschaffen, erwählt worden. Das geschah mit der Absicht, es zu befreien und zu erhalten. Und es geschah mit der Absicht, daß Israel diesen befreienden Gott erkenne. Das ist so, auch wenn nichts von Befreiung zu erkennen ist, ja, alles dagegen spricht. Die Zusage der Befreiung bleibt bestehen. Ähnlich ist auch Jes 29,16 zu hören.
Das Bild Töpfer/Ton/Gefäß will aufzeigen, daß hinter dem Bilden und Formen des Töpfers eine Absicht steht. Der Töpfer will nicht nur etwas machen. Das, was er macht, dient einem Ziel. Diesem Ziel kann sich das geschaffene Gebilde nicht verweigern. Das Geschaffene ist Israel. Es ist geschaffen zur Befreiung.
Auf diese Weise arbeitet Jankowski heraus, dass Gott in den Augen des Paulus nicht einfach nur von der Macht eines Herrschergottes spricht, der willkürlich und ohne jede Rücksicht schalten und walten kann:
Paulus benutzt die Metaphern aus Jesaja, um die Frage nach den Entscheidungen Gottes richtig stellen zu können. Die Frage muß für ihn lauten: welche Absicht liegt in der Erwählung, welche in der Verhärtung, welche in der Liebe, welche im Haß? Die Anwendung der Metapher in den folgenden Sätzen zeigt, daß er dabei ausschließlich Israel im Blick hat. Dafür spricht, daß schon bei Jesaja das Bild sich ausschließlich auf Israel bezieht. Davon weicht auch Paulus nicht ab.
Diese Auslegung (J218) bereitet aber „Schwierigkeiten“, weil „gegenüber dem ursprünglichen Bild nicht mehr von einem Gebilde oder Gefäß, wie Paulus sagt, die Rede ist, sondern von zweien, schließlich sogar von mehreren.“ Und Jankowski ist sich der „fatalen Konsequenzen“ sehr bewusst, zu denen es geführt hat, dass
die (beiden) Gefäße dann auch noch unterschiedlich gekennzeichnet sind. Da sind eben: ein Gefäß zur Achtung, das andere zur Verachtung (zur Ehre, zur Unehre, wie herkömmlich übersetzt wird); da sind Gefäße des Zorns und Gefäße der Begünstigung. Für die christliche Interpretation war die Sache ziemlich eindeutig: Gefäß der Verachtung, das konnte nur das Judentum sein; Gefäße des Zorns, das ist Israel. Auch Barth folgt dieser Auslegungstradition. Aber kann man überhaupt so auslegen?
Jankowski hält weiterhin an der Klarheit fest, „daß mit den Gefäßen verschiedene Menschengruppen gemeint sind“, und da in 9,24 von „Juden und Gojim“ die Rede ist, ist es „[v]on da aus … sicher auch zu der fatalen Auslegung gekommen.“ Zugleich ist aber zu betonen, dass „in 9,24 … die beiden, Juden und Gojim, nun gerade nicht getrennt“ sind, „sondern sie gehören gemeinsam zu den Gefäßen der Begünstigung.“ Indem er „der Reihe nach“ vorgeht, betrachtet er zunächst den Vers 9,21 genauer:
Hat nicht der Töpfer des Tons die Macht,
aus demselben Geknet
das eine Gefäß zur Achtung,
das andere aber zur Verachtung zu machen?Wir übersetzen timē mit Achtung und atimia mit Verachtung. timē bedeutet ursprünglich Wert, den jemand oder etwas hat. Daraus wird dann die Wertschätzung, die Achtung, die jemandem oder etwas zukommt. Von da aus wird das Wort in der ökonomischen Sprache benutzt. Es ist dann das geschätzte Vermögen, das Vermögen überhaupt, Wert einer Sache, Geldwert. Die Bedeutung schwankt also stark. Die ökonomische Bedeutung meint Paulus sicher nicht. Deswegen übersetzen wir mit Achtung, im Sinne von Wertschätzung. atimia ist das Gegenteil davon, also Verachtung.
Aus dem Bild, das in Römer 9,21 entwickelt wird, erschließt Jankowski „eine vertiefende Auslegung von 9,12f.“, die sich auf die Kinder Rebekkas und Isaaks bezieht, Jakob und Esau, denn es
ist ein und dasselbe, autos, Geknet, phyrama, aus dem die beiden unterschiedlichen Gefäße entstehen. Aus ein und demselben Samen kommen Jaakob und Esaw, der eine geliebt, der andere gehaßt, der eine als Israel geachtet, der andere als Edom verachtet. Und nicht der Erstgeborene ist geachtet, sondern der Zweitgeborene, der auf mehr als anrüchige Weise zum Segens- und Zukunftsträger wird. Aber beide kommen aus demselben Geknet her, um im Bild zu bleiben.
Denkt man nun daran, dass Juden und mit der Bibel vertraute Gottesfürchtige aus den Gojim mit der Vorstellung vertraut waren, dass der in diesem Bild verachtete Esau inzwischen mit der Weltmacht Rom identifiziert wurde und vielleicht sogar mit den nichtjüdischen Gojim überhaupt, halte ich es für möglich, dass Paulus auf genau dieses vertraute Feindbild anspielen wollte. Wenn Gott Israel liebt, aber Edom hasst, ist es dann nicht ausgeschlossen, Menschen aus Edom, aus den römischen Gojim, mit hineinzunehmen in das von Gott erwählte Israel?
↑ Römer 9,22-24: Gott hat Gefäße des Zorns mit Langmut ertragen und will Gefäßen des Erbarmens seine Ehre kundtun – aus Juden und aus Gojim
9,22 Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte,
hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns,
die zum Verderben bestimmt waren,
9,23 auf dass er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue
an den Gefäßen der Barmherzigkeit,
die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.
9,24 So hat er auch uns berufen,
nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
[21. Juli 2025] Vom Satzbau her (M73) stellen die Verse Römer 9,22-23, in denen „Paulus die dualistische Struktur seiner bisherigen Charakterisierung des Handelns Gottes“ fortschreibt, vor Herausforderungen, indem sie nach Michael Wolter (M73) „aus einem einzigen Satz“ bestehen, der in Vers 22
mit der Protasis {dem Vordersatz} eines Konditionalsatzes beginnt, dann jedoch abbricht, ohne dass eine korrespondierende Apodosis {ein Hintersatz} folgte. Der Satz endet also als Anakoluth {Abbruch eines begonnenen Satzes}.
Damit (Anm. 49) verwirft Wolter alle Auslegungsvorschläge, die
die antithetische Struktur der Protasis [zerstören] und … den Satz aus der Argumentation herausfallen [lassen], die den paulinischen Gedankengang seit V. 8 bestimmt: dass Gott in uneingeschränkter Souveränität zum Heil und zum Unheil von Menschen handelt. Es gibt darum keine andere Möglichkeit, als kai {und} nach der Beschreibung von Gottes Handeln an den „Gefäßen des Zorns“ eine komplementäre Beschreibung seines Handelns an den „Gefäßen des Erbarmens“ einleiten zu lassen, die dann freilich ausgefallen ist …
In dem (M74) bis „zu seinem Abbruch … sehr sorgfältig und transparent“ gestalteten Satz unterscheidet Wolter vier seinen Aufbau betreffende Ebenen, die ich anders als er <284> in unterschiedlichen Farben markiere (rot, fett schwarz, blau, grün):
[V. 22] ei de {aber wenn}
thelōn ho theos {Gott willens,}
endeixasthai tēn orgēn kai gnōrisai to dynaton autou
{zu erweisen den Zorn und kundzutun seine Macht,}
ēnenken en pollē makrothymia skeuē orgēs
{ertrug in viel Langmut Gefäße des Zorns,}
katērtismena eis apōleian
{die hergerichtet sind zur Vernichtung,}
[V. 23] kai {und}
hina gnōrisē ton plouton tēs doxēs autou epi skeuē eleous
{damit er kundtut den Reichtum seiner Ehre über Gefäßen des Erbarmens,}
ha proētoimaasen eis doxan
{die er zuvor bereitet hat zur Ehre,}
??????,
?????? …
Diesem Vordersatz eines dann abgebrochenen Bedingungssatzes wollte Paulus Wolter zufolge „eine zweiteilige antithetische Gestalt geben“, und zwar „durch die Gegenüberstellung der ‚Gefäße des Zorns‘ … und der ‚Gefäße des Erbarmens‘“, die ich in der obigen Darstellung unterstrichen habe, von denen in beiden Versen jeweils vom Beginn der blauen bis zum Ende der grünen Satzteile die Rede ist und die durch kai {und} am Anfang von Vers 23 verknüpft werden: „Gemeinsames Subjekt ist Gott, und Paulus will in beiden Teilen beschreiben, dass und wie Gott die beiden Arten von Gefäßen unterschiedlich behandelt“ – so viel zur von mir schwarz markierten Ebene. Hinzu kommt in den blau markierten Satzgliedern „eine Bestimmung der Intention von Gottes Handeln“ und jeweils ein grün markiertes „Attribut, das jeder der beiden Arten von Gefäßen zugeordnet ist“.
Am Ende (M74f.) fehlt nicht nur der gesamte Hintersatz des mit ei de {aber wenn} eingeleiteten Bedingungssatzes, sondern auch „auf der Seite der ‚Gefäße des Erbarmens‘ … die Fortsetzung des ēnenken-Satzes …, obwohl sie … durch kai angekündigt wird“ (die Hervorhebungen stammen von mir).
Als Ursache für diesen doppelten Abbruch erschließt Wolter (M75), dass Paulus die gegensätzlichen „Gefäße“ auf verschiedenen Ebenen des Satzbaus unterbringt: „Während die skeuē orgēs {Gefäße des Zorns} … direktes Objekt von ēnenken {ertrug} sind und damit zum Hauptsatz“ auf der schwarz markierten Ebene gehören, „bringt Paulus das antithetische Pendant, die skeuē eleous {Gefäße des Erbarmens} … bereits als Bestandteil des Finalsatzes“ auf der blauen Ebene „und erläutert es … durch den attributiven Relativsatz ha proētoimasen eis doxan {die er zuvor bereitet hat zur Ehre}“ auf der grünen Ebene:
Damit hat er den Satz aber syntaktisch an die Wand gefahren, denn es ist ein Ding der Unmöglichkeit, von hier aus wieder in den Hauptsatz zurückzukommen und ēnenken … kai … {ertrug … und …} auf derselben Ebene fortzusetzen. Paulus bricht darum den gesamten Satz ab und setzt in V. 24 mit einem ergänzenden Gedanken neu ein. Dieser Neueinsatz wird auch daran erkennbar, dass das Relativpronomen hous {die} zwar auf die skeuē eleous zurückverweist, den neuen Relativsatz jedoch nicht mit dem vorangegangenen (ha proētoimasen eis doxan {die er zuvor bereitet hat zur Ehre}) parallelisiert, obwohl er dasselbe Bezugswort hat. Stattdessen gibt er dem Relativpronomen das natürliche {männliche statt sächliche} Geschlecht der mit hēmas {uns} Bezeichneten.
Indem Paulus „in beiden Versen die Gefäß-Metaphorik aus dem Töpferbeispiel von V. 21“ übernimmt, beschreibt er in bildhafter Weise „die Menschen als Gegenstände, die Gottes Handeln rein passiv über sich ergehen lassen müssen“ und nicht etwa (Anm. 52) „als ‚Werkzeuge‘ …, derer Gott sich bedient <285>“ wie in „Jer 27,25LXX> (‚der Herr hat seine Rüstungskammer geöffnet und die skeuē orgēs autou {seine Werkzeuge des Zorns} hervorgeholt [exēnenken]‘)“, wo „ein ganz anderer Vorgang beschrieben [wird] als in Röm 9,22.“ Das wird bestätigt durch die „Näherbestimmungen der beiden Gefäß-Typen“ mit den Worten katartizein und proetoimazein, die beide die Herrichtung oder Vorbereitung für einen bestimmten Zweck bezeichnen.
Nach Wolter (M75) ist der „Unterschied zwischen den beiden Gefäß-Typen“ in Gestalt ihrer „Charakterisierung als skeuē orgēs {Gefäße des Zorns} auf der einen Seite und skeuē eleous {Gefäße des Erbarmens} auf der anderen“ von „dem in der Septuaginta verbreiteten Gegenüber von orgē und eleos“ her zu verstehen; dabei „bezeichnen die Begriffe nicht Gottes Affekte“, vielmehr beschreiben sie das von Gott zugewiesene „Unheil und Heil“. Beispiele für dieses Gegenüber findet Wolter (Anm. 54) in „Dtn 13,18; 2Makk 8,5; PsSal 7,5; Sir 5,6; 16,11; Mi 7,18; Hab 3,2; Jes 12,1; 60,10“, und (Anm. 55) als „Analogien“ für den hier verwendeten „Sprachgebrauch“, demzufolge Gott „objektiv“ seinen „Zorn“ und sein „Erbarmen … über die ‚Gefäße‘ bringt“, verweist er auf „Sir 44,10 (andres eleous; hebr. ˀanschej chessed {Männer des Erbarmens}); 45,1 (Mose als anēr eleous {Mann des Erbarmens})…; Eph 2,3 (tekna … orgēs {Kinder des Zorns})“.
Entfaltet wird dieser Unterschied (M76) erstens „zur Seite Gottes hin, und zwar durch die Angabe der Absicht, die Gott mit seinem Unheils- bzw. Heilshandeln an den jeweiligen Gefäß-Typen verfolgt“ (blaue Ebene). Dabei unterstellt Wolter Gott weiterhin, dass er einfach „um seiner selbst willen, gewissermaßen zu Demonstrationszwecken“ handelt. Vordergründig stimmt das natürlich (wenn man außer Acht lässt, welcher Gott da handelt, nämlich der befreiende Gott Israels), denn Paulus übernimmt „aus V. 17c nicht nur endeixasthai {erweisen} nach V. 22“, sondern kennzeichnet „Gottes Intention durch ein weiteres Verb der Mitteilung … (gnōrisai {kundtun}), und das gleich zweimal“, wobei Paulus (Anm. 56) „wieder auf Septuaginta- Sprache“ zurückgreift (vgl. z.B. „Ps 144,12…; 3Makk 2,6 …; Ps 76,15; Jer 16,21“).
Zweitens stellt Paulus (M76) „zur Seite der beiden Gefäßtypen“ das Geschick dar, „das diese jeweils zu erwarten haben“ (grüne Ebene), aber auch „auf dieser Seite ist … nur von Gottes Handeln die Rede“, indem er die beiden Gefäße „ins Werk“ setzt und ihnen jeweils doxa {Ehre} bzw. apōleia {Vernichtung} zuweist.
Auf die Frage, „für wen die beiden Gefäß-Metaphern hier stehen“, antwortet Wolter im Blick auf Vers 22, dass Paulus „über Röm 9,17 noch einmal auf Ex 9,16 zurückgreift“ und (M76f.) dass „in ēnenken en pollē makrothymia {er ertrug in großer Langmut} das von Paulus … nicht mit nach V. 17 übernommene dietērēthēs {ich habe dich erhalten} aus Ex 9,16 erkennbar“ ist, „so dass Gottes ‚Langmut‘ sich auf die bisherige Verschonung des Pharao bezieht.“ Dabei ist jedoch Wolter zufolge (Anm. 61) vorauszusetzen, dass „makrothymia {Langmut}
hier nicht wie in Röm 2,4 die Frist [bezeichnet], die Gott gewährt, um den Sündern die Gelegenheit zur Umkehr zu geben, sondern das Hinausschieben der schon beschlossenen Vernichtung; vgl. auch Nah 1,2c-3 („Rache übt JHWH an seinen Gegnern, und er zürnt seinen Feinden. JHWH ist langsam zum Zorn [LXX: makrothymos] und groß an Kraft. Doch keinesfalls lässt JHWH ungestraft“)… Dem entspricht der Gebrauch von pherō im Sinne von „(geduldig) ertragen“ in Spr 30,21; Jer 20,9; Ez 34,29; Hebr 12,20; 13,13…
Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass nur solche Feinde JHWHs ungestraft bleiben, die nicht zur Umkehr fähig sind (vgl. Hosea 5,4; Jona 3,10; Sacharja 1,3; Maleachi 3,7). Und in welcher Weise die zuletzt angeführten Stellen für pherō die Argumentation Wolters belegen sollen, erschließt sich mir erst recht nicht.
Weiter knüpft Paulus nach Wolter (M77) auch in Vers 23, wo Paulus „von den ‚Gefäßen des Erbarmens (eleous)‘ spricht“, an die Verse 15-16 an, „wo er Ex 33,19 zitiert“. So nimmt er „mit dem antithetischen Gegenüber“ der Verse 22-23 „das antithetische Gegenüber von Mose und Pharao aus V. 15-17 bzw. Ex 33,19 und 9,16 in chiastischer Umkehrung auf“. Dazu passt,
dass in Ex 33,18-19 eigentlich Gottes „Herrlichkeit“ (doxa) das Thema ist. Mose bittet hier: „Zeige mir deine doxa“, und Gott antwortet: „Ich werde vor dir vorübergehen in meiner Herrlichkeit (tē doxē mou; modaler Dativ)“. Im weiteren Verlauf der Exoduserzählung wird dann immer wieder berichtet, dass Gott seine doxa vor Israel erscheinen lässt und sie durch sein Handeln an Israel offenbar macht (z.B. Ex 15,5-6.11.21; 16,7.10; 24,16f; 40,34f; Lev 9,23; Num 14,10; 16,19). Paulus macht auf dieses Weise Gottes Umgang mit dem Pharao und mit Israel in der Exodusgeschichte zum „Modell“ <286> für Gottes Umgang mit solchen Menschen, denen er Unheil, und mit solchen, denen er Heil zugedacht hat. Eben diese Menschen bezeichnet er in idealtypischer Polarität einerseits als „Gefäße des Zorns“ und andererseits als „Gefäße des Erbarmens“, deren jeweiliges Geschick unabänderlich feststeht.
Im Grunde könnte Wolter nicht besser die von ihm zuvor nochmals geäußerte Unterstellung widerlegen (M76), dass Gott einfach „um seiner selbst willen, gewissermaßen zu Demonstrationszwecken“ handelt, entfaltet er doch hier in aller Ausführlichkeit, dass Gottes Ehre darin besteht, um Israels willen zu handeln. Darin reine Willkür zu sehen, ist nur möglich, wenn man die Gründe übersieht, um deretwillen sich nach 5. Mose (Deuteronomium) 7,7-8 der Gott Israels seines Volkes erbarmt. Eben das tut Wolter aber wohl wirklich, wenn er (M78) nochmals hervorhebt, dass es Paulus
nicht um die Menschen, sondern um Gott [geht], denn er will mit Hilfe der Metaphorik deutlich machen, dass Gott apōleia {Vernichtung} und doxa {Herrlichkeit} nur um seiner, Gottes, selbst willen verteilt: um seinen Zorn, seine Macht und den Reichtum seiner Herrlichkeit zu erweisen. Analog zum Gegenüber von timē {Ehre} und atimia {Unehre} in V. 21 besetzt Paulus mit der Polarität von Heil und Unheil in idealtypischer Weise die beiden Endpunkte eines Handlungsspektrums, um auf diese Weise die Allmacht Gottes zu veranschaulichen: Gott kann das eine genauso tun wie das Gegenteil davon, und niemand kann ihn daran hindern oder ihn dafür kritisieren.
Auch wenn Wolter zu Unrecht die Allmacht Gottes von ihrer auf Israel bezogenen Befreiungsabsicht abstrahiert, weist er zu Recht darauf hin (M77f.), dass Paulus die unterschiedlichen Gefäße nicht mit ganz „bestimmten Gruppen identifiziert wissen“ will, „etwa die ‚Gefäße des Zorns‘ mit den nichtchristlichen Juden und die ‚Gefäße des Erbarmens‘ mit den christlichen Juden oder gar mit den Christen überhaupt.“
In Römer 9,24 erkennt Wolter (M78) „eine neue Richtung“, in die Paulus den Blick lenkt, indem er „[e]rstmals … im Verlauf des in V. 6 begonnenen Gedankengangs … die Grenzen Israels“ überschreitet „und … auf die Christen aus Juden und Heiden zu sprechen“ kommt. Diese „Ausweitung der Perspektive“ wurde möglich
durch die Rede von den „Gefäßen des Erbarmens, die er (Gott) zuvor bereitet hat zur Herrlichkeit“ (V. 23) …, die auch auf die Christen übertragbar ist. Möglich geworden ist diese Übertragung durch die idealtypische Generalisierung, mit der Paulus die beiden Arten von Gefäßen in V. 22-23 versehen hat. Paulus sagt also nicht: ‚diese Gefäße des Erbarmens, das sind wir‘, sondern: ‚solche Gefäße des Erbarmens sind auch wir‘. Auf der Seite der „Gefäße des Zorns“ gibt es keine vergleichbare Zuordnung.
Vers 24 besteht aus einem Nebensatz, der sich verselbstständigt, indem er an den zuvor abgebrochenen Bedingungssatz anschließt, und zwar mit dem „Relativpronomen hous {die}“, das „anstelle eines Demonstrativums“ steht und sich auf „skeuē eleous {Gefäße des Erbarmens}“ bezieht. Sein maskulines grammatisches Geschlecht hat hous aber, wie gesagt, nicht von den skeuē im Neutrum, „sondern von hēmas {uns} übernommen“, das als eingeklammerte nähere Bestimmung zu hous zu verstehen ist:
hous kai ekalesen hēmas
{die hat er auch gerufen – (nämlich) uns –,}
ou monon ex Ioudaiōn alla kai ex ethnōn
{nicht nur aus Juden, sondern auch aus Heiden}.
Für Wolter ist es klar, dass ekalesen {er hat gerufen} „die Hinwendung zum christlichen Glauben“ bezeichnet, indem Paulus „sie wie auch schon in 8,30 als ein Gerufen-Werden durch Gott“ interpretiert. Allerdings sieht er im „Hintergrund“ durchaus „das alttestamentliche Verständnis von ‚rufen‘ (qarah) als Erwählung“ und weiß ja auch (M78f.), dass Paulus „von einer ursprünglichen Affinität der ‚Gefäße des Erbarmens‘ zu Israel ausgegangen ist“, weil er mit der auf einen Höhepunkt zusteuernden Formulierung „‚nicht nur aus Juden, sondern auch aus Heiden‘ … die Einbeziehung von Nichtjuden in die ‚Gefäße des Erbarmens‘ als etwas Außerordentliches“ kennzeichnet. Wichtig ist (M79), dass die Präposition ex {aus} „nicht separative {auf Trennung bezogene}, sondern partitive {auf eine Teilmenge bezogene} Bedeutung“ hat. Bereits zum wiederholten Mal betont Wolter hier im zweiten Band seines Römerbriefkommentars, dass „Judenchristen und Heidenchristen … in paulinischer Zeit auch als ‚Christen‘ noch Juden und Heiden“ bleiben, wozu er z.B. auf „Röm 1,5f.13.16; 3,30; 16,4“ verweist, während er im ersten Band immer wieder die Einebnung aller Unterschiede zwischen Juden und Heiden behauptet hatte.
[22. Juli 2025] Gerhard Jankowski (J216) nimmt keine eingehende Analyse des Satzbaus der Verse Römer 9,22-24 vor. Aus seiner Übersetzung, die nur in den Versen 22 und 24 ziemlich genau derjenigen von Wolter entspricht, geht jedoch hervor, dass er den Anteil von Vers 23, der nach Wolter zur blauen Ebene gehört, als Fortführung des schwarz zu markierenden Hauptsatzes versteht. Demzufolge wird Jankowski zufolge nicht schon der Vordersatz des Bedingungssatzes in seinem zweiten Teil abgebrochen, sondern nur der Hintersatz ausgelassen, wobei Jankowski den abgebrochenen Satz als Frage enden lässt (ich hebe die verschiedenen Ebenen mit den gleichen Farben hervor wie vorhin bei Wolter):
22 Wenn aber Gott nun,
willens, den Zorn aufzuzeigen und sein Vermögen erkennen zu lassen,
in viel Langmut Gefäße des Zorns,
eingerichtet zum Verschwinden,
getragen hat,
23 auch, damit er den Reichtum seiner Ehre
an Gefäßen der Begünstigung zu erkennen gebe,
die er zur Ehre vorbereitet hat?
24 Die hat er auch gerufen,
uns, nicht nur aus Juden, sondern auch aus Gojim.
So bestechend einleuchtend mir Wolters Satzbauanalyse in ihrer peniblen Unterscheidung von vier Ebenen zunächst erschien, bezweifle ich mittlerweile doch (M75), dass Paulus den gesamten Aufbau dieses Satzgefüge komplett „an die Wand gefahren“ haben könnte, zumal die Frage zu stellen wäre, warum Paulus in den Versen 22-23 einerseits eine so sauber symmetrisch-antithetische Gegenüberstellung von Mose bzw. Israel und Pharao aus den Versen 15-18 fortzuführen versuchen sollte, in diesem Versuch dann aber so kläglich scheitert.
Schauen wir daher Jankowskis Übersetzungs- und Auslegungsvorschlag einmal genauer an. Ihm zufolge (J219) ist es von Belang, dass Paulus in den Versen 22-24 „in der Metapher“ der Gefäße „von Singular zum Plural“ wechselt, „von den beiden exemplarischen einzelnen zu den vielen anderen“, denn damit bezieht Paulus die Rede von Gefäßen des Zorns nun auch auf „manche aus Israel, die der Zorn treffen wird, wie wir es im ersten Teil des Briefes hörten“, und „das macht Sinn“, weil Paulus vorher gesagt hatte:
„Nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israel“ (9,6). Es sind eben manche aus Israel, die der Zorn treffen wird, wie wir es im ersten Teil des Briefes hörten. „Gefäße“ des Zorns, sie gibt es eben auch in Israel. Daß es sie außerhalb Israels gibt, ist überhaupt keine Frage. Und es gibt eben „Gefäße“ der Begünstigung, vorbereitet zur Ehre, ausgesucht und ausgewählt, um das Befreien Gottes zu bewahren. Die gibt es zunächst nur in Israel. Daß die „Gefäße“ der Begünstigung nun allein ihren Platz haben, „Gefäße“ des Zorns jedoch zum Verschwinden bestimmt sind, das wäre die übliche Anwendung der Metapher. Denn welcher Töpfer läßt mißlungenes Gerät in seinem Angebot? Er wird es höchstens als zweite Wahl anbieten, sonst aber aussortieren und verschwinden lassen. Wie, so fragt Paulus, wenn das nun gerade nicht geschehen ist? Wie, wenn die Gefäße des Zorns aufbewahrt und mit Langmut getragen wurden? Die Antwort darauf ist klar. Ja, es ist so. Und weil es so ist, ist erst recht an den Begünstigten der Reichtum der Ehre Gottes zu erkennen. Zu diesem Zweck sind die beiden Arten von „Gefäßen“ gemacht. Anders gesagt: Gott erweist sich als der befreiende Gott, indem er so handelt.
So gesehen würde Paulus (J216) sich in Vers 22 nicht noch einmal auf den letzten Endes unausweichlich dem Zorn Gottes preisgegebenen Pharao beziehen, dessen Vernichtung durch Gottes Langmut nur aufgeschoben wäre, sondern hier jetzt auf „Gefäße des Zorns“ aus Israel, die aber deswegen mit Langmut getragen werden, weil nach Vers 23 die Chance besteht, sie in „Gefäße der Begünstigung“ zu verwandeln, an denen Gott „den Reichtum seiner Ehre … zu erkennen“ geben kann. Damit geht es Jankowski zufolge (J219) nach wie vor „um Israel und seine Erwählung“, die „Paulus mit keinem Wort in Frage“ stellt, sondern vielmehr mit „Hilfe des Bildes vom Ton und dem Töpfer“ noch herausstreicht. Zwar haben „nicht alle in Israel diese Erwählung, diese Begünstigung bewährt“, was „schon die Propheten“ wussten, „wie wir gleich noch hören werden“, aber „niemand wird hier verdammt oder verachtet. Das blieb anderen vorbehalten.“
Überraschenderweise betrachtet Jankowski dann den Vers Römer 9,24 als ein
Nebensätzchen, das die ganze Harmonie zu stören und alles bisher Gesagte zu konterkarieren scheint: „Die hat er auch gerufen, uns, nicht nur aus Juden, sondern auch aus Gojim“ (9,24). Und die Konstruktion des Satzes läßt ja keinen anderen Schluß zu, als daß die Gojim zu den „Gefäßen der Begünstigung“ gehören. Das ist auch so. Warum das so ist, das hatten wir ausführlich und gut begründet zu hören bekommen.
Ich verstehe nicht ganz, warum Jankowski ausgerechnet diesen Nebensatz als Störung einer Harmonie und Durchkreuzung bisheriger Aussagen bezeichnet, eben weil doch die gesamte Argumentation des Paulus schon bisher darauf hinauslief, die Einbeziehung der Gojim in die Erwählung Israels zu begründen. Könnte nicht Paulus sogar schon in Vers 22 von Gottes Langmut gegenüber Gefäßen des Zorns aus Israel und der Völkerwelt sprechen, von denen auf beiden Seiten einige dadurch in Gefäße des Erbarmens verwandelt werden, dass sie von Gott gerufen werden? Der abschließenden Einschätzung Jankowskis zu Römer 9,24 ist jedenfalls zuzustimmen:
Aber die Gojim sind nicht als solche die Begünstigten. Sie sind es nur zusammen mit den Juden, wie andererseits die Juden nicht allein die Begünstigten sind, sondern zusammen auch mit den Gojim. Beide jedoch gerufen von Gott. Gerufen, das heißt aufgerufen zu einer Identität, zu einem Lebensauftrag, zu tun, was sie sind: Volk Gottes, Geliebte, Söhne Gottes.
↑ Römer 9,25-26: „Nicht-mein-Volk“ wird nach Hosea „Mein-Volk“ gerufen werden
9,25 Wie er denn auch durch Hosea spricht (Hosea 2,25; 2,1):
„Ich will das mein Volk nennen, das nicht mein Volk war,
und meine Geliebte, die nicht meine Geliebte war.“
9,26 „Und es soll geschehen:
An dem Ort, da zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk,
sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden.“
[23. Juli 2025] In Römer 9,25-26 verwendet Paulus Michael Wolter zufolge (M79) zwei Zitate aus Hosea 2,25 und 2,1, um „die Aufmerksamkeit auf die Zugehörigkeit der Heiden zu den ‚Gefäßen des Erbarmens‘“ zu lenken. Während sich (M80) bei „Hosea … beide Zitate auf das Nordreich Israel“ beziehen, „das Gott auf Grund seiner Untreue verstoßen hatte (vgl. Hos 1,9)“ und dem „die Umkehr seines Unheilsgeschicks und die Wiederaufnahme in die heilvolle Gemeinschaft mit Gott verheißen“ wird, „bezieht Paulus sie von V. 24 her auf die Eingliederung der Heidenchristen in das Heil Gottes.“
Dabei ersetzt er im Zitat von Hosea 2,25 das Wort erō {ich will sagen} durch kalesō {ich werde rufen, nennen}, „um Hos 2,25b-d mit Röm 9,24 zu verknüpfen: dass Gott die christlichen Wir als ‚Gefäße des Erbarmens‘ gerufen und damit zu solchen gemacht hat.“ Zugleich kehrt er die „Reihenfolge der aus Hos 2,25 zitierten Sätze“ auch deswegen um, weil er „die Einbeziehung der Heiden in den Kreis derer, die Gott erwählt und zur Herrlichkeit bestimmt hat, zu einem integralen Bestandteil der Erwählungsgeschichte des Gottesvolkes machen will“, denn als „Heiden konnte Paulus sie als ‚Nicht-mein-Volk‘ bezeichnet sehen.“ Auch „durch die Ankündigung von Röm 9,25c, mit der Paulus Hos 2,25b aufnimmt“, bekommen die „christlichen Heiden … den Status der Zugehörigkeit zu Gottes Eigentumsvolk zugewiesen“ denn von „Gott ‚geliebt‘ zu sein, ist wie von ihm ‚gerufen‘ zu sein – eine Auszeichnung, die nur solchen Menschen zuteil wird, die Gott sich zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat.“
Dass Paulus (Anm. 74) den in den allermeisten Septuaginta-Handschriften vorhandenen Text „eleēso tēn ouk ēleēmenein (‚ich will mich erbarmen der Nicht-Erbarmten‘)“ durch agapēso tēn ouk ēgapēmen {ich will lieben die Nicht-Geliebte} ersetzt, führt Wolter darauf zurück, dass er die „Variante mit großer Wahrscheinlichkeit bereits in seiner Septuaginta-Vorlage“ vorgefunden hat.
In Römer 9,26c wird im Zitat aus Hosea 2,1e „Menschen …, die ‚nicht mein Volk‘ sind“, außerdem „versprochen, dass sie ‚Söhne des lebendigen Gottes‘ werden“, und zwar indem „in der letzten Zitatzeile mit klēthesontai {sie werden gerufen werden} erneut von Gottes Wirklichkeit schaffendem ‚Rufen‘“ die Rede ist.
Hervorzuheben ist nach Wolter, dass Paulus nicht hier nicht zum ersten Mal „den Schwerpunkt auf Gottes ‚Rufen‘ legt“; vielmehr „aktiviert er dasselbe Gottesbild wie in Röm 9,12a“, wo „er Gott ho kalōn {den Rufenden} genannt“ hatte, „nachdem er in V. 7b Gen 21,12e zitiert hatte (en Isaak klēthēsetai soi sperma {in Isaak wird dir Nachkommenschaft gerufen werden}).“ Und da
Gott in Röm 9,24 das Subjekt war und sein Ich auch das Subjekt von kalesō {ich werde rufen} (V. 25b) ist, spricht alles dafür, dass Paulus ihn durch die Zitateinleitung in V. 25a ganz gezielt als Redenden einführen will (s. auch Röm 9,15; 2Kor 6,2).
So zitiert Paulus „das Gotteswort aus Hosea … als Verheißung, die durch das Hinzukommen der Christen aus den Völkern zu den ‚Gefäßen des Erbarmens‘ erfüllt wird“, und
schreibt dem Zitat damit eine Bedeutung zu, die weit an ihrem ursprünglichen Aussagesinn, der Wiedereinsetzung Israels in den Status des Gottesvolkes, vorbeigeht und ihn fast in sein Gegenteil verkehrt. Die Fortsetzung in V. 27 lässt erkennen, dass Paulus ganz genau wusste, dass Hos 2,25 an seinem ursprünglichen Ort eine Heilsverheißung für Israel enthielt.
In seiner Zusammenfassung der Auslegung von Römer 9,14-26 betont Wolter nochmals, worauf seiner Auffassung nach Paulus in diesem Abschnitt seines Briefes hinaus will (M82): dass „Gott den Menschen Heil und Unheil so zuweist, wie er ‚will‘, und das heißt konkret: unabhängig von deren Handeln und Verhalten“, ja, dass er „sogar festlegen kann, dass Menschen sich so verhalten, dass sie geradewegs in ihr Verderben laufen.“ Die „Beschwerde“ dagegen, dass Gott ihnen dann „nicht ihr Fehlverhalten zum Vorwurf machen“ dürfe,
schlägt Paulus nieder, indem er seinem fiktiven Gesprächspartner überhaupt das Recht abspricht, Gott zu kritisieren. Zur Begründung verweist er auf die Allmacht des Schöpfergottes. Im Verhältnis zu ihm sei jeder Mensch immer nur Geschöpf und habe darum kein Recht, die Entscheidungen seines Schöpfers kritisch zu hinterfragen (V. 19-23). Paulus beantwortet die Anfragen an das von ihm vorgetragene Gottesbild in beiden Teilen des Gesprächsgangs nicht der Sache nach, sondern er weist auf einer übergeordneten Ebene schon die Möglichkeit zurück, dass Menschen Gott überhaupt kritische und vorwurfsvolle Fragen stellen können.
Ebenso wiederholt Wolter seine Einschätzung, Paulus wolle
zum Ausdruck bringen, dass Gott, weil er Gott ist, buchstäblich alles tun kann, was er will. Und ‚alles‘ bedeutet in diesem Fall: Von allem, was Gott tut, kann er auch das genaue Gegenteil tun. Im Zentrum des hier entfalteten Verständnisses von Gottes Allmacht steht, dass Gottes Handeln immer kontingent {nicht von Notwendigkeiten bestimmt} bleibt. Auf die Idee, dass Paulus hier die Lehre einer doppelten Prädestination vorträgt, kann man nur kommen, wenn man die theozentrische Ausrichtung des gesamten Gesprächsgangs unbeachtet lässt und stattdessen den Menschen in den Mittelpunkt der paulinischen Erörterung stellt. Um den geht es hier aber gar nicht, denn wenn Gott an den Menschen handelt, so tut er das immer nur um seiner selbst willen: um an den Menschen seine „Macht“ (V. 17.22) oder seinen „Zorn“ (V. 22) oder den „Reichtum seiner Herrlichkeit“ (V. 23) zu erweisen.
So richtig es ist, dass „schon in V. 8.13 die ‚Kinder der Verheißung‘ und ‚Jakob‘ nicht für die Christen standen sowie die ‚Kinder des Fleisches‘ und ‚Esau‘ nicht für die nichtchristlichen Juden“, und dass man diese ebenso wenig „im ‚Pharao‘ und in den ‚Gefäßen des Zorns‘ und jene in ‚Mose‘ und in den ‚Gefäßen des Erbarmens‘ erkennen können“ soll, lässt Wolter doch zu Unrecht außer Acht, wie bereits mehrfach gesagt, dass der Gott, auf den sich der Jude Paulus beruft, eben kein abstrakt-hellenistischer Herrschergott ist, sondern der befreiende Gott Israels mit seiner liebevoll-solidarischen Zuwendung zum geringsten aller Völker in seiner Versklavung durch übermächtige Unterdrückervölker. Tatsächlich weiß auch Wolter, dass die „Gültigkeit von Israels Erwählung“ bei Paulus „nicht vergessen ist“, da er sie ja „in V. 27 wieder hervorholt“. Dass sie in den Versen zuvor „ganz im Hintergrund“ gestanden haben soll, und zwar so sehr, dass Paulus sich eben dieses Hintergrundes überhaupt nicht bewusst gewesen wäre, ist mir jedenfalls unvorstellbar, zumal er ja bereits in Römer 9,27 auch Wolter zufolge ausdrücklich auf die Frage nach Israels Erwählung zurückkommt:
Den Anstoß hierfür hat er wohl aus Hos 2,25 und 2,1 gewonnen, denn diese beiden Texte, die er in Röm 9,25-26 zitiert, formulieren an ihrem ursprünglichen Ort uneingeschränkte Heilsverheißungen für Israel. Dass Paulus darüber ganz genau im Bilde war, geht aus V. 27b hervor, wo er noch einmal aus Hos 2,1 zitiert. Es verwundert darum nicht, dass er die Frage nach lsrael, von der er ursprünglich ausgegangen war, im Anschluss an die beiden Hosea-Zitate (V. 25-26) wieder aufgreift.
Mich verwundert allerdings sehr, in welchem Maße Wolter davon ausgeht, dass für Paulus die Vorstellung eines abstrakten Allmachtsgottes völlig unverbunden neben dem Bewusstsein der bleibenden Erwählung Israels stehen würde, als ob sich Gott tatsächlich rein zufällig – „kontingent“! – ausgerechnet dieses Volkes erbarmt hätte und nicht um seiner Solidarität mit einem erniedrigten Volk willen.
[24. Juli 2025] Auch für Gerhard Jankowski (J219) bildet das „Wort rufen, kalein“ eine „Brücke“ zwischen Römer 9,24 und dem, was folgt. Aber im Gegensatz zu Wolter sieht er es als „die Brücke“ zu allen „folgenden Zitaten aus den Propheten Jesaja und Hosea“, das heißt, er bezieht nicht die Verse 25 und 26 allein auf die Berufung der Heiden und unterscheidet davon die Bezugnahme auf Israel in den Versen 27 bis 29. Vielmehr kann ihm zufolge Paulus nur davon ausgehen, dass auch die Hosea-Zitate sich zuerst auf Israel beziehen.
Zu Römer 9,25-26 weist Jankowski darauf hin (J220), dass Zitatkombinationen wie hier „aus Hos 2,25 und 2,1 … auch bei den Rabbinen üblich“ sind, „vor allem wenn die Zitate auch inhaltlich übereinstimmen.“ Anders als Wolter geht er nicht davon aus, dass Paulus „bei Hos 2,25 den Satz und die Nicht-Geliebte: Geliebte“ nicht schon in der ihm zugänglichen Septuaginta-Handschrift gelesen hat, sondern ihn „ganz im Sinn des Hosea interpretierend hinzufügt“ hat, „wie es auch schon die Targumim zu dieser Stelle tun.“
Indem das Zitat aus Hosea 2,1 „als Parallelismus membrorum“ Hosea 2,25 „interpretierend“ weiterführt, soll „[g]ehört werden …: Die nicht mehr sein (Gottes) Volk sein sollen, die werden Söhne des lebendigen Gottes gerufen werden.“ Dabei bezieht sich „das Verb kalein, rufen“, hier auf „den Akt der Namensgebung“, der „gerade in den ersten Kapiteln des Buches Hosea eine wichtige Rolle“ spielt:
In einer Zeichenhandlung gibt der Prophet seinem Kind den Namen Lo-ammi, Nicht-mein-Volk, was er auf das Volk Israel ausdeutet. Namensgebung ist immer zugleich Berufung und Aufruf einer Identität. Der Name, den jemand bekommt, hängt zusammen mit dem, was er ist und was er tut. Israel ist nicht mehr Gottes Volk, ist nicht mehr seine Geliebte, das heißt: Es tut nicht mehr das, was es als Gottes Volk zu tun hat, es liebt diesen Gott nicht mehr. Das kam und kommt vor. Israel erwählt und verworfen, das sagt dieser Prophet auch.
Die „Verheißung eines Neuanfangs“, die zugleich „laut wird“, bezieht sich bei Hosea ebenfalls auf Israel,
nämlich dann, wenn das Volk umkehrt. Dann werden aus dem Nicht-mein-Volk die Söhne des lebendigen Gottes. Die Söhne werden hier deswegen genannt, weil sie der Tradition gemäß die Träger der Zukunft sind. Diese Verheißung der Zukunft beruht aber vor allem in der Umkehr Gottes. Er läßt von der Verwerfung ab und verheißt dem Volk eine neue Zukunft, noch bevor das die Umkehr vollzogen hat.
Kann es aber sein, dass Paulus unmittelbar nach Römer 9,24, wo er davon spricht (J216), dass Gott „uns“ gerufen hat „nicht nur aus Juden, sondern auch aus Gojim“, einen Text, in dem „Nicht-mein-Volk“ vorkommt, ausschließlich auf Israel bezieht? Auch wenn Wolter wiederum zu weit gehen mag, wenn er die Hosea-Zitate in den Versen 25 und 26 ausschließlich auf die Heiden bezogen wissen will, kann Paulus doch möglicherweise mit dem Doppelsinn von „Nicht-mein-Volk“ spielen: So wie ein Israel, das zum „Nicht-mein-Volk“ mutiert, auch wieder umkehren und erneut „Mein-Volk“ gerufen werden kann, kann der Messias Jesus auch Menschen aus den Völkern, die immer „Nicht-mein-Volk“ waren, ganz neu „Mein-Volk“ nennen und zu Israel hinzuberufen.
↑ Römer 9,27-29: Der Rest der Söhne Israels wird befreit werden, übriggelassener Same, so dass wir nicht wie Sodom und Gomorra werden
9,27 Jesaja aber ruft aus über Israel (Jesaja 10,22):
„Wenn auch die Zahl der Israeliten wäre wie der Sand am Meer,
so wird doch nur der Rest gerettet werden;
9,28 denn der Herr, der das Wort vollendet,
wird bald handeln auf Erden.“
9,29 Und wie Jesaja vorausgesagt hat (Jesaja 1,9):
„Wenn uns nicht der Herr Zebaoth Nachkommen übrig gelassen hätte,
so wären wir wie Sodom geworden und gleich wie Gomorra.“
[25. Juli 2025] Die von Paulus (M84) in den Versen Römer 9,27-29 zusammengestellten Jesaja-Zitate („angereichert durch Bestandteile von Hos 2,1“), sind nach Michael Wolter „nicht komplementäres Pendant zu V. 25-26“, in denen (Anm. 3) nach der „Seite der Heiden von der Schrift her“ jetzt auch „die Seite der Juden“ begründet werden soll <287>, vielmehr (M84) geht Paulus mit „dem Leitwort „lsrael“ … über den Rahmen hinaus, den er mit dem christlichen Wir in V. 24 abgesteckt hatte“ und „bezieht jetzt wieder die nichtchristlichen Juden ein“, indem er „den Israel-Begriff … wie in Röm 9,6bα; 11,25.26; Phil 3,5 als Bezeichnung für alle Juden, die christlichen genauso wie die nichtchristlichen“, verwendet. Es ist Wolter zufolge (M85) dieser „Wechsel des Themas von den christlichen Wir (V. 24-26) zu ‚Israel‘ …, das hier für alle Juden steht“, der durch die „Konjunktion de {aber}“ markiert wird und „nicht eine inhaltliche Antithese zum Vorangegangenen“.
Zu Recht bezieht Wolter die Verse 27 bis 29 auf das ganze Volk Israel, innerhalb dessen allerdings ausdrücklich eine Differenzierung vorgenommen wird, aber stammte nicht schon in Vers 24 ein Teil der von Gott Gerufenen aus den Reihen aller Juden? Ist es dann nicht doch plausibel, dass Paulus sich auf Jesaja beruft, um einen Grund dafür anzugeben, warum nicht alle Juden sich durch den Messias Jesus von Gott haben rufen lassen?
Das sieht Wolter anders; ihm zufolge kehrt die „paulinische Erörterung“ hier „wieder auf die Textebene von V. 6 zurück“, indem „alle Juden – christliche und nichtchristliche“ ins Blickfeld geraten. Denn für diese steht das „hēmin {uns} im Zitat von Jes 1,9 (V. 29b) und die 1. Person Plural der beiden Verben in V. 29c“ und nicht wie in Vers 24 für die christlichen „Wir“ <288>. Problematisch ist einfach immer wieder, dass Wolter bereits Paulus eine klare Unterscheidung zwischen Christen und Juden unterstellt, obwohl er zugleich weiß, dass (M79) „Judenchristen und Heidenchristen … in paulinischer Zeit auch als ‚Christen‘ noch Juden und Heiden“ bleiben. Warum soll Paulus, der sich zu denjenigen Juden zählt, die wirklich Israel sind, weil sie auf den Messias Jesus vertrauen, sich nicht sowohl in Vers 24 mit seinem „Wir“ auf diese Teilmenge Israels beziehen als auch in Vers 29 auf ein Gesamt-Israel, dem vom Gott Israels eben diese von Gott Gerufenen als Nachkommen übriggelassen werden?
Dass Paulus in Vers 27a (M85) „Jesaja ‚rufen‘ lässt (krazein)“, womit ein Ruf oder sogar Schrei mit lauter Stimme gemeint ist, „soll vermutlich die Eindringlichkeit des in V. 27b-28 zitierten Wortes hervorheben.“ Im Blick auf die „Präposition hyper {zugunsten von, über}“ neigt Wolter dazu, dass sie hier „(im Sinne von peri) ‚über‘ bedeutet“, denn das „neutrale ‚über‘ passt … besser zur Vorstellung vom ‚Rest‘, auf die Paulus mit dem folgenden Zitat zurückgreift, um die gegenwärtige Situation Israels zu deuten.“
In den Versen 27b-28 „finden sich Anklänge an drei Septuaginta-Texte“, nämlich Hosea 2,1a, Jesaja 10,22-23 und (M86) Jesaja 28,22:
Im Zentrum des Zitats steht Jes 10,22. Über den Beginn hat Paulus die ersten Worte von Hos 2,1 gelegt, woraus er schon in Röm 9,26 zitiert hatte. In V. 28 überlagern möglicherweise Formulierungen aus Jes 28,22 den Text von Jes 10,22-23, der aber auch im paulinischen Wortlaut noch erkennbar bleibt.
Weitere „Unterschiede“ zu den Ursprungstexten können auf „absichtliche Änderungen“ oder „Erinnerungsfehler“ zurückgehen oder auf eine abweichende Septuaginta-Handschrift, die Paulus vorlag.
In Vers 27b-c beschreibt „Paulus mit Hilfe von Jes 10,22 … die gegenwärtige Situation Israels“, indem er „auf das Konzept vom … ‚Rest‘ Israels als Ausschnitt aus einer weit größeren ‚Zahl der Söhne Israels‘ (V. 27a nach Hos 2,1; s. auch Jes 10,22)“ zurückgreift. Damit
kehrt er zu dem Israel-Modell zurück, das er in Röm 9,6b eingeführt, in V. 8 aber schon wieder aufgegeben hatte: der Unterscheidung zwischen einem Gesamt-Israel und einem Teil-Israel. Die pantes hoi ex Israēl {alle, die zu Israel gehören} von 9,6bα nennt er jetzt „Söhne Israels“, und das „Israel“ von V. 6bβ wird zum „Rest“.
Das Stichwort schɘˀerith {Rest} „von schaˀar [qal und nif. ‚übrig sein‘; hif. ‚übrig lassen‘]“ steht schon „in der hebräischen Bibel … für ein theologisches Narrativ, in dem immer zugleich von Heil und Unheil die Rede ist“, das heißt: „Wo es einen ‚Rest‘ gibt, hat immer ein Vernichtungsgeschehen stattgefunden, das die Mehrheit derjenigen, aus dem der ‚Rest‘ übriggeblieben ist, nicht überlebt hat“. Schon in 1. Mose (Genesis) 7,23 wird (M87)
Noahs Rettung aus der Sintflut mit dieser Kategorie gedeutet: Gott „vernichtete alles Bestehende, was auf dem Erdboden war …, und nur (ˀakh) Noah blieb übrig (jischaˀer) und was mit ihm in der Arche war“ (vgl. auch Sir 44,17: Noahs wegen „blieb der Erde ein Überrest [kataleimma], als die Sintflut geschah“… Wenn kein „Rest“ bleibt, bedeutet das vollständige und „ewige“ Vernichtung. Bleibt hingegen ein „Rest“ übrig, so gilt dies als Indiz dafür, dass es im Unheil auch die Erfahrung von Heil gibt.
Indem „dieses Konzept … in exilisch-nachexilischer Zeit“ auf Israel übertragen wurde,
konnten Unheilserfahrung und Erwählungsgewissheit theologisch zusammengedacht werden: Dass von Israel nur noch ein „Rest“ existiert, ist das Ergebnis eines Unheilsgeschehens; dass es einen solchen „Rest“ aber überhaupt noch gibt, ist umgekehrt ein Beleg dafür, dass Gott es nach wie vor als sein Eigentumsvolk ansieht und Israels Erwählung nicht hinfällig geworden ist. Die Existenz eines „Restes“ stellt sicher, dass die Katastrophe nicht zu einem Abbruch der Geschichte des Gottesvolkes geführt hat, sondern dass diese Geschichte weitergeht. Die theologische Intention dieses Konzepts besteht dementsprechend darin, über die Erfahrung von Unheil hinweg eine Brücke zu bauen, die die Vergangenheit Israels mit seiner Gegenwart verbindet und ihm einen Weg in die Zukunft eröffnet. Die zuletzt genannte Perspektive wird durch Wortfeldverbindungen mit Begriffen wie „Same“ (seraˁ), „Wurzel“ (schoresch), „Spross“ (nin) oder „Nachkomme“ (nekhed) zum Ausdruck gebracht. Formgeschichtlich kann die Rede vom „Rest“ darum sowohl Bestandteil von Drohworten als auch von Trost- und Verheißungsworten sein.
Auch wenn „Paulus die gegenwärtige Situation Israels“ unter „Rückgriff auf das theologische Narrativ ‚Rest‘ … als Erfüllung der prophetischen Ankündigung Jesajas“ darstellt, muss man (M88) man seine „Rede vom Rest“ zugleich „als Heilsaussage“ und „als Unheilsaussage“ begreifen. Dabei wird der „Unheilsaspekt … durch die außerordentliche Differenz zwischen der ‚Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres‘ (Hos 2,1) und dem ‚Rest‘ zum Ausdruck gebracht“, so dass es nahe liegt, „die Einleitung ean ē {wenn … wäre}“ mit „auch wenn“ zu übersetzen und „in V. 27c ein ‚nur‘ mitzulesen“, wozu Wolter einerseits auf das „nur“ verweist, „das bereits in Röm 9,7 bei ‚Isaak‘ mitzuhören war“, und andererseits (Anm. 31) auf 5. Mose (Deuteronomium) 28,62LXX; 4,27; Jesaja 10,22; Jeremia 42,2. Zugleich wird aber auch (M88) ein „Heilsaspekt“ ausgedrückt, und zwar
darin, dass es überhaupt einen „Rest“ gibt und dass Paulus dessen Existenz mit den Worten von Jes 10,22 als ein Rettungsgeschehen darstellt (sōthēsetai {wird gerettet werden}; vgl. auch die Parallelisierung von hoi kataleleimmenoi {die Übriggebliebenen} und hoi sōzomenoi {die Erretteten} in Jes 37,32). In diesem Rest ist die Kontinuität der Erwählung Israels auch in der Gegenwart erhalten geblieben.
Nach Wolter besteht „[d]ieses Rest-Israel … aus denselben Menschen, die auch das ‚Israel‘ von Röm 9,6bβ sind: den Judenchristen“, und (Anm. 33) auf „gar keinen Fall steht der ‚Rest‘ hier für die Kirche aus Juden und Heiden bzw. die christlichen Wir von Röm 9,24, wie es bis in die Gegenwart hinein angenommen wird“ <289>.
In Vers 28 stellt Paulus (M88) „die Realisierung der Ankündigung von V. 27b-c als ein Handeln Gottes“ dar, „mit dem Gott sein Wort in die Tat umsetzt.“ Der Satzbau schon von Jesaja 10,22-23 ist schwer zu durchschauen, Paulus vereinfacht ihn zwar, macht aber „die syntaktischen Verhältnisse in diesem Satz nur wenig durchsichtiger als in der Septuaginta“. Wolter findet folgende Lösung (M88f.):
Paulus verwendet logon {das Wort} zweimal, erst als Objekt von syntelōn kai syntemnōn {wörtlich: vollendend und abkürzend} und dann als Objekt von poiēsei {er wird tun, ausführen}. Das entspricht auch Jes 10,22-23, wo logon nicht nur ebenfalls zweimal vorkommt, sondern auch Objekt derselben Verben ist wie bei Paulus. Paulus zieht beide Sätze zu einem einzigen zusammen; dabei lässt er das zweite logon aus, um eine stilistisch unschöne Wiederholung zu vermeiden.
Inhaltlich ist (M89) der Ausdruck „logon poiein … mit der Bedeutung ‚ein Wort verwirklichen‘ in der Septuaginta häufig belegt“, und auch „logon syntelein kann man in diesem Sinne verstehen“. Da jedoch „passt die übliche Bedeutung von logon syntemnein, ‚eine Rede abkürzen/abbrechen‘, hier nicht“ passt, schlägt Wolter vor,
syntemnōn nicht für sich, sondern als … Näherbestimmung von syntelōn zu interpretieren und dabei an der semantischen {bedeutungsmäßigen} Komponente der zeitlichen Verkürzung festzuhalten, die an syntemnein auch sonst haftet. syntemnein würde dann die Art und Weise bezeichnen, wie Gott sein Wort ausführt: Er zieht die Durchführung seines Handelns nicht in die Länge, sondern schließt sie in kurzer Zeit ab.
Damit wendet sich Wolter gegen alle „Erklärungen, die syntemnein nicht im Sinne einer zeitlichen Verkürzung, sondern als ‚Dezimierung‘ Israels auf einen „Rest“ verstehen wollen“, und auch (M89f.) gegen
Interpretationen, denen zufolge Paulus hier sagen wolle, dass Gott sein Wort nur partiell erfüllt habe, nämlich an den Judenchristen. Die zuletzt genannte Annahme ist vor allem auch darum unmöglich, weil Paulus niemals daran gezweifelt haben dürfte, dass Gott sein Wort nicht nur immer, sondern immer auch voll und ganz „ausführt“. Worin diese ‚Ausführung‘ besteht, hat er in V. 27b-c gesagt: darin, dass Gott von Israel einen „Überrest“ „gerettet“ hat. In diesem Sinne korrespondiert V. 28 mit V. 6a: Gottes Erwählungswort ist nicht „dahingefallen“, sondern es wurde durch das Übriglassen des Restes „rasch ausgeführt“ und „auf der Erde verwirklicht“.
In Vers 29 (M90) zeigt die Einleitung kai kathōs {und wie}, „dass das zweite Zitat das erste bestätigen soll“. Das Wort proeirēken {hat zuvor gesagt} soll „das Folgende … nicht als Vorhersage kenntlich machen, die in der Gegenwart erfüllt ist“, sondern es „formuliert einen Kommentar“ zu dem „in V. 27b-c thematisierten Vorgang der Rettung des Restes“ mit Hilfe „einer Deutung, die er Jes 1,9 entnimmt“. Damit gebraucht Paulus (Anm. 43) das Wort „prolegō {zuvor sagen} hier … genauso wie in 2Kor 7,3; Gal 1,9; 1Thess 4,6.“
Wortwörtlich zitiert Paulus (M90) Jesaja 1,9 nach der Septuaginta. In ihm wird „hypoleimma {Rest} im stammverwandten enkataleipein {übriglassen}“ und „durch den Begriff sperma (‚Same‘ im Sinne von ‚Nachkommenschaft‘)“ wiederaufgenommen:
Die Rettung des Restes und das Übriglassen von Nachkommenschaft sind ein und dasselbe: Hier wie dort geht es darum, dass Israel zwar durch ein umfassendes Unheilsgeschehen hindurchgegangen ist, aber trotzdem als Gottes Eigentumsvolk weiterexistiert. Das sperma hat nach Röm 9,29 (Jes 1,9) für Israel darum dieselbe Bedeutung wie Noah und die anderen Passagiere der Arche nach Gen 7,23 für die gesamte Menschheit. Analog steht „Sodom und Gomorra“ hier wie auch sonst im Alten Testament exemplarisch für eine Vernichtung ‚ohne Rest‘. Dass Israel vor diesem Geschick bewahrt wurde, stellt die Existenz der christlichen Juden sicher. Sie sind es, in denen die bleibende Kontinuität der Erwählung Israels erhalten geblieben ist. Wie in V. 27b-c formuliert Paulus darum auch in V. 29b-c eine Heilsaussage über die gegenwärtige Situation Israels. Die Frage, was mit der nichtchristlichen Mehrheit Israels ist, bleibt hier gänzlich außerhalb der Perspektive.
Während Paulus also (M91) in „der gegenwärtigen Situation Israels … Paulus den ‚geretteten Rest‘ und die ‚übriggelassene Nachkommenschaft‘ mit den christlichen Juden“ identifiziert, bleibt es zunächst dabei, dass „auf der Unheilsseite die nichtchristliche Mehrheit Israels steht, die ‚von Christus weg verbannt‘ ist (9,3).“ Indem also
Paulus in V. 27-29 innerhalb Israels eine Minderheit ausdifferenziert, der er einen besonderen Status zuweist, kehrt er zu dem Israel-Modell zurück, das er in 9,6b entfaltet hatte: Der ‚gerettete Rest‘ und die ‚übriggelassene Nachkommenschaft‘ – sie sind das „Israel“, dem „nicht alle, die zu Israel gehören“, angehören. Damit wird aber auch deutlich, mit welcher Begründung Paulus die in 9,6a formulierte These versieht: Es ist die Existenz der christlichen Juden, die den Beweis dafür liefert, dass Gottes Wort nicht dahingefallen und die Erwählung Israels nicht außer Kraft gesetzt ist. Sie sind es, in denen die Kontinuität der Erwählungsgeschichte Israels auch in der Gegenwart noch greifbar ist.
Damit ist Paulus aber „einer Lösung des Ausgangsproblems keinen Schritt nähergekommen“, denn der „in 9,3-5b formulierte Widerspruch zwischen der gegenwärtigen Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels und der auch ihr geltenden Erwählung ist nicht beseitigt.“ Die „Frage nach dem Geschick derer, die er ‚meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch‘ nennt (9,3)“, hat Paulus nicht etwa „beantwortet, sondern er ist ihr ausgewichen.“ Erst in Römer 11,11 wird Paulus damit beginnen, „sie zu beantworten.“
Bisher geht es Paulus auch „nur um die gegenwärtige Situation Israels“, und erst „ab 11,11 nimmt Paulus die Zukunft der nichtchristlichen Mehrheit des Gottesvolkes in den Blick“. Wolter zufolge darf man „die Heilsperspektive, die er dann ab 11,25 für sie entwickelt“, noch nicht in die Verse 9,27-29 eintragen, sonst (M92) „verliert seine Argumentation in 9,6-29 ihr theologisches Profil.“ Seines Erachtens (Anm. 52)
spricht … viel … für die von N. Walter <290> … geäußerte Vermutung, dass Paulus die in 11,25-32 entwickelte „Lösung noch nicht zur Hand war, als er mit 9,1-5 ansetzte und dann 9,6-29 niederschrieb“.
Das heißt im Klartext: Da man im „Narrativ“, das Paulus in Römer 9,6-29 entwickelt, „[a]uch in die ‚Nachkommen (sperma)‘-Metaphorik von 9,29 … nicht eine Heilsperspektive für die nichtchristliche Mehrheit lsraels hineinlesen“ darf, „ginge die Zukunft Israels allein von den christlichen Juden aus“, dann aber „gäbe es für seine nichtchristliche Mehrheit keine Hoffnung mehr und wäre sie endgültig verloren.“
Erst später, nämlich in 11,25-32, „schreibt Paulus“ dann aber auch dieser Mehrheit
eine Heilsperspektive zu, die er als ein neues Handeln Gottes an den nichtchristlichen Juden ankündigt, das dazu führen wird, dass nicht mehr nur ein „Überrest“ (so 9,27c), sondern „ganz Israel gerettet werden wird“ (11,26a; hier wie dort sōthēsetai). Weil Gott es ist, der dieses Handeln ins Werk setzen wird, kann Paulus in Kauf nehmen, dass diese Gewissheit den Rahmen des Narrativs sprengt, mit dem er in 9,27-29 die gegenwärtige Situation Israels beschrieben hatte.
[26. Juli 2025] Gerhard Jankowski (J220) schreibt zu den Bibelzitaten im Abschnitt Römer 9,27-29:
Die beiden nächsten Zitate entstammen dem Buch des Propheten Jesaja. Das erste ist mit dem Zitat aus Hosea verbunden durch das Stichwort Söhne. Es ist entnommen aus Jes 10,22f. LXX; LXX übersetzt hier aber schub, umkehren, mit sōzein, befreien. Paulus übernimmt leicht gekürzt diese Version, ändert aber das auch im Urtext stehende Volk Israel in Söhne Israels ab. Das ist nicht sinnentstellend, gibt ihm aber die Möglichkeit, Jes 10 mit Hosea über das Stichwort Söhne zu verbinden. Der zweite Satz entspricht Jes 1,9 LXX. Schon LXX hat hier sperma, Samen, aufgenommen. Der hebräische Text hat das entsprechende Wort nicht, sondern sarid, Entronnenes. LXX interpretiert hier wie auch bei Jes 10,22. Und Samen ist gleichzeitig eine gute Verknüpfung zu Söhne.
Für Jankowski ist „[e]ins … überdeutlich“, nämlich dass es „hier um das erwählte, gerufene, geliebte Israel“ geht, das zwar „von Gott verworfen werden“ kann, aber „doch Zukunft“ hat. Warum? Weil „aus dem Nicht-mein-Volk … Söhne“ werden, und „Söhne bedeuten Zukunft“.
Auf welche Weise aber dem erwählten Israel Söhne für seine Zukunft übrigbleiben, das beantwortet Paulus Jankowski zufolge anders als die Propheten vor ihm, und zwar indem er den Akzent von der Umkehr des Volkes Israel auf seine Befreiung legt.
Das heißt: Obwohl die Propheten „eine Einschränkung“ im Blick auf die Zukunft Israels verkündigten, nämlich dass diese Zukunft nur einem „Rest“ offen stand, konnten „Hosea und vor allem Jesaja … noch sagen“, dass Israel „umkehren“ konnte. Aber schon die griechische Septuaginta-Übersetzung richtet „die Hoffnung auf das Befreien“, und „erst recht“ tut dies Paulus.
Jankowski will darauf hinaus, dass vom Stichwort sōzein {befreien} her „die Verwendung der Zitate“ durch Paulus in folgender Weise „deutlich“ wird (J220f.):
Obwohl es zutiefst um Israel geht, für Paulus sind die Gojim nun mit dazugerufen. Sie, die gar nicht Gottes Volk sein können, werden zu seinem Volk: Sie, die Nicht-Geliebte Gottes sein können, sind zu seinen Geliebten geworden. Sie können nicht umkehren. Sie sind gerufen und werden befreit werden. Zusammen mit dem Rest aus Israel, der umkehren wird. Darin liegt Israels Zukunft. Es hat Samen, aus dem Söhne und Töchter wachsen werden. Und so wird es nicht zu Sodom und Gomorrah, das eben keine Zukunft hatte.
Aus diesen Worten geht nachträglich hervor, dass Paulus auch nach Jankowski die Formulierung „Nicht-mein-Volk“ der Hosea-Zitate sowohl auf Israel als auch auf die zu Israel hinzukommenden Gojim bezogen wissen wollte. Sowohl die Hosea zitierenden Verse 25-26 als auch die Jesaja-Zitate in 27-29 legen also Vers 24 aus, in denen Gott sowohl aus den Juden als auch aus den Völkern Menschen gerufen hat. Umkehrwillige Juden können ebenso wieder Mein-Volk werden wie gerufene Gojim ganz neu hinzukommen, so dasss beide zusammen nicht etwa aus dem Judentum austreten und eine neue Religionsgemeinschaft als die Kirche der Christen gründen, sondern sie sind gemeinsam der übriggelassene Same Israels und stellen die Zukunft Israels dar.
Jankowskis Fazit zu seiner Auslegung von Römer 9,1-29 lautet:
Nirgendwo in diesem Kapitel wird Israel enterbt, verlassen oder aufgegeben. Es bleibt bei der Erwählung Israels, die geschah, weil es das Mindere unter den Völkern ist. Sie bleibt bis in den Rest hinein. Das ist natürlich auch Kritik an den Teilen aus Israel, die sich nicht zusammen mit den Gojim gerufen sehen. Für sie gilt nach wie vor: nur aus Juden. Für Paulus heißt das: und auch aus den Nichtjuden, den Gojim. Jedoch ist hervorzuheben, daß Paulus diese Kritik mit Zitaten übt, die Worte der Verheißung zum Inhalt haben und nicht Verurteilungen. In diese Verheißungen sind die Nichtjuden mit hineingenommen. Wenn sie das nicht mehr sehen, die Verheißungen nur noch auf sich beziehen, da muß es dann zu Verurteilungen kommen. Doch soweit ist es bei den Gojim, an die Paulus schreibt, noch nicht. Denn sie erleben ihn als einen guten Anwalt seines Volkes bei ihnen, den Nichtjuden.
Hier muss nun allerdings doch gefragt werden, ob nicht letzten Endes auch Jankowskis Auslegung darauf hinausläuft, dass diejenigen Juden, die den Weg des Paulus der Einbeziehung der Gojim in Israels Erwählung nicht mitgehen wollen, der Verurteilung schon des Paulus anheimfallen, auch wenn das ihm, dem Juden, Schmerzen bereitet. In folgender Hinsicht hat Wolter jedenfalls Recht: schon Israels Propheten und sogar die Tora kannten die Verurteilung einer Mehrheit Israels, wenn diese von den Wegen des befreienden Gottes abgewichen war, und indem Paulus die Vorstellung vom „Rest“ aufnimmt, ist er sich dessen natürlich bewusst. Insofern stimmt es auch, dass Paulus tatsächlich in Römer 9,1-29 die Frage noch nicht beantwortet hat, was denn mit denjenigen ist, die Wolter nichtchristliche Juden nennt und die für Jankowski Juden sind, die den Weg des Paulus nicht mitgehen wollen.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 9,6-29
9,6 Nicht aber, als ob das Wort Gottes ausgefallen wäre.
Denn nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israel,
9,7 auch nicht sind Abrahams Same alle (seine) Kinder,
sondern: In Isaak wird dir Same gerufen werden.
9,8 Das heißt:
Nicht die Kinder des Fleisches, die sind Kinder Gottes,
sondern die Kinder der Verheißung werden zum Samen gerechnet.
9,9 Denn das ist das Wort der Verheißung:
Zu dieser Zeit werde ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben.
9,10 Nicht allein aber, sondern auch Rebekka,
als sie Beischlaf hatte von (nur) einem,
Isaak, unserem Vater,
9,11 denn als sie noch nicht geboren waren
und noch nicht Gutes oder Schlechtes gemacht hatten
– damit Gottes auswählender Beschluss (maßgeblich) bleibt,
9,12 nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Rufenden –,
wurde ihr gesagt: Der Ältere wird dem Jüngeren dienen.
9,13 Wie auch geschrieben ist:
Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.
9,14 Was wollen wir nun sagen?
Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?
Das geschehe nicht!
9,15 Denn zu Mose sagt er:
Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme,
und werde Mitleid haben, mit wem ich Mitleid habe.
9,16 Darum (geht es) nicht um den, der will, und auch nicht um den, der läuft,
sondern um den sich erbarmenden Gott.
9,17 Denn die Schrift sagt zum Pharao:
Eben dazu habe ich dich erweckt,
dass ich an dir meine Macht erweise
und dass verkündet wird mein Name auf der ganzen Erde.
9,18 Darum: wessen er will, erbarmt er sich,
doch wen er will, verhärtet er.
9,19 Nun wirst du mir sagen: Was tadelt er dann noch?
Denn seinem Ratschluss – wer hat (ihm) widerstanden?
9,20 O Mensch, du – wer bist du eigentlich, der Gott Widerworte gibt?
Sagt etwa das Gebilde zum Bildner: Warum hast du mich so gemacht?
9,21 Oder hat nicht der Töpfer Macht über den Ton,
aus demselben Klumpen das eine Gefäß zur Achtung zu machen,
das andere aber zur Verachtung?
9,22 Wenn aber Gott,
willens, den Zorn zu erweisen und erkennen zu lassen, was er kann,
Gefäße des Zorns, die zur Vernichtung hergerichtet sind,
in großer Langmut ertrug,
9,23 auch damit er den Reichtum seiner Ehre erkennen lasse
an Gefäßen des Erbarmens, die er zuvor bereitet hat zur Ehre?
9,24 Die hat er auch gerufen, uns, nicht nur aus Juden, sondern auch aus Gojim,
9,25 wie er auch bei Hosea sagt:
Das Nicht-mein-Volk werde ich rufen: Mein-Volk
und die Nicht-Geliebte: Geliebte.
9,26 Und es wird geschehen:
An dem Ort, wo ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk,
dort werden sie gerufen werden: Söhne des lebendigen Gottes.
9,27 Jesaja aber ruft über Israel:
Wenn die Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres wäre,
der Rest wird befreit werden.
9,28 Denn ein Wort, das er zum Ziel bringt und rasch ausführt,
wird der HERR auf der Erde tun.
9,29 Und wie Jesaja zuvor gesagt hat:
Wenn nicht der HERR Zebaoth uns Samen übriggelassen hätte,
wie Sodom wären wir geworden und Gomorra gleichgemacht.
↑ Der Messias, der Gojim wahr macht, als Stein des Anstoßens für Juden, die auf eigene Weise wahr werden wollen (Römer 9,30 – 10,21)
[29. Juli 2025] Für Michael Wolter (M93) beginnt mit Römer 9,30 „ein neuer Abschnitt, der bis 10,21 reicht“ und in dem „Paulus mit einem anderen Israel-Begriff als in 9,27“ arbeitet:
Während dort auch die christlichen Juden zu Israel gehören, besteht es nach 9,31 und 10,19.21 ausschließlich aus den nichtchristlichen Juden. Erst in 11,1 nimmt Paulus den Israel-Begriff von 9,27-29 wieder auf. Jetzt gehören auch wieder die christlichen Juden zu Israel.
Gegen eine „Verknüpfung von 9,30-33 mit 9,6-29“ spricht auch, dass die „rhetorische Frage ti oun eroumen? {Was sollen wir nun sagen?} (9,30) … nicht auf derselben Textebene wie die gleichlautende Frage in 9,14“ steht (M93f.), „denn sie leitet nicht wie diese ein Missverständnis ein, das Paulus zurückweist, sondern wie in 4,1 einen Themenwechsel.“ Andererseits muss (M94) die „Anrede adelphoi {Geschwister}“ in Vers 10,1 nicht unbedingt einen neuen Abschnitt einleiten, wozu Wolter auf Stellen wie „Röm 1,13; 7,4; 8,12; 15,30; 16,17; 1Kor 1,11; 7,24.29 u.ö.)“ verweist. Vor allem aber ist nach Wolter festzustellen, dass „9,30-31 und 10,19-21 eine Inklusion“ bilden,
die den gesamten Abschnitt einrahmt: Er beginnt in 9,30-31 mit der Gegenüberstellung von christlich gewordenen Heiden und nichtchristlich gebliebenen Juden und endet in 10,19-21 genauso. Außerdem reaktiviert Paulus in 9,30 den Zusammenhang von „Glaube“ und „Gerechtigkeit“, der zuletzt in 5,1 auf der Ausdrucksebene des Textes erschienen war. Diese Verknüpfung wird unter Einschluss der Abgrenzung vom „Gesetz“ und den von ihm geforderten „Werken“ (V. 31-32) in 10,3-4 wieder aufgenommen und setzt sich bis 10,10 fort. Hierzu gehört auch, dass Paulus mit dem aus Jes 8,14 und 28,16 zusammengesetzten Zitat in Röm 9,33 und dann expressis verbis in 10,4.6.7.17 die Christusverkündigung wieder ins Spiel bringt, von der in 9,6-29 mit keinem Wort die Rede war.
In den Versen, die innerhalb dieses Rahmens stehen, geht es Wolter zufolge „in 10,5-15 um die Zugänglichkeit von Gerechtigkeit und Heil durch die Verkündigung der Christusbotschaft“, worauf dann bereits ab 10,16 „das nichtchristliche Israel im Mittelpunkt“ steht, „das sich der Gerechtigkeit Gottes ‚nicht untergeordnet‘ hat (10,3) bzw. dem Evangelium ‚nicht gehorcht‘ hat (10,16)“.
Obwohl Gerhard Jankowski (J9) die Verse 9,30-33 unter der Unterüberschrift „Stein des Anstoßens“ als letzten Teil des Abschnitts „Wer ist Israel?“ (9,6-33) begreift und erst die Verse 10,1-3 als ersten Teil des folgenden Abschnitts „Zur Sache“, überzeugt mich sein Gliederungsvorschlag an dieser Stelle nicht. Auch er weist darauf hin (221), dass der von Paulus hier verwendeten „Frageformel“ anders als sonst nicht noch „eine weitere, rhetorische Frage“ folgt, sondern stattdessen ein „betonte[s] das sagen wir“. Was dann gesagt wird, passt aber nicht als „Zwischenfazit“ zu dem, was zuvor über den Rest Israels gesagt wurde, dem gemeinsam mit hinzugerufenen Gojim Zukunft geschenkt wurde. Auch ihm zufolge (J223) geht es in den letzten Versen von Kapitel 9 um „scharfe Kritik“, die vom Juden Paulus, also „von einem aus Israel an Israel“ geübt wird:
Israel hat seine Aufgabe verfehlt, es ist nicht an die Thora herangekommen, hat sie nicht erreicht, eingeholt. Die Thora ist immer Israel voraus. Israel aber hat darauf beharrt, Thora zu haben. Damit hat es nicht adäquat auf die Thora reagiert.
Wie das zu verstehen ist, darauf ist in der Einzelauslegung einzugehen, und zwar im Sinne (J225) eines vorsichtigen Herantastens an
das Thema …, das hier im Vordergrund steht: warum ist für den größten Teil Israels anstößig, was in der messianischen Ekklesia praktiziert wird, so anstößig, daß es abgelehnt wird? Könnte das darin begründet sein, daß Gott selbst sein Volk verstoßen hat? Daß er sich ein anderes erwählt hat? Die Fragen sind gestellt worden von den Nichtjuden in der Ekklesia. Sie müssen beantwortet werden, klar und deutlich, damit es nicht zu tödlichen Verdammungen kommt. Und so redet Paulus dann zur Sache.
Spannend ist für mich, was sich in diesem Abschnitt herausstellen wird, dass nämlich Wolter und Jankowski in bestimmter Hinsicht gar nicht so weit voneinander entfernt sind, als ich zuvor dachte. Beiden zufolge stellt Paulus jedenfalls in den Kapiteln Römer 9 und 10 nicht das, was wir als christliche Rechtfertigungslehre kennen, einer angeblich jüdischen Werkgerechtigkeit entgegen. Stattdessen ist es das Bekenntnis zum Messias Jesus, das für Paulus zum entscheidenden Kriterium wird, ob jemand zum wahren Israel dazugehört. Während es in Römer 9,6-29 darum ging, dass ein wahres Israel aus dem Rest Israels besteht, zu dem Gojim hinzugerufen werden, nimmt Paulus in Römer 9,30 – 10,21 das Problem in den Blick, dass die Mehrheit Israels an diesen hinzukommenden Gojim Anstoß nimmt und daran festhält, weiterhin auf ihre eigene Weise, getrennt von den Völkern, Gerechtigkeit erlangen zu wollen.
↑ Römer 9,30-32b: Gojim erlangen Bewährtheit aus Vertrauen, während Israel die Tora der Bewährtheit ohne Vertrauen nicht erreicht
9,30 Was wollen wir hierzu sagen?
Die Heiden, die nicht der Gerechtigkeit nachjagten,
haben Gerechtigkeit erlangt,
nämlich die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt.
9,31 Israel aber, das dem Gesetz der Gerechtigkeit nachjagte,
hat das Gesetz nicht erreicht.
9,32a Warum das?
9,32b Weil es die Gerechtigkeit nicht aus Glauben suchte,
sondern als komme sie aus Werken.
[30. Juli 2025] Auf die (M96) „im Neuen Testament nur im Römerbrief“ auftauchende Frage ti oun eroumen? {Was sollen wir nun sagen?} folgt in Römer 9,30a nicht wie in 4,1; 6,1; 7,7; 8,31; 9,14 noch eine weitere, oft rhetorische Frage, sondern Paulus stellt Michael Wolter zufolge
das Geschick der christlich gewordenen „Heiden“ und der nichtchristlich gebliebenen Juden („Israel“) einander gegenüber. An den Heidenchristen nimmt er aber kein eigenständiges Interesse, sondern er beschreibt sie als Gegenbild Israels, d.h. er benutzt sie als Folie, um das Scheitern der nichtchristlichen Mehrheit Israels noch deutlicher hervortreten zu lassen.
Mit dem Ausdruck ethnē ta mē diōkonta dikaiosynēn {Heiden, die nicht der Gerechtigkeit nachjagten} kennzeichnet Paulus in Vers 30b „alle Heiden … dadurch …, dass für sie das, was „Israel“ auszeichnet, nicht gilt“, wodurch er mit diesem „Blick auf die ‚Heiden‘ … die Eigenart Israels kenntlich“ macht:
Nicht ohne Grund wirkt diese Charakterisierung der Heiden wie eine Umkehrung von Jes 51,1. Nach diesem Text gilt Israel als „die dem nachjagen, was gerecht ist (LXX: hoi diōkontes to dikaion; hebr.: rodɘfej zedeq), und den Herrn suchen“. Nach Dtn 16,20 ist Israel aufgetragen: „Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachjagen (zedeq zedeq thirdof), damit du lebst und das Land in Besitz nimmst, das der Herr, dein Gott, dir geben will“. Diesen Aussagen liegt ein Verständnis von Gerechtigkeit zugrunde, das ein Verhalten bezeichnet, das dem Status des Gottesvolkes entspricht und das Gott dementsprechend als gemeinschaftsgemäß anerkennen kann.
Dass die Verben diōkein {nachjagen} und katalambanein {erlangen} „schon immer zusammen[gehören]“, belegt Wolter (Anm. 7) u.a. mit einer ganzen Reihe von Bibelstellen („Ex 15,9; Dtn 19,6; 28,45; 1Sam 30,8; Sir 11,10; Klgl 1,3; Hos 2,9…; Phil 3,12“), allerdings kann nur bei einer einzigen, nämlich Sirach 27,8, von „einer gewissen Nähe zu Röm 9,30“ die Rede sein: „Wenn du dem nachjagst, was gerecht ist, wirst du es erlangen (ean diōkēs to dikaion katalēmpsē) und anziehen wie ein herrliches Gewand“. Im Unterschied dazu betont Wolter (M97), dass „Paulus diōkein und katalambanein voneinander [trennt]: Für die christlichen Heiden ist es zu einem Erlangen der Gerechtigkeit gekommen, ohne dass sie ihr wie Israel ‚nachgejagt‘ wären.“
Welche Art von „Gerechtigkeit“ es ist, „die die christlich gewordenen Heiden ‚erlangt‘ haben, erklärt Paulus in Vers 30c mit „Hilfe eines präpositionalen Attributs“, nämlich: dikaiosynēn de tēn ek pisteōs {nämlich die Gerechtigkeit aus Glauben}. Wie diese „Gerechtigkeit“ zu verstehen ist, „die Gott den Menschen auf Grund ihres Glaubens zurechnet“, erläutert Wolter zum wiederholten Male folgendermaßen:
Mit „Glaube“ meint Paulus hier die pistis Christou, den Christus-Glauben, der im Christusgeschehen das Handeln Gottes zum Heil der Menschen erkennt. Die Erläuterung hat darum restriktive Bedeutung. Sie will die Gerechtigkeit, die die christlichen Heiden erlangt haben, von derjenigen Gerechtigkeit unterscheiden, um die sie sich nicht bemüht haben.
In Vers 31 beschreibt Paulus „genau umgekehrt“, wie es der „nichtchristlichen Mehrheit Israels … ergangen“ ist:
Sie hat das, worum sie sich bemüht hat, gerade nicht erlangt. Auch hier geht es um „Gerechtigkeit“, die Paulus nun aber durch den Begriff „Gesetz“ (nomos) näher bestimmt. Er bezeichnet mit ihm auch hier die Tora, denn sie ist es, die Israel von den Heiden unterscheidet.
Allerdings verwendet Paulus zur Erläuterung dieses Unterschieds eine „Formulierung, deren Sinn sich erst auf den zweiten Blick erschließt“. Es ist nämlich nicht einfach die „Gerechtigkeit“, der Israel nachjagt, „sondern – so wörtlich – ‚das Gesetz der Gerechtigkeit‘ (Israēl de diōkōn nomon dikaiosynēs).“ Diese „Stilfigur“ der altgriechischen Grammatik <291>, die von „Bullinger ‚Antiptosis‘ (‚Kasusvertauschung‘)“ genannt wird“, wird von Winer/Lünemann folgendermaßen erläutert (Anm. 17):
„Der Begriff, welcher durch ein Adjectiv als Beiwort bezeichnet werden sollte, (wird) zuweilen nicht durch ein solches, sondern mit veränderter Construction durch ein Substantiv ausgedrückt“. Dies geschehe „so, dass das Substantiv, welches Hauptwort ist, im Genitiv steht“.
Zwei weitere biblische Beispiele dieser „Stilfigur“ finden sich (M98) in Jesaja 8,14LXX, einem Text, den Paulus in Vers 33 zitieren wird, nämlich die Wendungen lithou proskommati und petras ptōmati {Stein des Anstoßens bzw. Fels des Zu-Fall-Kommens}, die wörtlich mit „Stolpern des Steins“ bzw. „Fall eines Felsens“ zu übersetzen wären.
Entsprechend kann man „das Begriffspaar“ nomon dikaiosynēs {wörtlich: Gesetz bzw. Tora der Gerechtigkeit} in Römer 9,31 nach Wolter
ungefähr mit „gesetzliche Gerechtigkeit“ oder „Gesetzesgerechtigkeit“ wiedergeben. „Gesetz“ bezeichnet die Eigenart der Gerechtigkeit, der Israel nachjagt. Nach Winer/Lünemann ist „diese Fügung … nicht willkürlich, sondern bezweckt eine stärkere Hervorhebung der Hauptvorstellung, welche im Adjectiv ausgedrückt mehr in den Hintergrund treten würde. Es ist dies also rhetorischer, nicht grammatischer Art.“
Mit dieser „Formulierung“ hebt Paulus hevor, „dass der Unterschied zwischen Israel und den Völkern durch das Gesetz markiert wird“, denn im
Unterschied zu den Völkern, die „der Gerechtigkeit nicht nachjagen“ (V. 30), hat Israel das Gesetz und kann darum der Gerechtigkeit nachjagen. Eine theologische Kritik an Israels diōkein nomon dikaiosynēs {Nachjagen der durch die Tora bestimmten Gerechtigkeit} als solchem deutet Paulus damit nicht einmal zwischen den Zeilen an. Er beschränkt sich vielmehr auf die Feststellung des Unterschieds zwischen Israel und den Völkern.
Der Ausdruck (M97f.) eis nomon ouk ephthasen {hat das Gesetz nicht erreicht} „am Schluss des Verses“ wiederholt nur das Wort nomon {Gesetz} und (M98) lässt „den Genitiv dikaiosynēs {der Gerechtigkeit} weg…, um eine stilistisch unschöne Doppelung zu vermeiden“. Damit bringt Paulus (M98f.)
zum Ausdruck …, dass „Israels“ Bemühen erfolglos war und es nicht erreicht hat, wohin die Tora es bringen wollte. Paulus wird dasselbe in Röm 11,7b-c noch einmal sagen: „Was Israel erstrebt hat, das hat es nicht erreicht“. Wichtig ist darüber hinaus, dass Paulus hier wie dort mit dem negierten Hauptsatz am Ende des Verses über die nichtchristlichen Juden spricht. Ihr Streben nach Gerechtigkeit auf der Grundlage der Tora ist erfolglos geblieben, weil es auf die Verkündigung des Evangeliums nicht mit Glauben reagiert hat.
Die knappe Frage (M99) dia ti? {Warum?} in Vers 32a „bezieht sich auf ouk ephthasen am Ende von V. 31“, nämlich „die Behauptung, dass die nichtchristliche Mehrheit Israels das Gesetz ‚nicht erreicht hat‘.“ In der „Begründung (V. 32b)“: hoti ouk ek pisteōs all‘ hōs ex ergōn {Weil nicht aus Glauben, sondern als ob aus Werken} lässt Paulus „zweifach“ zuvor genannte Bezugsworte aus, so dass Wolter in seiner Übersetzung folgende Ergänzungen vornimmt (M95): „Weil (es der Gesetzesgerechtigkeit) nicht aus Glauben (nachjagte), sondern als ob (das Gesetz) aus Werken (erreichbar wäre).“ Mit hōs {als ob} wird dabei „nicht nur die subjektive Überzeugung“ ausgedrückt, „sondern … auch gleichzeitig für unzutreffend“ erklärt.
Ausdrücklich hebt Wolter hervor, dass Paulus also nicht schon „das Streben nach Gerechtigkeit auf der Grundlage der Tora… als solches für sein Scheitern verantwortlich“ macht, „sondern dass die nichtchristliche Mehrheit Israels dieses Streben in der falschen Weise praktiziert hat: ‚aus Werken‘ und nicht ‚aus Glauben‘.“ Die Ursache für diese Zielverfehlung ist also nicht, „dass ‚Israel‘ schon immer mit dem Gesetz falsch umgegangen sei, weil es der Meinung gewesen wäre, sich durch seine Erfüllung bei Gott Gerechtigkeit zu verdienen“, was z.B. Käsemann <292> annimmt, demzufolge „Israel … das Gesetz Gottes ‚mißverstanden und zum Leistungsruf gemacht‘“ habe, sondern es ist die Verweigerung der „Zustimmung“ zum „Evangelium von Jesus Christus“.
Für Gerhard Jankowski (J221) leitet die Frage in Römer 9,30a: „Was sollen wir nun sagen?“ auch hier „so etwas wie ein Zwischenfazit ein“, aber anders als sonst folgt hier keine weitere Frage, sondern eine „betonte“ Aussage, die „zumindest aufhorchen“ lässt. Besonders an dieser Stelle ist zunächst, dass Paulus „die übliche Reihenfolge“ umkehrt (J221f.):
Die Gojim, nicht die Juden, wie sonst in diesem Schreiben, kommen zuerst zu stehen. Und von ihnen sagt er nun, daß sie Bewährtheit erlangt haben. Er verwendet dabei Worte, die wir von Jesaja kennen. So heißt es in Jes 51,1f.:
1 Hört auf mich,
die ihr der Wahrhaftigkeit (zedek/dikaion) nachjagt,
die ihr den Ewigen sucht,
blickt auf den Fels,
daraus ihr wurdet gehauen,
auf die Brunnenhöhlung,
daraus ihr wurdet erbohrt,
2 blickt auf Abraham, euren Vater,
auf Sara, die mit euch kreißte!Der Prophet aber meint nun gerade nicht die Gojim, sondern die Söhne und Töchter Abrahams, die Juden. Und deren Aufgabe ist es, der Wahrhaftigkeit nachzujagen. Dazu ist ihnen die Thora gegeben. Tun sie die, bewähren sie sich, so daß schließlich zu ihnen gesagt werden kann: bewährt seid ihr, wahrhaftige Menschen seid ihr. Das haben wir nun schon zur Genüge gehört.
Hier zitiert Jankowski dieselbe Jesaja-Stelle wie Wolter als Hintergrund von Römer 9,30b, und ebenso wie dieser hebt auch er hervor (J222), dass „Gojim … nicht der Wahrhaftigkeit nachjagen“ können, „denn sie haben die Thora nicht.“ Aber „[d]ennoch haben sie, ohne ihr nachzujagen, die Bewährtheit bekommen.“ Kürzer kann man die Botschaft nicht zusammenfassen, die Paulus im Auftrag des Messias verkündigt und die er in den ersten acht Römerbriefkapiteln ausführlich begründet hat:
Und haben sie was dafür getan? Sie haben nichts dazu getan. Sie haben vertraut. Deswegen wurde zu ihnen gesagt: bewährt seid ihr, ihr seid wahrhaftige Menschen. Wie es schon bei Abraham hieß: „Er vertraute dem EWIGEN, das achtete er ihm als Bewährung“ (Gen 15,6; Röm 4,3). Auch das haben wir schon gehört.
Was wir bisher noch „[n]icht gehört haben …, wenigstens nicht der Schärfe“, folgt im „nächsten Satz“:
„Israel aber, hinter der Thora der Bewährtheit herjagend, ist zur Thora nicht gelangt“ (9,31). Ganz betont sagt Paulus hier Israel und nicht Juden. Es geht ihm eben um Israel. Und, damit wir nicht in die falsche Richtung denken, müssen wir noch einmal wiederholen: Es geht um Israel, dem die Thora gegeben wurde, damit es sie im Tun bewährt und so wahr wird.
Obwohl Jankowski nicht wie Wolter auf die im Ausdruck nomon dikaiosynēs verwendete Stilfigur der Kasusvertauschung eingeht, läuft seine Übersetzung „Thora der Bewährtheit“ in ihren Grundzügen auch darauf hinaus, dass Israel einer durch die Tora bestimmten Gerechtigkeit oder Bewährtheit nachzujagen hat. Im zweiten Teil des Satzes eis nomon ouk ephthasen {ist zur Thora nicht gelangt} besteht Jankowski jedoch darauf, zu diesem zweiten nomon auf keinen Fall ein weiteres dikaiosynēs zu ergänzen:
Paulus sagt nun gerade nicht: Israel ist nicht zur Bewährtheit gelangt. So wollten es schon einige Handschriften gerne lesen und haben so auch eis nomon dikaiosynēs ergänzt. Aber es steht ja noch aus, ob nicht das Tun der Thora schließlich doch zur Bewährtheit führt. Paulus formuliert genauer und deswegen auch schärfer: Israel ist nicht zur Thora gelangt.
Zum in der Bibel seltenen Verb phthanein erläutert Jankowski, dass es ursprünglich „zuvorkommen, früher kommen, voraus sein“ bedeutet, aber (J223) „mit der Präposition eis“ meint es: „etwas oder jemanden erreichen, einholen, herankommen“, wobei die „Präposition … das Ziel an[zeigt], das erreicht werden soll. In diesem Sinn verwendet Paulus das Verb auch an unserer Stelle.“
Um zu beantworten, inwiefern „Israel … seine Aufgabe verfehlt“ hat, „nicht an die Thora herangekommen“ ist, „sie nicht erreicht, eingeholt“ hat, greift er auf Einschätzungen zurück, die er bereits in seiner Auslegung von Auslegung von Römer 7,23 geäußert hat und die erheblich von Wolters Auffassung abweichen (M97), dass die pistis, um die es Paulus geht, einen vor allem religiös zu verstehenden „Christus-Glauben“ meint, „der im Christusgeschehen das Handeln Gottes zum Heil der Menschen erkennt“. Nach Jankowski ist die pistis Christou ein Vertrauen auf den Messias Jesus mit politischen Folgen, das die Versöhnung der Völker mit Israel und die Überwindung der weltweit herrschenden Gewaltordnung mit sich bringt, während es unter den Bedingungen dieser neuen ägyptischen Versklavung unter Rom unmöglich ist, getrennt von den Völkern nach den Geboten der Tora zu leben:
Die Thora ist immer Israel voraus. Israel aber hat darauf beharrt, Thora zu haben. Damit hat es nicht adäquat auf die Thora reagiert. Das ist natürlich scharfe Kritik von einem aus Israel an Israel. Aber der spricht aus Erfahrung, wie wir es von ihm im siebten Kapitel gehört hatten. Da mußte das Fazit gezogen werden, daß unter den gegebenen Umständen Thora nicht getan werden kann. Und um das Tun bzw. Nichttun wird es auch vor allem im Folgenden gehen. Wie aber kann dann überhaupt noch jemand wahrer Mensch werden und sein? Die Antwort des Paulus ist: durch Vertrauen. Denn Vertrauen ist ohne Vorbedingungen, steht so auch vor dem Tun und dann auch vor der Thora. Daß aus dem Vertrauen Tun erwachsen kann und wohl auch muß, das ist vorausgesetzt. Mit Vertrauen fing Israel in Abraham an, lange vor der Gabe der Thora an Israel. Bei diesem Vertrauen ohne Vorbedingungen setzt Paulus an und kann so Israel kritisieren, das sich nur auf das Tun zu berufen scheint.
↑ Römer 9,32c-33: Wer nicht vertraut, kommt zu Fall am Stein des Anstoßens
9,32c Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes,
9,33 wie geschrieben steht (Jesaja 8,14; 28,16):
„Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes
und einen Fels des Ärgernisses;
und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.“
[31. Juli 2025] Die Formulierung prosekopsan tō lithō tou proskommatos {sie sind an den Stein des Anstoßens gestoßen, über den Stolperstein gestolpert} in Römer 9,30c (M100) hat Paulus „unter Rückgriff auf den Wortlaut des Schriftzitats gestaltet, das er in V. 33 bringt“. Auf diese Weise erklärt er (M99f.)
das Scheitern der nichtchristlichen Juden mit Hilfe einer Metapher, die das Bild eines Läufers zeichnet, der auf ein Ziel ‚zujagt‘ (diōkein) und über einen im Weg liegenden Stein stolpert, so dass er sein Ziel nicht erreicht (ou phtanein). Möglicherweise spielt Paulus hier mit der Doppelbedeutung des Prädikats, denn proskoptein + Dativ kann in übertragenem Sinne auch „an etwas Anstoß nehmen“ bedeuten.
In Vers 33 (M100) kombiniert Paulus zwei Zitate aus Jesaja 8,14 und 28,16, indem er aus dem letzteren
den Ausdruck lithon polytelē eklekton akrogōniaion entimon {einen Stein, einen wertvollen, auserwählten, an der Ecke befindlichen, kostbaren} … durch die Jes 8,14 entnommene Formulierung lithon proskommatos kai petran skandalou {Stein des Anstoßens und Felsen der Falle} ersetzt. Was diese beiden Texte miteinander gemeinsam haben, ist nur das Wort lithos {Stein}.
Was Paulus aus Jesaja 28,16 übernimmt, „steht … am Anfang dem Wortlaut des hebräischen Grundtextes näher (hinɘnij jissad bɘzijjon ˀaben … [‚siehe ich, ich habe eingesenkt in Zion einen Stein …‘]), der in der Septuaginta sehr frei wiedergegeben ist“, während „der Schluss weitgehend dem Wortlaut der Septuaginta“ entspricht: kai ho pisteuōn ep‘ autō ou mē kataischynthē {und wer sich auf ihn verlässt, wird sicher nicht zuschanden}.
Die Worte lithon proskommatos kai petran skandalou {Stein des Anstoßens und Felsen der Falle} stehen wiederum dem „hebräischen Text von Jes 8,14-15“ näher, in dem es heißt:
„Er (sc. Gott) wird zum Heiligtum werden und zum Stein des Anstoßens und zu einem Fels des Hindernisses“ (wɘhajah lɘmiqdasch ulɘˀeven negef ulɘzur mikhschol) für die beiden Häuser Israels, zu einer Falle und zu einer Schlinge für die Bewohner Jerusalems. Und viele werden über sie straucheln (hebr.: khaschlu; LXX: adynatēsousin), fallen und zerbrechen und sich verstricken und verfangen“.
Weiter gehe ich nicht auf Wolters ausführliche Herkunftsanalyse der beiden Zitate ein, außer dass er (M102) als „sicher“ annimmt, „dass Paulus es war, der die beiden Zitate so ineinandergeschrieben hat, wie sie in Röm 9,33 begegnen.“ Insbesondere wird aus „zwei verschiedenen Steinen“, von denen in Jesaja 8,14 und 28,16 die Rede ist, „bei Paulus ein einziger Stein …, den Gott selbst hingelegt hat“, so dass „das erste kai im Zitat nur explikativ {erklärend: nämlich} gemeint sein“ kann:
Dieser eine Stein entfaltet nun aber Wirkungen, die in zwei gegensätzliche Richtungen gehen: Die Begegnung mit ihm kann sowohl zu Fall bringen als auch zum Heil führen. Sie kann sowohl Heilsverlust nach sich ziehen als auch Heilsgewinn. In dieser gegensätzlichen Wirkung spiegelt sich noch die Unterschiedlichkeit der beiden Steine von Jes 8,14 und 28,16.
Für die Heilsbedeutung (Anm. 40) „von ou kataischynesthai {nicht zuschanden werden}“ verweist Wolter auf „PsLXX 24,3; 33,6; Joel 2,26.27; Sir 15,4; Röm 5,5“. Im Blick auf den Unterschied der Begegnung mit dem einen Stein ist ihm zufolge (Anm. 41) „das zweite kai im Zitat adversativ {entgegensetzend: doch} zu interpretieren“.
So macht Paulus „aus den beiden Metaphern eine allegorische Chiffre“, die er (M102f.)
als Abbildung der Christusverkündigung und ihrer gegensätzlichen Folgen konzipiert: Der Stein steht für Jesus Christus, den das Evangelium als Manifestation von Gottes Heil für alle Menschen verkündigt. Ob die Begegnung mit ihm zu Heilsgewinn oder zu Heilsverlust führt, hängt davon ab, ob man dem Evangelium zustimmt oder nicht, d.h. ob man „glaubt“, dass sich in Jesus von Nazareth das Heil Gottes für alle Menschen offenbart, oder ob man das nicht tut. Paulus macht damit als Ursache für den Heilsverlust des nichtchristlichen Israel dessen Zurückweisung der Christusverkündigung verantwortlich.
Gerhard Jankowski (J223) bezeichnet die Art und Weise, wie Paulus seine Kritik an Israel „mit einem Zitat aus der Schrift“ begründet, in diesem Fall als eine „geradezu gewagte Lesart“:
In dem Zitat geht es um einen Stein, einen Fels. An einem Stein kann man sich stoßen, so daß man ins Stolpern kommt. Der Stein wird zur Falle. Ein Stein, erst recht ein Fels, kann aber auch das Bild für etwas sein, was unerschütterlich fest da steht und auf das man ebenso unerschütterlich sein Vertrauen setzen kann. Anstoßen und vertrauen, um diese beiden Worte herum ist das Zitat gebaut.
Ausführlich zitiert Jankowski die beiden Texte, in denen „der Prophet Jesaja“ dieselben „beiden Bilder“ verwendet wie Paulus, nämlich „[a]n einen Stein stoßen und auf einen Fels vertrauen“, nur eben an verschiedenen Stellen (J223f.):
So heißt es in Jes 8,13ff.:
13 Den EWIGEN den Umscharten, den heiligt,
er sei, was euch fürchten macht,
er, was euch erschauern macht.
14 Er wird zum Heiligtum werden –
aber zum Stein des Anstoßens,
zum Fels des Fallens
für beide Häuser lsraels,
zum Klappnetz und zum Schnepper
für den Einwohner Jerusalems,
15 straucheln werden unter ihnen viele.
fallen, zerschellen
geschnappt, gefangen werden.Das Anstößige, die Falle (skandalon) ist hier für Israel der Gott Israels selbst. Zu bedenken ist, daß diese Sätze in einer ganz konkreten politischen Situation Israels gesagt worden sind. Die beiden „Häuser Israels“, also die Herrschenden, sollen ins Straucheln gebracht werden, Gott selbst stellt ihnen eine Falle, damit Israel umkehrt. Für den Propheten gilt aber auch das (Jes 28,16):
Darum
hat der Ewige, mein Herr, so gesprochen:
Wohlan,
ich gründe in Zion einen Stein,
Stein der Erprobtheit,
köstlichen Echtblock gründiger Gründung,
wer vertraut, wird nichts beschleunigen wollen. <293>Auch das sind Worte für eine konkrete politische Situation. Denen, die in Israel und mit Israel Großmachtpolitik betreiben wollen, wird entgegengehalten, daß politische Entscheidungen und Einsichten aus dem Vertrauen heraus gewonnen werden.
Wer (J224) in Jesaja 28,16 „mit dem Stein in Zion gemeint ist“, bleibt unklar, aber schon der „Targum“, also eine aramäische Übersetzung, „deutet ihn auf einen König“, und von
da aus könnte der Stein auf den Messias gedeutet worden sein, wie es auch bSanh {der Traktat Sanhedrin des babylonischen Talmud} 38a mit Berufung auf Jes 28,16 macht. Vielleicht hat auch schon die LXX mit ihrem Zusatz auf ihn, ep‘ autō, eine messianische Deutung im Sinn. Für Paulus scheint die Sache klar zu sein: der Stein in Zion, das ist der Messias. Das wird in Röm 10,11 deutlich, wo er den letzten Satz aus dem Zitat Jes 28,16 noch einmal wiederholt und ihn auf den Messias deutet.
Indem also „Paulus … beide Stellen aus Jesaja“ vermischt, gibt er zu erkennen, dass für „ihn … der Stein beides“ ist: „anstößig und Grund des Vertrauens zugleich“. Indem Paulus damit „in seiner Auslegung ganz Jesaja“ folgt, „der das Bild ähnlich gebraucht hat“, erinnert er daran, dass „Israel … mehr als einmal in seiner Geschichte ins Fallen gekommen“ ist:
Es ist also nichts Sensationelles, wenn da einer feststellt, daß auch jetzt, zu seiner Zeit, sie, d.h. Israel, an den „Stein des Anstoßens“ stießen. Aber sie sind immer wieder aufgehoben worden oder aufgestanden und sind ihren Weg gegangen. Und haben vertraut, sich gesichert an dem Fels Israels.
Dieser „Fels“ hat aber nun „eine aktualisierte Deutung erfahren“, denn (J224f.)
[f]ür Paulus und andere ist der Fels, der in Zion gelegt wurde, der Messias, erkannt in dem Rabbi Jesus. Das ist durchaus anstößig und könnte als Falle für Israel verstanden werden. Dennoch: wer auf ihn vertraut, wird nicht beschämt werden. Die also auf den „anstößigen“ Messias vertrauen, die brauchen sich nicht zu schämen, daß sie zunächst ins Straucheln kamen. Sie können aufrecht gehen mit ihrem Vertrauen.
Diese auf den Messias Jesus Vertrauenden sind in Israel jedoch eine Minderheit (J225), während die „meisten aus Israel … das höchst anstößig“ fanden und „darin wohl auch eine Falle für Israel“ sahen. Dass sie „ihre guten Gründe dafür“ hatten, wird auch Paulus gesehen haben, denn er
geht nicht leichtfertig darüber hinweg. Er stellt fest, daß sie Anstoß genommen haben. Das wird aber nicht verurteilt. Im Gegenteil: er wirbt um das Vertrauen all derer, die angestoßen sind. So schon hatte es Jesaja gemacht, der das Ziel des Anstoßens und Fallens in der Umkehr sah.
Auch wenn Paulus „die Worte des Jesaja über den Stein und den Fels“ stark verändert und manches weglässt, hebt Jankowski doch eine wichtige Einzelheit hervor, denn
ein Wort streicht er nicht: Zion. Und Zion ist immer auch Chiffre für das Zentrum der Hoffnungen Israels. Jesaja hofft, daß die Zeit kommen wird, in der die Gojim zusammen mit Israel zum Zion ziehen werden, um dort dem befreienden Gott zu dienen. Anstoßen und Vertrauen hat hier seinen Grund, in diesem Zentrum. Der Anstoß kommt nicht von außen. Das Vertrauen ist nichts Fremdes. Beides gehört zum Kern Israels. Und Israel wußte, daß es zwar hinfallen konnte, ihm aber auch die Möglichkeit zum Aufstehen und zur Umkehr gegeben war. Auch das hat mehr als genug mit Vertrauen zu tun.
↑ Römer 10,1-3: Paulus fleht um Befreiung für Juden, die für Gott eifern ohne Erkenntnis, wie Gott wahr macht, und auf ihre eigenständige Bewährtheit pochen
10,1 Brüder und Schwestern,
meines Herzens Wunsch ist
und ich flehe auch zu Gott für sie,
dass sie gerettet werden.
10,2 Denn ich bezeuge ihnen,
dass sie Eifer für Gott haben,
aber ohne Einsicht.
10,3 Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt,
und suchen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten,
und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.
[1. August 2025] Wen redet Paulus mit der Anrede adelphoi {Brüder, Geschwister} in Römer 10,1 an? Michael Wolter zufolge (M103) „schließt Paulus sich“ auf diese Weise „mit seinen Adressaten zusammen“, die er ja durchgehend als Heidenchristen identifiziert, und hier würde ihm darin auch Jankowski zustimmen, der ja davon ausgeht, dass Paulus sich in den Kapiteln 9-11 vor allem an Menschen aus den Völkern wendet, um bei ihnen ein Wort auch für diejenigen Juden einzulegen, die bisher nicht auf den Messias Jesus vertrauen. Nach Wolter stellt Paulus dieser
Gemeinschaft der christlichen Wir … das nichtchristliche Israel als „sie“ gegenüber. Diese Konstellation bildet den Unterschied ab, den er in 9,32c-33 beschrieben hatte: Paulus und die Adressaten werden dadurch zu „Brüdern“, dass sie ‚an den Stein des Anstoßens‘ „glauben“ (9,33c zit.; Jes 28,16), während die „Sie“ an ihm Anstoß nahmen und sich darum an ihm stießen. Es ist ihre „Rettung“ aus dem in 9,32c-33 festgestellten Heilsverlust, von der Paulus sagt, dass er sie herbeisehnt und um sie bittet.
Auch Letztere hatte Paulus als „Brüder“ bezeichnet, aber (Anm. 45) weil er „sich durch den Glauben ‚an den Stein‘ von den nichtchristlichen Juden geschieden weiß, nennt er sie in Röm 9,3 einschränkend ‚Brüder … kata sarka {nach dem Fleisch}‘.“
Das Wort eudokia (M103) gibt in der Septuaginta oft das hebräische Wort razon wieder und „bezeichnet nicht lediglich einen ‚Wunsch‘, den Paulus neben anderen im Herzen trägt, sondern das, worauf sein Herz als ganzes aus ist, woran es ‚Wohlgefallen‘ hat“.
„Wunsch und Bitte“ des Paulus richten sich eis sōtērian {auf Rettung, Befreiung}, was nach Wolter bedeutungsgleich ist mit ou kataischynthēsetai {nicht zuschanden werden} in Vers 9,33c, also
auf die Einbeziehung Israels in die Heilsgemeinschaft mit den bereits jetzt an den Stein glaubenden Juden und Heiden. Dieselbe Verknüpfung von pisteuein {glauben} und eis sōtērian {zur Rettung} begegnet auch in Röm 1,16 (s. auch 10,10).
Offen bleibt bei Wolter hier wieder die Frage, ob sōtēria sich auf die religiös verstandene Rettung vor einem Heilsverlust beziehen soll, der in ewiger Verdammnis nach dem Tod besteht, oder auf eine Befreiung, die das Zusammenleben von Menschen auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes in der kommenden Weltzeit ins Auge fasst, worauf ich in der Auslegung von Römer 1,16: Das Evangelium als Macht Gottes zur Befreiung für Juden und Griechen bereits ausführlich eingegangen bin.
Anders als andere Exegeten <294> geht Wolter aber nicht davon aus, dass Paulus hier
in der Rolle des aus dem Alten Testament bekannten Mittlers auf[tritt], der bei Gott Fürbitte einlegt, denn er redet ja nicht Gott an, sondern seine Adressaten. Ihnen will er mit seiner Selbstauskunft zur Kenntnis geben, dass er nicht nur die augenblickliche Heilsferne der nichtchristlichen Mehrheit Israels beklagt, sondern dass er sie auch für revidierbar hält.
Entsprechendes gilt für Vers 2, denn auch hier ist (M103f.)
nicht Gott der Empfänger des Zeugnisses, das Paulus zugunsten Israels ablegt, sondern die intendierte Leserschaft des Römerbriefes. Paulus erklärt ihr, warum er Israels gegenwärtige Heilsferne bedauert und was es ihm möglich macht, vor Gott für sein Volk einzutreten: Er kann ihm bescheinigen, dass es sich ernsthaft und aufrichtig darum bemüht, seiner Erwählung zu Gottes Eigentumsvolk gerecht zu werden.
Indem Paulus in Vers 2b (M104) „dieses Bemühen zēlon theou echein {Eifer für Gott haben}“ nennt, „charakterisiert“ er „die Existenzorientierung, die er in 9,31 diōkein nomon dikaiosynēs {der Gesetzesgerechtigkeit Nachjagen} genannt hatte“, ohne sie zu kritisieren, nun in positiver Weise und wirft es „zugunsten Israels in die Waagschale.“ Dabei ist der Genitiv theou im „Ausdruck zēlos theou“ als ein „genitivus objectivus“ zu verstehen, also als Eifer für Gott und nicht wie beispielsweise (Anm. 51) in 2. Korinther 11,2 im Sinne eines „genitivus qualitatis, der in hebraisierender Weise ein Adjektiv ersetzt (‚mit göttlichem Eifer‘…)“, wozu Wolter auf 4. Mose (Numeri) 25,11 verweist: „Pinchas hat Gottes Zorn über Israel beendet, en tō zēlōsai mou ton zēlon ‚indem er unter ihnen meinen Eifer eiferte‘ (hebr.: bɘqanˀo ˀeth-qinˀathi).“ Von eben diesem Pinchas heißt es in 4. Mose 25,13 aber auch: „ezēlōsen tō theō autou (‚er eiferte für seinen Gott‘)“, ebenso von Elia (1. Könige 19,10.14) und Jehu (2. Könige 10,16), dass sie „eifern für den Herrn (tō kyriō)“, und Judith 9,4 „nennt die Brüder Dinas, die Rache für die Vergewaltigung ihrer Schwester nehmen, ‚die von dir (sc. Gott) geliebten Söhne, die den Eifer für dich eiferten (exēlōsan ton zēlon sou)‘.“ Wolter zufolge greift Paulus hier aber trotzdem „nicht auf diese Tradition der großen ‚Eiferer‘ zurück, die die Heiligkeit des Gottesvolkes gewaltsam verteidigt haben und in die er auch sein früheres Wirken als ‚Verfolger‘ einordnet (Gal 1,13; Phil 3,6; s. auch Apg 22,3-4)“, vielmehr findet das
Verständnis von zēlos theou {Eifer für Gott} in Röm 10,2 … seine engste Entsprechung vielmehr in einem Text wie TestAss 4,5 <295>, wo es von den „vor Gott Gerechten“ (dikaioi … para tō theō; 4,1) heißt: „Sie wandeln im Eifer für Gott (en zēlō theou), indem sie sich aller Dinge enthalten, die Gott, weil er (sie) hasst, durch die Gebote untersagt und dabei das Böse vom Guten unterscheidet“. Als „Eifer für Gott“ charakterisiert Paulus dementsprechend Israels Bemühen, seinem Erwählungsauftrag als Gottesvolk nachzukommen, indem es die Rechtsforderungen der Tora erfüllt.
Wenn dagegen (M105) Nichtjuden „vergleichbare Formulierungen“ verwenden, bezeichnet „zēlos + Gen. der Person“ jedoch immer etwas anderes, nämlich „das Bemühen, einer Person“ oder auch einem Gott „durch ‚Nachahmung‘ oder ‚Nacheiferung‘ ähnlich zu werden“.
In Vers 2c ruft Paulus nach der positiven Würdigung von Israels Eifer für Gott mit all‘ ou kat‘ epignōsin {jedoch ohne Erkenntnis} auch
die antithetische Beschreibung von Israels Irrtum in 9,32b (ouk ek pisteōs all‘ hōs ex ergōn {nicht aus Glauben, sondern als ob aus Werken}) wieder auf. Diese Antithese erklärt, worin das ‚Erkenntnis‘-Defizit besteht, das Israels „Eifer für Gott“ in die Irre gehen lässt: Ihm fehlt die „Erkenntnis“ des Glaubens, dass Gott im Christusgeschehen zum Heil aller Menschen gehandelt hat. Allein aus diesem Grunde hält Israel an der irrigen Meinung fest, die „Gesetzesgerechtigkeit“ käme „aus Werken“ und nicht „aus Glauben“ (9,31-32b). Mit ou kat‘ epignōsin {ohne Erkenntnis} in 10,2c bezeichnet Paulus darum das Fehlen des Christus-Glaubens auf Seiten Israels.
Damit widerspricht Wolter Exegeten wie Bultmann <296>, denen zufolge
Israels „Eifer für Gott … ohne Erkenntnis“ … für Paulus … sein ‚Befangen‘sein in dem „blinden Wahn“ [ist], „daß die Erfüllung des Gesetzes der Heilsweg sei“ und „daß der Mensch durch seine Leistung seine Geltung vor Gott gewinnen könne“ …
Für Wolter steht dagegen fest, dass Paulus „den epignōsis-Begriff“ hier „in einer Weise“ benutzt, „die auch sonst häufig belegt ist – als Bekehrungsbegriff“, wofür er „im frühen Judentum und im frühen Christentum eine Fülle von Beispielen“ anführt, und zwar
z.B. Weish 12,27: „Sie erkannten (epegnōsan) den als wahren Gott, den zu kennen sie vorher geleugnet haben“; 2Makk 9,11 über Antiochus IV.: „Er begann, das meiste des Hochmuts aufzugeben … und zur Erkenntnis zu kommen (eis epignōsin erchesthai)“; Jdt 9,14: Gott soll die epignōsis herbeiführen, dass er „Gott ist, der Gott aller Kraft und Macht“; TestNaph 4,3 <297>: „ihr werdet umkehren (epistrepsete) und den Herrn, euren Gott erkennen (epignōsesthe)“; 2Tim 2,25: „Umkehr zur epignosis der Wahrheit“; Hebr 10,26: Christen dürfen nicht „absichtlich“ sündigen meta to labein tēn epignōsin tēs alētheias {nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben}… Vgl. darüber hinaus Spr 2,5; Kol 2,2; 3,10; 1Tim 2,4; 2Tim 3,7; Tit 1,1; 2Petr 1,3; 2,20.
Allerdings (Anm. 56) gibt es auch Stellen wie Römer 1,28, wo „Paulus epignōsis … nicht … als Bekehrungsbegriff benutzt“, daher darf man „die beiden Texte … nicht miteinander verbinden.“
Indem Paulus in Vers 3a (M106) mit agnountes {sie erkennen nicht} die Formulierung ou kat‘ epignōsin {ohne Erkenntnis} aus 2c aufnimmt, führt er näher aus, worin das „Erkenntnisdefizit der nichtchristlichen Juden“ besteht, nämlich „in der Unkenntnis der ‚Gerechtigkeit Gottes‘.“ Damit greift Paulus auf einen Ausdruck zurück, den er bereits „in Röm 1,17; 3,21-22.26“ verwendet hat und der sich darauf bezieht, dass Gott
ton ek pisteōs Iēsou {den aus Glauben an Jesus} (3,26) bzw. pantas tous pisteuontas {alle, die glauben} (3,22) für gerecht erklärt. Auch in 10,3 wird die dikaiosynē theou also nicht zu einer Eigenschaft der von Gott Gerechtfertigten, die Paulus so nennte, weil sie den Glaubenden von Gott zugesprochen wird.
Während Paulus mit der Formulierung in Vers 10,3c ouch tē dikaiosynē theou hypetagēsan {sie haben sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen} „denselben Vorgang wie mit prosekopsan tō lithō tou proskommatos {sie haben sich am Stein des Anstoßens gestoßen}“ in Vers 9,32e beschreibt, schiebt er zwischen 3a und 3c in Vers 10,3b eine wesentliche Aussage darüber ein,
worum es der nichtchristlichen Mehrheit Israels seiner Meinung nach stattdessen ging und was dazu geführt hat, dass sie im Evangelium nicht die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes erkannt hat. Für das Verständnis der paulinischen Darstellung ist wichtig, dass tēn idian (dikaiosynēn) stēsai {an der eigenen (Gerechtigkeit) festhalten} hier analog zu nomon histanomen {wir halten am Gesetz fest} in Röm 3,31c wiederzugeben ist <298>. Die verbreitete Übersetzung durch ‚aufrichten‘ ist demgegenüber unsachgemäß, denn Paulus will hier nicht behaupten, dass das nichtchristliche Israel die ‚eigene Gerechtigkeit‘ durch die Erfüllung des Gesetzes sich selbst beschaffen will <299>. stēsai ist hier vielmehr wie in zu 3,31c mit „festhalten an“ oder „bewahren“ oder „aufrechterhalten“ wiederzugeben. <300>
Das heißt, nach Wolter hat „das nichtchristlich gebliebene Israel“ die Absicht (M107),
seine Sonderstellung zu bewahren, die es gegenüber den Völkern einnimmt. Die „eigene Gerechtigkeit“ steht hier darum nicht für die selbstgemachte Gerechtigkeit, die ‚Selbstrechtfertigung‘, sondern bezeichnet die Gerechtigkeit, die Israel ausschließlich für sich beansprucht, indem es sie aus seiner Erwählung zu Gottes Eigentumsvolk herleitet.
Wenig später wird Paulus in Römer 10,19 ein Zitat aus 5. Mose (Deuteronomium) 32,21 bringen: „ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk …“, in dem Wolter eine „inhaltliche Entsprechung“ und einen biblischen Hintergrund zu dem findet, was „Paulus hier mit ‚an der eigenen (Gerechtigkeit) festhalten‘ umschreibt“:
idia ist ein Possessivadjektiv {besitzanzeigendes Eigenschaftswort}, dem hier korporative Bedeutung zukommt: Es gibt die Gerechtigkeit als eine Gerechtigkeit aus, die nur Israel zukommt, weil sie in exklusiver Weise an die Darstellung der Erwählung durch die Erfüllung der Tora gebunden ist. Für Paulus steht diese „eigene (idia) Gerechtigkeit“ Israels insofern in einem Gegensatz zur „Gerechtigkeit Gottes“, als diese im Evangelium ausdrücklich zum Heil für „alle“ Menschen offenbar wird und nicht nur für Israel.
Es ist „[d]ieser Gegensatz“, der sofort „auch in V. 4“ ausgedrückt werden wird, „wenn Paulus die Gerechtigkeit als Heilsfolge des Christusgeschehens für ‚jeden (panti), der glaubt‘, identifiziert“, das heißt: „idia und panti stehen sich hier darum antithetisch gegenüber.“
[2. August 2025] Gerhard Jankowski (J224) betont am Ende seiner Auslegung des Römerbriefkapitels 9, dass „längst noch nicht alles gesagt“ ist, „was zu Israel gesagt werden muß.“ Erst im Kapitel 10 beginnt Paulus wirklich, „zur Sache“ zu reden, was für ihn bedeutet, dass die Frage beantwortet werden muss, warum das, „was in der messianischen Ekklesia praktiziert wird“, „für den größten Teil Israels … so anstößig“ ist, „daß es abgelehnt wird“. Hat etwa tatsächlich „Gott selbst sein Volk verstoßen“ und sich „ein anderes erwählt“? Das sind ja Fragen, die sicher schon damals „gestellt worden“ sind „von den Nichtjuden in der Ekklesia“, und Paulus will sie beantworten, „klar und deutlich, damit es nicht zu tödlichen Verdammungen kommt.“ Aber wie redet Paulus „zur Sache“ (J226)?
Zur Sache kann man nicht nüchtern reden. Was einen selbst angeht, kann man nicht einfach nüchtern abhandeln. Die Sache, um die es dem Paulus zunächst geht, ist eine Herzenssache. Eudokia tēs emēs kardias ist sie ihm. Eudokia, das ist Wohlgefallen, volle Zustimmung, Wunsch, Wollen, Lust, tief aus dem Herzen kommend, affektvoll und zunächst einmal gar nicht rational bestimmt. Wer sich vom Wunsch seines Herzens bestimmen läßt, der ist in voller Übereinstimmung mit dem, was er sich wünscht. Er möchte auch, daß es möglichst bald geschieht. Und deswegen tritt das Flehen, Bitten, deēsis, hier hinzu. Was möchte Paulus von Herzen und was erfleht er für seine jüdischen Brüder und Schwestern? Antwort: die Befreiung.
Jankowski versteht das von Paulus verwendete Wort „sōtēria, hebräisch teschuah“, eindeutig politisch, nämlich als
wirkliche Befreiung aus der Unterdrückung, Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens, die Israel erfuhr. Es ist Befreiung von der Herrschaft der Römer, die das jüdische Volk erhofft und für die die Widerstandsgruppen in Judäa zu kämpfen bereit sind. Wie sollte sie nicht tiefster Wunsch, Herzenssache auch des Paulus sein? Hier gibt er sich als Sympathisant der Widerstandsbewegung zu erkennen.
Anders als Wolter bezieht Jankowski auch den Ausdruck zēlos theou dementsprechend durchaus auf „diese Bewegung“, die er „nicht nur von außen“ kennt, „sondern auch von innen“, denn er selbst
gehörte einmal zu ihr, kann also gleichsam bezeugen, wie ernst es ihr mit der Befreiung ist. Die sich in ihr engagieren, haben Eifer Gottes, zēlos theou, d.h., sie eifern um die Sache Gottes. Dieser Eifer zeigt sich in Parolen wie dieser: Keine Herrschaft außer Herrschaft Gottes. Eiferer, kenˀeim, zēlōtēs, nannten sie sich oder wurden so wegen ihres Engagements für die Sache Gottes und Israels genannt. Zeloten nennen wir sie. Und wie wir aus Gal 1,14 erfahren, gehörte auch Paulus eine Zeitlang zu ihnen, war also Zelot gewesen.
Das ist aber für Paulus lange vorbei, da ihm durch seine „Hinwendung zum Messias Jesus“ die Augen dafür geöffnet wurden, wie die Befreiung Israels nur im Einklang mit der Befreiung der Völker geschehen kann. Seitdem
ist für ihn der Zelotismus in all seinen Schattierungen zum Gegner geworden, wie auf der anderen Seite die schärfsten Angriffe auf die messianische Ekklesia von seiten der zelotischen Gruppen kommen. Von daher könnte es durchaus möglich sein, daß die z.T. scharfe Polemik gegen die Juden im Römerbrief sich vor allem auf zelotische Kreise innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bezieht.
Von daher sind nach Jankowski die gegensätzlichen Formulierungen in Römer 10,1-3 zu begreifen (J226f.):
Wie sehr es die Herzenssache des Paulus ist, daß der Kampf um die Befreiung Israels vom Erfolg gekrönt ist, und wie sehr ihm der Zelotismus nach wie vor sympathisch ist, so sehr kann er ihn auch kritisieren. Sein Vorwurf ist: Sie haben Eifer Gottes, aber nicht gemäß Erkennen, denn sie verkennen die Bewährtheit Gottes, sie suchen die eigene aufzurichten und haben sich nicht der Bewährtheit Gottes unterstellt (10,3). Sie verkennen, daß Gott es ist, der zu einem sagt: Bewährt bist du und wahr. Dagegen wollen sie sich selber bewähren und so wahr werden. Selbstgerecht sehen sie nur auf die eigene Sache und verkennen, daß die ungerechten Verhältnisse nicht nur sie allein bedrücken, sondern ebenso Nichtjuden. Damit ist noch lange nichts gegen den Kampf um die Befreiung gesagt. Paulus kritisiert aber, daß bei diesem Kampf allein auf die eigene, jüdische Sache gesehen wird.
Hier sind trotz aller Unterschiede, die sich auf religiöse oder politische Hintergründe des paulinischen Wirkens beziehen, in den Auslegungen von Wolter und Jankowski doch Überschneidungen zu erkennen, indem beide tēn idian dikaiosynēn, die eigene Gerechtigkeit oder Bewährtheit, nicht von einer christlichen Rechtfertigungslehre her als jüdische Werkgerechtigkeit interpretieren, sondern auf das Bestreben Israels (W107), „seine Sonderstellung zu bewahren, die es gegenüber den Völkern einnimmt“, beziehen. Indem Jankowski (J227) histēmi wie in Römer 3,31 mit aufrichten statt mit festhalten an übersetzt, bleibt er sogar noch ein wenig stärker der traditionellen Auslegung verbunden als Wolter, indem er davon spricht, dass die Zeloten „[s]elbstgerecht“ statt der „Bewährtheit Gottes… die eigene aufzurichten“ suchen.
Jankowski beendet seine Auslegung von Römer 10,1-3 mit einem Blick in zwei zeitliche Richtungen, zunächst in die Zukunft. Dass ein gewaltsamer Kampf für die jüdische Sache gegen die Römer eine „illusionäre Politik“ darstellt, wird „sich einige Jahre später zeigen“, im Judäischen Krieg, der mit der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und des Tempels enden wird. Paulus hat dagegen eingesehen: „Wenn es … um Befreiung gehen soll, dann kann das nur eine Befreiung für Juden und auch Nichtjuden sein.“
Einen Blick in die Vergangenheit verknüpft Jankowski mit dem „Kernsatz aus Jes 28“, aus dem Paulus in Römer 9,33 „ein Stück“ zitiert hat, und der „im Urtext [heißt]: ‚Der vertraut, wird nichts beschleunigen‘ (V. 16).“ An diese „Worte Jesajas in ähnlicher Situation“ erinnert das, was „Paulus hier sagt“:
Jesaja setzt in seiner Situation alles auf das unbedingte Vertrauen und gewinnt von daher den Maßstab für politische Einsicht und politisches Handeln. Er wendet sich gegen eine vorschnelle und unüberlegte Politik. Was sich bei Jesaja nur auf das kleine Juda und Jerusalem bezieht, hat sich bei Paulus natürlich ausgeweitet. Er hat nicht nur die kleine Provinz Judäa im Blick, ihm geht es um die Diaspora und damit um die bekannte Welt, in der Juden und Nichtjuden auf Befreiung hoffen. Er wird gleich, wie wir sehen werden, seine Kritik mit einer anderen Schriftstelle begründen. Und auch da wird ihm das Vertrauen überaus wichtig sein. Wer vertraut, unterstellt sich der Bewährtheit Gottes und sucht nicht nur seine eigene aufzurichten. Vertrauen können aber Juden und Nichtjuden gemeinsam. Daß das geschieht, das ist seine Herzenssache erst recht.
↑ Römer 10,4: Ziel der Tora ist der Messias zur Bewährtheit für jeden, der vertraut
10,4 Denn Christus ist des Gesetzes Ende,
zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.
[3. August 2025] Michael Wolter zufolge (M107) beendet Paulus mit Römer 10,4 den in 9,30 begonnenen Abschnitt „mit einer Feststellung zum Verhältnis von Tora und Christus“, durch die er „die in 9,31-33 vorgetragene Behauptung“ begründet,
dass Israel den nomos (dikaiosynēs) {Gesetzesgerechtigkeit} nicht erreicht hat, weil es am „Stein des Anstoßens“ angestoßen ist. Paulus erklärt hier also, warum Israel auf Grund seiner Ablehnung der Christusverkündigung die Gesetzesgerechtigkeit verfehlt hat. Freilich ist seit jeher umstritten, wie die Feststellung telos gar nomou Christos zu interpretieren ist.
Dabei stellen die Bestandteile dieses Satzes gar {denn}, nomou {des Gesetzes, der Tora} und Christos {Christus, Messias} kaum ein Problem dar, wohl aber auf der einen Seite die Bedeutung des Wortes telos und auf der anderen Seite (M111) die „Frage, was in dem Satz Subjekt und was Prädikatsnomen ist“, nämlich telos oder Christos.
Zum ersten Problem (M108), dem „Ausdruck telos nomou“, unterscheidet Wolter „[v]ier verschiedene Interpretationen“, nämlich erstens, dass „Christus … die Erfüllung oder Vollendung des Gesetzes“ ist, was als erste die Kirchenväter Tertullian, Origenes und Clemens v. Alexandrien vertraten. In der Reformationszeit schloss sich Erasmus „derselben Linie“ an, dass „telos … an dieser Stelle consummatio ac perfectio {Erfüllung und Vollendung}, nicht interitus {Untergang}“ bedeutet, was ihm zufolge „auch Augustin unter Verweis auf Ps 5 vertrete; 250,883-885), und sogar Martin Luther bemerkt
in einer Glosse zu Röm 10,4 (WA 56,99,5-6): ‚Finis‘ i.e. plenitudo et consummatio, impletio‚ enim legis Christus‘, non opera; q.d. lex sine Christo nihil est („… Fülle und Vollendung, die Erfüllung des Gesetzes ist nämlich Christus, nicht die Werke; d.h. das Gesetz ist ohne Christus nichts“; s. auch WA 57,89,8-10). In seinem Kommentar zum Römerbrief hatte er die paulinische Formulierung lediglich mit den dürren Worten omnia in Christum sonant („alles weist auf Christus hin“) erklärt (II, 194).
In die gleiche Richtung gehen auch Äußerungen anderer Reformatoren:
Philipp Melanchthon interpretiert telos nomou als consummatio sei impletio legis credenti („Vollendung und Erfüllung des Gesetzes für den Glaubenden“; 266,28), und in Johannes Calvins Kommentar heißt es: „Mir scheint an dieser Stelle das Wort ‚Ergänzung‘ (complementi) nicht schlecht zu passen, wie ja auch Erasmus ‚perfectionem‘ übersetzt“ (215,24-26).
Mit der ersten „eng verwandt“ ist zweitens die Deutung: „Christus ist das Ziel des Gesetzes“, da „dieselben Autoren… in Christus auch das ‚Ziel‘ des Gesetzes sehen“ können. Sie findet (M109) in „neuerer Zeit … eine wachsende Zahl von Befürwortern“, die „geltend“ machen, „dass die Interpretation dieses Satzes ausschließlich von seiner Funktion im Kontext von Röm 9,30 – 10,21 zu erfolgen hat.“
Dass drittens „Christus … das Ende des Gesetzes“ ist, wird
schon bei Severian v. Gabala belegt <301>: Christus sei „hōs telos tou nomou geworden, d.h. er hat es zum Aufhören gebracht (tout‘ esti pausas auton)“. In neuerer Zeit wird dieses Ende entweder darin gesehen, dass durch Christus „das Gesetz als Heilsweg aufgehoben“ sei <302>, oder darin, dass durch Christus die jeden Menschen anklagende und als Sünder überführende Wirkung der Tora beendet wurde. Für das Verständnis beider Varianten dieser Interpretation ist wichtig, dass sie ein ‚Ende des Gesetzes‘ nur für diejenigen postulieren, die aus dem Glauben an Christus leben, denn alle, die nicht glauben, halten das Gesetz auch weiterhin genauso für einen Heilsweg wie es für sie seine anklagende und überführende Funktion durchaus nicht verloren habe.
Man kann aber auch viertens „die drei vorgenannten Erklärungen nicht für einander ausschließende Gegensätze“ halten, sondern „sie miteinander“ verknüpfen:
In diesem Sinne stellt A. Tholuck <303> zwar zunächst fest: „So geht mit Christo die Periode des Gesetzes zu Ende“ (539), doch relativiert er diese Feststellung gleich darauf: Diese Bedeutung „(enthält) der Sache nach … auch die übrigen, denn das Ende ist auch das Ziel, und wenn nicht in Christo die Erfüllung des Gesetzes wäre …, so wäre er auch nicht das Ende des Gesetzes, er giebt demselben nur das Ende, indem er ihm die plērōsis {Fülle} giebt“ (540 mit Verweis auf Mt 5,17).
Im Zusammenhang „mit der Wettlaufmetaphorik, auf die Paulus bereits in 9,31-32 zurückgegriffen hatte“, nehmen andere Exegeten (M109f.) „vor allem ‚Ziel‘ und ‚Ende‘ zusammen …: ‚Wenn das Ziel (…) erreicht ist, ist der Wettlauf beendet‘.“ <304>
Inzwischen ist klar (M110), „dass die Frage der Übersetzung von telos nomou nicht über die lexikalische Bedeutung von telos entschieden werden kann“, da es für „jede Interpretation … Parallelen“ gibt. Daher geht es in Römer 10,4 weniger darum, „ob telos mit ‚Ziel‘ oder mit ‚Ende‘ zu übersetzen ist“, sondern „eher darum, was Paulus in den Vordergrund stellen will: die Kontinuität zwischen ‚Gesetz‘ und ‚Christus‘ oder die Diskontinuität.“ <305> Außerdem sind „die Gründe“ zu beachten (M110f.),
die zur Ablehnung der Christusverkündigung durch die nichtchristliche Mehrheit Israels geführt haben. – Wenn man diese Voraussetzungen beachtet, kann man vielleicht sagen: Paulus begründet in Röm 10,4 die in 9,30 – 10,3 formulierte These, dass das nichtchristlich gebliebene Israel in seinem Streben nach Gesetzesgerechtigkeit (V. 31) gescheitert ist, weil es den Charakter des Christusgeschehens als Manifestation von Gottes Gerechtigkeit nicht erkannt und damit nicht zum Christus-Glauben gefunden hat. Es hat nicht erkannt, dass das, was es im Gesetz gesucht hat – nämlich Gerechtigkeit –, in „Christus“ zu finden ist. Dementsprechend hätte es sein Ziel erreicht, wenn es der „Gesetzesgerechtigkeit“ (9,31) „aus Glauben“ (9,32) oder „mit Erkenntnis“ (10,2) „nachgejagt“ wäre (9,31) und nicht darauf beharrt hätte, das Gesetz durch „Werke“ (9,32) zu erfüllen, um seine Alleinstellung nicht zu verlieren.
Daraus leitet Wolter zwei Schlussfolgerungen ab (M111), nämlich einerseits, dass Christus im „Hinblick auf die Erwartung“, die Israel „der Tora entgegenbrachte, … in Kontinuität zum Gesetz“ steht, andererseits auf „einer anderen Ebene … ‚Christus‘ aber auch eine unüberbrückbare Diskontinuität“ markiert:
Sie betrifft die Art und Weise des Umgangs mit dem Gesetz: Das Christusgeschehen hat zur Folge, dass die Gerechtigkeit, die Gott den Menschen zueignet, nun – d.h. seit der Manifestation von Gottes Gerechtigkeit im Christusgeschehen – nicht mehr durch die Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes (also durch „Werke“) erreicht wird, sondern durch Glauben an den Heilscharakter des Christusgeschehens. Sie ist damit nicht mehr allein für Israel erreichbar, sondern „für jeden, der glaubt“. Für das Erreichen dieser Gerechtigkeit braucht man die Tora nicht, und in dieser Hinsicht markiert „Christus“ in der Tat auch das „Ende des Gesetzes“.
Über die zweite offene Frage zu dem Satz telos gar nomou Christos, „was in dem Satz Subjekt und was Prädikatsnomen ist“, wird noch nicht so lange gestritten. Bis „vor einigen Jahren“ wurde
in der Regel Christos als Subjekt genommen und telos nomou als Prädikatsnomen. Demgegenüber hat Ch. Burchard <306> den Vorschlag gemacht, die Determinationsrelation umzudrehen und telos nomou als Subjekt anzusehen und Christos als Prädikatsnomen. Semantisch {von der Bedeutung her} würde telos nomou {das Ziel des Gesetzes} in diesem Fall zum Gegenstandsbegriff (oder topic oder Thema), während Christos als Bestimmungsbegriff (oder comment oder Rhema) fungiert.
Entschieden werden kann die Frage nicht von der „Wortstellung“ her und auch nicht, weil der bestimmte Artikel bei telos fehlt, denn (Anm. 79) auch „artikellose“ Substantive wie martys {Zeuge} oder kephalē {Haupt} können bei Paulus „Subjekt“ sein, z.B. in „Phil 1,8 und Röm 1,9“ oder „1Kor 11,3c.d“. Gefragt werden muss vielmehr (M112):
Will Paulus hier telos nomou durch Christos näher bestimmen oder umgekehrt? Formuliert er hier eine Aussage über Christus oder eine Aussage über „die Tora in Hinsicht auf ihr telos“ [Burchard 255]? Beantwortet werden kann diese Frage nur von der Leseerwartung her, die durch die vorangegangenen Zeilen erzeugt wird: Erwarten die Leser hier eher eine Aussage über das Gesetz oder eher eine Information über Christus? So gefragt, ist es nach dem, was Paulus in 9,30 – 10,3 über das Scheitern von Israels nichtchristlicher Mehrheit am Gesetz geschrieben hat, sehr viel wahrscheinlicher, dass telos nomou Subjekt und Christos Prädikatsnomen ist.
Eine solche bedeutungsmäßige „Bewegung von telos nomou zu Christos“ verläuft zudem „parallel zu jener Bewegung …, die die paulinische Argumentation in 9,31-32 kennzeichnet und die von Israels Umgang mit dem Gesetz zu Christus als dem ‚Stein des Anstoßens‘ führt.“ So gesehen basiert nach Paulus
die Ablehnung des Christus-Glaubens durch die nichtchristliche Mehrheit Israels auf dem Missverständnis …, dass zwischen der Tora und dem Evangelium kein Zusammenhang besteht. Ihm gegenüber hebt er in 10,4 hervor, dass es eine solche Kontinuität durchaus gibt. Sie besteht darin, dass der Heilswille der Tora seine Erfüllung darin findet, dass man dem Evangelium von Jesus Christus glaubt. „Christus“ bezeichnet hier nicht eine Person, sondern ist wie auch sonst oft bei Paulus metonymische Umschreibung für das im Evangelium als Gottes Heilshandeln verkündigte Christusgeschehen.
Bestätigt wird „diese Deutung“ auch durch den Ausdruck eis dikaiosynēn panti tō pisteuonti {zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt}, der wie in Römer 1,16 „die Heilsfolge des Christusgeschehens kennzeichnet“, wobei Wolter zufolge „‚Glauben‘ … auch in Röm 10,4 den Christus-Glauben“ bezeichnet (M112f.),
der der Deutung zustimmt, die das Christusgeschehen im Evangelium findet. Wer das tut – sei er Jude oder Heide – bekommt von Gott bescheinigt, dass er sich ihm gegenüber „gemeinschaftsgerecht“ verhält. … Damit holt Paulus ganz zum Schluss auch die „Heiden“ von 9,30b-c wieder in seine Darstellung hinein, denn bei der Zueignung der „Gerechtigkeit aus Glauben“ macht Gott keinen Unterschied zwischen Israel und den Völkern. Darum heißt „jeder“ auch hier: nicht nur Juden, sondern auch Heiden. Dieser Schluss steht dem Anspruch der idia dikaiosynē {eigenen Gerechtigkeit} gegenüber, an dem die nichtchristliche Mehrheit Israels nach wie vor festhält und der sie daran hindert, der Deutung des Christusgeschehens durch das Evangelium zu glauben (10,3).
Zusammenfassend hebt Wolter (M113) zu Römer 9,30 – 10,4 hervor,
dass der Christus-Glaube für Paulus auch hier den Charakter einer notwendigen Bedingung für den Zugang zum Heil hat: Nicht nur wird jeder, der glaubt, gerechtfertigt, sondern auch nur derjenige, der glaubt. Was Paulus in diesem Zusammenhang unter „Glauben“ (pistis, pisteuein) versteht, geht aus 10,3-4 hervor: dass Gott es ist, der Israel diesen Stein in den Weg legt, bzw. dass die von ihm in 9,33b-c zitierte Schriftstelle vom Christusgeschehen spricht oder dass sich in diesem „Stein des Anstoßens“ die „Gerechtigkeit Gottes“ manifestiert, weil Gott „jedem, der glaubt“, diese Reaktion als Gerechtigkeit zurechnet. Diesen Sachverhalt hat die nichtchristliche Mehrheit Israels nicht erkannt (10,2c. 3a), und darum ist sie auf ihrem Weg zur Gerechtigkeit zu Fall gekommen. Was Paulus für Israels Fehler hält, ist darum in der Tat einzig und allein, „dass es kein Christentum ist“. <307>
Auch wenn dieser Gedankengang weitgehend nachvollziehbar ist, ist doch das abschließende Fazit befremdlich, weil es das paulinische Bekenntnis zu Jesus als dem Messias Israels einfach mit der Religion kurzzuschließen scheint, die wir im Gegenüber zum Judentum das „Christentum“ nennen. Dass sich Paulus von allen Juden das Bekenntnis zu Jesus und damit verbunden die Zustimmung zur Einbeziehung von Menschen aus den Völkern in ein messianisches Israel wünscht, hat wenig zu tun mit dem, was schon bald als heidenchristlich dominierte Kirche bzw. als neue Religion des Christentums in Gegnerschaft zum Judentum entstanden ist.
Immerhin wendet sich Wolter sehr deutlich gegen eine in seinen Augen falsche Paulusinterpretation, die viele Jahrhunderte lang die Auslegung von Römer 10,4 bestimmt hat (M113f.):
PauIus geht es in diesem Abschnitt nicht darum, ‚die Schuld Israels‘ aufzuweisen, indem er Israels angeblichen Missbrauch des Gesetzes zur Selbstrechtfertigung an den Pranger stellt. Er kritisiert vielmehr, dass die Begegnung mit dem Evangelium die nichtchristliche Mehrheit Israels nicht dazu veranlasst hat, nunmehr „aus Glauben“ (9,32b) mit der Tora umzugehen. Für Paulus ist ihr falscher Umgang mit dem Gesetz darum Bestandteil einer falschen Reaktion auf das, was er in 10,4 „Christus“ nennt: die Verkündigung des Christusgeschehens als eines Geschehens, in dem Gott zum Heil aller Menschen gehandelt hat. Weil die nichtchristliche Mehrheit Israels nicht erkannt hat, dass in dieser Verkündigung die Gerechtigkeit Gottes offenbar wird, hat sie auf dem Weg, der sie zur „Gesetzesgerechtigkeit“ führen sollte (V. 31), nicht auf Glauben umgeschaltet, sondern auf dem Weg der „Werke“ beharrt, um auf diese Weise ihre Alleinstellung gegenüber den Völkern (ihre idia dikaiosynē; 10,3b) aufrechtzuerhalten.
Gerhard Jankowski beklagt 21 Jahre vor Erscheinen des 2. Bandes von Wolters Römerbrief-Kommentar (J228):
Noch immer lesen die meisten christlichen Exegeten diese „Lieblingsstelle“ protestantischer Theologie so: Christus ist das Ende des Gesetzes. Das heißt dann, das „Gesetz“ ist überholt und erledigt und überholt und erledigt ist damit auch der jüdische Weg. Mit diesem Spitzensatz hat sich Paulus nicht nur vom jüdischen „Gesetz“, sondern vom Judentum überhaupt verabschiedet. An die Stelle der jüdischen „Gesetzesgerechtigkeit“ ist die christliche „Glaubensgerechtigkeit“ getreten. Damit liegt dann auch der Gegensatz zwischen Judentum und Christentum auf der Hand. <308>
Eine solche „Auslegung“ samt der „daraus gezogenen Konsequenzen“ sind Jankowski zufolge aber „nicht von einer Exegese geleitet, die den Text und den Kontext ernst nimmt.“ Wenn man das tut, ergibt sich folgender Gedankengang:
In 9,30 hieß es, daß die Gojim die Bewährtheit aus Vertrauen heraus bekommen haben, obwohl sie sich gar nicht darum mühten, Israel aber nicht zur Thora gelangt ist, obwohl es sich um die Thora der Bewährtheit mühte. Für gelangen gebraucht Paulus das in unserer Literatur seltene Verb phthanein, das eine Bewegung umschreibt, die auf ein Ziel hin ausgerichtet ist. Für Israel ist dieses Ziel eindeutig die Erfüllung der Thora, also die Thora selbst und was sie gewährt, die Bewährtheit.
Entscheidend ist nach Jankowski für Paulus die Einsicht, dass die Weltsituation seiner Gegenwart, in der „Juden und Nichtjuden … unter ungerechten Verhältnissen leben müssen“, „davon bestimmt ist, daß in ihr Thora nicht getan werden kann“, jedenfalls nicht in ihrer überkommenen Weise der Trennung von den Völkern. Stattdessen ist „dieses Ziel durch Vertrauen zu erreichen“, nämlich durch das Vertrauen auf den Messias Jesus, der von Juden und Völkern gemeinsam am römischen Kreuz ermordet wurde und der Juden und Völkern gemeinsam Vergebung und Versöhnung anbietet (J228f.):
Die Thora ist deswegen nicht erledigt oder am Ende. Sie wird nicht entleert, sondern aufgerichtet <309>, wie wir es in Röm 3,31 gehört haben. Zu ihr gelangen alle, die vertrauen. Vertrauen aber können sowohl Juden als auch die Gojim. Dieses gemeinsame Vertrauen von Juden und Gojim ist für Paulus durch den Messias ermöglicht worden. Schon von der Logik des Kontextes her ist es geradezu notwendig, das folgende telos hier mit Ziel zu übersetzen und nicht mit Ende, wie immer noch aus rein ideologischen Gründen üblich. Paulus erklärt also: Der Messias ist das Ziel der Thora auf Bewährtheit hin jedem, der vertraut. Wir müssen schon den ganzen Satz hören, damit wir ihn recht verstehen. Also: der Messias ist das Ziel der Thora, nicht deren Ende, damit jeder, der vertraut – und hier ergänzen wir im Sinne des Paulus: der Jude zuerst und dann auch der Nichtjude –, zur Bewährtheit kommt, wahrer Mensch werden kann. Was die Thora sein sollte, das Leben, im Messias kommt sie so zu ihrem Ziel, zu ihrer Erfüllung. Für jeden, nicht nur für Juden allein, geschweige denn für Nichtjuden allein.
↑ Römer 10,5: Mose beschreibt Bewährtheit aus der Tora: Wer sie tut, lebt durch sie
10,5 Mose schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt:
„Der Mensch, der dies tut, wird dadurch leben.“
[8. August 2025] Zur Analyse der Verse Römer 10,5-15 hebt Michael Wolter hervor (M116), dass Paulus nach seiner intensiven Beschäftigung „in 9,30 – 10,4 … mit dem nichtchristlichen Israel … es jetzt wieder aus dem Blick“ verliert, bis er „ab 10,19 … wieder explizit auf es zu sprechen“ kommt. Jetzt geht er auf „das Verständnis von Gerechtigkeit“ ein,
das die in V. 4 formulierte Feststellung impliziert. … Nachdem Paulus in V. 4 eher die Kontinuität zwischen der Tora und Christus betont hatte, stellt er nun das in den Vordergrund, was „Christus“ und „Gesetz“ voneinander trennt. Er greift dafür die Gegenüberstellung von „Glaube“ und „Werken“ aus 9,32 wieder auf und bildet hierzu in V. 5-6 die Antithese von „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ und „Gerechtigkeit aus Glauben“. Wie die Heiden in 9,30 Folie für die Israel-Darstellung ab 9,31 waren, so fungiert hier die „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ als Folie, vor der die Eigenart der „Gerechtigkeit aus Glauben“ dargestellt wird. Nur mit ihr befasst Paulus sich in V. 6-15.
Ob Paulus (M117) mit dem „gar {denn} zu Beginn“ von Vers 5 den Vers 4 „begründen will“, ist nach Wolter nicht sicher, vielmehr kann es „genauso gut und wie auch sonst oft ‚anknüpfend und fortführend‘ gemeint sein“.
Gleich in doppelter Weise nimmt Römer 10,5 auf die biblische Tora Bezug, erstens indem Mōysēs {Mose} „hier … den ersten Teil des Tanach“ meint, also die Tora im Sinne der fünf Bücher Mose, und zweitens indem das Stichwort nomos {Gesetz, Tora} wie „auch sonst häufig … für ‚Werke des Gesetzes‘“ steht. Aus der Tora selbst zitiert Paulus also „Lev 18,5 als maßgebliche Definition des Wesens jener Gerechtigkeit, die sich aus der Erfüllung der Tora ergibt.“
Die Art der Zitation (Anm. 8) mit graphei {er schreibt} im Präsens ist ungewöhnlich, sie leitet „im Neuen Testament sonst nirgends ein Schriftzitat ein“ und soll Wolter zufolge (M117) die „Gesetzesgerechtigkeit“ auf „allgemeingültige“ Art und Weise definieren. Im Hintergrund sieht Wolter als „engste Entsprechung“ des Ausdrucks graphei tēs dikaiosynēn {er beschreibt die Gerechtigkeit} den Vers Sprüche 8,15,
wo die Weisheit von sich sagt: „Durch mich regieren Könige, und die Mächtigen graphousin dikaiosynēn (hebr.: jɘchoqɘqu zedeq)“, d.h. sie legen schriftlich und damit verbindlich fest, was Gerechtigkeit ist.
Den Text aus 3. Mose (Levitikus) 18,5 zitiert Paulus ganz ähnlich „auch noch in Gal 3,12“. Die ausführlichen Überlegungen Wolters zur Frage, welche Fassung der Septuaginta ihm vorgelegen hat, übergehe ich. Wichtiger ist (M118) die „Frage nach der Pointe des Zitats von Lev 18,5“, mit der „sich die Exegese schwer“ tut:
Häufig wird unter Verweis auf Röm 1,18 – 3,20 angenommen, dass Paulus auch hier die Unmöglichkeit einer vollständigen Erfüllung der Tora voraussetzt. Er würde mit dem Zitat dann die Auskunft verbinden, dass die Lebensverheißung der Tora ins Leere gehe, weil es de facto keinen Menschen gibt, der sie getan hat. Für diese Interpretation könnte man sich noch auf Röm 2,13b berufen („… die Täter [hoi poiētai] des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“), wo Paulus einen Grundsatz formuliert, der nicht weit von Lev 18,5 entfernt ist. Gegen sie spricht jedoch, dass der Diskurszusammenhang in Röm 1,18 – 3,20 ein ganz anderer ist, denn dort hatte Paulus die Situation sine Christo {ohne Christus} beschrieben, um nachzuweisen, dass es zwischen Juden und Nichtjuden keinen Unterschied gibt. Demgegenüber setzt er in Röm 10,5 das Christusgeschehen voraus. Diese Interpretation steht darum auch in Widerspruch zu 9,30 – 10,4, wo Paulus als Israels Fehler die Ablehnung des Christus-Glaubens namhaft gemacht hatte. Hinzu kommt noch, dass die Definition der Gesetzesgerechtigkeit in V. 5 lediglich als Gegenbild zum Konzept der „Christus“-Gerechtigkeit fungiert, das Paulus in V. 4 vorgetragen hatte und das er dann in V. 6-15 erläutern wird.
Wolter spitzt seine Auslegung von Vers 5 daher daraufhin zu, dass Paulus hier eigentlich auch über jene „Gerechtigkeit“ spricht, „die sich als Heilsfolge ‚für jeden, der glaubt‘, aus ‚Christus‘ ergibt (V. 4)“, und zwar sagt er „in V. 5, was diese Gerechtigkeit nicht ist“:
Es geht ihm hier also nicht um eine Abwertung der Gesetzesgerechtigkeit, sondern um eine Profilierung der „Christus“-Gerechtigkeit durch Abgrenzung von der „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“. Jene unterscheidet sich von dieser dadurch, dass sie eine Sache des Glaubens und des Bekennens ist, was durch die Verkündigung des rhēma tēs pisteōs {Botschaft des Glaubens} möglich wird (V. 8c). Darum kann Paulus sie in V. 6 „Gerechtigkeit aus Glauben“ nennen. Dieses Profil der Antithese macht es darum wahrscheinlich, dass es Paulus darauf ankommt, die Eigenart der Gesetzesgerechtigkeit ganz ähnlich wie in Gal 3,12 dadurch zu bestimmen, dass sie ihr Heilsversprechen an ein Tun (poiein) bindet. Ob dieses Versprechen erfüllbar ist, interessiert Paulus hier ebenso wenig wie die Frage, ob die Erfüllung des Gesetzes möglicherweise eine begrenzte, gewissermaßen ‚irdische‘ Gerechtigkeit vermitteln könne.
Gerhard Jankowski (J229) hatte, ganz ähnlich wie Wolter, Römer 10,4 so ausgelegt, dass die Tora „im Messias … zu ihrem Ziel, zu ihrer Erfüllung“ kommt. Im Blick auf Vers 5 fügt er hinzu: „Und das wiederum begründet Paulus – mit der Thora; schon von daher kann sie gar nicht zu Ende sein.“
Paulus blickt dabei zunächst „auf das, was Mosche schreibt“, also „auf die schriftlich fixierte Thora“, auf das, was „Geltung“ hat, indem es „schriftlich fixiert“ ist. In diesem Sinne zitiert er 3. Mose (Levitikus) 18,5 – jedoch nicht ganz wörtlich:
Wahrt meine Satzungen (chuqot) und meine Rechtsgeheiße (mischpatim),
als welche der Mensch tut und lebt durch sie.Paulus zitiert auch hier schon interpretierend. Die Satzungen und Rechtsgeheiße der Thora faßt er als die Bewährtheit, die sich aus dem konsequenten Tun der Thora ergibt. Wer aber Thora tut, wird in ihr und durch sie leben. Indem Paulus diesen Satz aus der schriftlichen Thora zitiert, betont er noch einmal, daß sie für ihn nach wie vor Gültigkeit hat.
Auch hier unterscheiden sich die Auslegungen von Wolter und Jankowski gar nicht so sehr voneinander, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Gemeinsam ist ihnen jedenfalls, dass Paulus keinesfalls eine Abwertung der Tora im Sinn hat.
↑ Römer 10,6-8b: Die Bewährtheit aus Vertrauen holt den Messias nicht herbei, sie spricht vom Wort, das nahe ist in Mund und Herz
10,6 Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so:
„Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?“
– nämlich um Christus herabzuholen;
10,7 oder: „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“
– nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen.
10,8a Aber was sagt sie?
10,8b „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.“
[10. August 2025] Nachdem Paulus (M116) in Römer 10,5 „unter Rückgriff auf Lev 18,5“ dargelegt hat, „was die ‚Gerechtigkeit aus Glauben‘ nicht ist“, indem er sie nämlich „von der ‚Gerechtigkeit aus dem Gesetz‘“ abgegrenzt hat, benutzt er „Fragmente aus Dtn 30,12-14“, um mit ihnen (M117) auf dem Wege einer „stark verfremdenden Rezeption … die Eigenart der Glaubensgerechtigkeit (V. 6-8)“ zu charakterisieren. Dabei greift er (M119) „in V. 6c. 7a.8b auf Dtn 30,12-14 zurück“ und lässt „auf jedes ‚Zitat‘ eine tout‘ estin-{das ist-}Erläuterung folgen … (V. 6d.7b.8c)“, ohne jedoch „die zitierten Passagen … als Schriftzitate kenntlich“ zu machen. Stattdessen legt er „mit Hilfe der Zitationsformel houtōs legei {so spricht} … den Text … als Wort der personifizierten ‚Gerechtigkeit aus Glauben‘ (V. 6a)“ in den Mund. <310>
Michael Wolter vermutet, dass Paulus dieses „Verfahren“ wählt, weil „Paulus den Eigensinn von Dtn 30,12-14 geradewegs in sein Gegenteil verkehrt.“ Dazu bemerkt er zur Begründung zunächst nur,
dass er die Wiedergabe von Dtn 30,14 abbricht, bevor die Septuaginta mit den Worten kai en tais chersin sou auto poiein („und in deinen Händen, um es zu tun“) wieder ausdrücklich auf das Gesetz zu sprechen kommt.
Wolter ist es allerdings bewusst (Anm. 17), dass diese von Paulus weggelassenen Worte einen „Zusatz der Septuaginta gegenüber dem hebräischen Text“ darstellen, der im Blick auf ha-davar {das Wort, das immer wirkmächtig, auf tatkräftige Veränderung bezogen ist} am Ende nur hinzufügt: laˁaßothu {dass du es tust}.
Dass das (M119), „was Paulus in V. 6c.7a.8a aus Dtn 30,12-14 übernimmt“, nicht als Schriftzitat zu verstehen ist, begründet Wolter auch damit, dass „das erläuternde tout‘ estin {das ist}“ entgegen dem, was u.a. Wilckens <311> meint, „durchaus nicht … ‚eine exegetische Einführungsformel nach der pescher-Methode‘“ darstellt (M119f.),
denn sie ist als erklärungseinleitende Konjunktion in der hellenistischen Literatur im Sinne von „das heißt“ sehr zahlreich belegt, und zwar gerade auch zur Erläuterung von Zitaten wie in Röm 10,8. Schon B. Weiß <312> hat darauf aufmerksam gemacht, dass tout‘ estin „nicht eine Erklärung darüber (ist), was diese Worte bedeuten“, sondern dass der Ausdruck „den in ihnen liegenden Gedanken einem anderen gleich(setzt)“. Dass Paulus die Zitate nicht als Schriftwort ausgibt, sondern als Worte der personifizierten Glaubensgerechtigkeit, unterminiert darüber hinaus auch die These, Röm 10,6-8 sei ein Midrasch zu Dtn 30,12-14.
Warum Letzteres der Fall sein sollte, erschließt sich mir nicht, da Paulus doch auf jeden Fall inhaltlich an die Schriftstelle anknüpft, auch wenn (M120) „Paulus alles, was in V. 6b-7 steht, als Rede der Glaubensgerechtigkeit verstanden wissen wollte“, um
die beiden Fragen, die jeweils als hypothetische Zitate im Zitat fungieren, ad absurdum zu führen. Erst in V. 8a ergreift Paulus selbst wieder das Wort, in V. 8b lässt er noch einmal die Glaubensgerechtigkeit ihre Stimme erheben, und in V. 8c ist es dann wieder Paulus, der sich mit der 1. Person Plural von kēryssomen {wir verkündigen} als Autor der tout‘ estin-Erläuterung zu erkennen gibt.
In Vers 6a unterscheidet Paulus die nun redende dikaiosynē {Gerechtigkeit} „durch das Attribut ek pisteōs {aus Glauben} von der Gerechtigkeit ‚aus dem Gesetz‘“, wobei es sich Wolter zufolge (Anm. 23)
aber nicht um einen Gegensatz zwischen Mose (V. 5a) und der Glaubensgerechtigkeit [handelt] …, denn das, was „Mose“ über die „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ sagt, trifft genauso zu wie das, was die „Gerechtigkeit aus Glauben“ über sich selbst sagt. Eine Reihe von Interpreten mag hier darum keinen Gegensatz sehen, sondern spricht sich für ein komplementäres Verhältnis von Gesetzesgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit aus …
Hervorzuheben ist nach Wolter (M120), dass die Formulierung ek pisteōs {aus Glauben} auch hier die Bedeutung hat:
‚auf Grund des Glaubens, der das Christusgeschehen als Gottes Heilsveranstaltung deutet‘.
Die Worte mē eipēs en tē kardia sou {sage nicht in deinem Herzen}, mit denen „die ‚Gerechtigkeit aus Glauben‘ ihre Rede“ in Vers 6b beginnt, kann „Paulus den Septuaginta-Fassungen von Dtn 8,17; 9,4 entnommen haben“. Anders als dort wird hier „aber nicht Israel angesprochen“, indem sich Paulus (Anm. 27) „gegen ein jüdisches Rühmen“ wenden würde. In den Aussagen der Verse 6b bis 7a wird nach Wolter vielmehr einfach nur (M121) „das Gewicht der affirmativen {bejahenden} Aussage (V. 8b) dadurch hervorgehoben, dass zuvor das Gegenteil verneint wird.“
Verneint werden von „Paulus in V. 6c.7a zwei Fragen“, die er „[u]nter Rückgriff auf Dtn 30,12-13 formuliert“: tis anabēsetai eis ton ouranon {wer wird in den Himmel hinaufsteigen}? und tis katabēsetai eis tēn abysson {wer wird in die Unterwelt hinabsteigen}? Dabei ändert Paulus „um der Zuspitzung des Gegenübers willen“ den übernommenen Text „von ‚auf die andere Seite des Meeres übersetzen‘ (Dtn 30,13) zu ‚in die Unterwelt hinabsteigen‘ (Röm 10,7a)“. Texte wie „Gen 7,11; 8,2; Dtn 33,13; Ps 106,26LXX; Sir 24,5“ belegen Wolter zufolge (M122) dass Paulus die „Polarität von ‚Himmel‘ und ‚Unterwelt‘ nicht fremd war“:
Beide Orte, der Himmel und die Unterwelt, haben miteinander gemeinsam, dass es sich um ‚jenseitige‘ Orte handelt, die für Menschen schlechterdings unerreichbar sind. Damit ist aber auch die rhetorische Intention, der sich die Verwendungen des Gegenübers von „Himmel“ und „Unterwelt“ in Röm 10,6c. 7a bzw. von „Himmel“ und „die andere Seite des Meeres“ in Dtn 30,12-13 verdanken, in beiden Texten dieselbe. Hier wie dort fungiert die Polarität als hyperbolische {übertreibende} Metapher, die ein Bemühen beschreibt, das notwendig scheitern muss. Als Gegenbild zu dieser Ausrichtung wird damit schon jetzt der Blick auf den Menschen selbst erkennbar.
Mit den „beiden tout‘ estin-{das ist-}Erläuterungen, die Paulus in V. 6d.7b der Glaubensgerechtigkeit in den Mund legt“, wird „die Sinn- und Zwecklosigkeit einer Heilssuche vor Augen“ geführt, „wie sie sich in den beiden Fragen ausspricht“. Jetzt stellt sich Wolter zufolge heraus, dass in 6b-7b von „der Glaubensgerechtigkeit“ nur das Du eines „Christenmenschen“ angesprochen sein kann, denn nur einem solchen könnte der (aussichtslose) Versuch zugeschrieben werden, Christon katagagein {Christus herabzubringen} oder Christon ek nekrōn anagagein {Christus von den Toten heraufzubringen}.
Im Anschluss von Vers 8 an die Verse 6-7 stellt Wolter Ungenauigkeiten fest (M122f.):
Der Anschluss an V. 6a-b ist ungenau: alla {sondern} in V. 8a führt das Folgende zwar als Antithese zu mē {nicht} (V. 6b) ein, es passt aber nicht genau dazu, denn gleichzeitig nimmt Paulus auf der übergeordneten Ebene auch das legei {sie spricht, sagt} aus V. 6a wieder auf und führt die Glaubensgerechtigkeit als Sprecherin des in V. 8b folgenden Zitats aus Dtn 30,14 ein. Er gibt diesem Wort damit einen anderen Status als den Zitaten aus Dtn 30,12-13 in V. 6c.7a, denn es wird in V. 8b nicht dem fiktiven Du in den Mund gelegt, sondern der Glaubensgerechtigkeit.
Zur Zitierung von 5. Mose (Deuteronomium) 30,14 betont Wolter auf der einen Seite (M123): „Alle Worte, die Paulus in V. 8b zitiert, stammen aus Dtn 30,14LXX: engys sou to rhēma estin en tō stomati sou kai en tē kardia sou {nahe bei dir ist das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen}. Wie dort verwendet Paulus auch hier das Wort
engys {nahe} als semantische {bedeutungsmäßige} Opposition zur ‚Ferne‘ von „Himmel“ und „Unterwelt“. Er spitzt diesen Gegensatz noch dadurch zu, dass er die Präposition betont voranstellt. Beide Texte konkretisieren diese Nähe anthropologisch als „in deinem Mund und in deinem Herzen“.
Dieses sich auch anderswo ergänzende „Begriffspaar“ (z.B. in „Ps 5,10; 19,15; 49,4; Pred 5,1; Sir 39,35“) „bezeichnet die Gesamtheit aller möglichen Äußerungen des Menschen, die von anderen Menschen hörbaren (‚Mund‘) und die in seinem Inneren verborgenen (‚Herz‘).“
Auf der anderen Seite kommt Wolter noch einmal darauf zurück, dass Paulus die den hebräischen Text ergänzenden Worte der Septuaginta kai en tais chersin sou auto poiein {und in deinen Händen, um es zu tun} weglässt, was mit dazu führt (M119), „den Eigensinn von Dtn 30,12-14 geradewegs in sein Gegenteil“ zu verkehren, denn (M121) was „nach Dtn 30,11 für das ‚Gebot‘ (mizwah; LXX: entolē)“ gilt, sagt „Paulus hier vom ‚Wort des Glaubens‘ (V. 8b)“, das Paulus selbst (M123), beginnend mit der anschließenden „tout‘ estin-{das ist}Erläuterung“ in Vers 8c, näher erläutern wird.
[11. August 2025] Im Gegensatz zu Wolter geht Gerhard Jankowski davon aus (J229), dass Paulus den Satz aus Römer 10,4: „Der Messias ist das Ziel der Thora auf Bewährtheit hin jedem, der vertraut“, durchaus „mit einer typisch rabbinischen Auslegung, mit einem Midrasch zu Dtn 30,11ff. <313>“, begründet (J229f.):
Bei Paulus heißt das so: „Die Bewährtheit aus Vertrauen sagt so …“ (10,6). Und dann folgt die verbindliche und aktualisierte Auslegung einer gewichtigen Stelle aus der Thora. Oder anders gesagt, Thora wird hier aufgrund der Thora und von der Thora her ausgelegt. Grundlage der Auslegung ist Dtn 30,11ff. Dort heißt es:
11 Denn dieses Gebot, das ich dir am heutigen Tag gebiete,
nicht entrückt ist es dir, nicht fern ist es.
12 Nicht im Himmel ist es, daß du sprächest:
Wer steigt für uns zum Himmel und holt es uns
und gibt es uns zu hören, daß wir es tun?
13 Nicht überm Meer ist es, daß du sprächest:
Wer fährt uns über das Meer hinüber und holt es uns
und gibt es uns zu hören, daß wir es tun?
14 Nein, sehr nah ist dir das Wort,
in deinem Mund und in deinem Herzen,
es zu tun.
Nach Jankowski (J230) ist diese Stelle „so gewichtig und auch bekannt, daß er sich mit den paar zitierten Worten begnügen kann“:
Es ist klar, daß es in Dtn 30 um die Thora, an dieser Stelle um die mizwa, das Gebot, geht. Sie ist nicht im Himmel, nicht jenseits des Meeres. Sie ist also nicht transzendent, sondern gegenwärtig, aktuell. Sie ist als dabar, als Tat-Wort, zu hören und zu tun.
Aber warum ist in „den zitierten Worten … nichts von der Thora oder der Mizwa zu hören“? Nach Jankowski ist das „nicht nötig, denn für Paulus gilt, daß der Messias das Ziel der Thora ist. Also ist auch diese Stelle aus der Thora messianisch auszulegen“. Was Jankowski darunter versteht, führt er folgendermaßen aus:
Wir finden diese Auslegung in den beiden Sätzen, die mit einem formelhaften tout‘ estin, das ist, das heißt, eingeleitet werden. Himmel und das jenseitige Ufer des Meeres stehen für die kaum faßbare Ferne, beide sind so gut wie nicht erreichbar. Genau dort, in diesen nicht erreichbaren Fernen ist das Gebot nicht. Ebenso ist der Messias nicht in diesen Fernen. Ihn dort zu suchen hieße das messianische Geschehen beschleunigen, eben ihn vom Himmel herunterzuholen oder ihn aus den Toten heraufzuholen. Beides ist unmöglich. Er ist sehr nahe, wie die Thora sehr nahe ist. Er ist gegenwärtig im dabar, rhēma, in dem Tat-Wort. Dieses gegenwärtige und ganz nahe Tat-Wort läßt die Thora laut werden, es bringt ebenso den Messias nahe. Er ist nahe im Wort, gegenwärtig, erreichbar.
Worte sind dazu da, daß sie gesagt und gehört werden. Das Wort, um das es hier geht, ist dazu da, daß es geliebt wird. Deshalb gehört es in den Mund und in das Herz.
Aber in 5. Mose (Deuteronomium) 30 „heißt es – und nicht nur da –, daß das Wort auch zu tun ist.“ Warum lässt Paulus die darauf bezogenen Teile des Textes aus? Nach Jankowski mag das damit zu tun haben, dass mit dem Kommen des Messias das göttliche „Tat-Wort“ auch Menschen aus den Völkern hautnah auf den Leib rückt, die nicht auf die Tora verpflichtet sind:
Er ersetzt das Tun durch das Vertrauen. Denn das Wort tun können nur die, denen es in der Thora nahe ist. Alle aber können dem Wort, in dem der Messias nahe ist, vertrauen. Wenn es gesagt und gehört wird.
Könnte diese Auslegung aber nicht letztendlich doch darauf hinauslaufen, dass die Tora nicht nur ihre von den Völkern trennende Funktion verliert, sondern auch ihre grundsätzliche Bedeutung für alle, die auf den Messias vertrauen? Jankowski sieht das anders, und zwar gerade wegen der Art und Weise der auf die Tora bezogenen Argumentation, die Paulus hier vertritt (J230f.):
Dieser kurze Abschnitt ist nun in der Tat von großer Bedeutung, aber nicht, weil in ihm der Abschied von der Thora gefeiert wird. Zum einen geht es um das Problem der Auslegung von Texten. Was ist verbindlich? Der schriftlich fixierte Text, der nur zu überliefern ist, oder die aktuelle Auslegung eines Textes? Für Paulus hat die aktuelle mündliche Auslegung eindeutig den Vorrang, aber nur insoweit, als sie den schriftlich fixierten Text auslegt. Nur dann kann sie verbindlich sein. Dieses Auslegungsprinzip macht noch einmal deutlich, daß hier von einem Ende der Thora überhaupt nicht die Rede sein kann. Es kommt dem Paulus alles darauf an, seine Auslegung in Übereinstimmung mit der Thora, also auch in Übereinstimmung mit der Tradition zu sehen. Das heißt aber auch, daß die schriftliche Tradition, in unserem Fall die schriftliche Thora, auf die er seine Auslegung stützt, den von ihm verkündeten Messias bezeugt.
Interessant findet Jankowski (J231) in diesem Zusammenhang einen Hinweis der Autoren Lenhardt und von der Osten-Sacken <314> „auf die Übereinstimmung – bei gleichzeitig inhaltlichen Unterschieden – mit einer rabbinischen Entscheidung zur Auslegungsproblematik“:
In bBM {Traktat Bava Meṣi‘a des babylonischen Talmud} 59b bemüht R. Eliezer eine „Himmelsstimme“, also gleichsam die himmlische Autorität, um seine Auslegung (Halacha) zu stützen. Seine Gegner dagegen berufen sich bei ihrer Entscheidung auf Dtn 30,12ff., setzen also die Thora selbst über die himmlische Autorität und können so die Halacha R. Eliezers für ungültig erklären.
Außerdem mag „die Auslegung des Paulus für seine Zeit“ insofern auch im politischen Sinn „äußerst aktuell“ gewesen sein, als sie „deutlich auch eine Kritik am messianistischen Widerstand“ enthält:
Wenn auch nicht alle, so wollten doch einige der Widerstandsgruppen mit ihrem Kampf gegen Rom die messianische Zeit, und das hieß das Eingreifen des Messias, herbeizwingen, ihn gleichsam vom Himmel, aus dem er erwartet wurde, herabholen. Für Paulus ist das ein unmögliches Unterfangen, das er ablehnt. Daß seine Strategie, die Befreiung durch das Zusammengehen von Juden und Nichtjuden zu erreichen, nicht weniger unpolitisch war, werden wir in den nächsten Abschnitten noch erfahren.
↑ Römer 10,8c-9: Wer bekennt und vertraut: Jesus ist der Kyrios, von Gott aus Toten auferweckt, wird befreit – aus dem Sklavenhaus Roms oder ewiger Verdammnis?
10,8c Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.
10,9 Denn wenn du mit deinem Munde bekennst,
dass Jesus der Herr ist,
und glaubst in deinem Herzen,
dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat,
so wirst du gerettet.
[13. August 2025] Für Michael Wolter (M123) gehört der Versteil Römer 10,8c noch in den Zusammenhang der Verse 6 bis 8, obwohl die dritte „tout‘ estin-{das ist-}Erläuterung“ in Vers 8c „nicht … wie in V. 6d.7b“ von der Glaubensgerechtigkeit stammt, „sondern … von Paulus.“ In seinen Augen bezieht sich jedenfalls das „Demonstrativum touto {das}“ zurück auf das Stichwort rhēma {Wort}, das als „Gegenstandsbegriff… im Wort der Glaubensgerechtigkeit“ zur Sprache kommt und in 8c durch den „Bestimmungsbegriff“ to rhēma tēs pisteōs, ho kēryssomen {die Botschaft des Glaubens, die wir verkündigen} näher erläutert wird. Dieses rhēma tēs pisteōs {Wort des Glaubens} aber
ist nichts anderes als das, was Paulus in 10,4 „Christus“ genannt hatte oder was er in 10,16 „Evangelium“ nennen wird: dass Gott in Jesus von Nazareth zum Heil für alle Menschen gehandelt hat.
Schaut man aber Wolters Übersetzung (M115) genauer an, so ist zu erkennen, dass auch er den Vers 8c mit einem Doppelpunkt auf die nachfolgenden Verse hin öffnet. Genauer gesagt (M117):
Das letzte Zitat (Dtn 30,14 in V. 8b) und seine Deutung (V. 8c: „das ist die Botschaft des Glaubens, die wir verkündigen“) entfaltet Paulus ab V. 9 in zwei Richtungen: In V. 9-13 geht es zunächst um diejenigen, die dem rhēma tēs pisteōs glauben. Im Anschluss daran führt er die Linie in V. 14-15 von den Glaubenden zu denen zurück, die das rhēma tēs pisteōs verkündigen.
Dass sich Vers 8c stärker nach vorn auf Vers 9 als zurück auf Vers 8b bezieht, bestätigt Wolter auch insofern (M124), als er weniger dazu neigt, das den Vers 9 einleitende hoti wie „in der Regel“ üblich als Begründung zu interpretieren und mit „denn“ zu übersetzen, sondern eher als „ein hoti recitativum …, das eine direkte Rede oder ein Zitat einleitet“. In diesem Fall gibt Paulus in diesem Vers den Inhalt des rhēma tēs pisteōs {Botschaft des Glaubens} wieder,
das von den Aposteln verkündigt wird. Ausgeschlossen ist das nicht, denn wir haben in diesem Vers alles, was eine protreptische Missionspredigt enthalten muss: einen Inhalt (Jesus ist Kyrios [vgl 2Kor 4,5 sowie Apg 16,31; Kol 2,61]; Gott hat ihn von den Toten auferweckt [vgl 1Thess 1,10]), eine Pragmatik, aus der hervorgeht, wie man darauf reagieren soll (‚bekennen‘ und ‚glauben‘), und die Zusage einer Heilsfolge (‚gerettet werden‘), um die Hörer zu der genannten Reaktion zu motivieren. Für diese Interpretation spricht auch, dass Paulus das Begriffspaar homologein {bekennen} und pisteuein {glauben} in Röm 10,14a durch epikalein {anrufen} und pisteuein aufnimmt und dann in V. 14b-15 in den Kontext der Mission einordnet.
Inhaltlich steht „die hier formulierte Aussage“ als „Antithese“ dem Vers 5b gegenüber, denn Paulus setzt „dem ‚Tun‘ der Werke des Gesetzes (V. 5b) das ‚Glauben‘ und ‚Bekennen‘ entgegen, auf das das rhēma tēs pisteōs {Botschaft des Glaubens} abzielt“. Ebenso entspricht auch das „Futur von sōthēsē {wirst du gerettet werden} … dem von zēsetai {wird leben} in V. 5b“.
Mit den sich ergänzenden Formulierungen homologein en tō stomati sou {mit deinem Mund bekennen} und pisteuein en tē kardia sou {in deinem Herzen glauben} umschreibt Paulus „die öffentlich ausgesprochene und die unausgesprochen bleibende Zustimmung zum Inhalt des Evangeliums“, und zwar in der „Reihenfolge von stoma {Mund} und kardia {Herz}“, die er aus „Dtn 30,14… nach Röm 10,9 übernommen hat“. Dabei beschreibt er den
Inhalt des ‚Bekennens‘ … unter Rückgriff auf die gottesdienstliche Akklamation {Zuruf} kyrios Iēsous („Jesus ist Herr“), die auch in 1Kor 12,3 („niemand kann sagen: kyrios Iēsous, außer im heiligen Geist“) und Phil 2,11 („… jede Zunge bekenne [exhomologēsetai]: kyrios Iēsous Christos“) belegt ist.
Paulus (Anm. 52) zitiert den Zuruf kyrios Iēsous allerdings nicht im Nominativ, sondern gibt ihn im Akkusativ mit kyrion Iēsoun wieder, dabei (M125) wird Jesus als Subjekt durch das Prädikat kyrios {Herr} bestimmt. Dafür nennt Wolter Beispiele für „[a]lttestamentliche Vorbilder … in 1Kön 18,39: ‚JHWH – er (ist) Gott‘ (jhwh huˀ haˀelohim) und Ps 10,16: ‚JHWH (ist) König‘ (jhwh melekh).“
Den „Ursprung“ für die „akklamative Bezeichnung Jesu als ‚Herr‘“ sieht Wolter
wahrscheinlich im aramäischsprachigen Gottesdienst. Beleg dafür ist der in 1Kor 16,22 zitierte aramäische Gebetsruf „Maranatha“, der Jesus mit dem aramäischen Titel mareˀ („Herr“) anredet und hier wohl mit „Unser Herr, komm!“ (d.h. maranaˀ thaˀ oder maran ˀethaˀ) wiederzugeben ist.
Was Paulus mit der Ausrufung „Jesu als ‚Kyrios‘“ letztendlich meint, ist nach Wolter von der Parallelstelle Philipper 2,10-11 her zu begreifen:
Phil 2,10-11 bettet die christologische Kyrios-Akklamation in Worte aus Jes 45,23LXX ein (emoi kampsei pan gony, kai exhomologēsetai pasa glōssa tō theō) [„mir wird jedes Knie sich beugen, und jede Zunge wird Gott preisen“]) und gibt damit zu erkennen, dass diese Prädikation sich auf die himmlische Hoheitsstellung Jesu bezieht, die ihm von Gott verliehen wurde (vgl. auch die Fortsetzung in Phil 2,11: Jesus wird von allen Geschöpfen als Kyrios gepriesen eis doxan theou patros {zur Ehre Gottes des Vaters}). Die Akklamation Jesu als „Kyrios“ ist darum eine performative Handlung, mit der jeder, der sie ausspricht, sich Jesus als dem unterwirft, der an der Herrschaft des transzendenten Gottes über die ganze Welt partizipiert.
Die Frage ist aber, in welcher Weise sich der Jude Paulus diese Teilhabe Jesu an der Herrschaft Gottes vorgestellt hat. Gerhard Jankowski hat in seiner Auslegung des „Christushymnus“ im Philipperbrief <315> herauszuarbeiten versucht, dass Paulus jedenfalls nicht Jesus mit Gott gleichsetzen kann. Vielmehr kommt dem „erniedrigten und gekreuzigten Jesus, diesem Menschen nach Gottes Willen, der Titel Herr zu“, und „weil damit auch der NAME, das befreiende Programm Gottes, umschrieben und aufgerufen wird, darum gilt diesem Gott die Ehre.“ Es ist also nicht eine abstrakt zu verstehende Allmacht, an der Jesus überweltlich teilhat, sondern der Messias des Gottes Israels verkörpert in seinem ganzen Willen und Wirken, seinem Sterben und seiner Auferweckung, den befreienden NAMEN des Einen Gottes.
Zurück zu Wolter, demzufolge man aber eine „gezielte Abgrenzung vom Kaiserkult … nicht mithören“ darf, weil „die Kyrios-Prädikation … in der griechisch-römischen Umwelt des frühen Christentums zwar auch der römische Caesar auf sich“ zog, aber nicht ausschließlich; sie „konnte immer auch anderen Gottheiten oder menschlichen Machthabern zuteil werden.“ Von daher ist (M126) „auch die Behauptung“ nicht „sachgerecht …, dass Paulus bei der Akklamation kyrios Iēsous immer die Abgrenzung vom Herrschaftsanspruch des Caesar mitgehört hat.“ Die entscheidende Begründung dafür ist Wolter zufolge,
dass der Caesar nach paulinischem Verständnis immer nur ein Kyrios kata sarka {nach dem Fleisch} sein kann. Genau das ist aber für Jesus ausgeschlossen. Demgegenüber geht diese Interpretation davon aus, dass Jesus und der Caesar kyrioi {Herren} von derselben Art sind. Das ist aber ein für Paulus ganz unmöglicher Gedanke, denn Jesus herrscht gerade nicht kata sarka. Seine Herrschaft kann vielmehr immer nur eine Herrschaft dia pisteōs {durch den Glauben} sein. Auf der Ebene, die Paulus mit der kyrios-Iēsous-Akklamation in den Blick nimmt, können Jesus und der Caesar einander darum schlechterdings nicht begegnen, und deshalb können sie auch nicht miteinander konkurrieren. Auch für den, der Jesus als kyrios bekennt, bleibt der Caesar auch weiterhin kyrios – freilich nur kata sarka.
Dieses Argument ist allerdings fragwürdig. Es unterstellt, dass Paulus eine Wirklichkeitsebene des Glaubens als religiös, jenseitig und zum Himmel gehörig grundsätzlich von der Wirklichkeitsebene diesseitiger politischer Machtentfaltung unterscheiden würde. Bezieht sich dann die „Heilsgewissheit“, die Paulus vermitteln will, wie Wolter gleich zu Römer 10,10 hervorheben wird, auf die Rettung vor jenseitsweltlicher Verdammnis, während der Christ sich im Diesseits jedem weltlichen (kata sarka) Herrscher zu unterwerfen hat? Genau diese Unterscheidung ist der biblisch-prophetischen Tradition, in der Paulus verwurzelt ist, aber vollkommen fremd, richtet sich doch das Vertrauen auf den Gott Israels nicht auf ein Jenseits, sondern auf den Anbruch der kommenden Weltzeit des Frieden hier auf Erden unter dem Himmel Gottes. <316>
In Vers 9b ist der Ausdruck ho theos auton ēgeiran ek nekrōn {Gott hat ihn aus Toten erweckt} „keine alte ‚Formel‘, denn die Formulierung ist kontextabhängig, weil auton {ihn} auf ‚Jesus‘ (V. 9a) zurückverweist“, auch macht Paulus die
Auferweckung Jesu … hier nicht darum zum exemplarischen Inhalt des Glaubens, weil Jesus durch Auferstehung und Erhöhung zum Kyrios wurde <317>“, sondern weil die Auferweckung Jesu von den Toten die fundamentale christliche Tatsachengewissheit schlechthin ist, die allererst einen Christenmenschen zu einem solchen macht (vgl. 1Kor 15,14.17; 1Thess 4,14a).
[14. August 2025] Gerhard Jankowski übersetzt rhēma tēs pisteōs in Römer 10,8c nicht wie Wolter (M115) mit „Botschaft des Glaubens“, sondern (J231) mit „Wort der Treue“. Von dem (J232) in 5. Mose (Deuteronomium) 30,14 genannten „Wort, das uns nahe ist im Mund und im Herzen“, sagt Paulus „[d]emonstrativ …: Das, touto, ist das Wort der Treue, das wir öffentlich ausrufen, bekanntmachen, verkünden.“ Damit setzt Jankowski voraus, dass pistis hier mehr die Treue Gottes bezeichnet als umgekehrt einen Glauben oder ein Vertrauen, das von Menschen ausgeht. Da im Zitat, auf das Paulus sich beruft, aber von dieser Treue Gottes nicht ausdrücklich die Rede ist, sondern von Gottes Gebot (mizwah, entolē), fährt Jankowski fort:
Eigentlich müßte es heißen: Wort der Thora, der Mizwa. Das sagt er nicht. Er legt ja dieses Stückchen der Thora messianisch aus, macht nun wirklich wörtlich aktuell, was geschrieben ist. Und er sagt auch gleich, wozu das Wort der Treue so nahe ist, nämlich daß mit dem Mund bekannt und mit dem Herzen vertraut wird. Was dann folgt, ist Interpretation dieser beiden Stichworte aus dem Zitat aus Dtn 30,14.
Wenn das Wort der Treue so nahe ist, im Mund und im Herzen, dann muß es durch den Mund aus dem Herzen öffentlich gesagt werden. Dieses Wort der Treue dient nie nur der Innerlichkeit, es drängt geradezu in die Öffentlichkeit. Der geschriebene Satz aus der Thora wird so zum öffentlichen Wort. Dieses öffentliche Wort ist freilich kein Gerede, kein bloßes Geschwätz. Es ist Bekennen, homologein. Und das Bekennen ist von seinem Inhalt her definiert.
Was nun aber konkret „mit dem Mund bekannt werden“ soll, diese Formulierung „Herr Jesus oder auch: Herr ist Jesus … hört sich für uns wie eine fromme Floskel an, tausendmal gehört und gesagt, zur leeren Worthülse verkommen“. Für das Verständnis entscheidend ist nach Jankowski, dass dieser Satz zur Zeit des Paulus als politischer Kampfbegriff aufgefasst werden konnte (J232f.):
Griechisch gehört, macht das Nominalsätzchen einen ganz anderen Sinn: kyrios Iēsous. Kyrios ist bei den hellenistischen Herrschern ein Titel, der den Souveranitätsanspruch des jeweiligen Herrschers feststellt. Den Titel tragen aber auch viele orientalische Gottheiten als Ausdruck ihrer universalen Herrschaft. Da die Herrscher vergöttlicht werden oder sich vergöttlichen lassen, weist der Titel kyrios auch auf ihre göttliche Natur hin. Zumindest im Osten des Imperiums tragen auch die römischen Herrscher z.Z. des Paulus den Titel in dieser doppelten Bedeutung. Claudius ist kyrios und Nero ist es erst recht. Kyrios Iēsous öffentlich zu sagen und zu bekennen ist also in der Zeit damals ein eminent politisches Bekenntnis. Wer es öffentlich laut werden läßt, sollte wissen, was er tut. Denn er spricht dem Kaiser sowohl seinen Herrschaftsanspruch als auch seine göttliche Stellung ab. Herr ist für ihn dieser Jesus, der aus einem der erbärmlichsten Winkel der Welt kommt. Der aber ist nun weder absoluter Herrscher noch göttlicher Natur. So wird dieses Bekenntnis zur politischen Kampfansage.
Unausweichlich wird Jankowski zufolge (J233) diese Schlussfolgerung, wenn „die beiden Worte kyrios Iēsous von der Schrift her“ gedeutet werden, und zwar als die „Übersetzung zweier hebräischer Worte“:
In der Schrift wird der unaussprechliche NAME, das sogenannte Tetragramm JHWH, mit adonai, mein Herr, umschrieben. Die LXX übersetzt dann adonai konsequent mit kyrios. Kyrios steht so für das Tetragramm, für den NAMEN, das befreiende Programm des Gottes Israels. Iēsous ist die gräzisierte Form des hebräischen Namens Jeschuah, übersetzt: Er befreit. Die Umschreibung des NAMENS in Verbindung mit dem Namen Jeschuah/Jesus bedeutet nun nicht, daß Jesus nun identisch mit dem NAMEN ist. Diese Gleichsetzung ist eine Unmöglichkeit, von der Thora unter Strafe gestellt (Dtn 13,1-5). Was aber gemeint ist, verdeutlicht der Schüler des Paulus, Lukas, in seiner Apostelgeschichte. In Apg 4 wird den Jesus-Schülern Petrus und Johannes vorgeworfen, sie lehrten in einem „anderen Namen“, wenn sie im Namen des Jesus heilten, und verstießen somit gegen die Thora. In einer langen Predigt erklären Petrus und Johannes, daß sie eben in keinem anderen Namen lehren. Der Name Jeschuah/Jesus ist für sie der NAME, wie er in Ex 3,14 offenbart wird. <318> Der Name Jeschuah/Jesus ist demzufolge nichts anderes als die Aktualisierung des einen NAMENS in Israel, anders gesagt: So wie damals die Befreiung des Volkes durch den einen NAMEN geschah, so geschieht die Befreiung des Volkes und der Völker jetzt durch den Namen Jeschuah/Jesus. Er befreit ist Vergegenwärtigung der Befreiung nicht mehr aus der Sklaverei Ägyptens, sondern aus dem weltweiten Sklavenhaus Roms. Ganz nah ist dieses Wort, gegenwärtig und aktuell, es muß an die Öffentlichkeit, nicht als eine fromme Floskel, sondern als politischer Akt. Das Bekenntnis erhellt, daß diese Welt versklavt ist und befreit werden muß.
Auch, was „mit dem Herzen vertraut werden“ soll, nämlich dass „Gott … Jeschuah/Jesus aus den Toten erweckt“ hat, hört sich „wie eine abgedroschene Floskel“ an, die, „weil sie aus dem Herzen kommt“ (J234), „auch etwas zur Erbauung der Seele zu sein“ scheint. Jankowski weiß aber überzeugend zu begründen, inwiefern genau dieser „Satz … die Grundlage des öffentlichen Bekenntnisses“ ist, weil nämlich „diese Welt, so wie sie ist, nicht bleiben kann, sondern anders werden muß“, und weil „darauf … das innerliche Vertrauen, das Vertrauen, das aus dem Herzen kommt, ausgerichtet“ ist:
Es ist gleichsam Herzenssache. Was ist das deutlichste Indiz dafür, daß diese Welt total anders geworden ist? Daß Tote aus dem Tod in das Leben auferstehen. Die Rede von der Auferstehung aus den Toten, zum ersten Mal im Mund der jüdischen Märtyrer der Makkabäerzeit, ist sowohl Kampfansage gegen die Herrschenden, die mit dem Tod regieren, als auch unerschütterliche Hoffnung auf eine völlig andere, neue Welt. Für Paulus bedeutet die Auferstehung aus den Toten eine neue Schöpfung. So nachzulesen in 1.Kor 15. <319> Und für die Evangelien ist der Tag der Auferweckung des Messias der Tag eins, hēmera heis (!), jom echad, (vgl. Mk 16,9 <320>) der neuen Schöpfung. Ist aber der von den Herrschenden hingerichtete Jesus von Gott aus den Toten erweckt worden, dann ist deren Herrschaft in Frage gestellt, wenigstens von denen, die darauf aus ganzem Herzen vertrauen. Für sie ist die erhoffte neue Welt die einzige mögliche Alternative zur gegenwärtigen Ordnung der Welt. Die Befreiung der Menschheit hat Zukunft: Wenn du bekennst und vertraust, wirst du befreit werden, sōthēsē. Daß Jesus aus den Toten auferweckt wurde, ist nicht sosehr ein Dogma, an das zu glauben ist, als vielmehr eine Ermutigung für alle, die eine andere Welt wollen.
↑ Römer 10,10-13: Jeder, ob Jude oder Grieche, der dem HERRN vertraut und seinen NAMEN anruft, erlangt Bewährtheit und Befreiung
10,10 Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht;
und wer mit dem Munde bekennt, wird selig.
10,11 Denn die Schrift spricht (Jesaja 28,16):
„Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.“
10,12 Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen;
es ist über alle derselbe Herr,
reich für alle, die ihn anrufen.
10,13 Denn „wer den Namen des Herrn anruft, wird selig werden“ (Joel 3,5).
[17. August 2025] Den Vers Römer 10,10: kardia gar pisteuetai eis dikaiosynēn, stomati de homologeitai eis sōtērian übersetzt Michael Wolter folgendermaßen (W116):
Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit,
mit dem Mund aber bekennt man zum Heil.
Dabei (M126) „dreht Paulus die durch Dtn 30,14 vorgegebene Reihenfolge von ‚Mund‘/‚bekennen‘ – ‚Herz‘/‚glauben‘ chiastisch {überkreuz} um“ und stellt durch die „unpersönliche Formulierung der Verben … die Regelhaftigkeit des Zusammenhangs von Tun und Ergehen fest“. So will Paulus „Heilsgewissheit vermitteln“, indem er mit der „Präposition eis …die jeweilige Heilsfolge in derselben Weise wie in Röm 1,16 (eis sōtērian {zum Heil}) und 10,4 (eis dikaiosynēn {zur Gerechtigkeit)“ beschreibt. Wolter legt Wert darauf (Anm. 63), dass sōtēria dabei „nicht auf eine bestimmte Heilsvorstellung (z.B. Rettung aus dem Endgericht) reduziert werden“ darf, und erst recht (Anm. 65) will Paulus
nicht etwa eine Zweistufensoteriologie vortragen, der zufolge das „Glauben“ zwar in der Gegenwart als „Gerechtigkeit“ angerechnet würde, jedoch erst das „Bekennen“ die Teilhabe an dem noch ausstehenden eschatischen „Heil“ (vgl. Röm 13,11) ermöglichte <321>. Obwohl aus Röm 9,14a-b hervorgeht, dass Paulus sich das Verhältnis von „glauben“ und „bekennen“ als ein Nacheinander vorstellt, will er dem Glauben hier keine soteriologische Insuffizienz {ein auf das Heil bezogenes Ungenügen} zuschreiben.
Belege dafür (Anm. 64), dass auch in den Psalmen und im Prophetenbuch Jesaja die Begriff „dikaiosynē und sōtēria bzw. sōtērion“ parallelisiert werden, findet Wolter „in PsLXX 70,15; 97,2; 118,123; Jes 46,13; 51,5.6.8; 59,17; 62,1.“
Die drei folgenden Verse 11-13 führen Vers 10 weiter, indem (M127) zunächst Vers 11 an Vers 10a anknüpft und in Vers 13 Vers 10b aufgenommen wird, wobei Paulus „unter dem Einfluss des Zitats von Joel 3,5 homologein {bekennen} durch epikaleisthai {anrufen} ersetzt.“
In Vers 11b wiederholt Paulus das Zitat aus Jesaja 28,16, das er bereits in 9,33c gebracht hatte, aber er
ergänzt auch noch ein inklusives pas {jeder}, in dem man wie in Röm 1,16; 3,22; 4,11; 10,4 ‚nicht nur Juden, sondern auch Heiden‘ mithören muss (vgl. V. 12). Paulus beruft sich auf das Zeugnis der Schrift, um seine These von der vollen eschatologischen Heilsgewissheit des Christus-Glaubens zu untermauern: Für die Teilhabe am eschatischen Heil gibt es keine weitere Bedingung; der Christus-Glaube ist dafür voll und ganz hinreichend. ou kataischynthēsetai {wird nicht zuschanden} bezeichnet dasselbe Geschehen wie sōthēsē {wirst du gerettet} bzw. sōthēsetai {wird gerettet} (V. 9c.13) und eis sōtērian {zum Heil} (V. 10b).
Was Paulus „mit seiner Eintragung von ‚jeder‘ (pas) in das Zitat von Jes 28,16 zum Ausdruck bringen wollte“, wird in Vers 12 näher entfaltet, dass nämlich „der Christus-Glaube, dem das eschatische Heil zugesagt ist, den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden theologisch bedeutungslos macht.“ Zu diesem Zweck nimmt Paulus
das pas {jeder} von V. 11b nicht nur durch „Jude und Grieche“ (V. 12a) auf, sondern er schreibt es auch durch pantōn {über allen} bzw. eis pantas {für alle} fort (V. 12b.c). Es ist kein Zufall, dass die Formulierung ou gar estin diastolē {denn es gibt keinen Unterschied} (V. 12a) ihre wörtliche Entsprechung in Röm 3,22 hat, wo Paulus mit ihr seine Zusammenfassung von Röm 1,18 – 3,20 einleitet: Genauso wie die Sünde fungiert auch der Glaube als ‚Gleichmacher‘, der alle Unterschiede, die zwischen Menschen bestehen, theologisch depotenziert.
Genau zu betrachten ist die Art und Weise, in welcher nach Wolter diese „Feststellung … die Abgrenzung von der Tora“ impliziert, nämlich
insofern deren Aufgabe darin besteht, Israels Unterscheidung von den Völkern zu objektivieren (vgl. EpArist 151 <322>: die Gebote wurden gegeben, „weil wir uns von allen Menschen unterschieden“ [dioti para pantas anthrōpous diestalmetha]; s. auch ebd. 152).
Nicht die Tora als solche wird von Paulus also für aufgehoben erklärt, sondern allein ihre Israel von den Völkern trennende Funktion.
Vers 12b: ho gar autos kyrios pantōn {wörtlich: denn derselbe Herr aller} ist (Anm. 71) vom Satzbau her „nicht klar“. Wolter meint, es müsse „zu ho autos {derselbe} ein elliptisch ausgefallenes kyrios zu ergänzen“ sein {denn derselbe Herr ist der Herr über alle}. Jedenfalls (M127) ist der „Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen dadurch aufgehoben, dass beide sich ein und demselben ‚Herrn‘ unterworfen haben.“ Aber ist der „kyrios, von dem Paulus hier spricht“, wirklich „derselbe wie in V. 9a: Jesus Christus“? Es gibt auch Exegeten (Anm. 72), die meinen, „dass Paulus hier von Gott spricht“ <323>. Für die Übersetzung von pantōn gilt Wolter zufolge (M127f.), dass das Wort „aus V. 12a ‚Jude und Grieche‘“ aufnimmt und hier „als Maskulinum … (‚über alle‘) und nicht als Neutrum“ aufzufassen ist.
In Vers 12c: ploutōn eis pantas tous epikalumenous auton {er ist reich für alle, die ihn anrufen} (M128) wird der „Kyrios … mit einer metaphorischen Prädikation“ versehen, die mit „der Überschreitung der Grenzen Israels und der Einbeziehung der Nichtjuden in das Heil“ zusammenhängt und „– um im Bild zu bleiben – dessen soteriologisches ‚Vermögen‘ zum Gegenstand hat. Es ist so groß, dass es für alle Menschen reicht.“ Später wird Paulus auch in Römer 11,12 noch einmal „‚Heil‘ zu ‚Reichtum‘“ verallgemeinern.
Mit pantas tous epikaloumenous {alle, die anrufen} nimmt Paulus nicht nur seine eigene „Rede vom ‚Bekennen‘ (homologein) aus V. 9a.10b“ wieder auf, sondern auch eine „Sammelbezeichnung für die Frommen im Gottesvolk“, die in den Psalmen (z.B. 85,5; 98,6; 144,18) „mit Gott oder seinem Namen als Objekt“ verwendet wurde und „im frühen Christentum“ (M129) auf „Christus“ als dem „Angerufenen“ bezogen wird („Apg 9,14.21; 1Kor 1,2; 2Tim 2,22“).
In Vers 13 gibt Paulus wörtlich ein Zitat aus Joel 3,5 wieder, ohne „diese Herkunft … kenntlich“ zu machen. Wenn Wolter schreibt: „Wahrscheinlich hat er diesen Text auf Grund seiner sprachlichen Nähe zu eis pantas tous epikaloumenous auton {für alle, die ihn anrufen} (V. 12c) assoziiert“, widerspricht er ein wenig sich selbst, denn zuvor (M127) hatte er umgekehrt argumentiert, dass Paulus hier „unter dem Einfluss des Zitats von Joel 3,5 homologein {bekennen} durch epikaleisthai {anrufen} ersetzt.“
In seiner Parallelität „zu V. 11b (pas ho pisteuōn ep‘ autō ou kataischynthēsontai {jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden})“ will
auch das inklusive pas {jeder} in V. 13 die Aufhebung des Unterschieds zwischen „Juden und Griechen“ (V. 12a) betonen … Darüber hinaus entspricht der Parallelismus von V. 11b („glauben“) und V. 13 („anrufen“) der Komplementarität von „glauben“ und „bekennen“ in V. 9-10. Damit gehen zwei Veränderungen einher, mit denen Paulus das Zitat versieht, ohne dass sie aber auf der Textoberfläche zu erkennen wären: Der aus Joel 3,5 zitierte Text ist dort Bestandteil eines Israel geltenden Heilswortes, und der kyrios, dessen Name dort angerufen wird, ist natürlich Gott. Demgegenüber geht Paulus mit pas über die Grenzen Israels hinaus und identifiziert den kyrios wie bereits in V. 12b mit Jesus Christus.
Für Gerhard Jankowski ist es nicht so einfach wie für Wolter ausgemacht, dass in den Versen 12 und 13 das Wort kyrios kurzerhand auf Jesus zu beziehen ist. Wenn überhaupt, dann muss, worauf er in seiner Auslegung von Römer 10,9a bereits hingewiesen hat, beachtet werden, in welcher Weise sich die Anrufung des Namens Jesu auf den befreienden NAMEN des Gottes Israels bezieht, nämlich um diesen zu aktualisieren.
Im Blick auf die Verse Römer 10,10-13 konzentriert sich Jankowski (J234) darauf, dass Paulus ein „Sätzchen Thora … sehr aktuell aus[legt]“. Er meint das wiederholte Zitat aus Jesaja 28,16 in Vers 11, und steuert darauf zu, indem er zunächst erläutert, in welchen Zusammenhängen Vers 10 zu begreifen ist:
Er [Paulus] hatte erkannt, daß es unter den gegebenen Verhältnissen unmöglich ist, Thora zu tun. Diese Erkenntnis bringt ihn und andere dazu, gegen die herrschenden Verhältnisse zu stehen und für eine Welt, in der eine Menschheit sich im Tun der Thora bewähren kann. Das aber kann nur geschehen, wenn die Befreiung von Gott her nicht ein Phantom bleibt, sondern real wird. Was Herzenssache ist und der innerste Wunsch, daß sich Menschheit als Menschheit bewährt, das muß dann auch offen gesagt werden. Es muß bekannt werden, öffentlich, daß Befreiung notwendig und möglich ist. Geschieht das, dann fängt die Bewährtheit, die Wahrheit über den Zustand der Welt, an. Deswegen (10,10):
Mit dem Herzen wird auf Bewährtheit hin vertraut,
mit dem Mund aber wird auf Befreiung hin bekannt.
Unmittelbar nach diesen Worten greift Paulus (J234f.) ein zweites Mal „auf das Zitat aus Jes 28,16“ zurück, „das wir bereits bei Röm 9,33 hörten“, und fügt das Wort „pas, allwer, jeder und jede, hinzu“. Damit „ergänzt er es interpretierend“, denn ihm zufolge gelten die eben formulierten Sätze „für jeden und jede, pas“ (J235):
Und dabei ist er wieder bei seinem Thema. Jeder und jede, das meint eben Juden und Griechen. Juden und Nichtjuden können auf den aus den Toten Erweckten vertrauen. Sie können vertrauen, daß Befreiung möglich ist, und sie können bekennen, daß Befreiung notwendig geworden ist. Die da vertrauen und bekennen, Juden und Nichtjuden, werden dabei nicht zuschanden. Sie sind nicht mehr die Schande, vor der sich alle Welt schämen muß. Im Gegenteil, sie sind bestimmt zur Freiheit. Denn der eine Gott, der sein Volk aus der Sklaverei Ägyptens befreite, als es zu ihm schrie und sich auf den NAMEN berief, diesem befreienden Programm, der wird auf neue und andere Weise alle befreien, die jetzt diesen NAMEN bekennen und laut ausrufen. So hatte es schon Joel, der Prophet, gesehen, aus dessen Buch, Kap. 3,5, Paulus zitiert: Allwer aufruft des EWIGEN Namen, wird befreit werden. Stand am Anfang der aktualisierte Name Jeschuah/Jesus, so steht hier der NAME, der in Israel Befreiung bedeutet. Es geht eben um keinen anderen NAMEN, auf den alle vertrauen können, als um den EINEN, der immer bleibt, aber unter anderen Bedingungen sich zeitgemäß ereignet.
Jankowski betont um „der Klarheit willen“, das das „zu Nichtjuden“ gesagt ist:
Gerade auch für sie bleibt der NAME verpflichtend. Nur in ihm wird deutlich, was Befreiung ist. Das werden sie lernen müssen. Lernen müssen aber auch die Juden. Sie werden lernen müssen, mit der aktualisierten Form des NAMENS umzugehen.
Was Wolter (M128) „Heidenmission“ nennt und zur „Überschreitung der Grenzen Israels und der Einbeziehung der Nichtjuden in das Heil“ führt, ist nach Jankowski also bei Paulus so zu verstehen, dass tatsächlich die Völker von Israel zu lernen haben, worum es bei der Anrufung des Namens Jesu geht. Wird Jesu Name nicht vom befreienden NAMEN des Gottes Israels her begriffen, dann besteht die Gefahr, den Kyrios Jesus in einen Herrschergott hellenistischer Prägung zu verwandeln, gegen den sich schon Hiob zu Recht auflehnte (vgl. oben die Auslegung von Römer 9,20).
↑ Römer 10,14-15: Bekennen setzt Vertrauen, Hören, Ausrufen, Gesandtwerden mit der befreienden Botschaft voraus
10,14 Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben
Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben?
Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?
10,15 Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?
Wie denn geschrieben steht (Jesaja 52,7):
„Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!“
[18. August 2025] Nachdem die Verse Römer 10,9-13 (M129) „das Zitat aus Dtn 30, 14 in V. 8b entfaltet und diejenigen in den Blick“ genommen haben, „die das verkündigte ‚Wort‘ glauben und bekennen“, knüpfen Michael Wolter zufolge die Verse 14-15 „an V. 8c an“, indem sie „das komplementäre Pendant“ thematisieren, nämlich „diejenigen, die das ‚Wort des Glaubens‘ verkündigen“. Dies geschieht sowohl durch „die Wiederaufnahme von kēryssein {verkündigen} aus V. 8c in V. 14c.15a“ als auch „in V. 15c“ durch das Wort „euangelizesthai {Gutes frohbotschaften} im Zitat von Jes 52,7“. Nach Paulus kann „es keine ‚Nähe‘ des Wortes ‚in Mund und Herz‘ (V. 8b)“ geben,
ohne dass Menschen es im Auftrag Gottes verkündigen. Als Ausgangspunkt nimmt er das „Anrufen“ (epikaleisthai), von dem in V. 12c.13 die Rede war, und führt es in V. 14-15a mit Hilfe eines vierschrittigen rekursiven Kettenschlusses (klimax bzw. gradatio) über pisteuein {glauben}, akouein {hören}, kēryssein {verkündigen} bis zum apostalēnai {gesandt werden} der Verkündiger. ‚Rekursiv‘ ist dieser Kettenschluss darum, weil er im Unterschied z.B. zum Kettenschluss von Röm 5,3-4 nicht gewissermaßen zentrifugal Folgerungen auseinander ableitet, sondern in umgekehrter (zentripetaler) Richtung den jeweiligen Voraussetzungen bis zum Ursprung nachgeht.
Der Kettenschluss endet „mit apostalōsin {sie wurden gesandt} (V. 15a)“, da hinter diesem „passivum divinum … die Autorität Gottes oder Christi“ steht, durch die sowohl die (M130) „Verkündiger und ihr ‚Verkündigen‘ sowie dann auch das ‚Anrufen‘ derer, die auf das ‚Hören‘ der Verkündigung mit ‚Glauben‘ reagiert haben“, ihre Legitimation erhalten.
Die „vier Schritte“ des Kettenschlusses sind „rhetorische Fragen“, die „durchweg mit pōs {wie} eingeleitet werden und … durchweg Negationen“ formulieren: „‚Niemand kann …‘, oder ‚es ist ausgeschlossen, dass . . .‘.“ Dabei nehmen die Worte epikaleisthai {anrufen}, pisteuein {glauben} und akouein {hören} „nicht die Juden in den Blick, sondern die ‚den Herrn anrufenden‘ pantes {alle} aus Juden und Heiden, von denen Paulus in V. 12 gesprochen hatte“, während sich die Wort keryssein {verkündigen} und apostellein {senden} auf „die Verkündiger der Christusbotschaft“ beziehen.
Die Letzteren wiederum stellt Paulus in Vers 15b-c mit einem
Wort aus Jes 52,7 … in das Licht der Beschreibung des Heilsboten, der den Anbruch von Gottes Königsherrschaft verkündet. Er deutet damit die Verbreitung des Evangeliums von Jesus Christus durch ihn selbst und die anderen ‚Gesandten‘ (Apostel) als Erfüllung der in Jes 52,7 ausgesprochenen prophetischen Verheißung. Eine Fokussierung auf ihn selbst und seine Heidenmission ist nicht zu erkennen.
„Umgekehrt“ hebt Wolter aber hervor, dass Paulus in seinem Jesaja-Zitat „alle Elemente“ aus „der hebräischen und … der griechischen Bibel“ <324> weglässt, „die Jes 52,7 zu einem unüberhörbaren Heilswort für Zion-Jerusalem machen“. Stattdessen gibt er (M131f.)
dem Zitat … eine ganz andere Ausrichtung: Es geht ihm nicht darum, den Anbruch des eschatischen Heils für das Gottesvolk zu proklamieren, sondern er will mit Hilfe des Zitats die Überbringer der Heilsbotschaft charakterisieren. Paulus spricht nicht lediglich über sich selbst, sondern über alle Verkündiger der Christusbotschaft, von denen er in V. 15a gesagt hatte, dass sie „verkündigen“ und „gesandt wurden“.
Welchen Sinn macht aber der hier von Wolter konstruierte Gegensatz zwischen der Charakterisierung der „Überbringer der Heilsbotschaft“ und der Proklamation „des eschatischen Heils für das Gottesvolk“? Gerade indem „Paulus nur einen kleinen Ausschnitt aus Jes 52,7 zitiert“, ruft er doch genau die ursprünglich nur Israel geltende „Heilsbotschaft“ ins Gedächtnis, und er charakterisiert die jetzigen „Überbringer der Heilsbotschaft“ als solche, die nun auch die Völker in die Heilsbotschaft für Israel mit hineinnehmen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang (M132), dass Paulus Wolter zufolge mit „dem letzten Wort des Kettenschlusses (apostalōsin {sie wurden gesandt}; V. 14c) und dem Zitat von Jes 52,7 in V. 15c … auf Gott als diejenige Instanz“ verweist,
die die vom apostolischen Wir verkündigte „Botschaft des Glaubens“ (V. 8c) autorisiert. Diese Rückbindung weist zurück auf Röm 9,33 und identifiziert die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus als diejenige Weise von Gottes Handeln, die Paulus dort unter Rückgriff auf Jes 28,16 und 8,14 beschrieben hat: Sie ist der „Stein des Anstoßens“, den Gott selbst den Menschen in den Weg gelegt hat und der für sie je nach Reaktion zum Heilsverlust oder zum Heilsgewinn geführt hat.
Ausgerechnet in Vers 9,33 erwähnt Paulus aber im Zitat aus Jesaja 28,16 ausdrücklich den Gottesberg Zion, den er nach Wolter angeblich im Zitat aus Jesaja 52,7 absichtlich weggelassen haben soll. Auch für ihn muss doch wohl gelten, was Wolter nur auf den „Stein des Anstoßens“ selbst bezogen wissen will:
Dass Paulus diesen Zusammenhang zwischendurch nie aus dem Blick verloren hat, gibt das nochmalige Zitat aus Jes 28,16 in Röm 10,11 zu erkennen. Vielleicht kann man darum sagen, dass Paulus in 10,5-15 den Schluss des Zitats von Jes 28,16 in 9,33c erläutert: dass das pisteuein ep‘ autō {an ihn glauben}, dem die Heilzusage gilt, nirgendwo anders stattfindet als dort, wo der apostolischen Christus-Verkündigung geglaubt wird. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass in Röm 10,5-15 die Israel-Frage zwar nicht auf der Textoberfläche er scheint, im Hintergrund aber durchaus präsent bleibt. – Im nächsten Abschnitt tritt sie nun auch wieder von außen erkennbar in den Vordergrund.
Der letzte Satz erklärt, warum Wolter meinte, den Abschnitt „3.3.2 Das Heil wird durch die Christusbotschaft zugänglich (10,5-15)“ vom Abschnitt „3.3.3 Eifersucht auf die Heiden (10,16-21)“ trennen zu müssen, obwohl die „Christusbotschaft“ doch gerade auch einem Israel gilt, das sich gemeinsam mit den „Heiden“ vom rufen lässt.
Für Gerhard Jankowski (J235) bilden gerade die Übergangsverse zwischen diesen von Wolter als getrennt empfundenen Abschnitten einen eigenen Zusammenhang unter der Überschrift „Hören 10,14-17“. Gerade für den so überschriebenen Abschnitt gilt in besonderem Maße (J236), dass er durchgehend „durch Stichwortverbindungen“ aus verschiedenen Wortfeldern geprägt ist, beginnend mit dem Stichwort epikaleisthai {anrufen, aufrufen}, das in Vers 14 vom „Ende des letzten Abschnitts … wieder aufgenommen“ wird und nun „einen neuen Gedankengang“ einleitet:
Wenn jemand etwas ausruft, dann rechnet er damit, daß er Gehör findet. So korrespondiert nun im Folgenden dem Stichwort an/aufrufen das Stichwort hören.
Paulus verwendet für „beide Stichworte“ außerdem noch „mehrere verschiedene Worte“, und zwar „für das Wortfeld rufen“ außer epikaleisthai die Worte kēryssein und euangelizesthai sowie „für das Wortfeld hören“ die Worte akouein, hypakouein und akoē. Da die hier ausgelegten Verse 14-15 vom ersten Wortfeld dominiert sind, gehe ich zunächst nur darauf ein und werde erst in der Auslegung der Verse 16-17 auf Jankowskis Ausführungen zum zweiten Wortfeld zurückkommen.
Das Ergebnis der sprachlichen Analyse von epikaleisthai ist in Jankowskis Augen
noch verhältnismäßig eindeutig. Das Kompositum kann bedeuten: herbeirufen, einladen, appellieren, aufrufen, anrufen. In der LXX ist es Übersetzung von qrˀa, rufen.
Nicht so einfach ist es mit der Bedeutung von kēryssein, einer anderen „Übersetzung dieser hebräischen Wurzel“. Zwar kommt dieses Verb (J236f.)
der hebräischen Wurzel auch vom Lautklang her sehr nahe, wird aber nicht als ständige Übersetzung von der LXX verwendet. Das zeigt an, daß es hier um ein qualifiziertes Rufen geht. Sehr pointiert wird es dann in den Evangelien und in den anderen apostolischen Schriften gebraucht, so daß es dann in der christlichen Theologie in der Nominalform zu einem sehr gefüllten theologischen Begriff wird: Kerygma. Wir bleiben jedoch zunächst bei dem Verb. Es bezeichnet wohl ursprünglich die Tätigkeit eines öffentlichen Ausrufers, der einen Erlaß des Herrschers (oder der Götter) zu Gehör bringt oder das Erscheinen des Herrschers ankündigt. Es geht also um das, was ein Herold in früheren Zeiten getan hat. Dieses Amt und seine Verrichtung ist in der Schrift so gut wie unbekannt. Bezeichnenderweise hat die LXX es in diesem Sinn nur in Gen 41,43. Da aber sind wir in Ägypten, am Hof des Pharao, wo selbstverständlich ein Herold seines Amtes waltete, um den Abstand zwischen dem Herrscher, seinen hohen Beamten und dem Volk zu wahren. Sonst verwendet die LXX das Wort verhältnismäßig selten, setzt es also nicht als geläufige Übersetzung für qrˀa ein. Was gemeint sein könnte, ist aus Jes 61,1ff. zu erschließen:
1 Meines Herren, des Ewigen, Geist ist auf mir,
weil der Ewige mich gesalbt hat,
mich gesandt hat,
Gute Botschaft zu bringen (euangelisasthai) den Demütigen
zu verbinden, die gebrochenen Herzens,
kundzutun (kēryssein) Gefangenen: Loskauf!
Eingekerkerten: Auferhellung!
2 auszurufen (kalesai) ein Jahr der Gnade des EWIGEN …Hier ist ein Prophet von Gott beauftragt, den Gefangenen die Befreiung anzusagen, sie ihnen unmittelbar kundzutun. Das ist mehr als das, was ein Herold zu tun hat. Es ist prophetische, wegweisende, ermutigende Kunde, die in diesem Wort laut wird. Weil die Ekklesia Jes 61,1ff., wie aus Luk 4 zu ersehen ist, messianisch gedeutet hat, benutzt sie das Verb für das, was der Messias als befreiendes und lösendes Wort gesagt hat. So erhält es in der Ekklesia seine besondere Bedeutung. Luther und ihm folgend andere werden das Verb dann mit predigen übersetzen. Das aber ist dann schon wieder eine protestantisch geprägte Übersetzung. Wir sagen kundtun und denken dabei daran, daß das Wort sowohl die prophetische wie auch die messianische Sphäre aufruft.
Ähnlich wie das Wort kēryssein ist auch das Verb euangelizesthai seiner urspünglichen Bedeutung in der Bibel erheblich entfremdet worden:
Eingedeutscht mit evangelisieren oder in der Nominalform dann mit Evangelium ist es eindeutig ein Terminus der Ekklesia und später dann protestantisch besetzt. Die ursprüngliche Bedeutung ist: eine freudige Nachricht überbringen. LXX übersetzt damit die Wurzel bisser (Piel). Wir hörten das Wort bereits oben bei Jes 61,1ff. Paulus zitiert in unserem Abschnitt aus Jes 52, wo wir das Verb und das Nomen sehr pointiert gebraucht finden. Dort heißt es (52,7):
Wie anmutig sind auf den Bergen
die Füße des guten Botschafters, euangelizamenos,
der hören läßt: Friede!
der gute Botschaft bringt, euangelizamenos,
der hören läßt: Befreiung!,
der zu Zion spricht:
Dein König trat die Königsschaft an.Die gute Botschaft, das Evangelium, ist hier die Proklamation der Herrschaft Gottes in Zion und damit zugleich die Befreiung für Israel und die Völker. Die Proklamation ist gleichzeitig die Verwirklichung von Friede und Befreiung.
Es ist Jankowski bewusst, dass „eindeutig… auch diese Stelle der Schrift von der Ekklesia messianisch ausgelegt wurde“, auch von Paulus:
So wird dann das Verb und vor allem das Nomen nicht nur ein Terminus der Ekklesia, sondern einer ihrer zentralen Begriffe. Wir vermeiden die Eindeutschung von Verb und Nomen, um uns nicht von vornherein dadurch den Zugang zu ihrer Bedeutung zu versperren, und übersetzen zur guten Botschaft bringen, Gute Botschaft.
↑ Römer 10,16-17: Nicht alle hörten auf die befreiende Botschaft, also Vertrauen kommt aus dem Gehörten, das Gehörte aber durch des Messias Wort
10,16 Aber nicht alle waren dem Evangelium gehorsam.
Denn Jesaja spricht (Jesaja 53,1):
„Herr, wer glaubte unserm Predigen?“
10,17 So kommt der Glaube aus der Predigt,
das Predigen aber durch das Wort Christi.
[19. August 2025] Ausnahmsweise folge ich zur Auslegung der nächsten beiden Verse zuerst dem soeben begonnenen Gedankengang von Gerhard Jankowski, der im Blick auf den Gesamtzusammenhang von Römer 10,14-17 schließlich noch (J237) „einen Blick auf die hier von Paulus gebrauchten Worte für das Wortfeld hören“ wirft, dessen „Grundwort … akouein, hören“, ist. Für zwei davon abgeleitete Worte sind die Übersetzungen mit gehorsam sein bzw. Predigen üblich geworden, die aber nicht unbedingt den ursprünglich von Paulus beabsichtigten Sinn treffen. Da ist auf der einen Seite (J237f.)
das Kompositum hypakouein. Es bedeutet hinhören, anhören, Gehör schenken, hinhorchen. Schenkt man jemandem oder etwas Gehör, so läßt man sich auf ihn oder es ein, man gehorcht. Auch diese Bedeutung ist möglich, jedoch selten, auch wenn in den deutschen Übersetzungen fast ausschließlich so übersetzt wird. Das mag mit der deutschen Mentalität zu tun haben. In der Schrift jedoch hört man auf etwas hin und tut dann das, was gesagt wird, oder spricht dagegen. Das kann man Gehorchen nennen, hat aber nichts mit Kadavergehorsam zu tun. Wir entscheiden uns für Gehör schenken.
Auf der anderen Seite steht in „engem Zusammenhang mit dem Hinhören auf das, was gesagt wird“, das Wort akoē (J238):
Die Grundbedeutung ist Gehör. Das Wort kann dann auch Synonym für Ohr sein. In der Wendung ex akoēs bedeutet es vom Hörensagen her. In dieser Bedeutung hat es auch die LXX. Sie übersetzt damit das hebräische schemuah. Dieses Wort wiederum benutzen die Rabbinen zur Kennzeichnung der Tradition, der sie sich verpflichtet fühlen. So heißt es z.B. in mEd {Mischna ˁEduyot} 5,7:
„… Ich habe aus dem Mund einer Mehrheit gehört, und jene haben aus dem Mund einer Mehrheit gehört. Ich blieb bei meinem Erhorchten (schemuah), jene blieben bei ihrem Erhorchten. Du aber hast aus dem Mund eines einzelnen und aus dem Mund der Mehrheit gehört, besser also die Worte des einzelnen zu lassen und die Worte der Mehrheit festzuhalten.“
Die schemuah ist hier die Tradition, der man als Lehrer folgt. Sie kann aufgegeben werden, wenn sie nicht mit der Tradition der Mehrheit übereinstimmt. Die Tradition aber entsteht aus dem Weitergeben des Gehörten. Hören, hinhören ist eine der vornehmsten Aufgaben Israels. Es wird an diese Aufgabe erinnert, erinnert sich selbst daran, jedes Mal, wenn das Schma Jisrael, Höre, Israel! erklingt. Um diesen Zusammenhang zu wahren, übersetzen wir akoē mit das Erhorchte.
Jankowski gibt dementsprechend die Verse 16-17 folgendermaßen wieder (J236):
16 Aber nicht alle haben der Guten Botschaft Gehör geschenkt.
Denn Jesaja sagt:
Ewiger,
wer hat dem von uns Erhorchten vertraut?
17 Also:
die Treue aus Erhorchtem,
das Erhorchen aber durch des Messias Wort.
So hört sich das, was Paulus von Jesaja zitiert und selber sagt, nicht mehr ganz so vertraut an, als rede ein evangelischer Pfarrer von seiner letzten Sonntagspredigt, und gerade diese Verfremdung mag den Weg zu tieferem Verstehen öffnen.
Jankowski zufolge sagt Paulus: „Die Treue folgt aus dem Erhorchten“, also ergibt sich das, was „Treue ist und worauf zu vertrauen ist, … aus der Überlieferung, auf die gehört und die weitergesagt wird. Daran hält auch Paulus fest.“ Aber zugleich ist er
sich wohl darüber im klaren, daß seine Tradition nicht von der Mehrheit geteilt wird. Sie wird sogar abgelehnt. Dennoch entwickelt er, wohl eher für die Ohren der Nichtjuden bestimmt, wie sich eine Überlieferung gestaltet. Das Ziel einer Traditionskette ist das Aufrufen der befreienden Taten Gottes und ihre Vergegenwärtigung. Die geschieht durch das Vertrauen. Vertrauen aber ist nur möglich, wenn hingehört wird auf das, was als befreiende Taten ausgerufen und kundgemacht wird. Der das öffentlich macht, muß einen Auftrag dafür haben, er muß gesandt sein.
Von dieser „Traditionskette“, innerhalb derer die „befreienden Taten Gottes“ aufgerufen werden, bis hin zum Gesandtsein war in den Versen 14-15 die Rede gewesen:
Paulus nahm für sich in Anspruch, im Auftrag zu handeln und zu reden, gesandt, Apostel zu sein. Sein Auftrag freilich war nicht durch die Mehrheit eines Gremiums legitimiert. In diesem Sinn handelte er ohne Geschäftsauftrag. Er leitete seine Beauftragung vom Messias her, wie er es in Gal 1,1 formuliert: „Gesandter nicht von Menschen und auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Messias und Gott, Vater, der ihn aus Toten erweckt hat.“
Diese Beauftragung steht im Hintergrund dessen, was Paulus hier in Vers 17 sagt, dass „das Erhorchen durch des Messias Wort kommt“, denn er (J238f.)
fühlt sich der messianischen Tradition verpflichtet, der Tradition also, die in dem gründete, was über und vom Messias gesagt war. Mit anderen hatte er diese Traditon in den prophetischen Schriften gefunden, vor allem in den Schriften, die Jesaja und seiner Schule zugeschrieben werden. So zitiert er hier aus Jes 52 und 53. Die Frage aus Jes 53,1 „Wer hat dem von uns Erhorchten vertraut?“ wird zu seiner Frage. Sieht er sich wie dieser Prophet, der in seiner Zeit mit seinem Erhorchten, seiner Tradition also, nicht bei allen Gehör fand?
Die in Vers 15 zitierte Stelle Jesaja 52,7 von den Füßen der Frohbotschafter ist nach Jankowski (J239)
wiederum … immer schon auf die messianische Zeit gedeutet worden, in der Gott seine Herrschaft antritt, den Frieden macht und so die Befreiung vollendet. Für Paulus war diese Stelle insofern wichtig, als das Prophetenwort in Jes 52 mit einem kräftigen Hinweis auf die Völkerwelt, die Gojim, schließt (52,10):
Bloßgestreift hat der Ewige
den Arm seiner Heiligung
vor aller Gojim Augen,
daß sehen alle Enden der Erde
die Befreiertat unseres Gottes.Das war ja sein Ziel, daß die Gojim nicht nur die Befreiertat Gottes sehen, sondern daran Anteil haben sollten. Und der Paulusschüler Lukas wird geradezu programmatisch am Ende seiner Apostelgeschichte erklären: „Zur Kenntnis euch: den Gojim wurde gesandt diese Befreiertat. Und sie werden hören“ (Apg 28,28). Es ist nicht daran zu zweifeln, daß sich Paulus auch als einer von denen ansah, die die Gute Botschaft, das Evangelium, öffentlich ausriefen und damit die messianische Zeit ansagten. lm übrigen gebraucht die LXX bei Jes 52,7 auch das Wort akoē. Sie kennzeichnet damit den Inhalt dessen, was der Botschafter zu sagen hat. Auch sie also benutzt das Wort schon im Sinn von Tradition.
Abschließend macht sich Jankowski zu den Versen 14-17 Gedanken darüber, warum Paulus einen so starken Akzent auf das Hören legt. Seine Antwort geht der Frage nach, wie das Hören in Israel auf das Tun der Gebote und auf befreiende Taten hinausläuft:
Wir erwähnten bereits das Schma Jisrael, in dem das Hören an erster Stelle steht. Als die Thora am Sinai dem Volk gegeben wird, steht das Tun vor dem Hören: „Alles, was der EWIGE geredet hat, wir tun es, wir hören es“ (Ex 24,7). Das Buch Deuteronomium fordert zwar zum Hören auf, aber geradezu unermüdlich betont es, daß vor allem die Gebote der Thora zu wahren sind im Tun. Und das hat Israel getan. Das wird auch von Paulus nicht kritisiert, wenn er den Akzent auf das Hören legt. Hören wird für ihn zur Pflicht. Aus dem Hören kann und muß dann das Tun erfolgen. Anders gesagt: Bevor es ans Tun geht, muß man im Lehrhaus gesessen haben, wo es ja ganz und gar auf das Hören ankommt.
Wie ist es aber nun mit dem Hören in einem solchen Lehrhaus, wenn die Botschaft, die Paulus durch den Messias Jesus empfangen hat, auch die Völker in die „Befreiertat Gottes“, die ursprünglich nur Israel galt, mit einbezieht? Es war „notwendig“, dass „die Nichtjuden in ein Lehrhaus mußten, um das Hören zu lernen.“ Doch auch von Juden erwartete Paulus unter den neuen messianischen Bedingungen eine neue Art und Weise des Hörens (J239f.):
Auch sie hatten gehört und hörten noch. Dafür ertönte das Schma Jisrael zu oft und zu laut, als daß sie das vergäßen. Aber ihre Herzensangelegenheit lag eher beim zweiten Teil dieses Bekenntnisses, bei der Thora und ihren Geboten. Sie waren zu lehren, zu lernen, zu tun. Das ist die eine Tradition Israels. Die andere nicht weniger wichtige, nennen wir sie die prophetische, die davon ausgeht, daß das unmittelbar Gehörte in befreiende Taten mündet, war da ins Hintertreffen geraten. Sie war wieder neu zu entdecken, gerade in einer Zeit und unter gesellschaftlichen Bedingungen, in denen es unmöglich ist, nach der Thora zu leben. Es war an der Zeit, das prophetische, messianisch ausgelegte Wort wieder zu hören. Wurde es gehört?
Was Paulus nach Jankowski hier zunächst nur andeutet, dass unter den Juden nicht alle der befreienden messianischen Botschaft ihr Gehör schenkten, tritt für Michael Wolter (M117) ab Vers 16 so sehr zutage, dass er im gesamten Abschnitt 10,16-21 erneut das „bereits in 9,30 – 10,4“ angesprochene Thema der „Zurückweisung des Evangeliums durch die große Mehrheit Israels“ behandelt sieht. Nachdem Paulus (M133) in Römer 10,5-15 „die Eigenart der ‚Gerechtigkeit aus Glauben‘ durch den Aufweis des Zusammenhangs von Glauben und Verkündigung erläutert“ hat, spricht er nun „über diejenigen, die auf die Christus-Verkündigung mit Unglauben reagiert haben“. Während in Vers 16 zunächst nur „implizit schon das nichtchristliche Israel im Blick“ ist, geht es ab Vers 19 ausdrücklich um „die nichtchristliche Mehrheit Israels“, eine „Bewegung“, die Wolter mit derjenigen vergleicht, „die in Röm 2 vom anthrōpos pas ho krinōn {jeder Mensch, der richtet} (V. 1) zum Ioudaios {Juden} (V. 17) verläuft“, und die in Römer 10,19-21 darauf hinausläuft, dass „Paulus wie bereits zu Beginn dieses Abschnitts (vgl. 9,30-31) die Geschicke Israels und der Völker einander“ gegenüberstellt.
Zur Formulierung ou pantes {nicht alle} in Vers 16a meint Wolter, dass nach „den Ausführungen in Röm 10,11-15 … ‚alle‘… erst einmal nur alle Menschen sein“ können,
denen die „Botschaft des Glaubens“ (V. 8c) verkündigt worden ist, d.h. Juden und Nichtjuden. Unterhalb der Textoberfläche richtet sich der Fokus aber bereits auf die nichtchristliche Mehrheit Israels. Das ou pantes ist darum dasselbe ou pantes wie in 9,6b, und wie dort kann es auch hier eine Litotes {Verneinung des Gegenteils} sein, mit der Paulus deutlich machen will, dass nur ganz wenige aus Israel auf die Botschaft der Verkündiger mit Glauben reagiert haben.
Im Blick auf das Wort hypakouein {gehorchen} schließt Wolter nicht aus (M133f.), dass es „wortspielerisch auf akouein {hören} (V. 14b.c) zurück- oder auf akoē {Botschaft} (V. 16c) vorausweist“. Zur Bedeutung von hypakouein schreibt er (M134):
Genauso wie in Röm 6,17; Phil 2,12 oder wie hypakoē {Gehorsam} in Röm 1,5; 15,18; 16,19; 2Kor 10,5 (s. auch 2Thess 1,8; Apg 6,7: hypakouein tē pistei {dem Glauben gehorchen}) ist hypakouein hier Umschreibung für „glauben“. „Dem Evangelium nicht gehorchen“ bedeutet dasselbe wie „sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterordnen“ (ouch hypotassesthai; 10,3) oder am „Stein des Anstoßens und Felsen der Falle“ Anstoß nehmen (9,32b-33).
Dass Paulus in Vers 16b-c den Ungehorsam gegenüber „der apostolischen Verkündigung in das Licht von Jes 53,1a“ stellt, wo es „um Israel geht“, ist nach Wolter
kein zwingendes Indiz dafür, dass Paulus bereits in V. 16 vom speziell jüdischen Unglauben spricht. Kurz davor, in V. 15b-c, konnte er ja die auch die Heiden einschließende Sendung der Verkündiger unter Rückgriff auf Jes 52,7 deuten und dabei die ursprüngliche Fokussierung dieses Textes auf das Heil Israels über Bord werfen.
Jedenfalls ist die „Frage in Jes 53,1 … wie die analogen tis-{wer-}Fragen in Röm 8,31-35; 9,19; 11,34.35 rhetorisch und will mit ‚Niemand!‘ beantwortet werden“, womit Paulus übertreibend feststellt, „dass es keinen gibt, bei dem die akoē {Botschaft} der Verkündiger Glauben gefunden hat.“
Vers 17 ist Wolter zufolge als „Zwischenbemerkung“ zu verstehen, mit der Paulus (M134f.) etwas erläutert, was „sich aus der Zuordnung von pisteuein {glauben} und akoē {Botschaft} in Jes 53,1 ergibt“, nämlich (M135)
dass aus dem Zitat hervorgeht (ara {demnach}), dass der „Glaube“ die akoē {Botschaft} zur Voraussetzung hat. Die Anknüpfung an den Wortlaut des Zitats verlangt, dass akoē in V. 17a und dann auch zu Beginn von V. 17b dieselbe Bedeutung hat wie in V. 16c: Es bezeichnet hier nicht wie in Gal 3,25 den Vorgang des Hörens, sondern wie in 1Thess 2,13 das, was zu Gehör bringt und was zu Gehör gebracht wird: die Verkündigung und die durch sie ausgerichtete „Botschaft“.
Auf diese Weise gewinnt Paulus „dem Prophetenwort eine weitere Bestätigung für die in Röm 10,14b-c formulierte Aussage (‚kein Glaube ohne Hören, kein Hören ohne Verkündigen‘) ab“ und „hebt … noch einmal die Unverzichtbarkeit der Verkündigung für den Glauben und damit letztlich auch für die Teilhabe am eschatischen Heil hervor (10,9-11).“
Die zweite Hälfte von Vers 17 formuliert das in Vers 14b-c Gemeinte insofern noch genauer, als „kēryssein {verkündigen} (V. 14c) durch dia rhēmatos Christou {durch Christi Wort} präzisiert“ wird und „die Leser an V. 8c erinnert“ werden,
wo Paulus seine Botschaft als rhēma tēs pisteōs ho kēryssomen {Wort des Glaubens, das wir verkündigen} bezeichnet hat. Das „Wort des Glaubens“ (V. Sc) und das „Wort von Christus“ (V. 17b) und das „Evangelium“ (V. 16a) sind ein und dasselbe „Wort“. In V. 17b steht „Christus“ wie auch sonst oft bei Paulus (z.B. Röm 3,22.24; 5,1.11c.21; 2Kor 5,18.19) als metonymische Chiffre für das Christusgeschehen, das der Glaube als ein Handeln Gottes zum Heil aller Menschen deutet. Die Verkündigung ist dabei ein unentbehrliches Zwischenglied, denn allein sie ist es, die diesen Charakter des Christusgeschehens unter den Menschen so vergegenwärtigt, dass er geglaubt werden kann.
Da deshalb „die akoē {Botschaft}, aus der der Glaube kommt (V. 17a), und das rhēma Christou {Wort Christi} nicht zwei verschiedene Größen, sondern ein und dieselbe“ sind, hat Wolter zufolge das Wort dia im Ausdruck dia rhēmatos Christou „nicht instrumentale, sondern modale Bedeutung“, so dass Römer 10,17 folgendermaßen übersetzt werden muss (M132):
Demnach (kommt) der Glaube aus der Botschaft,
die Botschaft aber (wird) als Wort von Christus (laut).
Was ergibt sich aus der jeweiligen Art und Weise, wie Jankowski und Wolter die Verse Römer 10,14-17 auslegen? Beide betonen, wie wichtig das Hören und das Erhorchte bzw. die Botschaft für den Glauben bzw. das Vertrauen sind. Aber während Jankowski des Messias Wort auf die befreiende Botschaft für Israel inmitten der Völker unter dem Himmel Gottes bezieht, vertritt Wolter einen von Israel abstrahierenden religiösen Glauben an das durch Christi Tod und Auferstehung für alle Menschen erworbene Heil. Dabei ist mir immer noch nicht klar, ob Wolter bewusst offen lässt, wie dieses Heil konkret zu begreifen ist – als individuelle Gewissheit, nach dem Tode nicht verdammt zu werden, sondern Erlösung zu finden – oder als der von den Propheten Israels erhoffte Schalom, der Versklavung und Erniedrigung beendet, so dass alle zu ihrem Recht kommen und die Völker im Frieden miteinander leben können.
↑ Römer 10,18-19: Israel hat gehört und verstanden, wurde aber eifersüchtig und zornig gemacht auf ein Nicht-Volk
10,18 Ich frage aber: Haben sie es nicht gehört?
Doch, es ist ja „in alle Lande ausgegangen ihr Schall
und ihr Wort bis an die Enden der Welt“ (Psalm 19,5).
10,19 Ich frage aber: Hat es Israel nicht verstanden?
Als Erster spricht Mose:
„Ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk;
über ein unverständiges Volk will ich euch zornig machen.“
[20. August 2025] Michael Wolter zufolge (M135) trägt Paulus in Römer 10,18 „eine denkbare Entschuldigung vor, die die Ablehnung des Evangeliums erklären könnte“, dass nämlich „[d]ie ‚Nicht alle‘ (V. 16a) … die Botschaft überhaupt nicht vernommen“ haben:
Damit wäre nach V. 14b („Wie können sie aber glauben, was sie nicht gehört haben?“) die conditio sine qua non {notwendige Bedingung} für das Glauben nicht gegeben und dessen Fehlen hätte eine plausible Erklärung gefunden. Die „Nicht alle“ sind darum auch das implizite Subjekt von ēkousan {haben gehört}, mit dem Paulus das zweimalige akoē aus V. 17 aufnimmt.
Dabei ist es (M136) „auf Grund des Kontextes wahrscheinlich“, dass er „dabei speziell oder gar ausschließlich an die nichtchristliche Mehrheit Israels denkt“. Mit menounge {aber selbstverständlich} gibt er aufgrund der Logik der „durch mē eingeleiteten verneinten Frage“ die zu erwartende „bejahende Antwort… und kennzeichnet den Erklärungsversuch damit als nicht stichhaltig.“
In übertreibender Weise verweist Paulus zur „Begründung … mit den Worten von Ps 18,5aLXX … darauf hin, dass das Evangelium unter allen Menschen verkündigt wurde.“ Während im Psalm der „Plural der Pronomina autōn (‚ihre Stimme‘, ‚ihre Worte‘)“ ursprünglich (Anm. 21) „auf die Himmel (V. 2)“ zu beziehen ist, „die die ‚Herrlichkeit Gottes‘ (den kɘvod-ˀel) überall bekannt machen“, überträgt Paulus (M136) diese Rolle
auf die Verkündiger und Frohbotschafter von V. 15 …, und die rhēmata autōn {ihre Worte} des Psalmzitats nehmen rhēma Christou {Christi Wort} aus V. 17b auf. Obwohl natürlich auch Paulus weiß, dass die geographische Verbreitung der Christusbotschaft noch längst nicht so weit gekommen ist, wie er hier behauptet, ist sein Gegenargument einleuchtend: Überall dort, wo das Evangelium verkündigt wurde, haben es die wenigsten (V. 16a: ou pantes {nicht alle}) von denen, die es gehört haben, angenommen. Das gilt gerade auch für die Juden, und daraus geht hervor, dass deren Unglaube nicht dadurch erklärt werden kann, dass ihnen das Evangelium nicht zur Kenntnis gebracht wurde.
Eine zweite „mögliche Entschuldigung“ bezieht Paulus in Vers 19a ausdrücklich auf „den Unglauben des nichtchristlichen Israel“, das „den Charakter und die Bedeutung des Evangeliums von Jesus Christus nicht erkannt“ haben könnte. Dass die Verse 18 und 19 „nicht nur äußerlich“ parallel gestaltet sind, sondern auch inhaltlich zusammengehören, wird nach Wolter (M136f.)
daran erkennbar, dass „hören“ (akouein; V. 18) und „erkennen“ (gignōskein; V. 19) auch sonst häufig beisammenstehen und ein stabiles Begriffspaar bilden, das z.T. wie hier ein konsekutives {auf eine Folge bezogenes} Gefälle aufweist, vgl. z.B. … 1Sam 4,6: kai ēkousan hoi allophyloi … kai egnōsan („und die Fremdstämmigen hörten und erkannten“); Jes 40,21: ou gnōsesthe? ouk akousesthe? („wollt ihr nicht erkennen; wollt ihr nicht hören?“); 40,28: kai nyn ouk egnōs ei mē ēkousas? („und nun – hast du nicht erkannt, hast du nicht gehört?“); 48,6: ēkousate panta, kai hymeis ouk egnōte („ihr habt alles gehört, und ihr habt nicht erkannt“)…
Im Blick auf (Anm. 24) die weite „Verbreitung dieses Zusammenhangs“ hält es Wolter (M137) für „unwahrscheinlich, dass Paulus hier speziell auf Jes 40,21.28LXX zurückgreift <325>.
Da „[a]uch die Frage von V. 19a … rhetorisch“ ist und „eine bejahende Antwort impliziert“, hat Israel Paulus zufolge „[s]elbstverständlich … erkannt, was es mit dem Evangelium auf sich hat“. Allerdings gibt es auch Exegeten <326>, die
[g]egen den sprachlichen Befund … die These vertreten, dass die rhetorische Frage in Röm 10,19a verneinend beantwortet werden will. Zur Begründung wird dabei vor allem auf Röm 10,2-3 verwiesen, wo Paulus in der Tat geschrieben hatte, dass die ungläubig gebliebenen Juden „ohne Erkenntnis“ (ou kat‘ epignōsin) um Gott eiferten und dass sie „die Gerechtigkeit Gottes nicht erkannten“. Dort war es jedoch um die fehlende Erkenntnis gegangen, mit der nur der Glaube das Evangelium verstehen kann: dass Gott nämlich im Christusgeschehen zum Heil der Welt gehandelt hat. Demgegenüber spricht Paulus in V. 19 von einem sachgemäßen Erkennen der Eigenart des Evangeliums, das ganz offensichtlich auch dem Unglauben zugänglich ist.
In Vers 19b erläutert Paulus mit „dem Zitat von Dtn 32,21b“, worin dieses Erkennen besteht. Dort wendet sich Gott mit folgenden von Wolter übersetzten Worten an sein Volk Israel, wobei die unterstrichenen Worte von Paulus übernommen werden:
Sie haben mich eifersüchtig gemacht auf einen Nicht-Gott, sie haben mich zornig gemacht durch ihre Götzen, und ich werde sie eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk, auf ein unverständiges Volk werde ich sie zornig machen.
Wegen des Zusammenhangs ersetzt Paulus in seinem Zitat die „3. Person (2mal autous {sie}) durch die 2. Person (2mal hymas {euch})“, um es „auf das nichtchristlich gebliebene Israel“ zu beziehen. Wolter zufolge (M138) will er
deutlich machen, dass Israel das Evangelium durchaus richtig verstanden hat. ‚Eifersucht‘ (parazēloō) und ‚Zorn‘ (parorgizō) auf die Heiden nimmt er dafür als Erkenntnisgrund. Israel hätte demnach mit ‚Eifersucht‘ und ‚Zorn‘ auf das Verstehen der Eigenart des Evangeliums reagiert, weil es erkannt hat, dass das Evangelium von Jesus Christus, indem es Gottes Heil allein dem Christus-Glauben zusagt, den Unterschied zwischen Israel und den Völkern einebnet. Es relativiert damit diejenige Eigenschaft, die Israel zu Israel macht: seine Unterscheidung von den Völkern. Israels ‚Eifersucht‘ und sein ‚Zorn‘ auf die Heiden, die Paulus in Röm 10,19c-d mit den Worten von Dtn 32,21 als Erklärung für Israels Ablehnung des Evangeliums verantwortlich macht, verweisen darum zurück auf Röm 10,3, wo er dieselbe Reaktion auf das Evangelium auf Israels Interesse zurückgeführt hatte, „an der eigenen Gerechtigkeit festzuhalten“ (tēn idian [dikaiosynēn] zētountes stēsai).
So wie Wolter die Erkenntnis des Evangeliums durch das ungläubige Israel darstellt, hätte aber dieser Unglaube so gut wie zwangsläufig erfolgen müssen, denn Wolters Formulierungen klingen nach einer Absage an alles, was im „Evangelium“ von den heiligen Schriften Israels her inhaltlich zu bestimmen wäre, nämlich die Hoffnung auf den vom Messias herbeigeführten Anbruch der kommenden Weltzeit des Schalom auf dieser Erde unter dem Himmel Gottes. Stattdessen scheinen alle Hoffnungen des Paulus vom befreienden Gott Israels weg auf ein religiöses Heil ausgerichtet zu sein, das allein vom „Christus-Glauben“ abhängt. Einebnung aller Unterschiede „zwischen Israel und den Völkern“, das kann unter solchen Voraussetzungen letzten Endes auf das Ende Israels bzw. die Enterbung seiner Heilsgüter durch die neue christliche Religion hinauslaufen.
[21. August 2025] Gerhard Jankowski setzt die Akzente in seiner Auslegung in erheblichem Maße anders (J240). In seinen Augen verschiebt Paulus das wie auch immer verstandene Heil nicht von den Juden zu den Völkern, sondern er sieht die Völker in die Befreiungsverheißungen an Israel mit einbezogen. Die beiden damit verbundenen Fragen beziehen sich darauf, welche Aktualisierung die „prophetische Tradition“ Israels „in der messianischen Auslegung“ erfahren hat. Die erste Frage stellt er in Vers 18:
Ist dieser Tradition und Auslegung in Israel nicht Gehör geschenkt worden? So möchten wohl die Gojim in der Ekklesia fragen, sie, die der Guten Botschaft Gehör geschenkt hatten. Paulus ist es, der für sie diese Frage stellt. Und er beantwortet sie mit einem kräftigen Ja. Natürlich haben sie, die Juden, gehört. Sie haben gehört, weil es weltweit zu hören war.
Es ist aber nach Jankowski gar „nicht Paulus“ und „nicht eine andere Lehrautorität, die wohl auf die Frage hätte antworten können“, sondern die „Antwort auf die Frage gibt die Schrift“. Mehreren Schriftzitaten entnimmt Paulus die schmerzliche Einsicht: „Die Tradition ist gehört worden, aber sie war nicht mehrheitsfähig.“ Er folgt damit der Hermeneutik (J241), „die er vorher mit Hilfe der Schrift dargestellt hatte: Weil das Wort nicht transzendent ist, sondern greifbar nahe, gibt es allein auch die Antwort“, und zwar ist es,
wie wir sehen werden, … die ganze Schrift, die die Antwort gibt, Mosche, und das heißt die Thora, Jesaja, und das heißt die Propheten, und die anderen Schriften wie z.B. die Psalmen, eben Thora, Nebeim und Khetubim, kurz der Thenakh.
Das erste Zitat, das Paulus in diesem Zusammenhang zum Klingen bringt, stammt „aus den Schriften, den Khetubim, Psalm 19,5“, von Paulus nach der „Version der LXX“ wiedergegeben. Für Jankowski ist es wesentlich, den Hintergrund des Psalms mitzuhören, nämlich wer dort die Ehre Gottes auf dem ganzen Erdkreis erschallen lässt, und die zitierten Worte nicht vorschnell christlich-missionarisch zu vereinnahmen:
Es ist nicht die Predigt der messianischen Apostel, und es ist erst recht nicht die Arbeit der „christlichen Missionare“, die es ermöglicht haben, daß die jüdische Ökumene das prophetisch-messianische Wort zu hören bekam. Es sind die Himmel, die die Ehre Gottes und die Taten seiner Hände vermelden, wie es in Psalm 19 heißt. Diese Taten reden eine beredte Sprache auf der bewohnbaren Erde. Überall da sind die Worte nah, also hörbar, und für den Psalm 19 auch machbar, denn in seinem Hauptteil ist dieser Psalm ein Loblied auf die Thora. Ist das so, dann sind die Taten aber nicht nur von Juden, sondern auch von Nichtjuden zu hören.
Paulus findet also in der Schrift selbst vorgezeichnet, was ihm selbst durch den Messias Jesus blitzartig klar geworden ist, dass Gottes Taten und Gottes Ehre durch die Himmel selbst in den durch ihn inspirierten Taten auf der ganzen Erde zu Gehör gebracht und erkennbar werden. Daraus ergibt sich eine weitere Frage: „Hat Israel das nicht erkannt?“
Die Antwort auf diese Frage gibt an erster Stelle Mosche, also die Thora. Paulus zitiert Dtn 32,21 (LXX). Dieser Satz ist entnommen aus dem großen Gesang des Mosche vor seinem Tod. Er ist Erinnerung an die Geschichte Gottes mit seinem Volk, an die Erwählung, an die Fürsorge für den „Augapfel Gottes“ Israel, er ist aber auch Erinnerung an Abkehr und Untreue des Volkes. Aus diesem Zusammenhang ist der Satz genommen. Was für Israel Nicht-Volk, Unvolk, ouk ethnos – lo-ˁam, ist, weil es nicht Gottes Volk ist, das soll das „verfettete, feiste“ Volk wieder zur Treue ereifern. Damit es erkennt, was es heißt, Gottes Volk zu sein. Für Paulus bedeutet das, daß die Gojim, ursprünglich nicht zu Gottes Volk zu rechnen, mit ihrem Hören auf die befreiende Botschaft Israel an diese Botschaft erinnern.
Während Wolter also annimmt, wie wir oben gesehen haben, dass Paulus den Unglauben der Mehrheit Israels auf Gefühle der Eifersucht gegenüber den Heiden zurückführt, nimmt Jankowski im Hintergrund der von Paulus zitierten Worte die Absicht Gottes wahr, sein Volk Israel im Wetteifern mit einem Nicht-Volk zur Umkehr und zu neuer Treue zu anzustacheln und übersetzt daher das Wort parazēloō mit ereifern.
In welchem Maße Worte aus dem Wortfeld zēlos {Eifer} eine differenzierte Betrachtung erfordern und welche Folgen es haben kann, sie auf die Bedeutung Eifersucht zu reduzieren, zeigt ein Blick auf zwei Stellen in der Apostelgeschichte (13,45 und 17,5), zu denen Wolter bemerkt (M138, Anm. 31), dass Lukas auch dort auf „die Kategorie der Eifersucht“ zurückgreift, „um den Widerstand der Juden im pisidischen Antiochien und in Thessaloniki zu erklären“, während Jankowski in seiner Auslegung der Apostelgeschichte <327> eine andere Übersetzung und Auslegung vertritt. Nach Apostelgeschichte 13,45 werden die Juden [55]
von Eifer, zēlos, erfüllt. zēlos darf man hier nicht mit Eifersucht oder Neid übersetzen. Es geht um den Eifer für die väterlichen Überlieferungen, um den ganzen Einsatz für die Tora.
Im Gegensatz dazu lassen viele andere Exegeten die Juden von kleinlicher Eifersucht bestimmt sein [55, Anm. 30]:
Welche Konsequenz diese Übersetzung haben kann, zeigt Haenchen <328>. In seinem Kommentar schreibt er: „Dann schildert Lukas die große und leidenschaftliche Szene, welche die wirkliche Entscheidung bringt … Aber die große Stunde findet die Juden klein: Neid und Eifersucht auf den Erfolg läßt sie dem christlichen Prediger widersprechen und Christus lästern. Es kommt zur Trennung von Evangelium und Judentum: feierlich erklären die Missionare, daß sie sich nun zu den Heiden wenden, die mit Jubel das Gotteswort empfangen. Nur auf krummen Wegen können die Juden den Erfolg der Mission noch einengen …“. Die Wortwahl ist von Antijudaismus bestimmt.
Zur anderen Stelle [85], Apostelgeschichte 17,5: zēlōsantes de hoi Ioudaioi {„Die Judäer aber ereiferten sich“} schließt Jankowski zwar eifersüchtige Gefühlslagen unter den Juden nicht völlig aus, plädiert aber dennoch dafür, den jüdischen Eifer im Sinne eines Widerstands gegen einen in ihren Augen gefährlichen Messianismus ernst zu nehmen [87]:
Als sich eine große Anzahl der gottesfürchtigen Nichtjuden und Frauen der Eliten der Stadt auf die Seite des Paulus stellen, reagiert die Synagoge. Fast alle Ausleger fassen diese Reaktion als Eifersucht auf den Erfolg des Paulus bei den Gottesfürchtigen und Frauen der oberen Schichten auf. Folglich wird das Verb zēloō mit sie, die Juden, wurden eifersüchtig übersetzt. Die Eifersucht mag es gegeben haben, da in der Diaspora vor allem die Gottesfürchtigen Ansprechpartner des Paulus waren, die Gruppe, die wahrscheinlich auch die jüdischen Gemeinden als Sympathisanten und Unterstützer ihrer Belange zu gewinnen suchten. Der Vorwurf der Judäer zeigt, daß es nicht um Eifersucht geht, sondern um leidenschaftlichen, fast fanatischen Widerstand gegen den von Paulus propagierten Messianismus. Diesen Messianismus bekämpfen sie nicht nur als eine heterodoxe Richtung, sie halten ihn für eine alle Juden bedrohende Gefahr. Gerade in der Zeit, in der Lukas schreibt und in der die Rabbinen die Konsolidierung Israels betreiben, drohte dieser Messianismus, der Israel für die Völkerwelt öffnete, ihre Bemühungen zu gefährden. Da die Römer noch nicht zwischen Juden und der messianischen Bewegung unterschieden, mußten folglich mögliche Maßnahmen gegen Messianisten alle Juden treffen. Also war bei Gefahr die messianische Bewegung vom Judentum insgesamt zu isolieren und als alleinige Bedrohung der römischen Ordnung hervorzuheben. Und genau das geschieht in Thessaloniki.
Während also Lukas wahrnimmt, dass eine Mehrheit der Juden sich aufgrund ihres Eifers für ihre väterlichen Überlieferungen gegen die messianische Bewegung wendet, mag Paulus in Römer 10,19 bereits andeuten, was er in 11,11.14 näher ausführen wird, dass die Hinwendung Gottes auch zu den Völkern und ihre Bewährung im Vertrauen auf den Messias und den Gott Israels am Ende auch zum Anlass werden kann, den Eifer der jüdischen Mehrheit für den Messias Jesus zu wecken.
↑ Römer 10,20-21: Was Jesaja über die Völker sagt, die Gott nicht suchten, und über ein untreues und widersprechendes Israel
10,20 Jesaja aber wagt zu sagen (Jesaja 65,1):
„Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten,
ich offenbarte mich denen, die nicht nach mir fragten.“
10,21 Zu Israel aber spricht er (Jesaja 65,2):
„Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt
nach einem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht.«
[22. August 2025] Nachdem Paulus in Römer 10,19 auf die Frage, ob Israel nicht verstanden hat (M137f.), zunächst als ersten (prōtos) „Mose“ zu Wort kommen lässt, führt er in 10,20-21 die Antwort durch „Jesaja aber“ mit zwei weiteren Schriftzitaten fort (M138), „die auch schon bei Jesaja beisammenstehen (Jes 65,1-2)“. Obwohl sich (Anm. 33) dort „in der hebräischen Bibel und in der Septuaginta“ beide Verse „auf Israel“ beziehen, baut Paulus mit ihnen (M138)
dasselbe Gegenüber auf… wie in Röm 9,30-31, dem Beginn dieses Abschnitts: Das Zitat von Jes 65,1a-b in Röm 10,20 bezieht sich auf die christlich gewordenen Heiden, während Jes 65,2a in Röm 10,21 als Wort „über“ das nichtchristlich gebliebene Israel zitiert wird.
Die Übersetzung von pros am Anfang von Vers 21 mit „über“ ergibt sich nach Wolter (Anm. 34) daraus, dass „in dem Zitat von Israel in der 3. Person gesprochen wird“ und daher nicht angeredet sein kann – eine Logik, die die Mehrheit anderer Bibelübersetzer offenbar nicht schlüssig findet.
Indem Paulus (M138) hier wie in Römer 9,30-31 die „christlich gewordenen Heiden … als Gegenbild zum nichtchristlich gebliebenen Israel“ betrachtet, lässt er erneut (M139) den Weg des Letzteren als um so „unverständlicher erscheinen“, wenn es sogar unter den Heiden, die „‚Gott nicht suchen‘ und ‚nicht nach Gott fragen‘, … trotzdem welche gibt, bei denen Gott ‚sich finden ließ‘ und denen er ‚offenbar wurde‘ (10,20b.c)“, während sich Israel Gott „verschlossen“ hat, obwohl er „sich immerfort um Israel bemüht hat“.
Eingeleitet werden beide Zitate „als Worte des Propheten Jesaja“, wobei (Anm. 40) ihr Inhalt mit apotolma kai legei {er nimmt sich heraus zu sagen} „als provokant oder unverfroren gekennzeichnet werden soll“. Allerdings „spricht in ihnen nicht der Prophet, sondern das Ich Gottes selbst“, und zwar sind (M139f.)
die Feststellungen, die sie enthalten, in beiden Fällen als Vergangenheitsaussagen formuliert … Darin wird erkennbar, dass Paulus die zitierten Worte nicht als Verheißungen verstanden wissen will, die nun in der Gegenwart Erfüllung gefunden haben. Er verwendet die beiden Zitate vielmehr, um das Geschehen der Verkündigung des Evangeliums und ihrer Folgen, wie er sie in 9,30-33 beschrieben hatte, mit Gottes eigener Deutung auszustatten: lhr zufolge bedeutet die Hinwendung der Heiden zum Christus-Glauben auf Grund der Verkündigung des Evangeliums nichts anderes, als dass Gott sich von ihnen finden ließ und ihnen offenbar wurde (Jes 65,1 in Röm 10,20b-c). Analoges gilt für Jes 65,2 in Röm 10,21b: Mit seiner Hilfe identifiziert Paulus die Verkündigung des Evangeliums ebenso als Bestandteil von Gottes unablässigem Verlangen nach seinem Volk wie Israels Zurückweisung der Christus-Botschaft als einen weiteren Fall von dessen notorischer Widersetzlichkeit gegen Gottes Zuwendung.
Indem Paulus „das nichtchristlich gebliebene Israel als laos apeithōn kai antilegōn {ungehorsames und widersprechendes Volk}“ bezeichnet, nimmt er frühere „Feststellungen… in 10,3b (‚sie haben sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen‘) sowie in 10,16a (‚nicht alle haben dem Evangelium gehorcht‘)“ auf und stellt sie „als Antithese … den beiden möglichen Entschuldigungen für Israels Abweisung des Evangeliums“ gegenüber,
die Paulus in V. 18a („nicht gehört“) und in V. 19a („nicht erkannt“) vorgebracht hatte: Nicht diese Gründe sind es, die Israels Zurückweisung des Evangeliums von Jesus Christus erklären, sondern sein notorischer ‚Ungehorsam‘ und ‚Widerspruch‘ gegen Gottes unermüdliche Zuwendung.
Damit erhält am Ende des Abschnitts Römer 9,30 – 10,21 „die ‚Warum‘-Frage, die Paulus in 9,32 sogar explizit formuliert: Woran liegt es, dass die große Mehrheit Israels ‚das Gesetz nicht erreicht hat‘ (9,31) oder – mit den Worten von 9,3 gesagt – ‚von Christus weg verbannt‘ ist“, eine klare Antwort, indem
Paulus hier allein die nichtchristlich gebliebene Mehrheit Israels für ihre gegenwärtige Situation verantwortlich macht. Mit der Deutung dieser Situation durch Jes 65,2 relativiert Paulus aber auch die Besonderheit von Israels Widersetzlichkeit gegen die Zuwendung Gottes im Evangelium, denn er macht sie dadurch gewissermaßen zu einem Bestandteil der Geschichte Israels. Seine Erklärung ruft darum den Eindruck hervor, dass die Ablehnung des Evangeliums einen Charakterzug ins Licht gebracht hat, der für Israel typisch ist, so dass es sich bei der Zurückweisung des Evangeliums lediglich um einen weiteren Fall der Zurückweisung von Gottes Zuwendung durch das von ihm erwählte Volk handelt.
Als der eigentliche Grund (M141) für die Ablehnung des „Evangelium[s] von Jesus Christus“ durch „das nichtchristlich gebliebene Israel“ hat sich Wolter zufolge in den Versen Römer 10,16-21 die Furcht Israels herausgestellt,
die Exklusivität seiner Gottesbeziehung zu verlieren. Dass Israel das Evangelium damit durchaus nicht missverstanden hat, geht aus dem bisherigen Verlauf des Römerbriefes deutlich hervor: Wenn nur der Christus-Glaube über die Zuweisung von Heil und Unheil entscheidet, spielt der Unterschied zwischen Israel und den Völkern vor Gott keine Rolle mehr. Paulus hat damit etwas sehr Wichtiges gesehen: dass Israel, wenn es als das einzige Volk erkennbar bleiben wollte, das Gott aus den Völkern erwählt hat, sich auf den Anspruch des Evangeliums, „eine Macht Gottes zum Heil“ zu sein „für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16b), nicht einlassen konnte.
Damit wendet sich Wolter nochmals gegen die Auffassung, „Israels Beharren auf dem Gesetz (9,32)“ sei „durch das Bemühen motiviert, sich sein Heil durch ‚Leistung‘ selber ‚verdienen‘ zu wollen“. Stattdessen steht dahinter „die Gewissheit, dass es seine Unverwechselbarkeit und Alleinstellung als Gottesvolk nur mit Hilfe der Tora zur Anschauung bringen konnte.“ Was „Israel genau verstanden“ hat, ist also,
dass das Evangelium seine Sonderstellung gegenüber den Völkern bedroht, während es andererseits nicht erkannt hat, dass Gott selbst hinter diesem Programm steht und zwischen den Menschen aus Israel und den Völkern keinen Unterschied macht…
Die in Römer 9,3b-5 gestellte Ausgangsfrage des Paulus, wie sich „die gegenwärtige Heilsferne der nichtchristlich gebliebenen Juden zu der ihm geltenden Erwählung verhält“, hat Paulus Wolter zufolge „auch in diesem Abschnitt nicht“ beantwortet, sondern „in ihm lediglich erklärt, aus welchen Gründen die nichtchristliche Mehrheit Israels in die Lage geraten ist, die er zu Beginn von Kap. 9 beschrieben hatte. Im nächsten Vers legt er sich die Ausgangsfrage darum noch einmal vor.“
Nach Gerhard Jankowski (J241) lässt Paulus nach den beiden Zitaten in Römer 10,18-19 aus „den Schriften, den Khetubim“, und aus „Mosche, also [der] Thora“, in Römer 10,20-21 nun auch noch eine Bestätigung des Tora-Zitats „durch Jesaja, also die Propheten“, folgen. Der aus Jesaja 65,1-2 zitierte „Satz wendet sich, wie das ganze Kapitel Jes 65, an Israel“, aber nach Jankowski scheint es
[s]chon die LXX … aus der Diasporasituation heraus anders verstanden zu haben. Ihr folgt Paulus. Und da wird sie zum ersten Mal offen ausgesprochen, die große Vertauschung, so will es scheinen: Gott läßt sich finden von denen, die ihn weder suchten noch nach ihm fragten, und Israel ist abgewandt von Gott und im Widerspruch zu ihm. Und es ist wohl zunächst nichts anderes als die Beschreibung des Ist-Zustandes.
In der Situation des Paulus (J242) sind diejenigen, die „nicht nach Gott fragten, … natürlich die Gojim“, die „die befreiende Botschaft gehört“ haben und denen „sich der Gott Israels offenbart“ hat. So sieht „die messianische Position des Paulus“ aus. Und dieser Position „widerspricht Israel sehr heftig“. Indem Jankowski hier bemerkt, dass „[n]icht umsonst … hier der Widerspruch, antilegōn, zum ursprünglichen Text in Jes 65,2 hinzugefügt worden“ ist, übersieht er allerdings, dass nicht erst Paulus, sondern bereits die Septuaginta dieses Wort dem hebräischen Text hinzugesetzt hat. Zu Recht wendet sich Jankowski dagegen, „aus diesem Widerspruch“ eine
Konsequenz ziehen, die gezogen werden könnte und die Paulus auch gleich benennen wird. Dann werden aus den Widersprechenden nur zu schnell die perfidei Judaei {treulose, ungläubige Juden}, für deren Bekehrung höchstens gebetet werden kann. Es ist eben gut und richtig, daß Paulus die sicher berechtigten Fragen von der Schrift her beantwortet. Die aber verurteilt nicht. Sie zeigt vielmehr, auch in diesen kurzen und sicher gezielt ausgesuchten Zitatfetzen, daß dieses Volk im Widerspruch von Gott nicht aufgegeben ist. Die ausgebreiteten Hände Gottes sind nach wie vor diesem Volk zugewandt.
↑ Übersetzungsvorschlag für Römer 9,30 – 10,21
9,30 Was wollen wir nun sagen?
Gojim, die nicht der Bewährtheit nachjagten,
haben Bewährtheit erlangt, Bewährtheit aber aus Vertrauen,
9,31 Israel aber, das der Bewährtheit der Tora nachjagte,
ist zur Tora nicht gelangt.
9,32 Warum?
Weil (es) nicht aus Vertrauen, sondern wie aus Werken (geschah).
Sie stießen an den Stein des Anstoßens,
9,33 wie geschrieben ist:
Da! Ich setze in Zion einen Stein des Anstoßens, einen Felsen der Falle,
doch wer auf ihn vertraut, wird nicht zuschanden werden.
10,1 Geschwister, meines Herzens Gefallen und (mein) Flehen zu Gott für sie
(richten sich) auf (ihre) Befreiung.
10,2 Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben,
aber nicht mit Erkenntnis.
10,3 Denn die Bewährtheit Gottes verkennend
und an der eigenen festzuhalten suchend
haben sie sich der Bewährtheit Gottes nicht unterworfen.
10,4 Denn Ziel der Tora ist der Messias,
zur Bewährtheit für jeden, der vertraut.10,5 Denn Mose beschreibt die Bewährtheit, die aus der Tora (kommt):
Der Mensch, der diese (Tatworte) getan hat, wird durch sie leben.
10,6 Die Bewährtheit aber aus Vertrauen sagt so:
Sage nicht in deinem Herzen:
Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?
Das heißt den Messias herabholen.
10,7 Oder: Wer wird in den Abgrund hinabsteigen?
Das heißt den Messias aus den Toten heraufholen.
10,8 Sondern was sagt sie?
Nahe ist dir das Wort in deinem Mund und in deinem Herzen.
Das ist das Wort des Vertrauens, das wir verkünden:
10,9 Wenn du mit deinem Mund bekennst: Herr (ist) Jesus (Er-befreit),
und in deinem Herzen vertraust: Gott hat ihn aus Toten erweckt,
wirst du befreit werden.
10,10 Denn mit dem Herzen wird vertraut auf Bewährtheit hin,
mit dem Mund aber wird bekannt auf Befreiung hin.
10,11 Denn die Schrift sagt:
Jeder, der auf ihn vertraut, wird nicht zuschanden werden.
10,12 Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche,
denn derselbe ist HERR von allen, er ist reich für alle, die ihn anrufen.
10,13 Denn jeder, der den Namen des HERRN anruft, wird befreit werden.
10,14 Wie nun können sie den anrufen, auf den sie nicht vertraut haben?
Wie aber können sie auf den vertrauen, von dem sie nicht gehört haben?
Wie aber können sie hören ohne einen Verkünder?
10,15 Wie aber können sie verkünden, wenn sie nicht gesandt wurden?
Wie geschrieben ist:
Wie lieblich die Füße derer, die Gutes als befreiende Botschaft bringen.10,16 Aber nicht alle haben der befreienden Botschaft Gehör geschenkt.
Denn Jesaja sagt: HERR, wer hat dem von uns Erhorchten vertraut?
10,17 Also (kommt) das Vertrauen aus Erhorchtem,
das Erhorchen aber durch des Messias Wort.
10,18 Aber, sage ich: Haben sie etwa nicht gehört? Ja doch:
Über die ganze Erde ist ausgegangen ihr Schall
und bis an die Grenzen der bewohnten Welt ihre Worte.
10,19 Aber, sage ich: Hat Israel etwa nicht verstanden?
Als erster sagt Mose:
Ich werde euch ereifern mit einem Nicht-Volk,
auf ein unverständiges Volk werde ich euch zornig machen.
10,20 Jesaja aber wagt es und sagt:
Ich wurde gefunden bei denen, die mich nicht suchten,
ich wurde denen offenbar, die nicht nach mir fragten.
10,21 Zu Israel aber sagt er:
Jeden Tag habe ich meine Hände ausgestreckt
nach einem unzuverlässigen und widersprechenden Volk.
↑ Anmerkungen
<01> Gerhard Jankowski, Die große Hoffnung: Paulus an die Römer. Eine Auslegung, Berlin 1998. Die im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen oder Verweise auf Anmerkungen mit vorangestelltem „J“ beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate aus diesem Buch. Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie grün hervorgehoben. Seine Übersetzung des Römerbriefs hat Jankowski 23 Jahre später noch einmal grundlegend überarbeitet: Die Briefe des Paulus. Neu übersetzt von Gerhard Jankowski, Texte & Kontexte 166-168 (2021), 9-40. Auf nachfolgende Zitate aus dieser Übersetzung verweise ich durch Seitenzahlen mit vorangestelltem „G“ (ich nehme den Anfangsbuchstaben von Jankowskis Vornamen Gerhard, um ein Zahlenwirrwarr mit unterscheidenden Jahreszahlen zu vermeiden).
<02> Jankowski verweist zu Texten aus den Midraschim auf: The Midrash Rabba, Vol. I-IX, ed. by H. Freedman and M. Simon, New York 1983 (Soncino-Ausgabe), zu Zitaten aus der Mischna auf: Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischna, Hebräischer Text mit deutscher Übersetzung, Basel 1986, und zu Zitaten aus dem babylonischen Talmud auf: Der Babylonische Talmud, Bd. I-XII, neu übertragen von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt/M. 1996. Gelegentlich zieht er auch H. Strack / P. Billerbeck, Kommentar zum NT aus Talmud und Midrasch, Bd. I-IV, München 1978, zu Rate. Das eben erwähnte Wort „Thenakh“ oder „Tanach“ bezeichnet die jüdischen heiligen Schriften, also das, was Christen (in anderer Zusammenstellung) als ihr Altes Testament vertraut ist. Es steht für die hebräischen Anfangsbuchstaben der thora = 5 Bücher Mose, der neviim = Vordere und Hintere Propheten (erstere entsprechen in unserem Alten Testament den vier Büchern Josua, Richter, Samuel und Könige, letztere den Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und dem Zwölfprophetenbuch) und der khetuvim („Schriften“, nämlich einerseits Psalmen, Sprüche, Hiob und Fünf Rollen [Hohelied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther] und andererseits Daniel, Esra, Nehemia und Chronik). Jankowskis Übersetzungen aus dem Tanach sind angelehnt an M. Buber, Die Schrift, Bd. I-IV, verdeutscht gemeinsam mit F. Rosenzweig, Heidelberg 1976ff.
<03> Michael Wolter, Der Brief an die Römer, Teilband 1: Röm 1-8, 1. Auflage 2014, sowie Teilband 2: Röm 9-16, 1. Auflage 2019, Neukirchen-Vluyn / Ostfildern. Die im folgenden Text in runden Klammern (…) angegebenen Seitenzahlen oder Verweise auf Anmerkungen mit vorangestelltem „W“ beziehen sich auf die jeweils folgenden Zitate aus Teilband 1; auf Zitate aus Teilband 2 verweise ich mit eingeklammerten Seitenzahlen mit vorangestelltem „M“ (ich nehme den Anfangsbuchstaben von Wolters Vornamen Michael, um ein Zahlenwirrwarr mit unterscheidenden Teilband- oder Jahreszahlen zu vermeiden). Sind solche Zitate als eigener Absatz eingerückt, werden sie blau hervorgehoben.
<04> Ich gebe altgriechische Buchstaben mit ihrer deutschen Entsprechung wieder und unterscheide dabei die beiden t-Laute durch t und th und kennzeichne die langen e- und o-Vokale ēta und ōmega mit ē und ō.
Die hebräischen Buchstaben beth/veth, gimel, daleth, he, waw, chet, tet, jod, kaf/khaf, lamed, mem, nun, pe/fe, zade, qof, resch, schin und thaw gebe ich mit ihren hier fett hervorgehobenen Anfangsbuchstaben wieder. Vom weichen zajin = s unterscheide ich die scharfen s-Laute auf ungewöhnliche Weise: samech = ss und sin = ß. Bis auf die beiden Zeichen ˀ und ˁ für die Knacklaute ˀalef und ˁayin verwende ich keine diakritischen Zeichen. Stumme Konsonanten an den Wortenden (alef, he, waw und jod) lasse ich weg. Auch unterscheide ich weder zwischen einfachen und doppelten Konsonanten noch gebe ich die unterschiedlichen Längen der Vokale an (allerdings verwende ich manchmal ein ɘ für einen nur angedeuteten e-Laut).
<05> Jankowski zitiert Johannes Cochläus: Historia Martini Lutheri, Das ist, Kurtze Beschreibung seiner Handlungen vnd Geschrifften, Ingolstatt 1582, 121f.
<06> Dazu verweist Jankowski auf W. Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München 1955. „Dort sind die in aller Kürze prägnantesten Kurzdarstellungen des Thomismus, des Nominalismus und der Mystik, also der ‚Schulen‘, die Luther kannte, zu finden.“
<07> Jankowski zitiert Karl Barth, Der Römerbrief, 1. Aufl. Bern 1919, 213f.
<08> Kornelis Heiko Miskotte hat sich mit einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen um eine Auslegung der Bibel verdient gemacht, die ihren jüdischen Wurzeln gerecht wird, z. B.:
- Antwort aus dem Wettersturm – Hiob, der Mensch in der Revolte (im niederländischen Original erschienen: Amsterdam 1936), Kamen 2012;
- Zur biblischen Hermeneutik, Theologische Studien Heft 55, Zollikon 1959;
- Über Karl Barths Kirchliche Dogmatik. Kleine Präludien und Phantasien, in: Theologische Existenz heute. Eine Schriftenreihe, Neue Folge Nr. 89, München 1961;
- Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, München 1966;
- Das Judentum als Frage an die Kirche, Schriftenreihe für christlich-jüdische Begegnung Band 5, Wuppertal 1970.
<09> Gerhard Jankowski, Messianisch leben. Der zweite Brief des Paulus an die Korinther. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 131/132 (2011), 32.
<10> Jankowski kann nur auf wenige schriftliche Veröffentlichungen von Kleijs Kroon verweisen; auf Deutsch sind erschienen:
- Das Neue Testament als jüdisches Zeugnis, Texte & Kontexte Nr. 5 (3/1979), 10-23;
- „Antisemitismus“ schon im „neuen Testament“?, Texte & Kontexte Nr. 27 (3/1985), 18-23;
- Der Sturz der Hure Babylon, Eine zeitgeschichtliche Auslegung der Johannesapokalypse, Berlin 1988.
<11> Jacobus Johannes Meuzelaar, Der Leib des Messias. Eine exegetische Studie über den Gedanken vom Leib Christi in den Paulusbriefen, Kampen 1979. Jankowski bemerkt zu diesem Werk (J49f.):
Die Studie wurde in deutsch (!) als Dissertation in Amsterdam angenommen, weil Meuzelaar gehofft hatte, daß sie als Artikel sōma tou Christou im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament erscheinen würde. Sie erscheint auch da – als Literaturangabe in einer Fußnote und als „abweichende Ansicht“. Sie paßte eben nicht in die Linie dieses Wörterbuches.
<12> Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden, Eine Christologie, Bd. I, München 1990 (das nachfolgende Zitat steht auf S. 181). Nach Jankowski fußt die „Kurzauslegung … auf einer kleinen Studie Marquardts …, ‚Die Juden im Römerbrief‘“, Zürich 1971. Weiteren Zitaten aus der Christologie Marquardts stelle ich den Namen „Marquardt“ mit einer Seitennummer in eckigen Klammern [] voran.
<13> Vgl. dazu „den Unterschied zwischen Nation, ethnos, und Volk, laos,“ auf den Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 270f., aufmerksam macht:
Ethnos ist auf hebräisch goj, und laos ist ˁam. Deuteronomium 4,6 begegnen beide Wörter in einem Satz: „Was ist das doch für ein weises und vernünftiges Volk (ˁam-chakham we-navon), diese große Nation (ha-goj ha-gadol ha-se).“ Ein ethnos/goj ist ein Volk, wie es nach außen, auf die Außenwelt wirkt. Ein laos/ˁam ist ein Volk, wie es nach innen zusammengehalten wird.
<14> Wolter zitiert ihn mit „Leg. Gai. 155“; eine deutsche Übersetzung ist im Internet unter dem Titel Die Gesandtschaft an Caligula verfügbar.
<15> Wolter zitiert Sueton mit „Claud. 25,4“; eine deutsche Übersetzung ist im Projekt Gutenberg unter Tiberius Claudius Drusus Cäsar verfügbar.
<16> Wolter zitiert Sueton mit „Nero 16,2“; eine deutsche Übersetzung ist im Projekt Gutenberg unter Nero Claudius Cäsar verfügbar.
<17> Wolter zitiert Tacitus mit „Ann. 15,44“; eine deutsche Übersetzung von Wilhelm Boetticher ist im Internet Archive verfügbar.
<18> Gegen eventuelle Einwände wendet sich Wolter in seiner Anm. 112:
Auch nicht in Röm 4,1 und 7,1; s. dazu u. S. 50.279f.409f. Auch die Position der „Schwachen“ (14,1-23) ist nicht zwingend ‚judenchristlich‘ (s. dazu u. S. 52).
<19> Wolter verweist dazu auf J.D.G. Dunn, Romans (WBC 38B), 2. Bd., Dallas, TX 1988, 889.
<20> Dazu verweist Wolter auf U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen, 8. Aufl. 2013, 141, „und viele andere“ (auch auf Marcus* 68, den ich im Literaturverzeichnis allerdings nicht finde).
<21> Jankowski zitiert Rabbi Akiba mit „MAbot 3,15“ und verweist damit auf die Mischna Abot.
<22> Ich lasse hier offen, ob mit den „gerufenen Heiligen“ nicht auch die hinzugerufenen Heiligen aus den Völkern gemeint sein könnten, und verschiebe die Beschäftigung mit dieser Frage auf die Exegese von Römer 1,7.
<23> Auf diese Problematik wird in der Exegese von Römer 1,5f. genauer einzugehen sein.
<24> Jankowski findet diese Regeln in der Tosephta, Traktat Sanhedrin (VII,11), und zitiert sie nach G. Stemberger, Das klassische Judentum, München 1979, 133.
<25> Dazu bemerkt Jankowski (Anm. 10), dass die „Schwestern … hier wie an allen anderen entsprechenden Stellen natürlich mitgemeint“ sind.
<26> Jankowski entnimmt seine Informationen (Anm. 11) hauptsächlich der Schrift von Suetonius, De vita Caesarum im Abschnitt Caesar Caligula; eine deutsche Übersetzung ist im Projekt Gutenberg unter Gajus Cäsar Caligula verfügbar.
<27> Vgl. zu Claudius und Nero nochmals Sueton über die Herrschaft von Tiberius Claudius Drusus Cäsar und Nero Claudius Cäsar.
<28> Der lateinische Text und eine andere Übersetzung nach W.Hertzberg bearbeitet von E.Gottwein ist im Internet verfügbar. Vgl. auch den Abschnitt 0.3 Richeys Definition der „Augusteischen Ideologie“ in: Helmut Schütz, Christus und Caesar. Eine politische Auslegung des Johannesevangeliums, kritisch gelesen, Gießen 2023, 7. In dem Buch setze ich mich mit Lance Byron Richey, Roman Imperial Ideology and the Gospel of John, Washington 2007, auseinander.
<29> Wolter verweist auf J.M.G. Barclay, Pauline Churches and Diaspora Jews (WUNT 275), Tübingen 2011, 363-387.
<30> Solche Vorstellungen vertreten Wolter zufolge M. J. Brown, Paul‘s Use of doulos Christou Iēsou in Romans 1:1, JBL 120 (2001) 723-737, und R. Jewett, Romans (ANTC), Nashville 2005, 100f.
<31> Jankowski bezieht sich auf Bereshit Rabba I,4.
<32> Wo Jankowski das Wort „NAME“ in Großbuchstaben schreibt, ist eine Bedeutung gemeint, die er selber (J233) folgendermaßen erläutert:
In der Schrift wird der unaussprechliche NAME, das sogenannte Tetragramm JHWH, mit adonai, mein Herr, umschrieben. Die LXX übersetzt dann adonai konsequent mit kyrios. Kyrios steht so für das Tetragramm, für den NAMEN, das befreiende Programm des Gottes Israels.
Außer adonai können im Hebräischen auch andere Bezeichnungen zur Umschreibung des Gottesnamens dienen, unter anderem eben ha-schem, auf Hebräisch „der NAME“.
<33> Wolter wendet sich hier gegen M. Theobald, Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 113 (Hervorhebungen im Original).
<34> So zitiert Jankowski Livius nach Polybios und gibt ihn wieder nach M. Hengel, Juden, Griechen und Barbaren, Stuttgart 1976, 80.
<35> Wolter verweist (Anm. 88) außerdem z.B. auf Dtn 3,24; Jos 4,24; 1Chr 29,11; Ps 67,35LXX; 150,1; Jer 16,21.
<36> Dazu verweist Wolter (Anm. 91) unter anderem auf H. Lietzmann, An die Römer (HNT 8), Tübingen, 5. Aufl. 1971, 30 und E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 77.
<37> So sieht es nach Wolter (Anm. 92) R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 139.
<38> In Anm. 100 verweist Wolter auf den lateinischen Text aus D. Martin Luthers Werke, WA 54, 186, 3-8:
Donec miserente Deo meditabundus dies at noctes connexionem verborum attenderem, nempe: Iustitia Dei revelatur in illo, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit, ibi iustitiam Dei coepi irıtelligere eam, qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide, et esse hanc sententiam, revelari per euangelium iustitiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat per fidem, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit.
<39> Wolter zitiert R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen, 6. Aufl. 1968, 285.
<40> Wolter zitiert R. Bultmann, ΔIKAIOΣYNH ΘEOY, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 470.
<41> Wolter zitiert E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen, 3. Aufl. 1968, 182.
<42> Wolter verweist dazu auf K. Koch, ṣdq gemeinschaftstreu / heilvoll sein, in: E. Jenni. C. Westermann. Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament (THAT) 2 (1979) 507-530, und auf M. Köckert, „Glaube“ und „Gerechtigkeit“ in Gen 15,6, ZThK 109 (2012) 415-444, hier 435f.
<43> Jankowski zitiert M. Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, Beilage zu: Die Schrift, Bd. I, Heidelberg 1976, 32.
<44> So Marquardt [192], aber schon zuvor erläutert Marquardt [181] seine Übersetzung von dikaiosynē mit „Gemeinschaftsgerechtigkeit“ in Anlehnung an den Alttestamentler G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1957, 368ff.
Michael Wolter (W122) ist es von anderen Quellen her ebenfalls bewusst, dass dikaiosynē im Alten Testament die „Angemessenheit des Verhaltens innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft“ bezeichnet, ohne daraus jedoch ähnliche Schlüsse zu ziehen wie Buber, Marquardt oder Jankowski.
<45> So äußerte sich zum Beispiel Jürgen Habermas in seiner Friedenspreisrede 2001 zur amerikanischen Antwort auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit den Worten: „Die Sprache der Vergeltung, in der nicht nur der amerikanische Präsident zunächst auf das Unfassbare reagierte, erhielt einen alttestamentarischen Klang“. Das Zitat fand ich, als ich meinen Aufsatz Alttestamentarische Besonnenheit für das Deutsche Pfarrerblatt schrieb, in einem Download der Dankesrede des Friedenspreisträgers, Glauben und Wissen, 2. Abschnitt, von der Internetseite des Erzbistums München, der inzwischen nicht mehr verfügbar ist.
<46> In seiner späteren Übersetzung (G10), in der er in 1,17 „Gottes Bewährtheit“ mit „wie Gott wahr macht“, umschreibt, gibt er epi pasan asebeia kai adikia mit „gegen jeden Frevel und jedes Unrecht“ wieder.
<47> Wolter zitiert das 3. Buch Esra mit „1/3Esr“. Unter dem Namen „3. Buch Esra“ folgt es als apokryphes Buch den beiden Büchern Esra und Nehemia der deutschen Bibeln. Es fehlt in der hebräischen Bibel, während es die Septuaginta ihrer Übersetzung der Bücher Esra und Nehemia, die in ihr unter dem Namen „2. Esdras“ zusammengefasst werden, unter dem Namen „1. Esdras“ vorangehen lässt.
<48> Dazu verweist Wolter auf Plato, Resp. 507b: „Diese Dinge werden gesehen, aber nicht gedacht (horasthai …, noeisthai d‘ ou), die Ideen aber werden gedacht, jedoch nicht gesehen (noeisthai men, horasthai d‘ ou)“.
<49> Zur Übersetzung von doxazein mit „verherrlichen“ sei aber angemerkt, was Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 307, im Zusammenhang seiner Auslegung des Johannesevangeliums über das üblicherweise mit „Herrlichkeit“ übersetzte Wort doxa schreibt:
Das Wort „Ehre“ (doxa, kavod, gloria) wird im Verlauf des Evangeliums zunehmend wichtig. Ab Kap. 11, der Erweckung des Lazarus, bis Kap. 17, dem Gebet des Messias, ist jene doxa, Ehre, ein Hauptthema. Die Ehre Gottes ist nicht wie die schnell beleidigte Ehre der Menschen. Die Ehre, kavod, eigentlich „Wucht“, ist sein Durchsetzungsvermögen bei der Verwirklichung seines „Projektes“ Israel.
Da es dem Gott Israels bei der Ehrung seines NAMENS immer um dieses „Projekt“ der Befreiung Israels geht, ist auch das „Wort“ Gottes, das nach Johannes 1,14 in Gestalt des Messias Jesus bei uns Fleisch geworden ist und sein Zelt hat, Veerkamp zufolge (38, Anm. 51),
nicht zu „ver-herr-lichen“, sondern ihm gebührt Ehre auf Grund dessen, was es für Israel tut.
<50> Nach Wolter (W143) basiert der „Ausdruck asynetos kardia in V. 21d (s. auch Ps 75,6LXX) … auf alttestamentlicher Anthropologie, die die lntellektualität des Menschen in seinem Herzen ansiedelt (vgl. z.B. Dtn 8,5; 1Kön 10,24; Esth 6,6; Hiob 17,4; Ps 33,11; Spr 2,2.10; Pred 2,3.15; Jes 10,7; Jer 24,7a).“ Dazu verweist er auf H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, neu hg. v. B. Janowski, Gütersloh 2010, 84ff.
<51> Damit bezieht sich Jankowski auf ein Verständnis von Gott, wie es Ton Veerkamp in seinem Buch Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013, entfaltet hat. Ich zitiere entsprechende Erläuterungen nach meiner Zusammenfassung dieses Werkes Ton Veerkamp: „Die Welt anders“ im Abschnitt Die Struktur der Großen Erzählung:
Nach Veerkamp (50) begreift die Bibel Gott nicht als „höchstes Wesen“, sondern als die Beschreibung einer Funktion. Diese Definition erinnert an Martin Luthers Satz: “Worauf du nu … Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.” Ton Veerkamp meint also: „Es existiert kein Wesen Gott, so wie es kein Wesen, sondern nur die Funktion ‚König‘ gibt.“ Das Wort „Gott“ beschreibt, (51) was in einer Gesellschaftsordnung „als zentrales Organisationsprinzip für Autorität und Loyalität“ funktioniert. Das ist gemeint, wenn man in der Antike fragte: „Was ist sein [Gottes] Name?“
In Israel (53) ist dieser Name unaussprechlich, „der NAME ist ‚nur Stimme‘.“ Er hat keine Gestalt, man darf kein Bild von ihm machen und anbeten. Er ist gefüllt mit dem, was er tut; er führt aus dem Sklavenhaus, er befreit. Das altbekannte Wort „Gott“ bekommt einen neuen Namen, einen neuen Inhalt. (55) „Der NAME ist die Chiffre für eine Grundordnung, welche die Sklaverei ausschließt, Ba‘al ist die Chiffre für eine Gesellschaft der großen Eigentümer, die Sklaverei zwingend voraussetzt.“
<52> Jedenfalls im Neuen Testament und in der Septuaginta. Wolter verweist allerdings darauf, dass die griechische Übersetzung der jüdischen Schriften durch Aquila in Hosea 10,5 „über die Samaritaner“ sagt, „dass sie ‚die Hauskälber verehrten (esebasthēsan)‘“.
<53> Wolter verweist unter anderem auf K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (THHK 6) Leipzig, 4. Aufl. 2012, 59, und R. Jewett, Romans (Hermeneua), Minneapolis 2007, 170f.
<54> So sieht es Wolter zufolge R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality, Philadelphia 1983, 115.
<55> Jankowski verweist auf Suetonius, De vita Caesarum im Abschnitt Caesar Caligula, 36; eine deutsche Übersetzung ist im Projekt Gutenberg unter Gajus Cäsar Caligula verfügbar.
<56> So wurde nach Jankowski (Anm. 14) „Tiberius z. B. … Bock von Capri genannt.“
<57> So nach Wolter R. B. Hays, The Moral Vision of the New Testament, San Francisco 1996, 396.
<58> Dazu zitiert Wolter die Darstellung des Lebens und der Meinungen berühmter Philosophen durch Diogenes Laertius 7,108. Im Internet ist eine deutsche Übersetzung des entsprechenden zweiten Bandes dieser Schrift von Otto Apelt verfügbar.
<59> Das dritte Buch der Selbstbetrachtungen des Kaisers Marcus Aurelius Antonius ist im Internet im Projekt Gutenberg in einer deutschen Übersetzung verfügbar.
<60> Wolter verweist dazu (Anm. 103) auf „Mk 7,21-22; Röm 13,13; 1Kor 6,9-10; 2Kor 12,20; Gal 5,19-21; Eph 4,31; 5,3.5; Kol 3,5 .8; 1Petr 2,1; 4,3.“
<61> Jankowski zitiert Th. Mommsen, Römische Geschichte, dtv-Ausgabe, Bd. 5, 192f.
<62> Das meinen nach Wolter M. Theobald, Römerbrief (SKK 6/1-2), Bd. I, Stuttgart 1992, 54, und O. Wischmeyer, Römer 2.1-24 als Teil der Gerichtsrede des Paulus gegen die Menschen, NTS 52 (2006), 363.
<63> Dazu verweist Wolter auf P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer (NTD 6), Göttingen, 2. Aufl. 1998, 34, und E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 85.+
<64> In diesem Sinne urteilt Wolter zufolge z.B. O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen, 5. Auf. 1978, 96.
<65> Dazu merkt Wolter an (Anm. 4): Auch in Röm 7,14-25 ist das allgemein menschliche Ich nichts anderes als die anthropologische Verkleidung für das jüdische Ich und seinen Umgang mit der Tora.
<66> Zur Bedeutung von zōē aiōnios im Johannesevangelium vgl. Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 86, Anm. 124:
Zōē aiōnios wird meistens mit „ewiges Leben“ übersetzt. Gemeint ist das Leben in dem kommenden Äon, der Epoche, die durch den Kampf des Messias begründet wird. Im rabbinischen Judentum heißt sie ˁolam ha-baˀ im Gegensatz zum ˁolam ha-se, dieser herrschenden Epoche. Johannes nennt sie ho kosmos (houtos) {diese Weltordnung}. Der Gegensatz zwischen ho kosmos (houtos) und zōē aiōnios ist nichts anderes als der rabbinische Unterschied. Mit gnostischem Dualismus hat er also nichts zu tun.
<67> Immerhin räumt Wolter an dieser Stelle ein, dass keineswegs
unter den Tisch fallen darf …, dass der in Röm 2,9-10 in seiner allgemeinsten Gestalt abgesteckte Rahmen (Unheil für jeden Menschen, „der das Böse vollbringt“, und Heil für jeden, „der das Gute vollbringt“) grundsätzlich auch für die Übertragung auf das Ergehen von Christen im Gericht offen ist. Auf diesen doppelten Ausgang des Gerichts weisen 2Kor 5,10 und Gal 6,7-8 hin, und ein potentiell unheilvolles Ergebnis auch für Christen nehmen die Paränesen in 1Kor 6,9-11; 10,1-13; Gal 5,21 in den Blick.
<68> Jankowski schreibt immer „Thora“, was eigentlich gemäß der Umschreibung des hebräischen Wortes thorah {Weisung} angemessener wäre, aber außerhalb seiner Zitate verwende ich trotzdem die im Deutschen übliche Schreibweise „Tora“, auf die auch Wolter zurückgreift.
<69> Die Übersetzung von agapē mit „Solidarität“ statt mit „(Nächsten-)Liebe“ hat Ton Veerkamp in seiner Auslegung des 1. Johannesbriefs vorgeschlagen: Ton Veerkamp, Weltordnung und Solidarität oder Dekonstruktion christlicher Theologie. Auslegung und Kommentar, in: Texte & Kontexte 71/72 (1996)), 35ff. Vgl. dazu auch Ton Veerkamp, Was heißt hier Liebe? Exegese zu Lev 19,33-34 für die ökumenische Versammlung Siegen 1986, in: Texte & Kontexte 35 (1987), 13-16.
<70> Er zitiert ihn mit „Decal. 87“ und verweist so auf das Werk Philon, Über den Dekalog. Außerdem merkt er an, dass es „in der Antike noch nicht“ die „Vorstellung von einem sog. ‚vorauslaufenden Gewissen‘ gab“.
<71> R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 220 und 224.
<72> Wolter verweist (Anm. 20) auf die Ausnahmen u. a. „der Lutherbibel von 1522 bis 1912“ und der katholischen „Einheitsübersetzung“.
<73> Wolter verweist auf D. Zeller, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 72; J.D.G. Dunn, Romas (WBC 38A), 2. Bd., Dallas, TX 1988, 114; U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 1. Bd., Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1978, 150; R. Jewett, Romans (Hermeneua), Minneapolis 2007, 228.
<74> Jankowski verweist dazu auf: The Midrash Rabba, Esther VI. 2, Soncino-Ausgabe Vol. IX, 73f.
<75> Dazu verweist Jankowski auf Belege bei H. Strack / P. Billerbeck, Bd. III, 108ff. zur Stelle.
<76> So zitiert Wolter M. Sæbø zu ōphelein in: E. Jenni. C. Westermann. Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament 1,748).
<77> Mischna Nedarim 3,11 und Babylonischer Talmud, Traktat Nedarim 32a.
<78> Jankowski zitiert diese Stelle aus dem Talmudtraktat Berakhot mit „TBer VII, 12-13 (Zuckermandel, 16).“
<79> Wolter zitiert ihn, ohne allerdings ihn selbst und diesen Zusammenhang des Zitats zu nennen, nach der historischen Bibliothek des hellenistischen Geschichtsschreibers Diodor von Sizilien mit der Quellenangabe „Diodorus Siculus 9,26,4“. Das entsprechende Bruchstück aus diesem Buch ist auf Seite 669 der deutschen Ausgabe von Diodor‘s von Sicilien historischer Bibliothek, übersetzt von Julius Friedrich Wurm, Erstes Bändchen, Stuttgart 1927, im Internet verfügbar.
<80> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 54, Anm. 76:
Pneuma, traditionell „Geist“, steht für hebräisch ruach, also für jenen „(Wind)braus“ (wie Buber oft übersetzt), der die Propheten antreibt. Vgl. etwa Jesaja 11,2: „‚Geisthauch‘ des NAMENS ruht auf ihm, ‚Geist‘ der Weisheit“ usw. Auch Buber kommt nicht ohne das Wort „Geist“ aus. Das lateinische Wort spiritus bewahrt das mit dem Wort ruach Gemeinte besser. Es scheint angebracht, auf das von einer späteren christlichen Dogmatik bestimmte und vom deutschen Idealismus gründlich verdorbene Wort „Geist“ zu verzichten, soweit es irgendwie möglich ist. Was mit dem Wort ruach angedeutet wird, ist keine Substanz, sondern ein Vorgang: das, was einen Menschen treibt, sein Leben so und nicht anders zu führen. „Heiliger Geist“ ist demnach das, was einen Menschen dazu treibt, nach Leviticus 20,7 zu leben: „Heiligt euch, werdet heilig …, denn Ich, der NAME, bin es, der euch heiligt.“ Deswegen: „Inspiration der Heiligung.“
Vgl. außerdem ebenda, 85, Anm. 122:
„Inspiration“ bedeutet das, was ein irdisches, fleischliches Leben zu einem himmlischen und inspirierten Leben, zu einer messianischen Existenz macht.
<81> U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 1. Bd., Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1978, 163.
<82> C.H. Dodd, The Epistle of Paul to the Romans, London 1932 = 1954, 43: „the Jewish objector‘ is in Paul’s own mind“, und A.J. Hultgren, Paul‘s Letter to the Romans, Grand Rapids / Cambridge 2011, 134: „imaginary opponent“.
<83> Wolter verweist zu dieser Formel (Anm. 14) nur auf außerbiblische Quellen, sie kommt allerdings auch in der Septuaginta vor (4. Mose 18,7).
<84> C.H. Dodd, The Epistle of Paul to the Romans, London 1932 = 1954, 43:
„The logical answer on the basis of Paul‘s argument is, ‚None whatever!‘“.
Interessant ist in diesem Zusammenhang (W212, Anm. 11), dass Jesus im Thomas-Evangelium 53 auf die Frage seiner „Jünger: ‚Nützt die Beschneidung oder nicht?‘ … ganz anders als Paulus“ antwortet:
„Wenn sie nützte, würde ihr (2. Ps.Pl.) Vater sie beschnitten aus ihrer (2. Ps.Pl.) Mutter erzeugen. Die Beschneidung der Wahrheit im Geiste dagegen hat völligen Gewinn gefunden“.
<85> Wolter zitiert E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Auf. 1980, 77.
<86> Später (G13) kehrt er zur üblichen Übersetzung: „Was ist nun der Vorzug des Juden?“ zurück.
<87> Jankowski weist darauf hin, dass die Septuaginta „damit sehr häufig hebräische Worte“ übersetzt, die von der Wurzel ˀaman abgeleitet sind und die wir am besten mit Worten der deutschen Wurzel treu/trau übersetzen.
<88> So zitiert Wolter E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 76. Ich beziehe mich im Folgenden auf dasselbe Werk, 76, allerdings liegt mir die 3. Auflage 1974 vor.
<89> Dass krinesthai hier nicht „richten“, sondern „rechten, Klage erheben“ bedeutet, begründet Wolter damit, dass das Wort hier als „dynamisches Medium“ eine dritte Handlungsrichtung für Verbformen aufweist, die es im Altgriechischen neben dem Aktiv und dem Passiv gibt, deren Formen fast immer dem Passiv entsprechen und das Handlungen ausdrückt, die sich unmittelbar auf den Handelnden auswirken.
Käsemann hatte allerdings an der eben angegebenen Stelle darauf verwiesen, dass im Paulus-Zitat von Psalm 50,6LXX „der mediale Sinn von en tō krinesthai durch den passivischen ersetzt“ sei, „wie aus der Situation des Prozesses und der Parallele in [Vers] 7 hervorgeht“, und außerdem spreche die Ersetzung des ursprünglichen „Konjunktiv der LXX durch das Futur nikēseis“ eben dafür, das Zitat auf das apokalyptische Endgericht zu beziehen. Letzterem widerspricht wiederum Wolter (W217), indem er darauf verweist, dass schon in der Septuaginta ein solches „Futur … in der Regel die Folge der zuvor konjunktivisch beschriebenen Handlung“ bezeichnet, und zwar durchaus nicht auf das Endgericht bezogen, etwa in „Gen 12,13; Lev 18,30; Num 15,40; 1Makk 10.56; Sir 23,3; Hos 2,5; Jer 21,12; Ez 12,12; 16,54“.
<90> So sehen das u.a. P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 1965, 86, U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 1. Bd., Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1978, 166, und H. Schlier, Der Römerbrief (HthK 6), Freiburg i. Br. u.a., 2. Aufl. 1979, 95.
<91> So zitiert Wolter G. Bornkamm, Theologie als Teufelskunst. Römer 3,1-9, in: ders., Geschichte und Glaube II, 144.
<92> So zitiert Wolter D. Zeller, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 79.
<93> Interessant finde ich, dass die Zürcher Bibel etwas schwächer: „Nein, nicht unbedingt“ übersetzt, also die wörtliche Übersetzung „nicht in jeder Hinsicht“ so auffasst, dass die Verneinungspartikel ou sich nicht nur auf die Frage bezieht, sondern auch auf das nachfolgende Adverb pantōs, wie das im Deutschen möglich ist. Jankowski geht diesen Weg jedoch nicht.
<94> Mit „angefault“ greift Jankowski auf das Wort ˀalach im hebräischen Text von Psalm 14,3 zurück, während Wolter (W234) die griechische Entsprechung ēchreōthēsan wörtlich mit „nichtsnutzig geworden“ wiedergibt. Später übersetzt Jankowski (G14) mit „korrupt“.
<95> In der ursprünglichen Übersetzung stand versehentlich nochmals „Zungen“, ich ersetze korrekt „Lippen“ aus Jankowskis späterer Übersetzung (G14).
<96> Dazu beruft sich Wolter auf J. Vos, Sophistische Argumentation im Römerbrief des Apostels Paulus, NT 43 (2001), 233.
<97> Wolter zitiert Luther nach der Weimarer Ausgabe mit „WA.TR 6,144,33-36 (Nr. 6720)“ aus den Tischreden und mit „WA.DB 7,7,2-3“ aus der Deutschen Bibel.
<98> Das vorige Zitat stammt von K. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung), München 1922 = Zürich 2011, 70; im Folgenden zitiert Wolter R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen, 6. Aufl. 1968, 261 und 262.
<99> Wolter zitiert mit eigener Hervorhebung P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer (NTD 6), Göttingen, 2. Aufl. 1998, 53, und anschließend E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 82 und 83.
<100> Den hier angesprochenen Ansatz hat Ton Veerkamp, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung © Institut für Kritische Theologie Berlin e. V. nach der in Berlin erschienenen Ausgabe © Argument Verlag 2013, 253ff., eingehender dargestellt. Vgl. dazu in meiner Buchbesprechung Ton Veerkamp: „Die Welt anders“ den Abschnitt Paulus: Volk und Völker – Tora undurchführbar.
<101> Jankowski zitiert Marquardt [202], ohne selber die Fundstelle anzugeben.
<102> Dazu verweist Wolter vor allem auf die Beiträge in M.F. Bird / P.M. Sprinkle (ed.), The Faith of Jesus Christ. Exegetical, Biblical, an Theological Studies, Peabody / Milton Keynes 2009 (besonders S. 1ff [M.F. Bird] und 15ff [D. Hunn]) sowie auf M.C. Easter, The Pistis Christou Debate. Main Arguments and Responses in Summary, CBR 9 (2010), 33-47, J.D.G. Dunn, Once More, pistis Christou, in: Johnson/Hays (ed.), Pauline Theology IV, 61-81, und A. J. Hultgren, Paul‘s Letter to the Romans, Grand Rapids / Cambridge 2011. Die beiden folgenden Zitate, auf die ich in eckigen Klammern [] verweise, stammen aus: R.B. Hays, The Faith of Jesus Christ. The Narrative Substructure of Galatians 3:1 – 4:11, Grand Rapids, 2nd ed. 2002.
<103> Das haben nach Wolter (außer ihm selbst: M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 76ff.) bereits folgende Autoren vertreten: A. Deissmann, Paulus, Tübingen 1911, 2. Aufl. 1925; O. Schmitz, Die Christus-Gemeinschaft des Paulus im Lichte seines Genitivgebrauchs (NTF 1/2), Gütersloh 1924; K.F. Ulrichs, Christusglaube. Studien zum Syntagma pistis Christou und zum paulinischen Verständnis von Glaube und Rechtfertigung (WUNT II, 227, Tübingen 2007; A. J. Hultgren, The Pistis Christou Formulation in Paul, NT 22 (1980), 257 („Christic faith“).
<104> Die von Wolter mit “Ant. 16,182“ zitierte Stelle kann in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 16, 7, 1.
<105> So zitiert Wolter S. Schreiber, Das Weihegeschenk Gottes. Eine Deutung des Todes Jesu im Röm 3,24-26, ZNW 97 (2006), 105.
<106> So zitiert Wolter G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 1992, 39.
<107> Jankowski zitiert Marquardt [199], ohne selber die Fundstelle anzugeben.
<108> Wolter zitiert Augustin, De spiritu et littera, zum „Gesetz der Werke“ mit Spir. Litt. 1-3 bzw. Spir. Litt. 21 und zum „Gesetz des Glaubens“ mit Spir. Litt. 22 (die Verlinkungen verweisen auf die jeweiligen englischen Übersetzungen von P. Holmes, die im Internet verfügbar sind).
<109> Wolter bezieht sich auf G. Friedrich, Das Gesetz des Glaubens: Röm 3,27, in, ders., Auf das Wort kommt es an, Göttingen 1978.
<110> Dazu verweist Wolter auf die Weimarer Ausgabe der deutschen Bibelübersetzung Martin Luthers: WA.DB 7,38.
<111> Jankowski zitiert Marquardt [202], ohne selber die Fundstelle anzugeben.
<112> Dazu beruft sich Wolter auf B. Blass, A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. Rehkopf, Göttingen, 14. Auflage 1976, § 360.371. Bei weiteren Bezugnahmen auf diese Grammatik werde ich sie mit „BDR“ abkürzen.
<113> Ich zitiere ihn nach Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 33.35-37 sowie 86.95-96.
<114> So „als einer für viele“ E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 105.
<115> bJoma bezieht sich auf den babylonischen Traktat Yoma (Kippur), in dem es um den Großen Versöhnungstag geht.
<116> Wolter zitiert die Pesiqta Rabbati mit „PɘsiqR 45 (185b)“ nach P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. III. Die Briefe des Neuen Testaments un die Offenbarung des Johannes, München, 6. Aufl. 1975, 202f.
<117> Paulus verwendet hier den wohl vielen aus dem Lateinunterricht vertrauten a.c.i., den es auch im Altgriechischen gibt, nämlich den accusativus cum infinitivo. Im Grunde müsste noch wörtlicher als oben übersetzt werden: „im Hinblick auf das Sein ihn Vater …“, aber das ist im Deutschen völlig unmöglich, sondern nur durch einen Nebensatz wiederzugeben, in dem dieser Akkusativ zum Subjekt im Nominativ und der Infinitiv zu seinem Prädikat wird: „im Hinblick darauf, dass er Vater ist …“.
<118> Nach Marquardt, ebenda 205f., macht Paulus das jedenfalls nicht in einem Sinne, der in der heidenchristlichen Kirche schon sehr bald grundsätzlich beschritten wurde, denn Paulus, dem Juden, ist
irgendein christlicher Universalismus … nicht so selbstverständlich, wie wir es gerne möchten. Er braucht einen ziemlichen Gedanken-Umweg. Abraham wurde von Gott in seine Gemeinschaft berufen, also gerechtfertigt, als er noch unbeschnitten war, d.h. in seiner heidnischen Frühphase (4,10). Theoretisch könnte man daraus folgern: Abraham repräsentiert eine Glaubensgerechtigkeit der Heiden noch vor einer Glaubensgerechtigkeit der Juden, der Beschnittenen. Es ist sehr wichtig, daß Paulus es weder so sieht, noch so sagt. Er kann sein Thema „den Juden zuerst und auch den Griechen“ von 1,16 in der Auslegung der Abrahamsgeschichte nicht umdrehen: dem unbeschnittenen Abraham „zuerst“ und dann erst: „und auch“ den Beschnittenen, mit der Konsequenz, daß wir dann etwa sagen müßten: „Zuerst“ haben es alle Adamskinder mit Gott zu tun und dann danach „auch“ die Juden, – „zuerst“ gilt der universale Gott der Schöpfungserzählung und dann danach „auch“ der partikulare Gott der Heilsgeschichte, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Dies uns sehr geläufige Modell: vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Universalen zum Partikularen, von der Gattung Mensch zu Israel – und dann in weiterer Verengung: von Israel zu dem einen Israeliten Jesus: dies Modell scheitert an der außerordentlichen Anstrengung des Gedankens in 4,11: „Und Abraham empfing das Zeichen der Beschneidung als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er noch unbeschnitten war, damit er der Vater aller unbeschnittenen Gläubigen würde, auf daß auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werde…“
<119> Wolter zitiert dieses Werk mit „Somn. 1,175“. Im Internet ist eine deutsche Übersetzung dieser Stelle in: Die Werke Philos von Alexandria, Band VI, hrsg. v. I. Heinemann und M. Adler, Jüdischer Buchverlag Stefan Münz, Breslau 1938, 208, verfügbar.
<120> Zu diesem Stichwort beruft sich Wolter auf W.D. Davies, The Gospel and the Land, Los Angeles u.a. 1974, 179.
<121> So zitiert Jankowski K.H. Kroon, Der Sturz der Hure Babylon. Eine zeitgeschichtliche Auslegung der Johannesapokalypse, Berlin 1988, 22.
<122> Zu seinen Ausführungen verweist Jankowski auf den empfehlenswerten Beitrag von Ton Veerkamp, Theologie der Schrift in Stichworten, in: Texte & Kontexte Nr. 69 (1/1996),18ff.
<123> Dazu schreibt Jankowski (Anm. 33):
So M. Buber, der sich dann schließlich für das alte deutsche Wort Huld entscheidet, um so die Besonderheit des Wortes zu betonen.
Was Buber allerdings an der betreffenden Stelle schreibt (von mir aufgesucht in: Martin Buber, Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, in: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gütersloh 2007, 1107f.), entspricht kaum dem von Jankowski intendierten Verständnis von chessed bzw. charis, vielmehr betont Buber mit seiner Wahl des Wortes „Huld“ genau das Gefälle zwischen Oben und Unten, dem Jankowswki entkommen will:
Chessed, zedek und ˀemeth, die göttliche Tugenden verherrlichen und dem Menschen, der „in den Wegen Gottes“ gehen soll, zur Nachahmung darstellen, sind alle drei Begriffe der Übereinstimmung, der Zuverlässigkeit. Chessed ist eine Zuverlässigkeit zwischen den Wesen, insbesondre die des Bundesverhältnisses zwischen dem Lehnsherrn und seinen Dienstmannen, zunächst die Bundestreue des Herrn, der seine Diener erhält und beschützt, sodann auch die der Untertanen, die ihrem Herrn treu ergeben sind. Der diesem Gegenseitigkeitsbegriff entsprechende deutsche Wortstamm ist „hold“; sowohl das Adjektiv hold wie das Nomen Huld bezeichnen ursprünglich auch die Treue von unten nach oben [„dem Schutzherrn mit redlichem Herzen hold und gewärtig zu sein“, heißt es bei Niebuhr], der „Holde“ hieß mittelhochdeutsch der Dienstmann, und in unserem „huldigen“ lebt diese Seite des Begriffs fort; aber auch dessen ästhetische Verselbständigung, wie sie von Jes 40,6 gefordert wird, gibt der deutsche Wortstamm mit „Holdheit“ her. In den Psalmen sind Gottes chassidim seine Holden, seine treue Gefolgschaft.
<124> Die folgenden Zitate zur Fußwaschung stammen aus Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 301.
<125> Ich gehe darauf in folgendem Abschnitt ein: Römer 3,21-22a: Die außerhalb der Tora offengelegte Bewährtheit Gottes durch die Treue des Messias für alle, die vertrauen.
<126> Nach Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 27-28, erscheint das aus 1. Mose 1,2 bekannte Tohuwabohu auch in Jeremia 4,23 und beschreibt dort den „Zustand eines von Krieg verheerten Landes“. Ebenda, 407-409, beschreibt Veerkamp den Zusammenhang zwischen dem jom ˀechad bzw. der hēmera mia {Tag eins} in der Schöpfungserzählung 1. Mose 1,5 und dem Ausdruck tē de mia tōn sabbatōn {am Tag eins der Sabbatwoche} in der Auferstehungserzählung Johannes 20,1.
<127> Das behauptet Wolter zufolge G. Klein, Rekonstruktion und Interpretation (BEvTh 50), München 1969, 159.
<128> „Zum Ganzen“ verweist Jankowski auf Strack-Billerbeck, Bd. III, 585ff., und J.J. Meuzelaar, Der Leib des Messias, Kampen 1979, 59ff.
<129> Die Wiedergabe von Vers 2a-b (J115) mit „durch den haben wir auch die Nahung gehabt auf diese Solidarität hin, in der wir stehen“, hat Jankowski allerdings in seiner späteren Übersetzung doch wieder aufgegeben (G17): „Durch den haben wir auch im Vertrauen den Zugang zu dieser Gnade, in der wir stehen“.
<130> Die folgenden Zitate stammen aus Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 37 (Anm. 51), 307, 353 und 360.
<131> Jankowski zitiert L. Baeck, Vision und Geduld, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 10, London 1967.
<132> Zum Beleg verweist Wolter (Anm. 63) zu asebēs auf „Gen 18,23.25; Ex 9,27; 23,7; Ps 1,1.4.5.6; Jes 5,23; 11,4; Jer 12,1; 23,19; Ez 33,11“ und zu hamartōlos auf 2Chr 19,2; Ps 3,8; 7,10; 9,17.18; 10,3.4.15 / 9,24.25.36LXX; Jes 14,5; Ez 33,8.19.
<133> Jankowski zitiert Z. Kollitz, Jossel Rackower spricht zu Gott, in: P. von der Osten-Sacken (Hg), Das Ostjudentum, Institut für Kirche und Judentum (VIKJ 13), Berlin 1981, 163f.
<134> Gerhard Jankowski, Dann kommt schon der Tag. Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte Nr. 139, 2013, 46f.:
Harpazō meint (mit Gewalt) ergreifen, raffen, fortreißen, rauben, in übertragenem Sinn entführen. Fast alle deutschen Übersetzungen haben entrücken. In 2 Kor 12,2.4 schreibt Paulus, daß er fortgerissen, gleichsam entführt wurde bis in den dritten Himmel und in das Paradies. Um den gleichen Vorgang geht es auch an unserer Stelle: Die Toten und die Lebenden werden aus dem Zustand, in dem sie sich befinden, fortgerissen, die einen aus dem Tod, die anderen aus diesem Leben. Tote und Lebende sind dann zusammen. Fortgerissen werden sie in Wolken, en nephelais. Dieses Fortgerissenwerden hat ein Ziel, wie es die Präposition eis andeutet: die Begegnung mit dem auferstandenen Messias. Deswegen ist der Ausdruck eis apantēsin tou kyriou, wörtlich: auf die Begegnung des Herrn hin, final zu übersetzen: um dem Herrn zu begegnen. Das hinzugefügte eis aera, in die Luft, bedeutet nicht, daß sich die Auferstandenen und Lebenden in Luft auslösen werden, vielmehr werden sie von der Luft auf den Wolken getragen.
Die Begegnung zwischen den Auferstandenen und den Lebenden geschieht in den Wolken. Die Wolken oder das Gewölk sind Anzeichen der Gegenwart Gottes. In der Wolke ließ sich der Ehrenschein JHWHs sehen (Ex 16,10). In Wolken zog JHWH nieder (Ex 34,5; Num 11,25). In Ps 104,3 heißt es, daß Gott Wolken als sein Fahrzeug benutzt. Schließlich sieht Daniel den bar enosch, den Menschensohn oder die Menschlichkeit, die nach all der Unmenschlichkeit definitiv herrschen wird, auf Wolken kommen (Dan 7,12). Dieses Bild nehmen dann auch Mk 13,26; 14,62; Mt 24,30; Lk 21,27 auf. Und es ist anzunehmen, daß auch Paulus auf dieses Bild anspielt. Nach der Begegnung in den Wolken werden die Auferstandenen und die Lebenden allezeit zusammen mit dem Herrn, dem Messias, sein.
Als Ermutigung versteht Paulus das, was er hier über die Auferstehung der Toten sagt. Gestärkt werden soll die Hoffnung auf ein anderes Leben, ohne die das gegenwärtige Leben eben hoffnungslos und damit sinnlos ist. Vergleicht man jedoch diese Sätze mit dem, was Paulus in 1 Kor 15 zur Auferstehung der Toten sagt, so fällt auf, daß von der Veränderung, von der Neuschöpfung der Welt und des Lebens, die in 1 Kor 15 einen breiten Raum einnimmt, an unserer Stelle nicht einmal andeutungsweise die Rede ist. Das hat seinen Grund. In 1 Kor 15 setzt sich Paulus mit der Leugnung der Auferstehung der Toten auseinander. Da er überzeugt davon ist, daß Tote auferstehen werden, muß er auch auf die Frage eingehen, wie die Toten auferstehen werden. In 1 Thess 4 dagegen geht er auf die Frage ein, was mit denen sein wird, die messianisch gelebt haben und dann gestorben sind oder noch sterben werden, bevor die messianische Zeit anbricht. Die so fragen, ermutigt er mit dem Hinweis, daß alle, die Gestorbenen und die Lebenden, wenn die messianische Zeit anbricht, zusammen mit dem Messias bei dem befreienden Gott sein werden. Und sie werden leben.
Uns mag das wie eine billige Vertröstung auf ein Leben irgendwo in den Wolken bei Gott erscheinen. Und so ist es a durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder auch gepredigt worden. In 1 Kor 15 wird Paulus dann sehr massiv von der neuen Schöpfung und dem neuen Leben reden, in das auch die Gestorbenen mit hineingenommen werden. Hier aber genügt ihm die Vision von einer Geborgenheit und einer Leichtigkeit des Lebens (fortgerissen in Wolken in die Luft), die alles Bedrängende und Belastende der Gegenwart aufheben wird. Niemand hat umsonst gelebt und niemand ist umsonst gestorben, heißt das auch. Und er war gewiß, daß sich das sehr bald erweisen wird.
<135> Dazu verweist Wolter auf Cicero, Top. 4,23.
<136> In seiner späteren Übersetzung kehrt Jankowski (G18) aber dann doch zur Übersetzung mit „versöhnen“ und „Versöhnung“ zurück. Damit sind seine Überlegungen zur inhaltlichen Füllung des Versöhnungsbegriffs aber keineswegs gegenstandslos geworden.
<137> Aus der Lutherbibel 1545 geht hervor, dass Luther selbst offenbar dieses „und“ ursprünglich nicht wegließ, sondern kai houtōs angemessen mit „und also“ übersetzte und die folgenden Verse 13 bis 17 in Klammern einschloss, bevor der begonnene Vergleich zu Ende geführt wurde:
12 Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist kommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündiget haben; (…)
18 wie nun durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen kommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen kommen.
<138> Er zitiert K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig, 6. Aufl. 2012, 143.
<139> Wolter zitiert Augustin mit „C. duas ep. Pelagian. 4,4,7 [CSEL 60,527,19f]“ und die Lehre der westlichen Kirche nach H. Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. u.a., 39. Aufl. 2001, 1513. Interessant ist (W344, Anm. 14), dass auch die protestantische Confessio Augustana 2 diese Lehre aufnimmt: „… dass nach Adams Fall alle Menschen, so naturlich geborn werden, in Sunden empfangen und geborn werden“.
<140> Jankowski beruft sich hier auf den niederländischen biblischen Theologen F.H. Breukelman, ohne eine genaue Quelle zu zitieren. In dem mir zugänglichen Aufsatz F.H. Breukelman, Die Schöpfungsgeschichte als Unterricht in „biblischer Hermeneutik“, Texte & Kontexte 61, (1994), 29-51, ist das Zitat leider nicht zu finden.
<141> Wolter zitiert G. Klein mit „TRE 13,67,3“ nach der Theologischen Realenzyklopädie.
<142> So sieht das Wolter zufolge U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 1. Bd., Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1978, 319.
<143> Es lohnt sich nachzulesen, wie Friedrich-Wilhelm Marquardt [228f.], auf den sich Jankowski immer wieder beruft, die Art und Weise beschreibt, in der Mose der Sünde ihre Logik zuweist und damit die Menschheit „zurechnungsfähig“ macht:
Sodann machen Mose und die Tora Adam für seine Sünde zurechnungsfähig; das griechische Wort heißt ellogeisthai {verbuchen}; das Substantiv logos {Wort} und das Verbum logizesthai {anrechnen} klingen mit an: Sünde bekommt ihre Logik; Gott gibt sie ihr, indem er uns Mose und die Tora nahekommen läßt. Wenn etwas „logisch“ wird, wird es erkennbar, durchschaubar, kann man es verallgemeinern, kann man damit etwas anfangen, ein Verhältnis dazu einnehmen, sich dem stellen. Diese Möglichkeit gibt Gott dem Adam, indem er ihm den Mose sendet. Mose ist kein Erlöser von der Sünde, aber ihr Logiker. Man muß sich klarmachen, wie epochal Mose damit wird in der Welt Adams. Für Gott gab es zuvor schlechterdings keine Notwendigkeit, der Sünde und der Todesmacht irgendeine Logik zuzuerkennen. Adams Sündigen und Sterben waren für ihn mindestens so unfaßbar, unbegreiflich und widersinnig, wie für Adam selbst. Daß die adamitische Menschheit kein Ohr für Gott hat, sich selbst an die Stelle Gottes setzt, sein will wie Gott, daß sie also die Konkurrenz zu Gott wagt und das mit der tiefsten Entfremdung und Entfernung aus dem gemeinsamen Leben mit Gott bezahlt – das ist wirklich der Einbruch des Chaos in die Schöpfung, ohne Sinn, ohne Logik. Und von Adam an bis hin zum Kommen des Mose hat Gott dieser Menschheit nicht anders helfen wollen, als durch immer neue Anläufe, das Leben der urgeschichtlichen und frühgeschichtlichen Menschen zu bewahren, zu fördern durch wunderbare Rettungen, immer neue wunderbare Zeugungen, die der menschlichen Unfruchtbarkeit, dem Ausdörren und Aussterben entgegenwirken sollten; das erzählt das Buch Bereschit {Über die Anfänge = Genesis = 1. Buch Mose}. Aber Sünde und Tod zu logifizieren, Regeln zu ihrer Vermeidung zu geben, sie gegeneinander zu Ursache und Folge zu quantifizieren, sie so, kurz gesagt: berechenbar zu machen – auf die Idee wäre Gott nie gekommen. Er wollte den Menschen ihre einzelnen Übertretungen nicht „anrechnen“ und hat dies auch nicht getan. So waren Gott und Adam miteinander nicht dran. Ihr Verhältnis war auf emuna, Vertrauen, gebaut, auf freies Reden des einen und ein ebenso freies, zwangloses und unverkrampftes Hören und Antworten des anderen. Wenn Adam schon einen tiefgreifenden Vertrauensbruch beging und wenn freilich Gott darauf reagieren mußte, wenn er sich selbst ernst nehmen und nicht den Unberührbaren spielen wollte – er hat damit sein Verhältnis doch nicht auf eine andere Basis gestellt, hat an der Vertrauensbasis von sich aus festgehalten und damit auch gut getan; denn das Buch Bereschit weiß zu erzählen, wie Gott, dem ganzen Adamitentum zum Trotz, dann doch immer wieder auch ihm trauende Menschen gefunden hat, so daß sein Bild von Adam nicht nur getrübt sein mußte; er fand neben einfach nur wirklichen auch wahre Menschen in den Müttern und Vätern Israels, die nicht nur im Schlechten, sondern auch im Guten „Adam“ waren.
Natürlich waren in dem vor-mosaischen Vertrauensverhältnis immer schon klare Äußerung und ebenso klare Beachtung des Gotteswillens da. Aber sie waren noch nicht als Tora geäußert und auch noch nicht als Tora gegeben, nicht schriftlich und nicht mündlich. Das bringt erst Mose: den zu Stein und Buchstaben gewordenen Gotteswillen, die Erklärung des Gotteswillens Schwarz auf Weiß und also in einer Form, durch die Adam behaftet werden konnte und durch die es ihm letztlich nicht mehr freigestellt blieb, ob er auf Gott chaotisch reagieren wollte. Im Gesetz legte Mose den Menschen vor den Weg zum Leben und den Weg zum Tod; Gott gab damit klare Konturen, voraussehbare Konsequenzen menschlichen Sich-Verhaltens zu Gott und dem Nächsten. Aus dem adamitischen Chaos der Gottesbeziehung wird eine mosaische Kultur der Gottesbeziebung.
<144> Jankowski zitiert hier „ExR 41,7; ähnlich auch ExR 51,8“ aus dem Midrasch Rabba.
<145> Wolter verweist auf L. Goppelt, Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen (BFChrTh 2,43), Gütersloh 1939 = Darmstadt 1981.
<146> Die von Wolter mit “Ant. 1,310.311“ zitierte Stelle kann in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 1, 19, 8.
<147> Wolter (W334) hatte es im Blick auf Römer 5,9-10 abgelehnt, eine pollō-mallon-Argumentation allein vom rabbinischen Qal-Wachomer-Schluss her zu interpretieren.
<148> So sehen das u.a. E. Brandenburger, Adam und Christus. Exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu Röm 5,12-21 (1. Kor. 15) (WMANT 7), Neukirchen 1962, 249, O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 192, und E. Jüngel, Das Gesetz zwischen Adam und Christus, in: ders., Unterwegs, 170ff.
<149> Dazu merkt Wolter an (Anm. 77):
Von einem pleonazein der Sünden sprechen auch 1/3Esr 8,72 (hai gar hamartiai hēmōn epleonasan hyper tas kephalas hēmōn {Unsere Sünden haben sich nämlich über unseren Häuptern vermehrt}) und Sir 23,3 (hai hamartiai mou pleonasōsin {meine Sünden zunehmen}). Hier steht aber immer der Plural, nicht der Singular wie in Röm 5,20b.
Da an diesen Stellen der Bezug auf die Tora, nomos, fehlt, können diese Stellen sowieso nichts zur Erhellung der Aussage des Paulus in Römer 5,20b beitragen.
<150> Eine solche Konstruktion, die er ablehnt, findet Wolter z.B. bei D. Zeller, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 119: „am Überhandnehmen der Sünde … sollte sich die Überfülle der Gnade erweisen“. Außerdem wendet sich Wolter auch gegen die Vorstellung, Paulus mache „das Gesetz hier zur ‚Voraussetzung‘ der Gnade“, die er bei folgenden Autoren findet: U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 1. Bd., Zürich u.a./Neukirchen-Vluyn 1978, 329, K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig, 6. Aufl. 2012, 148, und K. Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk“. Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008, 233.
<151> Marquardt zitiert O. Michel, Der Brief an die Römer, 143.
<152> Die von Wolter mit „Josephus, Ant. 6,36“ bzw. „Josephus, Bell. 3,72“ zitierten Stellen können in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 6, 3, 3 bzw. Geschichte des Jüdischen Krieges. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Halle a.d.S. (o.J.), 3, 5, 1.
<153> Die englische King James Bible hat dies einfach wörtlich mit „Knowing this, that…“ wiedergegeben.
<154> Vgl. dazu das oben in meiner Anm. 11 erwähnte Buch. Außerdem verweise ich bereits hier auf die Auslegung von Römer 7,4 und Römer 12,5, wo Paulus ausdrücklich vom „Leib Christi“ redet.
<155> Seine spätere Übersetzung (G19) lautet allerdings dann doch: „… damit der Leib der Verfehlung zunichtewerde“, womit er sich dem Beispiel der Luther-, Einheits- und Zürcher Bibel anschließt.
<156> Gerhard Jankowski, Messianisch leben. Der zweite Brief des Paulus an die Korinther. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 131/132 (2011). Aus dieser Auslegung stammen die folgenden Zitate, auf die mit Seitenzahlen in eckigen Klammern verweise.
<157> Obwohl nach Wolter Vers 9 nicht Vers 8b begründet, beginnt er seine Übersetzung von Vers 9 trotzdem mit einem begründenden „denn“ (W366): „Denn wir wissen, dass Christus, der von den Toten auferweckt wurde, nicht mehr stirbt. Der Tod herrscht nicht mehr über ihn.“
<158> Die folgenden Zitate leite ich mit Seitenzahlen in eckigen Klammern ein. Sie stammen aus Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 417-419.
<159> So sieht das Wolter zufolge U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 2. Bd., Zürich u.a./ Neukirchen-Vluyn 1980, 20.
<160> Zum Ganzen verweist Jankowski auch auf Strack-Billerbeck, Bd. IV. 1., 466-483.
<161> Die von Wolter mit „Josephus, C. Ap. 2,210“ zitierte Stelle ist in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachzulesen: Über das hohe Alter des jüdischen Volkes, gegen Apion. In: Des Flavius Josephus kleinere Schriften. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Halle a. d. S., o. J., 2. Buch, Abschnitt 28.
<162> In seiner späteren Übersetzung (G20) kehrt er zur Formulierung „unter der Gnade“ zurück.
<163> Vgl. dazu, was Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, auf den Seiten 131f. und 250 zum Stichwort „Zaun um die Tora“ im Zusammenhang mit Jesu Heilungen am Sabbat schreibt. Auf S. 131 zitiert Veerkamp aus der Mischna Avot 1,1 die entsprechende rabbinische Anweisung:
Die „Männer der großen Versammlung“ gaben ihren Nachfolgern den Rat: „Seid vollkommen im Gerichtsurteil, lasst viele Schüler aufstehen und macht einen Zaun um die Tora“ …
<164> Vgl. dazu, was Ton Veerkamp, ebenda 121, in seiner Auslegung von Johannes 4,16-19 zur von dem Propheten Hosea verwendeten Metapher vom Gott Israels als dem „Mann“, dem das Volk als seine Frau in Freiheit und Vertrauen angehört, und fremden Göttern, die sich als „Besitzer“ ihrer Völker aufspielen, schreibt:
„Männer“ sind in Johannes 4 nicht irgendwelche individuellen Gatten, sondern baˁalim, Herrscher, Könige, vor denen das Volk von Samaria sich verneigen musste, die Könige Assurs und Babels, die Könige Persiens und der Griechen aus dem Süden (Ägypten) und dem Norden (Syrien), die Könige Judäas, ihre Ordnungen, ihre Götter. Die Frau sagt: „Ich habe keinen Mann“, und das heißt: „Ich erkenne die faktische Herrschaft, der wir uns zu beugen haben, nicht an. Ich vergesse nicht mein Volk und nicht das Haus meines Vaters! Ich habe keinen Mann (ˀisch), ich habe nur einen Herrn und Besitzer (baˁal).“ Johannes argumentiert auf der Linie des Propheten Hosea (2,18):
Es wird geschehen an jenem Tag, Verlautbarung des NAMENS,
du wirst rufen: „ˀischi, mein Mann“,
du wirst nicht mehr rufen: „baˁali, mein Herr und Besitzer“.Die fünf „Männer“, die das Volk je gehabt, waren baˁalim. Die verhängnisvolle Geschichte dieses Volkes unter den fünf baˁalim macht aus der Tora Samaria eine Art von Gegentora, alle politische Organisation der Gesellschaft Samarias war das Gegenteil einer durch die Tora strukturierten Gesellschaft. Das Ganze ist jetzt auf die Herrschaft von dem, der „kein Mann“ ist, hinausgelaufen, die Herrschaft Roms; da ist gar keine Tora mehr möglich, weder für die Judäer, noch für die Samaritaner, wie wir hören werden. Tatsächlich ist sie gezwungen, eine Herrschaft anzurufen, der er, Jesus, den Kampf angesagt hat und die sie, wie die jüngste Geschichte ihres Volkes zeigt, zurückweist. „Nein“, sagt er, „das ist nicht dein Mann, allenfalls dein Besitzer.“ Auf der Basis der gemeinsamen Ablehnung römischer Herrschaft, des römischen baˁal, ist politische Verständigung zwischen den beiden Völkern möglich. Deswegen lobt Jesus den Satz der Frau: „Ich habe keinen Mann.“
<165> Dazu verweist Wolter auf den jüdischen Philosophen Philo, den er mit der Quellenangabe „Sacr. 101“ folgendermaßen zitiert:
Wenn es in Dtn 1,31 heißt, Gott habe Israel „wie ein Mensch seinen Sohn getragen“, so werde damit nicht „in eigentlicher Weise über Gott gesprochen (oude … epi theou kyriologeitai), sondern es handelt sich um einen übertragenen Gebrauch von Wörtern, der unsere Schwäche behebt“ (katachrēsis de onomatōn esti parēgorousa tēn hēmeteran astheneian).
Diese Stelle ist in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachzulesen: Über die Opfer Abels und Kains, übersetzt von Dr. H. Leisegang, Markranstädt, in: Die Werke Philos von Alexandria in deutscher Übersetzung, hrsg. von Leopold Cohn, Dritter Teil, Breslau 1919, Abschnitt 101.
<166> Wolter betont ausdrücklich (W403):
Die Bedeutung von telos in 6,21c ist gegenüber der sonstigen paulinischen Verwendung freilich einzigartig: Während es in 2Kor 3,13 die Bedeutung „Ende“ hat („das telos des Vergehenden“) und in Röm 10,4 mit „Ziel“ übersetzt werden muss, bezeichnet es in Röm 6,21c so etwas wie die „Folge“ oder das „Resultat“ oder das „Ergebnis“.
<167> Diese rhetorischen Begriffe entnimmt Wolter dem Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960, Stuttgart, 4. Aufl. 2008, von H. Lausberg, § 229.437.
<168> Er zitiert F.D.E Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang[e] dargestellt, Berlin 1884. Neu hg. u. eingel. v. W.E. Müller, Teil 1, Waltrop 1999, 50.51.
<169> Ich berufe mich hier auf eine „Vorlesung: Gottesdienstlehre“ vom Wintersemester 2015/16 an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald von Prof. Dr. Michael Herbst, S. 1-2, in der zur „Geschichte des Gottesdienstes und der Liturgie“ Schleiermachers Ansatz zur Sprache kommt, „darstellendes und wirksames Handeln zu unterscheiden. Der Gottesdienst soll nichts bewirken, er ist Kunst, ein Fest, eine Feier, die den Alltag unterbricht.“ Die obigen Zitate entnehme ich der Grafik auf S. 1 der eben zitierten pdf-Datei.
<170> Jankowski verweist aus „der Fülle der Auslegungen … nur … auf E. Käsemann, An die Römer, Tübingen 1973, 181; U. Wilckens, Der Brief an die Römer, 1987, 62-64; P. Stuhlmacher, Der Römerbrief, NTD, Göttingen 1989, 94.“
<171> So zitiert Wolter Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer ausgelegt (KNT 6), Leipzig, 3. Aufl. 1925, 328.
<172> Er verweist dazu auf Strack-Billerbeck, Bd. III, 232, und fügt hinzu, dass diese Belege „meistens zu Röm 6,7 zitiert“ werden …, wozu sie aber nicht passen“, denn dort geht es nicht um die Befreiung von der Tora, sondern von der Sünde.
<173> Wolter zitiert R. Jewett, Romans (Hermeneua), Minneapolis 2007, 431.
<174> Diese Stelle kann in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 18, 5, 4.
<175> Dazu verweist Wolter auf C.H. Dodd, The Epistle of Paul to the Romans, London 1932 = 1954, 101, mit dem oben von mir übersetzten Zitat „The illustration … has gone hopelessly astray“, und auf W.G. Kümmel, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament (TB 53), München 1973, 38.
<176> Die folgenden Zitate stammen aus Gerhard Jankowski, Friede über Gottes Israel. Paulus an die Galater. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 47/48 (1990), 50. Erwägenswert sind auch Jankowskis weiteren Erwägungen zu Galater 2,19 und 20a (ebenda, 50-51):
Fast in einem Parallelismus membrorum stehen die beiden Sätze vom Sterben zu einander. „Ich starb durch Thora für Thora, damit ich Gott lebe“, wird interpretiert durch: „Zusammen mit dem Messias bin ich gekreuzigt, nicht mehr lebe ich, der Messias lebt in mir.“ Das Sterben korrespondiert mit dem Gekreuzigtsein. An ein Leiden in irgendeiner Form ist wohl nicht gedacht. Vielmehr wird mit dem Wort „kreuzigen“ auf die Todesstrafe hingewiesen, die nur die Gojim, besonders die Römer, verhängten und vollzogen. Die Hinrichtung des Messias geschah nach dem fremden Recht und Gesetz, einem Gesetz, das mit der Thora nichts zu tun hat. Denn nach der Thora war der Messias schuldlos. Durch die Hinrichtung am Kreuz stirbt er gleichsam für die Thora. Er fällt in die Hände der Thoralosen, wie es in Apg 2,23 heißt. Auch hier also eine Grenzüberschreitung, aber eine gewaltsame. Aber nicht das Gesetz der Fremden, der Gojim, bleibt Sieger, weil es nun einmal das Recht der Stårkeren ist. Der Getötete bekommt recht, indem er durch Gott aus den Toten auferweckt wird. So wird er zum Leben für Israel und für die Gojim.
Und die Parallele zum „Sterben“ des Paulus? Er wendet sich den Gojim zu. Durch die Thora, die ihm das nicht erlaubt, wird er gleichsam einer von den thoralosen Gojim. Er wird denen gleich, die als Tote gelten; denn es heißt, daß die von den Gojim Kommenden denen gleichen, die aus den Gräbern kommen. Durch die Thora sind sie Tote, Gestorbene; aber da sie zu Israel kommen, sind sie wie aus den Gräbern Auferstandene, sie leben. Sie leben durch Gott und für Gott. Und dieses „Gestorbensein“ und das Leben wird von Gott her bestätigt durch die Kreuzigung und die Auferweckung des Messias. Was am Messias Jesus geschehen ist, zeichnet den Weg vor, den die auf ihn Vertrauenden gehen können. Die Grenzüberschreitung zu den Gojim ist kein Verlassen Israels. Im Gegenteil, sie eröffnet Zukunft für Israel und die Völker, für die Menschheit.
<177> Dazu verweist Wolter auf D. Zeller, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 132; J.A. Fitzmyer, Romans (AncB 33), London / New York 1993, 459; K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig, 6. Aufl. 2012, 169; R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 434.
<178> Marquardt bezieht sich hier auf Karl Barth, Der Römerbrief, 1. Aufl. Bern 1919, 181.
<179> Hier ist eine deutsche Übersetzung von Philo, Über die Träume, Buch 2, verfügbar.
<180> Die Einwände, die Jankowski gegen eine Auslegung von Römer 5,5 erhoben hat, die den Geistbesitz exklusiv auf vom Judentum bekehrte Christen beziehen will, will ich hier nicht wiederholen.
<181> Es würde zu weit führen, dazu auf die Einzelheiten einer Auslegung des Abschnitts 3,4-18 aus dem 2. Korintherbrief einzugehen, die zu anderen Schlussfolgerungen gelangt als Wolter: Gerhard Jankowski, Messianisch leben. Der zweite Brief des Paulus an die Korinther. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 131/132 (2011), 21-30. Den [22] „eigenen Weg“, den Paulus „in der Tat gegangen“ ist, um die Lehrstücke des Propheten Jeremia vom „neuen Bund“ und [24] „ein Stück des Geschriebenen“ aus der Tora, „nämlich Ex 34,29-35“, auszulegen, versteht Jankowski nicht so [26], als ob „das, was geschrieben ist“, also die Tora, endgültig „[a]ufgehoben und erledigt“ wäre. Stattdessen kommt er zu 2. Korinther 3,6 zu folgendem Fazit [27]:
Wo der messianische Geist ist, da gibt es einen freien Zugang zu dem, was geschrieben ist. Der Geist belebt das, was in den Buchstaben eingeschlossen und verhüllt war. Es kann gelesen und offen ausgelegt werden. Wie es Paulus mit seiner Auslegung von Ex 34 zeigt. Und es kann von allen gelesen und verstanden werden. Denn, so hören wir in Vers 18: Wir alle, die wir nicht mit verschleiertem Antlitz den Glanz des Herr widerspiegeln … Wir alle, das sind die Juden und die Nichtjuden in der Ekklesia. Sie gehen gemeinsam an die Auslegung des Geschriebenen, offen, in aller messianischen Freiheit. Sie sind davon befreit, die Tora sklavisch einzuhalten, die unter den gegebenen Zuständen nicht getan werden kann. So spiegeln sie mit unverschleiertem Gesicht den Glanz wider, der auf Mosches Gesicht glänzte. Dieser Glanz kommt von Gott her. Er vergeht nicht. Denn durch die belebende Inspiration im Messias in der Ekklesia werden alle, Juden und Nichtjuden, umgewandelt werden zu Menschen, wie sie sein sollen.
<182> Jankowski verweist hier versehentlich auf 1. Mose (Genesis) 17,7 statt 17,11.
<183> So zitiert Jankowski F.-W Marquardt, Die Juden im Römerbrief, Zürich 1971, 7.
<184> Mit dieser Aussage bezieht sich Jankowski (Anm. 49) auf eine „Vorlesung über Römer 7 von E. Fuchs“ im Wintersemester 1960/61.
<185> Jankowski zitiert J.-W Marquardt, Die Juden im Römerbrief, Zürich 1971, 19f. Am Rande erwähnt er auch „amerikanische Exegeten“ wie E.P. Sanders (Paul and Palaestinian Judaism, London 1977, deutsch: Göttingen 1985) und J.D.G. Dunn (Romans, Dallas, Texas 1988), die in „den achtziger Jahren … einen ähnlichen Weg“ gehen:
Sie versuchen Paulus aus dem Judentum seiner Zeit heraus zu verstehen, was besonders für die Sicht der Thora Konsequenzen hat. Sie wird nicht mehr abwertend dargestellt, sondern als Identitätsmerkmal Israels gesehen, was wiederum bedeutsam für die Auslegung von Röm 7 ist.
<186> So interpretieren z.B. B. Weiß, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen, 9. Aufl. 1899, 305; W.G. Kümmel, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament (TB 53), München 1973, 43.47; D.J. Moo, The Epistle to the Romans (NIC), Grand Rapids 1996, 432.
<187> So zitiert Wolter O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams. Römer 7,7-25a, in: ders. Paulusstudien II, 116.
<188> Dazu beruft sich Wolter auf J.A. Ziesler, The Role of the Tenth Commandment in Romans7, JSNT 33 (1988), 48f, der auf „diesen wichtigen Sachverhalt … aufmerksam gemacht“ hat.
<189> Vor allem der jüdische Philosoph Philo vertritt nach Wolter diese Anschauung. Von ihr her weist Wolter „die sog. ‚nomistische‘ Interpretation, wie ,sie von Bultmann u.a. vertreten wurde“, entschieden zurück:
Ihr zufolge richte sich die epithymia darauf, dass der Mensch sich durch den „Gesetzesdienst“ Anerkennung bei Gott und damit sein Heil selbst verschaffen will …
Wolter zitiert hier R. Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders. Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 206.
<190> Wolter zitiert Epiktet mit der Quellenangabe „Diss. 3,23,28“. Diese Stelle kann auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Dissertationes ab Arriano digestae ad fidem codicis Bodleiani recensuit Henricus Schenkl. Accedunt fragmenta, Enchiridion ex recensione Schweighaeuseri, gnomologiorum Epicteteorum reliquiae, 1898, Buch 3, Kapitel 23, 28.
<191> Gerhard Jankowski, Solidarisch leben. Der erste Brief des Paulus an die Korinther. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 121-123 (2009), 137 und 138f.
<192> Wolter zitiert dazu K.H. Schelkle, Paulus, Lehrer der Väter. Die altkirchliche Auslegung von Römer 1-11, Düsseldorf 1956, 238f.
<193> Zum „eschatischen Heilsverlust“ und zur Frage, ob das nier von Wolter angesprochene endzeitliche Heil eher ein Seelenheil nach dem Tode meint oder auf eine kommende Weltzeit des Friedens auf der Erde unter dem Himmel Gottes bezogen sein könnte, vgl. die Auslegungen von Römer 2,6-11 und Römer 6,19-22.
<194> Diese Stelle kann in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 4, 8, 41.
<195> Dazu führt Wolter (Anm. 1) beispielhaft nur wenige Belege an:
- für hagios {heilig}: „Lev 20,26; Jes 6,3; Ps 98,9LXX“;
- für dikaios {gerecht}: „2Chr 12,6; Ps 128,4LXX; Zeph 3,5“;
- für agathos {gut}: „2Chr 30,18; Ps 134,3LXX“ und außerdem mehrere Belege bei Philo.
<196> Wolter zitiert Philos Werk Quod deterius potiori insidiari soleat (Gen 4,8–15) mit „Det. 83“. Die Stelle ist auf Deutsch an folgender Stelle verfügbar: Über die Nachstellungen, die das Schlechtere dem Besseren zu bereiten pflegt, übersetzt von Dr. I. Heinemann, in: Die Werke Philos von Alexandria in deutscher Übersetzung, hrsg. von Prof. Dr. Leopold Cohn, Dritter Teil, Breslau 1919, S. 302.
<197> Die hier von Wolter zitierte Stelle kann in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 8, 4, 3.
<198> In seiner Auslegung des Galaterbriefes hat Gerhard Jankowski, Friede über Gottes Israel. Paulus an die Galater. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte 47/48 (1990), 105, beschrieben, auf welch unterschiedliche Weise Paulus Fleisch und Geist in Galater 5 und Galater 4 einander gegenüberstellt. Für Galater 5,16-18 gilt:
Fleisch ist negativ besetzt, Geist positiv. Fleisch scheint den gegenwärtigen Zustand der Ekklesia zu umschreiben, Geist den erhofften.
Beide Worte haben wir bereits kennengelernt. Im Lehrhaus über die Abrahamssohnschaft {Galater 4} war Fleisch eine Chiffre für die Einheit Israels, die auf der Abstammung aller Söhne Israels von Abraham beruht. Zugleich kann damit auch die Beschneidung gemeint sein. Denn sie ist das Zeichen der fleischlichen Einheit. Und sie geschieht am Fleisch. Paulus nennt diese Einheit der Söhne Israels auch das Israel nach dem Fleisch. Der Geist dagegen bewirkt, daß auch unbeschnittene Nichtjuden Söhne Abrahams sein können. Sie bilden mit den anderen Söhnen Abrahams eine geistliche, aber nicht minder wirkliche, Einheit. Hier ist dann Geist immer eine Ergänzung zu Fleisch, nie aber ein Gegensatz.
Nun aber hören wir, daß Fleisch gegen Geist steht und umgekehrt. So kann denn auch von der Einheit Israels, angedeutet durch Fleisch und Geist, hier wohl nicht die Rede sein. Fleisch kann aber auch, wie wir schon bei 2,16f gesehen haben, Menschheit bedeuten. Zunächst einmal deswegen, weil eben alle Menschen Fleisch sind. Fehlt der Geist, dann ist Fleisch auch die Wirklichkeit des Menschen, die ihn in Beschlag nimmt und ihn gegen den ihm gewiesenen Weg einnimmt. Und so kann Fleisch dann auch für die tödlichen Gefährdungen stehen, die gegen den Menschen gerichtet sind. Fleisch ist das, was den Menschen ausmacht, aber auch macht, daß er nicht weiterkommt, sondern verkommt.
Geist dagegen ist, was Leben ermöglicht und gewährt, was Perspektiven eröffnet. In der für ihn typischen Art redet Paulus hier sehr verkürzt von diesem Gegensatzpaar. In Röm 8-9 redet er sehr ausführlich darüber.
<199> Wolter zitiert mit „Post C. 82“ Philos Werk De posteritate Caini (Über die Nachkommen Kains) und mit „Virt. 69“ sein Werk De virtutibus (Über die Tugenden). Für den ersten Text ist eine englische Übersetzung, für den zweiten eine deutsche Übersetzung verfügbar.
<200> Die folgende von Wolter zitierte Stellen aus den Dissertationen von Epiktet kann auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Dissertationes ab Arriano digestae ad fidem codicis Bodleiani recensuit Henricus Schenkl. Accedunt fragmenta, Enchiridion ex recensione Schweighaeuseri, gnomologiorum Epicteteorum reliquiae, 1898, Buch 1, Kapitel 28, 6-8. Noch ausführlicher geht Epiktet in Buch 2, Kapitel 26, 1-5 seiner Dissertationen auf das Problem ein. Wolter zitiert wörtlich die Abschnitte 1, 4 und 5 und übersetzt sie anschließend (W450):
(1) pan hamartēma machēn periechei. epei gar ho hamartanōn ou thelei hamartanein, alla katorthōsai, dēlon hoti ho men thelei ou poiei. …
Jede Verfehlung impliziert einen Widerspruch. Denn wenn der Verfehler sich nicht verfehlen will, sondern richtig handeln, ist klar, dass er nicht tut, was er will. …
(4) deinos oun en logō, ho d‘ autos kai protreptikos kai elengtikos houtos ho dynamenos hekastō paradeixai tēn machēn, kath‘ hēn hamartanei, kai saphōs parastēsai, pōs ho thelei ou poiei kai ho mē thelei poiei.
Geschickt in der Rede und ermutigend und kritisierend ist nun der, der jedem den Widerspruch aufzeigen kann, nach dem er sich verfehlt, und klar darlegen, warum er das, was er will, nicht tut, und das, was er nicht will, tut.
(5) an gar touto deixē tis, autos aph‘ autou anapochōrēsei. mechri de mē deiknyēs, mē thaumaze, ei epimenei; katorthōmatos gar phantasian lambanōn poiei auto.
Wenn jemand dieses aufzeigt, wird er von sich aus aufhören. Solange du es aber nicht aufzeigst, wundere dich nicht, wenn er dabei bleibt. Denn weil er sich einbildet, es sei richtig, tut er es.
<201> Eine deutsche Übersetzung des siebten Buches der Metamorphosen des Ovid ist im Projekt Gutenberg verfügbar.
<202> Wolter zitiert J. Müller, Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes, ZNW 100 (2009), 228. Für die von Plato zitierte Stelle aus Gorgias, De Rhetorica, ist im Internet eine deutsche Übersetzung verfügbar.
<203> Die von Wolter mit „Heres 265“ zitierte Stelle aus Philos Werk Quis rerum divinarum heres sit ist im Internet in deutscher Übersetzung nachzulesen: Über den Erben des Göttlichen.
<204> Wolter zitiert hier N. Walter, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT) 2, 163, und grenzt sich von ihm ab, indem er bemerkt (Anm. 65), dass „Walters Charakterisierung … eher zum ‚inneren Juden‘ von Röm 2,28-29“ passt.
<205> Da Wolter meint, das hier von Paulus Gemeinte unter Rückgriff auf Plato verdeutlichen zu müssen, sei nun doch zitiert, was er (W458) aus Platos Werk Res Publica zum Gedanken, „dass es im Menschen noch einen anderen ‚Menschen‘ gibt“, anführt:
In Resp. 589a ist tou anthrōpou ho entos anthrōpos („des Menschen innerer Mensch“) einer von drei Seelenteilen, und zwar derjenige, der für das logistikon (das „Vernünftige“; z.B. 550b) steht. Er und zwei tiergestaltige Seelenteile sind „zu einer (Gestalt) … zusammengewachsen“. Diese dreiteilige Gestalt ist „von außen mit der Gestalt eines Einen, nämlich der des Menschen“ (exōthen henos eikona, tēn tou anthrōpou) umgeben, so dass man „das,was drinnen ist (ta entos), nicht sehen kann, sondern allein außen die Schale (exō monon elytron) sieht“ (588d-e).
Die Stellen 588d-e und 589a sind auf der Internetseite https://archive.org/ in deutscher Übersetzung nachzulesen.
<206> Wolter zitiert O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams. Römer 7,7-.25a, in: ders., Paulusstudien II, 142.
<207> So sieht das nach Wolter U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 2. Bd., Zürich u.a./ Neukirchen-Vluyn 1980, 90.
<208> Wolter zitiert Aeschylos, Hepta epi Thēbas, mit „Sept. 92“. In einer deutschen Übersetzung der Stelle, die in der Digitalen Bibliothek des Münchner Digitalisierungszentrums verfügbar ist, wird so übersetzt: „Wer wird uns retten, wer wird uns beschützen? An welcher Götter Altar sink‘ ich hin?“
<209> Die beiden von Wolter zitierten Stellen aus den Dissertationen von Epiktet können auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Dissertationes ab Arriano digestae ad fidem codicis Bodleiani recensuit Henricus Schenkl. Accedunt fragmenta, Enchiridion ex recensione Schweighaeuseri, gnomologiorum Epicteteorum reliquiae, 1898, Buch 1, Kapitel 3, 5 und Buch 1, Kapitel 4, 24.
<210> So zitiert Wolter Hofius 151 (siehe meine Anm. 206).
<211> Wolter zitiert F. Müller, Zwei Marginalien im Brief des Paulus an die Römer, ZNW 40 (1941), 250.
<212> Wolter zitiert U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 2. Bd., Zürich u.a./ Neukirchen-Vluyn 1980, 123, mit dem Hinweis: „Hervorhebung im Original“.
<213> Jankowski zitiert hier Karl Barth, Der Römerbrief, 1. Aufl. Bern 1919, 231 und 234.
<214> Dazu verweist Wolter auf G. Delling, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament VI, 291, 20ff.
<215> Wolter bezieht sich auf J. Lambrecht, The Implied Exhortation in Romans 8,5-8, in: ders., Collected Studies, 11.
<216> Vgl. dazu die im Zusammenhang seiner Auslegung von Römer 7,14 von Wolter (W445) angeführte Stelle Jesaja 31,3.
<217> Jankowski verweist zu dieser „formelhaft komprimiert[en]“ Aussage ausdrücklich auf Marquardts Christologie, in der dieser [276] von einer „formalen Analogie zur (jüdisch gedachten) Struktur der Bundeskonstitution“ spricht.
<218> Die von Wolter mit „Heres 57“ zitierte Stelle aus Philos Werk Quis rerum divinarum heres sit ist im Internet in deutscher Übersetzung nachzulesen: Über den Erben des Göttlichen. Zum Vergleich verweist Wolter außerdem mit „Immut. 143“ auf Philos Werk Quod Deus sit immutabilis, in deutscher Übersetzung: Über die Unveränderlichkeit Gottes. An der letzteren Stelle stellt Philo der Fleischeslust, sarkos hēdonē, allerdings nicht das göttliche pneuma des sein Volk befreienden Geistes Gottes gegenüber, sondern den Weg der Weisheit, sophias, und die Erkenntnis, epistēmē.
<219> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 211, Anm. 283.
<220> Dazu verweist Jankowski auf seine Auslegung des Philipperbriefs, Das Messianische Experiment, in: Texte & Kontexte Nr. 62/63 (2+3/1994), 52f.
<221> Das folgende Zitat stammt aus Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, Freiburg im Breisgau 2000, 379f. Scholtissek wiederum zitiert Augustinus nach der deutschen Übersetzung von H. M. Biedermann, in: Unteilbar ist die Liebe. Predigten des heiligen Augustinus über den ersten Johannesbrief, Würzburg 1986, 139 (zu 4,16).
<222> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 323 und 326.
<223> Für die von Wolter mit „Leg. All. 3,69.70.72.74 und 1,108“ zitierten Stellen aus Philos Werk „Legum allegoriae“ („Allegorische Erklärung der Gesetze“) sind im Internet nur englische Übersetzungen verfügbar: Allegorical Interpretation III und Allegorical Interpretation I (die übersetzten Texte von Philo finden sich auf diesen beiden Seiten erst unterhalb der durchgezogenen Linie nach kommentierenden Angaben zu frühen jüdischen Schriften).
<224> Jankowski zitiert im Folgenden aus I. Greenberg, Augenblicke des Glaubens, in: M. Brocke / H. Jochum (Hg), Wolkensäule und Feuerschein, München 1982, 172f.
<225> Zu diesen rhetorischen Begriffen verweist Wolter auf das Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960, Stuttgart, 4. Aufl. 2008, von H. Lausberg, § 229.437.
<226> Die von Wolter mit „Ebr. 69 und 70“ zitierten Stellen aus Philos Werk De ebrietate sind im Internet in deutscher Übersetzung nachzulesen: Über die Trunkenheit.
<227> Diese konditionale Bedeutung vertritt u.a. E. Käsemann, An die Römer, Tübingen 1973, 217 und 221, indem er Römer 8,17e so übersetzt: „wenn anders wir mitleiden, um auch mitverherrlicht zu werden“, und folgendermaßen auslegt:
Überwinden können nur, welche dem Fleisch leidend widerstehen. Wo Christus im Geist präsent wird, kann man sich auf keine Weise der Nachfolge des Gekreuzigten entziehen.
<228> Dazu verweist Wolter u.a. auf das Buch 4. Esra 8,1.44 bzw. 4. Esra 6,55.59.
<229> Wolter zitiert A. Gieniusz, Romans 8:18-30: „Suffering Does Not Thwart the Future Glory“, Atlanta 1999, 153.
<230> Wolter hatte zuvor (W504 Anm. 2) begründet, warum auch die weniger bezeugte Version dioti ursprünglich sein kann, „denn hoti kann ebenso Haplographie aus EΛΠIΔIΔIOTI sein wie umgekehrt dioti Dittographie aus EΛΠIΔIOTI“. Das heißt: Da die Wörter ohne Zwischenräume geschrieben wurden, kann versehentlich sowohl das di- am Anfang der Konjunktion dioti {weil} weggelassen als auch die Endung -di des Wortes elpidi {Hoffnung} verdoppelt worden sein.
<231> Die von Wolter mit „Decal. 58“ und „Cher. 51“ zitierten Stellen aus Philos Werken De decalogo und De Cherubim sind im Internet in deutscher Übersetzung nachzulesen: Über den Dekalog und Über die Cherubim.
<232> Diese Auffassung vertreten H. Schlier, Der Römerbrief (HthK 6), Freiburg i. Br. u.a., 2. Aufl. 1979, 263f., und O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen, 5. Aufl. 1978, 269, sowie P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer (NTD 6), Göttingen, 2. Aufl. 1998, 123.
<233> Auf diesen Hintergrund verweisen auch I.J. Braaten, All Creation Groans: Romans 8:22 in Light of the Biblical Sources, HBT 28 (2006), 145ff., und C. Breytenbach, Liberation of Enslaved Bodies: Christian Expectancy According to Rom 8,18-30, in: Tuckett, C.M. (ed.), 2 Thessalonians and Pauline Eschatology, Leuven 2013, 206, aber „vor allem Moo* 83ff“, aber (W503) in seiner Literaturliste zu Römer 8,18-30 taucht diese Quelle nicht auf.
<234> Für die von Wolter mit „OrSib 3,751-753“ zitierte Stelle im Dritten Buch der Sibyllinen gibt es im Internet eine deutsche Übersetzung von Friedrich Blass in: Emil Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, Tübingen (Mohr Siebeck) 2 Bde. 1900.
<235> So zitiert Wolter R. Kühschelm, Das sehnsüchtige Harren der Schöpfung. Exegetische und bibeltheologische Erwägungen zu Röm 8,18-22, in: Variationen zur Schöpfung der Welt. Festschrift Raphael Schulte, Innsbruck 1995, 276.
<236> Dazu verweist Wolter auf Ch. Hunt u.a., An Environmental Mantra? Ecological Interest in Romans 8:18-23 and a Modest Proposal for Its Narrative Interpretation, JthS 59 (2008), 572f.
<237> So zitiert Wolter M. Theobald, Römerbrief (SKK 6/1-2), Bd. I, Stuttgart 1992, 249.
<238> Nach Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 216ff., 337ff., 387ff., steht im Johannesevangelium die Gestalt des diabolos {Feind, Widersacher} (8,44) bzw. des archōn tou kosmou {Führer der Weltordnung} (12,31; 14,30; 16,11) für den Gegenspieler des befreienden Gottes Israels in Gestalt des römischen Kaisers, dem sich die führenden Kreise Jerusalems als ihrem einzigen König unterwerfen (Joh. 19,15). Vgl. dazu meine Aufsätze: Helmut Schütz, „Ihr seid vom Vater, dem diabolos!“ Unzureichende Wege, mit dem Antijudaismus in Johannes 8,44 umzugehen, Artikel im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt, März 2025, und „Ihr seid vom Vater, dem diabolos!“ Johannes 8,44 als messianischer Aufschrei gegen die Kollaboration mit Rom als dem Widersacher des Gottes Israels, Artikel im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt, April 2025.
<239> E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 3. Aufl. 1973, 229.
<240> E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, Frankfurt/M. 1968, Vorwort, 1.
<241> Die von Wolter mit „Praem. 161“ zitierte Stelle aus Philos Werk De praemiis et poenis, die im Internet in deutscher Übersetzung nachzulesen ist: Über Belohnungen und Strafen, enthält allerdings nicht das Wort doxa {Herrlichkeit, Ehre}, sondern es ist von chara {Freude} die Rede: elpis de chara pro charas estin … – „Die Hoffnung ist ja Freude vor der Freude, und wenn sie auch nicht so vollständig ist wie die vollkommene, so übertrifft sie doch die kommende Freude in doppelter Hinsicht, weil sie das Elend der Sorgen löst und lindert und weil sie im voraus die frohe Botschaft vom künftigen vollen Glück verkündet.“
<242> Dass Wolter die hebräische Formulierung ˀadonaj jhwh mit „Herrgott“ wiedergibt, ähnlich wie schon die griechische Septuaginta mit kyrios ho theos {wörtlich: „Herr der Gott“}, stellt die ursprüngliche Aussageabsicht des Textes auf den Kopf, da der wegen seiner Unverfügbarkeit unausgesprochene Gottesname JHWH eben nicht für eine unterdrückende Herrschergestalt steht, sondern den befreienden Gott Israels bezeichnet. Zu dem Missverständnis kann es kommen, da üblicherweise im Hebräischen die Formulierung ˀadonaj {wörtlich: „mein Herr“} als eine der Möglichkeiten verwendet wurde, um das Tetragramm JHWH ersatzweise auszusprechen. Um in Fällen wie Amos 3,8 das Wort ˀadonaj nicht zweimal aufeinander folgen zu lassen, schrieb man die Vokale des Wortes ˀelohim {Gott} zu den Buchstaben jhwh und las dann ˀadonaj ˀelohim {wörtlich: mein Herr Gott}, in deutschen Übersetzungen meist mit „Gott, der Herr“ wiedergegeben. Es sollte aber im Bewusstsein bleiben, dass mit dem Namen JHWH kein Unterdrückergott, sondern der Befreiergott Israels im Hintergrund steht.
<243> Als zusätzliches Argument fügt Wolter hinzu (W541f.), dass die Gegenüberstellung „von pheidomai {verschonen} und paradidōmi {hingeben}, mit der Paulus in V. 32a-b argumentiert, … auch anderswo belegt“ ist, z.B. in 2. Petrus 2,4 oder 2. Chronik 36,17.
<244> Wolter zitiert K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig, 4. Aufl. 2012, 211.
<245> Diese Auffassung vertreten Wolter zufolge J.D.G. Dunn, Romans (WBC 38A-B), Bd. 1, Dallas, TX 1988, 501, B. Byrne, Romans (SacPaSe 6), Collegeville, MN 1996, 2. Aufl. 2007, 275f., und R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 538.
<246> Vgl. dazu den Abschnitt Muss der Tod des Gottessohnes den Zorn Gottes versöhnen? in Helmut Schütz, Missbrauchtes Vertrauen. Sexueller Missbrauch als Herausforderung an Seelsorge, Kirche und Bibelauslegung, Gießen, 4. Aufl. 2011, 273.
<247> Dazu verweist Wolter auf das Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960, Stuttgart, 4. Aufl. 2008, von H. Lausberg, § 640-648:
„Es handelt sich um die Wiederholung eines Wortes bei veränderter Flexionsform: ‚Aus dem Gegensatz zwischen der Gleichheit des Wortes und der Verschiedenheit der syntaktischen Funktion wird eine belebende Wirkung erreicht‘ (§ 640).“
<248> Jacobus Johannes Meuzelaar, Der Leib des Messias. Eine exegetische Studie über den Gedanken vom Leib Christi in den Paulusbriefen, Kampen 1979, 102-117.
<249> Dazu verweist Wolter auf das Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960, Stuttgart, 4. Aufl. 2008, von H. Lausberg, § 400-409 „sowie den analogen Gebrauch von mallon de in 2Makk 6,23; 3Makk 6,31; 7,5; Sap {Weisheit Salomos} 8,20; 1Kor 14,1.5.“
<250> Die hier von Wolter zitierte Stelle kann in deutscher Übersetzung auf der Internet-Seite https://archive.org nachgelesen werden: Flavius Josephus, Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden (Reprint o. J.), 4, 6, 6.
<251> Dieser Verweis darauf, dass Josephus wie Paulus in Römer 8,35 mit dem Wort oute {weder/ noch} auf die verschiedenen Leidenserfahrungen Bezug nimmt, trifft allerdings nur für die Verse 38-39 zu, während Paulus in Vers 35 auf die Formulierung ē {oder} zurückgreift.
<252> Dazu verweist Wolter auf F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen I (NEBAT 29), Würzburg 1993, 272f.
<253> Jankowski zitiert hier aus dem Evangelischen Gesangbuch von Rheinland-Westfalen-Lippe.
<254> Jankowski zitiert Edgar Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, 1929, nach der Biographie über den führenden Ideologen und Organisator der Gestapo, Werner Best, von Ulrich Herbert, Best: Biographische Studien über Radikalismus, Bonn 1996, 90-93.
<255> Zu dieser „ganzen Problematik“ verweist Jankowski auf Jacobus Johannes Meuzelaar, Der Leib des Messias. Eine exegetische Studie über den Gedanken vom Leib Christi in den Paulusbriefen, Kampen 1979, 102ff. Dort finden sich „neben einer guten Zusammenfassung auch viele Belege aus der rabbinischen Literatur.“
<256> Da Michael Wolter mit der Auslegung von Römer 9 den zweiten Teilband seines Römerbriefkommentars beginnt, erinnere ich daran, dass ich auf Zitate aus Teilband 2 aus praktischen Gründen nicht mit (W2- plus Seitenzahl) oder (W-II- plus Seitenzahl) verweise, sondern mit dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens: (M plus Seitenzahl), also hier: (M23).
<257> Wolter verweist auf das Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960, Stuttgart, 4. Aufl. 2008, von H. Lausberg, § 906, und auf die Institutio oratoria („Unterweisung in der Redekunst“ von Marcus Fabius Quintilianus (35-96 n.Chr.), dessen Handbuch in einer Ausgabe von 1522 im Internet verfügbar ist und auf deren Seite LXXVIII Wolters zitierte Stelle zu finden ist.
<258> Ob sich Wolter mit den Seitenangaben „ebd. 65“, „ebd. 67.76“, „ebd. 66.76“ und „ebd. 66“ auf das Handbuch von Lausberg oder eine nicht näher bezeichnete Ausgabe des Buchs von Quintilian bezieht, erschließt sich mir nicht ganz, da die in Anm. 13 und 14 von ihm zitierten §§ 905 und 906 des Handbuchs von Lausberg im Bereich der Seite 450 stehen.
<259> Zur Bedeutung (Anm. 16) der Präposition apo = weg von an dieser Stelle verweist Wolter u.a. auf Galater 5,4 und Römer 7,2.6.
<260> Wolter zitiert B.J. Abasciano, Paul‘s Use of the Old Testament in Romans 9,1-9 (LNTS 301), London/New York 2005, 45ff.
<261> Mit der letzteren Aussage zitiert Wolter B. Janowski, Ecce Homo (BThSt 84), Neukirchen- Vluyn, 2. Aufl. 2009, 17, und mit der folgenden Ch. Dohmen, Exodus 19-40, Freiburg u.a. 2004, 325f.
<262> Mit dem zweimalige sic = so lautet die Quelle weist Wolter darauf hin, dass an mehreren Stellen das Wort anathema mit einem eta anstelle eines epsilon geschrieben wird.
<263> Wolter zitiert U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 2. Bd., Zürich u.a./ Neukirchen- Vluyn 1980, 187.
<264> Folgender Aufsatz hat mir geholfen, wenigstens ansatzweise die Hintergründe der Vorstellungen zu begreifen, die mit dem Bann und den von JHWH geführten Kriegen zusammenhängen: Klaus Peter Lehmann, Ein Gespenst geht um in Kanaan. Vom Schrecken der Thoratreue. Exegetische Anmerkungen zum Buche Jehoschua (Kap. 1-6), in: Texte & Kontexte 58 (1993). Abgesehen davon geht sowohl aus neuerer archäologischer Forschung als auch aus widersprüchlichen Angaben zur Landgabe durch JHWH an Israel in den Büchern Josua und Richter hervor, dass die Ansiedlung israelitischer Stämme in Kanaan weitaus friedlicher verlief, als manche biblische Darstellung sie erscheinen lässt.
<265> Dazu verweist Jankowskis auf P. Lenhardt / P. von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva. Texte und Interpretationen zum rabbinischen Judentum und Neuen Testament, ANTZ 1, Berlin 1987, 98-113: „Dort Text, Übersetzung und Kommentierung der Talmudstelle.“
<266> Zu diesem ganzen Problemfeld verweist Jankowski außerdem auf Strack-Billerbeck, Bd. IV.1., 293-333.
<267> Zur Frage, in welchem Zusammenhang die doxa als die Ehre Israels mit der Ehre des befreienden Gottes Israels steht, vgl. oben die Auslegung von Römer 5,2: Wir – Juden gemeinsam mit Gojim – sind im Vertrauen der Gnade des Gottes nahegebracht, dessen Ehre in der Befreiung Israels besteht.
<268> Wolter (Anm. 66) zitiert Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung), München 1922 = Zürich 211, mit der Seitenzahl 344, tatsächlich ist es S. 314.
<269> Dazu verweist Jankowski auf Rabbi Gamliel II. in bBM {Traktat Bava Meṣi‘a im babylonischen Talmud} 59b.
<270> Das trifft nicht für seine spätere Übersetzung von 2021 zu, in der Jankowski die Stelle Römer 9,7a folgendermaßen wiedergibt (G26): „Und auch nicht, weil sie Nachkommen Abrahams sind, sind sie alle seine Kinder.“
<271> Jankowski gibt zu Frans Breukelman keine genauere Quellenangabe an, da er, wie er mir telefonisch mitteilte, den Autor fast nur anlässlich von Vorträgen und Seminaren kennengelernt hat und es nur wenige Veröffentlichungen von ihm gibt. Hier bezieht er sich auf das in niederländischer Sprache verfasste Werk: F. H. Breukelman, Bijbelse theologie, De theologie van het boek Genesis: het eerstelingschap van Israel temidden van de volkeren op de aarde als thema van „het boek van de verwekkingen van Adam, de mens“, Kampen 1992.
<272> Wolter zitiert mit „Virt. 208“ Philos Werk De virtutibus (Über die Tugenden), für das eine deutsche Übersetzung verfügbar ist. Für die mit „Leg. All. 3,88“ zitierte Stelle aus Philos Werk „Legum allegoriae“ („Allegorische Erklärung der Gesetze“) ist nur eine englische Übersetzung verfügbar: Allegorical Interpretation III (der übersetzte Text von Philo steht erst unterhalb der durchgezogenen Linie nach kommentierenden Angaben zu frühen jüdischen Schriften). Für das von Wolter mit LibAnt 32,5 zitierte Buch der Biblischen Altertümer wird als Autor „Pseudo-Philo“ angegeben, da es früher fälschlicherweise Philo zugeschrieben wurde.
<273> So zitiert Wolter H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984, 23.
<274> Wolter zitiert E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 255.
<275> So sieht es J. Piper, The Justification of God. An Exegetical and Theological Study of Romans 9:1-23, Grand Rapids, 2. Aufl. 1993, 67.
<276> Das arbeitet Wolter zufolge J.R. Wagner, Heralds of the Good News. Isaiah and Paul “In Concert” in the Letter to the Romans (NT.S 101), Leiden u.a. 2002, 52, „mit weitreichenden Folgerungen“ heraus.
<277> Jankowskis spätere Übersetzung von 2021 geht wie Wolter von der Gleichbedeutung beider Zeilen aus, wobei er aber die Reihenfolge vertauscht:
Wessen ich mich erbarmen will, dessen erbarme ich mich,
mit wem ich Mitleid haben will, mit dem habe ich Mitleid.
<278> Wolter verweist auf B.J. Abasciano, Paul‘s Use of the Old Testament in Romans 9,1-9 (LNTS 301), London 2005, 9.10-18, 162.
<279> So formuliert es nach Wolter M. Theobald, Römerbrief (SKK 6/1), Bd. 1, Stuttgart 1992, 269.
<280> Das tut nach Wolter J.R. Wagner, Heralds of the Good News. Isaiah and Paul “In Concert” in the Letter to the Romans (NT.S 101), Leiden u.a. 2002, 55.
<281> Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 291 und 293.
<282> So zitiert Wolter G. Fohrer, Studien zum Buche Hiob, Gütersloh 1963, 11. Hier sei schon vorausblickend darauf hingewiesen, dass Fohrer mit dieser Aussage die von mir später vorgetragene Auffassung Ton Veerkamps bestätigt, das dem Hiob von seinen Freunden und Elihu und sogar Gott selbst entgegengehaltene Gottesbild habe sich in einen hellenistischen Götzen verwandelt, der aufgehört hat, für die Befreiung und das Recht Israels einzutreten.
<283> Ich zitiere im Folgenden aus Ton Veerkamp, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in der Schrift, Berlin 1993, mit Seitenzahlen in eckigen Klammern.
<284> Wolter greift auf eine Darstellung von Dr. Carey Newman (Baylor University Press) zurück.
<285> So begreifen es Wolter zufolge A.T. Hanson, Vessels of Wrath or Instruments of Wrath? Romans IX.22-3, JthS 32 (1981), 433-443, und J. Thiessen, Gott hat Israel nicht verstoßen, Frankfurt a.M. u.a. 2010, 48ff.
<286> Diesen Begriff zitiert Wolter nach U. Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus (BevTh 49), München 1968, 245.
<287> So sehen das C.E.B Cranfield, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Romans (ICC), 2. Bd., Edinburgh 1975, 501; W. Schmithals, Der Römerbrief, Gütersloh 1988, 360; P.T. Gadenz, Called from the Jews and from the Gentiles. Pauline Ecclesiology in Romans 9-11 (WUNT II, 267), Tübingen 2009, 115; F. Belli, Argumentation and Use of Scripture in Romans 9-11 (AnBib 183), Rom 2020, 119 u.ö.
<288> Der eben zitierte Belli, 127f., nimmt Wolter zufolge an (Anm. 5), dass das „Wir … hier … mit dem Wir in V. 24“ identisch ist.
<289> So bezieht z.B. H. Schlier, Der Römerbrief (HthK 6), Freiburg i. Br. u.a., 2. Aufl. 1979, 303, den „Rest“ auf „das wahre Israel in der Ekklesia“.
<290> Wolter zitiert N. Walter, Zur Interpretation von Römer 9-11, ZthK 81 (1984), 176.
<291> Wolter bezieht sich zunächst auf E.F. Bullinger, Figures of Speech Used in the Bible, London / New York 1898, 507, und zitiert dann zwei Mal G.B. Winer / G. Lünemann, Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms, als sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese, Leipzig, 7. Aufl. 1867, jeweils 221.
<292> Wolter zitiert E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 268.
<293> Zu dieser Übersetzung merkt Jankowski an: „Paulus folgt der LXX. Diese hat beschämt werden, epaischynesthai.“ Tatsächlich ist es kataischynestai {zuschanden werden}.
<294> Wolter verweist dazu u.a. auf D. Zeller, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 185, und J.D.G. Dunn, Romans (WBC 38B), 2. Bd., Dallas, TX 1988, 586.
<295> Wolter zitiert das „Testament des Asser“, Kapitel 4, Vers 5, aus dem Testament der zwölf Patriarchen, einer Sammlung von Abschiedsreden der zwölf Söhne Jakobs, die von Christen (wohl im 3. Jahrhundert n.Chr.) verfasst wurden und zu dem im Internet eine deutsche Übersetzung verfügbar ist.
<296> Wolter zitiert R. Bultmann, Christus des Gesetzes Ende, in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen, 5. Aufl. 1968, 37.40, und verweist außerdem auf E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 271, H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984, 75, und V.M. Smiles, The Concept of “Zeal” in Second-Temple Judaism and Paul‘s Critique of It in Romans 10:2, CBQ 64 (2002), 282-299.
<297> Wolter zitiert das „Testament des Naphthali“, Kapitel 4, Vers 3, aus dem Testament der zwölf Patriarchen, einer Sammlung von Abschiedsreden der zwölf Söhne Jakobs, die von Christen (wohl im 3. Jahrhundert n.Chr.) verfasst wurden und zu dem im Internet eine deutsche Übersetzung verfügbar ist.
<298> Wolter verweist hier auf seine entsprechende Auslegung in Band I (W273f.), auf die ich zu Römer 3,31: Durch Treue bzw. Vertrauen wird die Tora nicht außer Kraft gesetzt eingegangen bin.
<299> Nach Wolter (Anm. 59) spricht F. Avemarie, Israels rätselhafter Ungehorsam. Römer 10 als Anatomie eines von Gott provozierten Unglaubens, in: Wilk/Wagner (ed.), Between, 304, vom „Versuch einer trotzigen menschlichen Selbstbehauptung“. Außerdem verweist Wolter z.B. auf R. Bultmann, Theologie, des Neuen Testaments, Tübingen, 6. Aufl. 1968, 268f; C.E.B Cranfield, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Romans (ICC), 2. Bd., Edinburgh 1975, 515; E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 271; H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984, 71.75.
<300> Eine Übersetzung „in diesem Sinne“ vertritt Wolter zufolge (Anm. 60) bereits Ph. Melanchthon, Römerbrief-Kommentar 1532, hg. v. R. Schäfer, Gütersloh 1965, 266,21, „der stēsai hier mit defendere {verteidigen, geltend machen} übersetzt“.
<301> Wolter zitiert diesen oströmischen Bischof von Gabala in Syrien (* vor 380; ⴕ nach 408) nach K. Staab (Hg.), Pauluskommentare aus der griechischen Kirche, Münster, 2. Aufl. 1984, 222,24f).
<302> So formuliert das Wolter zufolge G. Delling, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament VIII, 57,13f; außerdem verweist er u.a. auf R. Bultmann, Christus des Gesetzes Ende, in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen, 5. Aufl. 1968,, 48, und E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. Aufl. 1980, 273.
<303> Wolter zitiert A. Tholuck, Kommentar zum Briefe Pauli an die Römer. Neue Ausarbeitung, Halle 1842, 539 und 540.
<304> So zitiert Wolter J.D.G. Dunn, Romans (WBC 38B), 2. Bd., Dallas, TX 1988, 589.
<305> Dazu verweist Wolter (Anm. 72) auf A. Gignac, Le Christ, telos de la loi (Rm 10,4), ScE 46 (1994) 57 mit den Worten:
Diese Kategorien benutzt auch Gignac…, um die für das Verständnis von telos nomou in Röm 10,4 maßgebliche Alternative zu charakterisieren.
<306> Wolter bezieht sich auf Ch. Burchard, Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments (WUNT 107), Tübingen 1998, 254-262. Ein folgender Verweis auf eine Seitenzahl in eckigen Klammern bezieht sich auf dieses Werk.
<307> So zitiert Wolter E.P. Sanders, Paul, the Law, and the Jewish People, London 1985, 513.
<308> Jankowski nennt (Anm. 8) als „Ausnahmen“ innerhalb der Exegetenschaft die beiden Theologen F.-W. Marquardt und P. von der Osten-Sacken. Marquardt schreibt u.a. [291f.], dass „Paulus in 10,4 Christus des Gesetzes ‚Erfüllung‘ genannt“ hat – in folgendem Sinne:
Die Sache der Tora hat er im Jesus- Geschehen aktuell und neu dringlich werden sehen: sowohl in der beispielhaften Gesetzestreue Jesu von Nazareth, in der entscheidende Hinweise auf ein zutreffendes Verständnis des aktuellen Gotteswillens enthalten waren, als auch in jenem Gehorsam Jesu bis zum Tode am Kreuz, den Gott beantwortet und bejaht hat mit Jesu Erweckung aus dem Tode und mit der befreienden Geistesausgießung des Auferstandenen „auf alles Fleisch“.
Auf der anderen Seite ist, wie Paulus in Römer 9,31 gesagt hat [292],
Israel … hinter sich selbst zurückgeblieben, hat die Tora nicht „erreicht“, als es … stocksteif auf der „eigenen“, alten, wohlbekannten „Gerechtigkeit“ d. h. Gemeinschafts- und Toraform beharrte.
<309> Auch wenn histēmi in Römer 3,31 und 10,3 nicht mit aufrichten, sondern mit festhalten an zu übersetzen ist, ändert sich an Jankowskis Aussage vom Sinn her nicht viel, denn auch dann bleibt die Tora fest bestehen.
<310> Dass auch nach Wolter in Vers 8c allerdings dann doch nicht die Glaubensgerechtigkeit spricht, sondern wieder Paulus das Wort ergreift, spricht dafür, diesen Versteil gemeinsam mit den Versen 9-10 im folgenden Abschnitt auszulegen.
<311> Wolter zitiert U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI), 2. Bd., Zürich u.a./ Neukirchen- Vluyn 1980, 224f mit Verweis auf mehrere Stellen aus den Schriftrollen der Qumran-Gemeinschaft. Gegen eine Aussage von Wilckens, ebd. 225, richtet sich Wolter mit dem Satz:
Der Abschnitt betreibt hier … keine Schriftexegese, deren angebliche Gewaltsamkeit heutigen Paulus-Interpreten peinlich sein müsste.
<312> Wolter zitiert B. Weiß, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen, 9. Aufl. 1899, 447.
<313> Dazu beruft er sich auf P. Lenhardt / P. von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva, Texte und Interpretationen zum rabbinischen Judentum und Neuen Testament, ANTZ 1, Berlin 1987, 117ff.
<314> Jankowski verweist dazu auf das eben zitierte Buch, 98-120.
<315> Gerhard Jankowski, Das messianische Experiment. Paulus an die Philipper. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte Nr. 62/63 (1990), 71. Zu dem von ihm zitierten Satz verweist Jankowski auf G.H. ter Schegget, Het lied van de Mensenzoon, 1975, 148.
<316> Vgl. dazu meine Besprechung des Buches von Lance Byron Richey, Roman Imperial Ideology and the Gospel of John, Washington 2007, nur im Internet veröffentlicht unter: Christus und Caesar. Eine politische Auslegung des Johannesevangeliums, kritisch gelesen, Gießen 2023. Während Richey die Auffassung vertritt, dass im Johannesevangelium Jesus als der Sohn Gottes bewusst den politischen und theologischen Ansprüchen der Römischen Reichsideologie entgegengestellt wird, so dass eine Entscheidung zwischen Christus und Caesar getroffen werden muss, ist meines Erachtens Jesu messianisches Königtum, wie es Johannes entfaltet, von der jüdischen Tora her als der Prozess der Befreiung Israels und der Überwindung der Römischen Weltordnung zu begreifen. Auch wenn der jeweilige Herrschaftsanspruch auf beiden Seiten ganz anders zu bestimmen ist, macht die Frage doch Sinn, ob eine Entgegensetzung beabsichtigt ist – dort vom Evangelisten Johannes, hier vom Apostel Paulus.
<317> So sieht das Wolter zufolge z.B. B. Weiß, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen, 9. Aufl. 1899, 450.
<318> Jankowski verweist dazu auf T. Veerkamp, „Nicht in diesem Namen lehren“ – eine Auslegung von Apg 4,12 und seinem Kontext, in: Texte & Kontexte Nr. 31/32 (1986), 61-92. Ebenso lohnt sich auch in G. Jankowski, Und sie werden hören. Die Apostelgeschichte des Lukas. Erster Teil (1,1 – 9,31) – eine Auslegung, in: Texte & Kontexte Nr. 91/92 (2001), 80ff., die Durcharbeitung des Abschnitts über Apostelgeschichte 4,5-22, die drei Jahre nach Jankowskis Römerbrief-Auslegung veröffentlicht wurde.
<319> Vgl. dazu Gerhard Jankowski, Solidarisch leben. Der erste Brief des Paulus an die Korinther. Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte Nr. 121-123 (2009), 118ff.
<320> Hier liegt ein Irrtum vor, denn der dem ursprünglichen Markus-Schluss hinzugefügte Abschnitt enthält in Vers 16,9 gerade nicht die Formulierung mit der Kardinalzahl heis {eins}, sondern die zu erwartende Formulierung prōtē sabbatou {am ersten (Tag) der Sabbatwoche} mit einer Ordinalzahl, die üblicherweise eine Reihenfolge von Tagen darstellt. Richtig wäre der Bezug auf Johannes 20,1, wo der Evangelist tatsächlich tē de mia tōn sabbatōn {am Tag eins der Sabbatwoche} sagt. Vgl. dazu Ton Veerkamp, Solidarität gegen die Weltordnung. Eine politische Lektüre des Johannesevangeliums über Jesus Messias von ganz Israel, Gießen 2021, 407-409. Siehe außerdem oben die Auslegung von Römer 4,23-25: Was Abraham angerechnet wurde, gilt durch Tod und Auferweckung des Messias auch für Juden und Gojim, die auf den Gott Israels vertrauen.
<321> Das meint nach Wolter J. Lambrecht, lnitial Righteousness and Final Salvation (Romans 9-10), in: ders., Understanding What One Reads (ANL 46), Leuven u.a. 2003, 155-166.
<322> Mit EpArist 151 zitiert Wolter den Aristeasbrief, von dem im Internet eine deutsche Übersetzung zur Verfügung steht.
<323> Wolter verweist u.a. auf L. Gaston, Paul and the Torah, Vancouver 1987, 143; E.E. Johnson, The Function of Apocalyptic and Wisdom Traditions in Romans 9-11 (SBL:DS 109), Atlanta 1989, 154; L.T. Johnson, Reading Romans, New York 1997, 161.
<324> Zur eingehenden Analyse der genauen Herkunft des paulinischen Zitats, die Wolter anstellt, sei nur darauf verwiesen, dass es „sowohl hinsichtlich der Syntax (Nominalsatz) als auch beim Adjektiv hōraios {lieblich} dem hebräischen Text“ nähersteht als der Septuaginta-Übersetzung. Vgl. nur die griechische Übersetzung hōs hōra {wie Frühling(szeit)} für den hebräischen Ausdruck mah-naˀwuh {wie lieblich}.
<325> Diese Auffassung vertritt nach Wolter J.R. Wagner, Heralds of the Good News. Isaiah and Paul “In Concert” in the Letter to the Romans (NT.S 101), Leiden u.a. 2002, 180ff, „mit weitreichenden Folgerungen für die Interpretation von Röm 10,19“.
<326> Dazu verweist Wolter u.a. auf O. Hofius, Paulusstudien (WUNT 51), 1. Bd., Tübingen, 2. Aufl. 1994, 176 Anm. 5; D. Sänger, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel (WUNT 75), Tübingen 1994, 160; W. Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85), Tübingen 1996, 307.
<327> Gerhard Jankowski, Und dann auch den Nichtjuden. Die Apostelgeschichte des Lukas, Zweiter Teil (9,32-21,14) – Eine Auslegung, in: Texte & Kontexte Nr. 98/99, 2003. Die nachfolgend auf Seitenzahlen in eckigen Klammern folgenden Zitate stammen aus diesem Werk.
<328> Jankowski zitiert E. Haenchen, Die Apostelgeschichte (Meyers Kommentar), Göttingen, 7. Aufl. 1977, 401.