Bild: Clemens Ronnefeldt

„Ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen“

Der zweite Augenblick von Johannes 16,16 ist die Überwindung der herrschenden Gewaltordnung durch die gewaltfrei liebende Solidarität des Messias Jesus. Um das begreifen zu können, war für mich die Entschlüsselung von sieben Indizien wichtig, die ich im biblischen Text und in einem Friedensinterview mit Clemens Ronnefeldt vom Internationalen Versöhnungsbund fand.

Das Peace-Rad auf einer Scheibe und dahinter ein Tuch mit dem Wort "Frieden" in verschiedenen Sprachen
Das Titelbild der Zeitschrift „Versöhnung“ im Dezember 2022 (Bild: Clemens Ronnefeldt)

Vor drei Jahren habe ich ein Passionsbild des chinesischen Künstlers He Qi als Grundlage für eine vorweihnachtliche Meditation genommen. Im Advent 2022 sind in mir Gedanken zu einem Text aus den Abschiedsgesprächen Jesu gereift, die er in der Nacht vor seinem Tod mit seinen Schülern führt. Trotz dieses Zusammenhangs passt ein Vers dieses Textes zur Erwartungsfreude des Advent (Johannes 16,21):

Die Frau hat Schmerz, wenn ihre Stunde gekommen ist.
Wenn sie das Kind geboren hat,
gedenkt sie nicht mehr ihres Kummers,
wegen der Freude, dass ein Mensch geboren wurde in die Welt hinein.

Wenn man bedenkt, dass Johannes, der vermutlich die anderen Evangelien kannte, dennoch auf jede Kindheitsgeschichte Jesu verzichtet hat, könnte man fast auf die Idee kommen, als ob er an dieser Stelle mit den Geburtsgeschichten des Lukas und des Matthäus „spielt“. Diese beiden Evangelisten beschreiben ja beide, dass die Ankunft des Messias Jesu in der Welt nicht allein mit den normalen Geburtsschmerzen seiner Mutter einherging, sondern unter erschwerten Bedingungen geschah: Er wird unterwegs geboren, nicht willkommen in einer Herberge, weil seine Eltern sich einer Steuerschätzung des römischen Kaisers unterziehen müssen. So beschreibt es Lukas. Nach Matthäus ist er sogar vom Kindesalter an vom Tod bedroht, da König Herodes von seiner Geburt gefährliche Auswirkungen für seine Machtansprüche befürchtet.

Seltsam ist nun, dass bei Johannes der eben zitierte Vers die Antwort Jesu auf eine Frage darstellt, die seine Schüler ihm gar nicht offen zu stellen wagen, weil sie wiederum einen Satz, den er ausgesprochen hat, ganz und gar nicht verstehen. Die Verständnisprobleme, die sich hier ergeben, sind so gewaltig, dass sich sogar die überwiegende Mehrheit der Christenheit viele Jahrhunderte hindurch mit einer Deutung zufrieden gegeben hat, die nicht unbedingt dem entsprechen muss, was der Evangelist Johannes ursprünglich sagen wollte.

Ich will versuchen, Indizien nachzugehen, die dabei helfen können, diesen Text zu entschlüsseln, so dass er uns heute in diesem Winter 2022 noch etwas sagen kann. Dabei buchstabiere ich nach, was ich von Ton Veerkamp gelernt habe, der am 28. Februar dieses Jahres 2022 im Alter von 88 Jahren gestorben ist.

Indiz Nr. 1: Sieben Mal „ein Augenblick“ (griechisch: mikron, wörtlich: „ein Kleines“)

Hier nun also der geheimnisvolle Satz Jesu aus dem Johannesevangelium, der im Folgenden noch mehrfach wiederholt wird, weil seine Schüler einfach nicht mit ihm zurechtkommen (16,16-19). Ton Veerkamp übersetzt ihn so:

Ein Augenblick, und ihr beachtet mich nicht mehr,
dagegen ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen.“
Einige unter seinen Schülern sagten zueinander:
„Was soll das, was er uns sagt:
Ein Augenblick, und ihr beachtet mich nicht mehr,
dagegen ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen‘;
und:
‚Ich gehe hin zum VATER‘.
Sie sagten also:
„Was soll dieses ‚ein Augenblick‘,
wir wissen nicht, was er redet!“
Jesus erkannte, dass sie ihn befragen wollten,
er sagte zu ihnen:
„Darüber forscht ihr untereinander nach, da ich sagte:
Ein Augenblick, und ihr beachtet mich nicht mehr,
und dagegen ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen.‘“

Mittendrin in diesem Text kommen die Schüler auf einen Satz Jesu zurück, den sie auch nicht verstehen: „Ich gehe hin zum VATER.“ Sie verstehen nicht, wie er zum VATER gehen kann, zum Gott Israels, von dem Jesus sich in die Welt gesandt weiß. Sie verschließen die Augen davor, dass Jesus sterben wird, dass die römische Weltordnung mit ihm kurzen Prozess machen wird. Sie können nicht begreifen, dass Jesus diesen Tod auf sich nimmt, um genau damit die herrschende Ordnung der Gewalt zu überwinden, ihr jegliche Legitimation zu entziehen. Sie verstehen nicht, dass Jesu solidarische Liebe stärker ist als jedes Terrorregime und dass er mit seinem Tod diese mächtige Waffe der Liebe allen übergibt, die von ihm lernen wollen.

Dass sie all das nicht verstehen, wird etwas später im Morgengrauen dieser Nacht vor dem Karfreitag deutlich werden. Jesu Schüler Petrus wird seinen Lehrer mit dem Schwert gegen seine Verhaftung zu verteidigen suchen. Ein Messias, der Frieden bringt, muss sich doch gegen seine Feinde durchsetzen, darf sich doch nicht widerstandslos kreuzigen lassen.

Hauptsächlich richtet sich das Unverständnis der Schüler Jesu aber auf den „Augenblick“, der im zitierten Text sieben Mal vorkommt. Die christliche Kirche hat dieses Unverständnis nicht ernst genommen und gemeint: Das ist doch ganz einfach zu verstehen, jedenfalls wenn man von Ostern aus zurückblickt. Der erste Augenblick ist die kurze Weile bis zu Jesu Kreuzigung. Keinen ganzen Tag dauert es mehr, bis er tot ist, bis die Schüler ihn nicht mehr „sehen“. Und der zweite Augenblick ist die ebenfalls nur kurze Weile zwischen Jesu Tod am Kreuz und seiner Auferstehung. Dann lebt er wieder, kehrt zu Gott in den Himmel zurück, ein Grund zur Freude.

Aber kann es sein, dass Johannes ganze sieben Mal auf diesem Wort „Augenblick“ herumreitet, diesen „Augenblick“ den Schülern geradezu einhämmert, wenn er nur sagen wollte: Ihr braucht nicht zu trauern, ich sterbe zwar, aber ich stehe doch vom Tode wieder auf! Ist das nicht viel zu einfach?

Indiz Nr. 2: Der Unterschied zwischen „nicht beachten“ und „dagegen sehen“

Bevor wir auf die Bedeutung der beiden „Augenblicke“ zurückkommen, möchte ich auf zwei Wörter in unserem Text aufmerksam machen, die traditionell einfach beide mit „sehen“ übersetzt werden, zum Beispiel in der Lutherbibel (Johannes 16,16):

Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen;
und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.

Ton Veerkamp findet es wichtig, sich klarzumachen, dass hier im griechischen Text zwei verschiedene Wörter stehen, die Luther beide mit „sehen“ übersetzt. Nur an der zweiten Stelle ist vom ganz normalen Sehen mit den Augen die Rede, an der er­sten steht das Wort theōrein, von dem unser deutsches Wort „Theorie“ abgeleitet ist und das nach Ton Veerkamp mit „beachten“ oder „in Betracht ziehen“ wiedergegeben werden muss.

Das ist keine Wortklauberei, sondern es hilft zu verstehen, warum die Schüler Jesu nicht verstehen. Jesu sagt ihnen ja nicht einfach: Es ist nur die kurze Zeit von Karfreitag bis Ostersonntag, die ihr mich nicht „sehen“ werdet, dann „seht“ ihr mich ja wieder. Also: alles halb so schlimm. Nein, er begreift ihre Angst, ihre Trauer, ihre Bedrückung, ihre Resignation. Denn sie sind ja gebeutelt und bedroht von der Gewaltherrschaft Roms und leiden auch unter den führenden Kräften aus ihrem eigenen Volk, die mit den Römern zusammenarbeiten. Sie hoffen vielleicht noch verzweifelt auf einen Aufstand, den Jesus anzetteln und aus dem er siegreich hervorgehen könnte, aber seine Kreuzigung als hoffnungsvolles Ereignis zu betrachten, das würde ihnen nicht im Traum einfallen.

Daher ist Jesu Satz „Ein Augenblick, und ihr beachtet mich nicht mehr“, so zu verstehen: „Wenn ihr seht, wie ich in den Tod gehe, am Kreuz der Römer hingerichtet werde, dann werdet ihr an mir zweifeln, mich nicht mehr in Betracht ziehen. Ihr werdet Angst haben, euch zurückziehen hinter verschlossenen Türen. Ihr gebt die Zukunft verloren, als ob sie der Gewalt Roms gehört und nicht dem Gott Israels mit seiner befreienden Macht.“

Und genau dieser Satz erscheint mir in diesem Kriegsjahr 2022 erschreckend aktuell. Denjenigen unter uns, die seine Schülerinnen und Schüler sein wollen, sagt Jesus: „Ihr zieht mich nicht mehr in Betracht. Ich spiele keine Rolle mehr in euren Theorien, jedenfalls nicht als derjenige, der die andere Wange hinhält, der Gewaltfreiheit vorlebt.“ Dabei kann ich mir vorstellen, dass er uns sogar versteht und damals auch seine Schüler verstanden hat. Wir können doch nicht die Kapitulation vor brutaler Gewalt wollen. Wir wissen nicht, auf welche Weise ein Gewaltherrscher wie Putin mit gewaltfreien Mitteln zu stoppen wäre. Als einzige Lösung empfiehlt sich die Rolle rückwärts der so genannten „Zeitenwende“ zum Denken in militärischen Kategorien.

Nun ist das aber nicht der einzige Satz, den Jesus sagt. Er resigniert nicht einfach und überlässt uns unserer Resignation, sondern fügt einen zweiten Satz hinzu: „dagegen ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen.“

Aber was hilft uns dieser Satz? Sind wir damit nicht wieder bei der traditionellen Auslegung angekommen, dass Jesu Schüler ihn nach seiner Auferstehung noch einige Male sehen dürfen? Aber spätestens mit dem, was wir Himmelfahrt nennen, bleibt er endgültig vor ihren Augen verborgen – und erst recht vor unseren.

Immer noch bleibt rätselhaft, von was für einem „Sehen“ Jesus hier redet und das irgendwie mit seiner Auferstehung verbunden zu sein scheint. Immer noch ist das Rätsel nicht gelöst, das Jesus seinen Schülern und uns aufgibt, indem er sieben Mal mit aller Macht auf diesen seltsamen „Augenblick“ aufmerksam macht.

Indiz Nr. 3: Der „kleine Augenblick“ im Buch des Propheten Jesaja

Manche Rätsel im „Neuen Testament“ können nur dann gelöst werden, wenn wir bedenken, dass dieses Buch nicht etwa die jüdische Bibel (das von Christen so genannte „Alte Testament“) ersetzt, sondern nur von ihr her zu begreifen ist. Auch das, was mit Jesu Auferstehung gemeint ist, kann nach Johannes 2,22 und 20,9 nur von den Schriften dieser Bibel her verstanden werden, die in ihrer Wahrheit nicht aufgehoben werden kann, wie Jesus selber (10,35) betont. Eine dieser Schriften ist das Buch des Propheten Jesaja, und dort ist wie im Johannesevangelium in Kapitel 54,7-8+10 von einem „kleinen Augenblick“ die Rede:

Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen,
mit großem Erbarmen dich zurückgeholt;
Mit einer Flut an Wut verbarg ich mein Antlitz
einen Augenblick vor dir,
mit ewiger Zuneigung habe ich mich deiner erbarmt:
hat dein Auslöser, der EWIGE gesagt. …
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,
aber meine Güte soll nicht von dir weichen,
und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen,
spricht der EWIGE, dein Erbarmer.

Jesaja spricht von einem Augenblick, in dem Gott seinem Volk Israel in seiner hilfreichen und befreienden Macht nicht sichtbar war. Und dieser Augenblick dauerte viel länger als nur ein paar Tage, sondern ganze siebzig Jahre, in denen große Teile der Bevölkerung nach Babylon deportiert waren. Entzogen hatte sich Gott den Augen des Volkes in „einer Flut an Wut“, in seinem heiligen Zorn über Unrecht und Ausbeutung, die im Lande um sich gegriffen hatten, und deren Folgen die Menschen am Ende gemeinsam tragen mussten. Zur Zeit des Jesaja ist dieser Augenblick vorüber: Gott lässt sich wieder sehen als der Erbarmer, in seiner Liebe und Güte. Israel darf unter der Oberherrschaft der Perser wieder zurückkehren in das verlorene Land.

Auf diesen Augenblick spielt Jesus in der Rätselrede an seine Schüler an. Unter römischer Herrschaft geht es Israel wie zur Zeit der Deportation nach Babylon: Gott scheint sein befreiendes, liebendes Angesicht verborgen zu haben. Auch der Messias dieses Gottes wird sich ihren Blicken entziehen, seine Schüler ziehen ihn nicht mehr in Betracht: „Ein Augenblick, und ihr beachtet mich nicht mehr.“ Aber nun sagt Jesus: „dagegen ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen.“ Gegen allen Augenschein erwartet er, dass auch die Gewaltherrschaft der Römer zu seiner Zeit nicht ewig andauern wird. Ganz im Gegenteil: Sie ist endgültig in Frage gestellt durch den Tod am Kreuz, den er erleiden wird. Eine Weltordnung, die den Messias ermordet, der die Liebe Gottes verkörpert, hat jeden Anspruch auf Gefolgschaft verloren. Am Ende der Abschiedsgespräche mit seinen Schülern wird er sogar sagen (16,33):

„Das habe ich zu euch geredet, damit ihr Frieden mit mir habt:
Unter der Weltordnung werdet ihr in Bedrängnis sein.
Aber fürchtet euch nicht:
Ich habe die Weltordnung besiegt.“

Indiz Nr. 4: Der Schmerz und die Freude der gebärenden Frau

Wir sind aber noch nicht fertig mit der Entschlüsselung der rätselhaften Hinweise Jesu auf den „Augenblick“. Nachdem Jesus erkennt, dass seine Schüler ihn dazu befragen wollten, ohne diese Frage ihm gegenüber wirklich auszusprechen, leitet er seine Antwort auf die Frage feierlich ein und kommt auf Klage und Schmerz einerseits sowie auf große Freude andererseits zu sprechen. Mittendrin steht das Wort von der Frau in ihren Geburtsschmerzen (Johannes 16,20-22), mit dem ich diese adventliche Betrachtung angefangen habe:

Amen, amen, sage ich euch:
Ihr werdet weinen und klagen,
die Weltordnung wird sich freuen.
Ihr werdet Schmerz haben,
aber euer Schmerz wird zur Freude werden.
Die Frau hat Schmerz, wenn ihre Stunde gekommen ist.
Wenn sie das Kind geboren hat,
gedenkt sie nicht mehr ihres Kummers,
wegen der Freude, dass ein Mensch geboren wurde in die Welt hinein.
Auch ihr habt jetzt Schmerz;
um so mehr werde ich euch sehen,
euer Herz wird sich freuen,
und eure Freude wird euch niemand wegnehmen.

Da seine Schüler das Rätselwort vom „Augenblick“ nicht mit Jesaja 54 in Verbindung bringen konnten, gibt ihnen Jesus mit dem Bild der gebärenden Frau einen zweiten Anstoß, um sich an dieses Kapitel zu erinnern, denn es beginnt im ersten Vers mit genau diesem Bild, das dort auf das Volk Israel bezogen ist, das sich über reichen Kindersegen freuen darf:

Juble, Unfruchtbare, die du nicht geboren hast,
breche in Jubel aus, jauchze, die du nicht in Wehen lagst,
mehr sind die Söhne der Verödeten
als die Söhne der Baalsfrau,
hat der EWIGE gesagt.

Wie eine kinderlose Frau, unfruchtbar, verödet, war Israel verwüstet, zur Einöde geworden, sein Tempel zerstört, viele Einwohner nach Babylon verschleppt. Nun darf Israel wie eine solche Frau, die endlich Kinder bekommen hat, einen Jubelgesang anstimmen über die Rückkehr in die Heimat und die Befreiung vieler Kinder Israels.

„Baalsfrau“ nimmt Ton Veerkamp hier als wortwörtliche Übertragung für ein Wort, das Luther mit „die den Mann hat“ und andere Bibeln als „die Verheiratete“ übersetzen. Vom Wortstamm her ist von einer Frau die Rede, die ihrem „Baal“ gehört, also ihrem Besitzer unterworfen ist, und da „Baal“ zugleich der beispielhafte Name für einen Gott ist, der anders als der Gott Israels sein Volk nicht befreit, sondern besitzt und ausbeutet, ist hier auch von der Freude der Kinder Israels darüber die Rede, dass sie zahlreicher werden als ihre Unterdrücker.

Jesus vergleicht also den Schmerz seiner Schüler über die Bedrückung durch die Gewaltordnung der römischen Herrschaft mit dem Schmerz der damaligen Deportation nach Babylon. Und er wagt es, auch die Freude der Frau, deren Schmerz in Freude verwandelt wurde, als ihre eigene gewisse Zukunft vorauszusagen.

Aber wie kann er das tun? Zu seiner Zeit stand doch der Jüdische Krieg erst noch bevor, und dieser Krieg endete im Jahr 70, also vier Jahrzehnte nach dem Tode Jesu, mit dem Sieg der Römer und der Zerstörung auch des zweiten Tempels in Jerusalems. Der Evangelist Johannes, der sein Evangelium am Ende des 1. Jahrhunderts schrieb, blickt auf diese Katastrophe bereits zurück.

Dennoch gilt in seinen Augen Jesu Wort von der Freude, die den Schülern niemand wegnehmen kann. Warum? Zunächst einmal, weil die Worte der Schrift, auch die Worte Jesajas, nicht aufgehoben werden können, weil der Gott Israels als der Erbarmer und Befreier seinem Volk Israel treu bleibt.

Aber reicht das aus, um seine Schüler zu überzeugen? Können sie begreifen, dass die Worte der Schrift von der Überwindung menschlicher Gewaltordnungen durch die Treue Gottes sich in genau dem Augenblick erfüllen, der Jesus bevorsteht, in seinem Tod am Kreuz? Genau dieser Augenblick wird für sie doch zum Anlass, ihn eben nicht mehr zu beachten, als Befreier in Betracht zu ziehen! Wie kann es dann überhaupt dazu kommen, dass sie ihn am Ende doch wieder sehen werden, was Jesus drei Mal betont – und was kann dann mit diesem „Sehen“ gemeint sein?

Indiz Nr. 5: „Ich werde euch sehen!“

In den Versen 16,20-22 steht unmittelbar nach dem Bild der gebärenden Frau ein kurzer Satz, den man leicht überlesen und in seiner Bedeutung unterschätzen kann:

Auch ihr habt jetzt Schmerz;
um so mehr werde ich euch sehen,
euer Herz wird sich freuen,
und eure Freude wird euch niemand wegnehmen.

Hier sagt Jesus nicht mehr: „Ihr werdet mich sehen“, sondern „ich werde euch sehen!“ Diese Umkehrung ist wichtig. Erst als Jesus am Ostermorgen seine Schülerin Maria Magdalena ansieht, mit Namen anspricht, erkennt sie ihn, sieht sie ihn als den, der zu seinem VATER aufsteigt und sie zu seiner Botin an die Schüler macht (20,16-17). Erst als Jesu seine Schüler am Osterabend hinter verschlossenen Türen aufsucht, sie dort sieht und anspricht, ihnen seine Wundmale zeigt, sehen sie umgekehrt ihn als den Herrn (20,19-20). Sie sehen, wie Veerkamp sagt, „dass der Ermordete als Ermordeter der Herr ist, an der Stelle derer, die sich als Herren aufspielen.“

Diese Umkehrung allein macht es möglich, überhaupt Kontakt zu Gott aufzunehmen, der doch nicht buchstäblich gesehen werden kann, wie Gott gegenüber Mose sagt (2. Mose 33,20): „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Dazu steht nicht im Widerspruch, dass in Jesaja 54,8 zu lesen war, Gott habe sein Antlitz nur einen Augenblick lang verborgen. Indem Menschen Hilfe und Befreiung von Gott erfahren, „sehen“ sie ihn, nehmen sie ihn wahr.

Dieselbe Umkehrung von Sehen und Gesehenwerden finden wir auch am Ende der Erzählung von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern sollte, ihn aber lebend als Geschenk von Gott zurück erhält (1. Mose 22,14):

Und Abraham nannte die Stätte „Der HERR sieht“.
Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sich sehen lässt.

Und unsere muslimischen Freunde werden vielleicht daran denken, dass es auch im Koran eine entsprechende Aussage über Gott gibt (Sure 6,103):

Die Blicke erfassen Ihn nicht, Er aber erfasst die Blicke.
Und Er ist der Feinfühlige und Allkundige.

Gott können wir nur „sehen“, indem wir von ihm angesehen, angesprochen, angerührt werden, indem wir unser Leben und alles, was wir haben, als Geschenk aus seiner Hand annehmen, indem wir seine Worte als Wegweisung und Herausforderung akzeptieren, indem wir seine Gegenwart als Hilfe und Befreiung erfahren.

Und für uns Christinnen und Christen gilt dasselbe für Jesus und sein Wort: „dagegen ein Augenblick, und ihr werdet mich sehen“. Nur indem Jesus uns sieht, uns anspricht, uns in einem unerwarteten Augenblick überrumpelt und sein Wort nicht nur vor Augen und Ohren kommen, sondern in unser Herz eindringen lässt, werden wir ihn „sehen“, in Betracht ziehen, überhaupt noch etwas von ihm erwarten.

Indiz Nr. 6: Mein unerwarteter „Augenblick“ – der Blick in ein Friedensinterview

Einen solchen unerwarteten Augenblick, in dem ich mich erneut von Jesus und von seinem Beispiel der gewaltfreien Überwindung einer bis an die Zähne bewaffneten Weltordnung überrumpelt fühlte, erlebte ich vor einigen Tagen, als ich das neueste Exemplar der Zeitschrift „Versöhnung“ in die Hände bekam. Seit der Zeit meiner Kriegsdienstverweigerung (die vom zuständigen Kreiswehrersatzamt damals nicht anerkannt wurde), bin ich Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund, der diese Publikation herausgibt, und ich unterstütze den Verein seit Jahrzehnten so ähnlich, wie viele andere die evangelische oder katholische Kirche durch ihre Kirchensteuer unterstützen, ohne mich an irgendwelchen Tagungen oder Aktionen zu beteiligen. Und ich gebe zu, dass bereits der 11. September 2001 und jetzt erst recht der 24. Februar 2022 meine frühere Überzeugung in Frage gestellt hat, es gebe keinen gerechten Krieg und es sei in keinem Fall gerechtfertigt, gegen Terror und Angriffskriege militärische Gewalt einzusetzen.

Nun aber kam der Augenblick, in dem ich die „Versöhnung“ aus unserem Briefkasten holte und mein Blick auf ein Interview mit Clemens Ronnefeldt (*) fiel. Er arbeitet im Referat für Friedensfragen des Versöhnungsbundes, und ich lernte ihn persönlich vor einigen Jahren kennen, als er in der Gießener Studierendengemeinde einen Vortrag hielt. Der Titel des Interviews lautet: „Gewalt zerstört, was sie schützen möchte“. Obwohl es schon im Oktober auch in der Zeitschrift „Publik-Forum“ gestanden hatte, hat es mich erst jetzt, im Dezember, so sehr angesprochen, dass es mich zu dieser langen adventlichen Spurensuche in biblischen Texten zu dem von Jesus aufgeworfenen Thema „Augenblick“ veranlasst hat.

Ein Foto von Clemens Ronnefeldt
Clemens Ronnefeldt (Bild: Archiv C. Ronnefeldt)

Clemens Ronnefeldt hat in seinem Friedensinterview meine Infragestellung der Infragestellung eines gerechten Krieges wiederum in Frage gestellt. So hilft er mir, das Beispiel Jesu, der den gewaltsamen Aufstand gegen die römische Weltordnung ablehnte und stattdessen bereit war, die andere Wange hinzuhalten, wenn er geschlagen wurde, und sein Leben hinzugeben, statt die Leben anderer zu opfern, als Hoffnungsbild auch für unsere Gegenwart und Zukunft wieder „in Betracht zu ziehen“.

Wer oder was macht Ronnefeldt denn Hoffnung, obwohl die Friedensbewegung „im Moment in einer Durststrecke“ ist? Zum Beispiel, dass schon vieles erreicht wurde: „die Durchsetzung des Atomwaffenverbotsvertrages, den Deutschland leider noch nicht unterschrieben hat; die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs, das Verbot von Personenminen.“ Oder zur Zeit einige Menschen in Osteuropa:

„Yurij Sheliazhenko, einer der Sprecher der ukrainischen pazifistischen Bewegung. Olga Karatsch, die in Belarus gegen Lukaschenko sich für Menschenrechte einsetzt. Die Soldatenmütter in Sankt Petersburg, der Bezirksrat von Sankt Petersburg, der Putin angeklagt hat wegen Hochverrats. Marina Owsjannikowa, die das Schild in die Kamera des russischen Staatsfernsehens gehalten hat: ‚Hier werdet ihr belogen.‘ Für mich ist es ein Hoffnungszeichen, dass der Friedensnobelpreis auch an Memorial und das Zentrum für zivile Freiheiten in der Ukraine ging, das Menschenrechtsverletzungen des ukrainischen Geheimdienstes öffentlich gemacht hat. Auch in der Ukraine wurden 2018 vier Menschenrechtler ermordet.“

Nicht bewusst gewesen war mir, dass sich in der Ukraine noch im Jahr 2015

„im Falle eines Angriffs auf das Land 29 Prozent der Menschen … für zivilen Widerstand aus[sprachen], nur 24 Prozent für die militärische Option. Da war die Krim bereits annektiert, im Donbas wurde gekämpft. Die übrigen Prozente wollten sich in sichere Regionen der Ukraine oder ins Ausland zurückziehen, gar nichts tun oder wussten keine Antwort.“

Jetzt allerdings stehen die meisten Ukrainer zur Verteidigung ihres Landes mit Waffengewalt, und Ronnefeldt wird gefragt: „Darf man ihnen sagen: Versucht es mal mit zivilem Widerstand?“ Seine Antwort lautet:

„Es gab einen solchen Aufruf aus der Friedensbewegung, ich habe mich nicht daran beteiligt. Es steht mir nicht zu, in einer derart extremen Situation Menschen zu sagen, wie sie sich verteidigen sollen. Hier in Deutschland ist es wichtig zu sagen: Ziviler Widerstand hat sein Potenzial. Wir haben es in den ersten Tagen der Invasion in Cherson gesehen und in anderen Städten. Menschen haben sich vor die Panzer gestellt und auf Russisch an das Gewissen der Soldaten appelliert. Gewalt erlöst nicht… Sie führt in eine Abwärtsspirale hinein und zerstört, was sie schützen möchte.“

Besonders zu denken gibt mir, dass Ronnefeldt zwar nicht „in der Logik der Gewalt denken“ will, aber sich auch von jenen abgrenzt, „die die Nato für so böse halten, dass sie viel Verständnis für Putin“ haben:

„An diesem Punkt bin ich vollkommen klar: Nichts kann einen völkerrechtswidrigen Überfall auf ein souveränes Land rechtfertigen. Und diese Klarheit braucht es in der Friedensbewegung, wenn wir ernst genommen werden wollen. Mir geht es darum, was auch hochrangige Generäle als Gefahr sehen: eine Eskalation in den dritten Weltkrieg zu stoppen.“

Spannend ist in dieser Hinsicht seine Antwort auf die Frage: „Wie das?“

„Durch Verhandlungen. Es ist höchste Zeit dazu. Wenn US-Präsident Joe Biden von einem drohenden Armageddon spricht, dann sagt er, dass wir damit so nah an einem nuklearen Fiasko sind wie seit 1962 nicht mehr.“

Aber machen Verhandlungen Sinn, wenn doch „Russland … kaum Kompromisse eingehen, die Ukraine kaum auf widerrechtlich annektiertes Gebiet verzichten“ wird?

„Verhandeln könnte der UN-Generalsekretär, zusammen mit der Generalsekretärin der OSZE auf Grundlage des italienischen Friedensplanes. Eine Schlüsselrolle spielen China und Indien. Am ehesten könnte Xi Jinping Präsident Putin klarmachen, dass es eine rote Linie gibt, dass er keine taktischen Nuklearwaffen einsetzen darf, egal, wie sehr er mit dem Rücken zur Wand steht. Und dann ist auch der Westen gefordert. Die Umsetzung der Forderung der ukrainischen Regierung nach vollständiger militärischer Rückeroberung von Krim und Donbas würde zu einem Blutbad führen und kann in den dritten Weltkrieg münden. Das gilt es auch durch klare Worte des Westens an die Regierung in Kiew zu verhindern.“

Von den Kirchen ist der katholische Theologe Ronnefeldt enttäuscht. Sie sind ihm nicht „laut genug in Sachen Frieden“. Er „fand es erschreckend“, wie „die katholische Bischofskonferenz und die EKD die Waffenlieferungen durchgewinkt haben“:

„Von den christlichen Kirchen wünsche ich mir, dass sie eine Woche des Fastens und des Gebetes ausrufen, um den Gläubigen in Deutschland zu zeigen: Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt. Der katholische Schriftsteller und Pazifist Reinhold Schneider schrieb 1936: ‚Allein den Betern kann es noch gelingen, / Das Schwert ob unsren Häuptern aufzuhalten.‘ Möglicherweise sind wir wieder an diesem Punkt.“

Welchen Beitrag zum Umdenken könnten wir leisten, wenn wir auf den Gott des Friedens vertrauen, uns von Jesus in Frage stellen lassen? Ronnefeldt schlägt vor:

„Wir können zeigen, dass die gegenwärtige Militarisierung der Politik und des Denkens nicht alternativlos ist. Die Sicherheitslogik alten Stils denkt exklusiv: Wir machen uns stark, damit das Böse es nicht wagt, uns anzugreifen. Eine neue Friedenslogik denkt inklusiv: Was heißt es für Russland, wenn in Estland, 420 Kilometer von Sankt Petersburg, deutsche Panzer und Flugzeuge Manöver abhalten? Dies will ich in den öffentlichen Diskurs bringen, auch angesichts der drohenden Klimakatastrophe. Wäre das Militär ein Land, es stünde an sechster Stelle des weltweiten CO2-Verbrauchs. Aufrüstung ist nicht kompatibel mit dem Überleben des Planeten. Rüstung tötet auch ohne Krieg.“

Indiz Nr. 7: „Freude, dass ein Mensch geboren wurde in die Welt hinein“

Am Schluss noch einmal zurück zu dem Bibeltext, den ich als Ausgangspunkt meiner Überlegungen genommen habe. Das war der adventlich klingende Vers aus den Abschiedsgesprächen Jesu im Johannesevangelium 16,21:

Die Frau hat Schmerz, wenn ihre Stunde gekommen ist.
Wenn sie das Kind geboren hat,
gedenkt sie nicht mehr ihres Kummers,
wegen der Freude, dass ein Mensch geboren wurde in die Welt hinein.

Vielleicht hat sich ja jemand unter Ihnen, unter euch, die überhaupt bis hierher gelesen haben, schon längst gefragt, warum ich mich in dieser vorweihnachtlichen Zeit so lange mit Texten aus der Leidensgeschichte Jesu beschäftige. Meine Antwort ist, dass die christlichen Feste Weihnachten einerseits und Karfreitag und Ostern auf der anderen Seite letztlich nur zwei Seiten derselben Medaille sind.

Und schon der christliche Advent selbst als die Zeit der Erwartung enthält traditionell eine große Spannweite an Themen, die weit über die Ankunft des Christuskindes in Bethlehem hinausgreifen:

  • Am 1. Advent der Einzug Jesu in Jerusalem kurz vor seinem Leidensweg,
  • am 2. Advent das Wiederkommen Jesu am Ende der Zeiten,
  • am 3. Advent das Auftreten Johannes des Täufers als Wegbereiter des Messias,
  • am 4. Advent die Vorfreude auf die Geburt des Messias Jesus.

Insofern passen meine Gedanken zur „Freude, dass ein Mensch geboren wurde in die Welt hinein“, doch wirklich sehr gut zum heutigen 4. Sonntag im Advent, mit dem wir uns auf Weihnachten einstimmen, das Fest der Freude über die Geburt des Menschen Jesus, der in die Welt hineingeboren wurde, um mit seinem gesamten Leben und Sterben den Frieden Gottes zu bezeugen.

Dass meine Gedanken zum Johannesevangelium auch auf die Hoffnungen für Israel aus dem Buch Jesaja zurückgegriffen haben, stimmt außerdem gut damit zusammen, dass in diesem Jahr das jüdische Fest Chanukka genau die Zeit zwischen dem heutigen 4. Advent und dem 2. Weihnachtsfeiertag umfasst.

So wünsche ich euch und Ihnen allen je nach den eigenen Überzeugungen

  • gesegnete Weihnachten
  • fröhliches Chanukka
  • einen besinnlichen Ausklang des Jahres
  • und möglichst viel Glück und Frieden für das Jahr 2023!

Ihr und euer Pfarrer Helmut Schütz

Anmerkung

(*) Das Interview wurde abgedruckt im Rundbrief 4/2022 des Versöhnungsbund e. V., S. 6-7, ursprüngliche Quelle: Publik-Forum, kritisch – christlich – unabhängig, Oberursel, Ausgabe Nr. 20/2022 vom 21.10.2022, S. 16-17.

Schreibe einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars stimmen Sie seiner Veröffentlichung zu (siehe Datenschutzerklärung). Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.