Bild: Helmut Schütz

Skeptischer Philosoph und Schriftsteller

Hier habe ich einiges gesammelt, was der Philosoph Odo Marquard in seinen Schriften über seine Person, seine philosophische Position und seine Schriftstellerei geäußert hat, als Anregung, sich intensiver mit seiner Philosophie auseinanderzusetzen. Die in Klammern angegebenen Stichworte verweisen auf die ausführlichen Literaturangaben in der chronologisch nach Jahreszahlen geordneten Bibliographie mit 103 Schriften von Odo Marquard.

 

Zur Positionierung Odo Marquards

Zur Philosophie der Skepsis

Der Philosoph als Schriftsteller

 

Zur Positionierung Odo Marquards:

 

Nautische Position
Bei einer derart multiplen Position bleibt auch der Positionsbegriff nicht der gebräuchliche des „Standpunkt“. Position muß nautisch verstanden werden. Position ist nautisch der für Kursveränderungen und in Seenotfällen bedeutsame, vorübergehend eingenommene Ort eines Beweglichen, das schwimmt. (Kant, 1958, S. 54)

 

Attacke als Desertion
[O]ftmals [ist] die Attacke nur ein Aggregatzustand der Desertion und der Angriff nur das vorletzte Stadium des Überlaufens… (Unbewußt, 1966, Anm. 41, S. 139)

 

Bummeleschatologe
Einen Philosophiekraftzersetzer, ein Bremswesen im Konvoi der Emanzipierten, einen Zauderer bei der Naherwartung, einen go-slow-Revolutionär, einen Bummeleschatologen: ihn zu verlieren ist für die Geschichtsphilosophie besser als ihn zu behalten; es ist günstiger für sie, daß er nicht einer der Ihren, sondern daß er einer der Nichtihren ist. So mag der Verfasser erst durch seinen Abschied von der Geschichtsphilosophie das wirklich geworden sein, was er durch seinen Beitritt zu ihr nur sein wollte: ihr Aufhelfer. Fast wäre das ein Grund, ihr unverzüglich wieder beizutreten. Aber verschonungskompetent ist allein der, der dafür sorgt, etwas vor allem vor ihm selber zu verschonen. (Schwierigkeiten, 1973, S. 23)

 

Marquards Ansatz
Auf der Tagesordnung, die ich seit vielen Wochen schon verbummelt habe, steht … für diesen Nachmittag: ‚Der Ansatz von Marquard‛. Aber ich habe gar keinen Ansatz… Was also tun? Nun: ich expliziere … einfach keinen Ansatz, schon gar nicht den meinen, – sondern ich tue etwas stattdessen: Ich formuliere – im Kontext ‚Normen und Geschichte‛… dreizehn Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten. (Üblichkeiten, 1979, S. 62.)

 

Weigerungsverweigerung
[Zur] Analyse des eigenen Mitmachverhaltens in den 60er Jahren und seiner Umkehr in die Absage, in die Weigerungsverweigerung… gehört … auch die Vermutung, daß diese Absage bei mir – einsetzend 1967: ich merke spät und habe lange Bremswege – erleichtert war durch die – gegenüber der frühen ‚bloßen‘ Skepsis – nunmehr nachgeholte Konkretisierung. Denn inzwischen war bei mir der Schritt von der „Präexistenz“ in die „Existenz“ getan… (Prinzipiell, 1981, S. 13)

 

Erhaltung der Naivität
[M]ich … wurmte es, daß mich gerade die Skepsis zu einer neuen Vertrauensseligkeit geführt hatte. Es scheint – unbehaglicherweise – so etwas zu geben wie ein Gesetz der Erhaltung der Naivität: Die menschliche Mißtrauenskapazität ist begrenzt, und je mehr man sie an einer der Denkfronten konzentriert, desto leichter kommt die Naivität zum Sieg an den anderen. (Prinzipiell, 1981, S. 14)

 

Schwierigkeiten durch Beitritt zu Positionen
„[I]ch bin einer, der Positionen Schwierigkeiten einbringt nicht dadurch, daß er sie angreift, sondern dadurch, daß er ihnen beitritt.“ (Krise, 1981, S. 83)

 

Sorgfältige Nachlässigkeit im Genauen
Man fragt mich zuweilen: Wer – genau – ist es denn nun, der dieses Programm der Absolutmachung des Menschen philosophisch vertreten hat oder vertritt?: Marquard, nennen Sie Roß und Reiter! … es [gibt] gute Gründe für einschlägig sorgfältige Nachlässigkeit im Genauen… Auch gebietet es der Takt, Philosophen – je moderner, je mehr – die Überzeugung zu gestatten, sie seien nicht gemeint. (Zufällig, 1984, S. 120)

 

Schlafenthusiast
In diese Kultur der Feste sollte man auch ihre unscheinbarsten Formen hineinnehmen: Wir sind nicht so gut gestellt, daß wir es uns leisten könnten, auf irgendeine dieser festlichen Lebensformen zu verzichten. Das gilt vielleicht sogar für die Vorformen. Ich stellte eingangs fest: Ich selber bin ein Festmuffel. Ich ergänze das jetzt durch das private Geständnis: Ich bin zugleich ein Schlafenthusiast. Nur so einer mag auf folgenden Gedanken verfallen: Offenbar sind alle höheren Lebewesen darauf angewiesen, sich regelmäßig aus ihrem Leben – ihrem Wach- und Alltag – zurückzuziehen in jenes elementarste „Moratorium des Alltags“, das der Schlaf ist. Möglicherweise ist der Schlaf ein keimhaftes Fest: gut geschlafen ist halb gefeiert; und nur der Exzentriker unter den Lebewesen, der Mensch, braucht nicht allein den Schlaf, sondern darüber hinaus auch noch das Fest. (Moratorium, 1987, S. 68)

 

Positive Entzweiung
Mir ist eine Szene – wohl kurz vor 1960 – in Erinnerung. Als in seinem Arbeitszimmer der ‚Lesekreis‘ des „Collegium Philosophicum“ wie üblich vor Beginn der Arbeit plauderte, sagte Joachim Ritter plötzlich: „Wenn ich uns hier so sitzen sehe: mit uns hätte ich früher nicht verkehrt.“ Diese Bemerkung enthielt … die Zustimmung zum Jetzt: zum ‚bürgerlichen Leben‘, das ein Leben der positiv erfahrenen Entzweiung ist. Erlauben Sie mir, dabei aufmerksam zu machen auf den Umstand, daß der Ausdruck ‚Entzweiung‘ jene Vielheitsvokabel ‚zwei‘ enthält, die auch im Ausdruck ‚Zweifel‘ steckt: das deutet den Grund an, aus dem ein Skeptiker – mit seinem Sinn für Gewaltenteilung – Anhänger der Philosophie der positiven Entzweiung sein kann. (Herkunft 2, 1989, S. 27)

 

Denkwebel
Besonders in der letzten Zeit sucht mich häufiger die Frage heim, ob und gegebenenfalls wie ich es als Philosophiestudent mit den Großen meines Fachs als Lehrern ausgehalten hätte. Zum Beispiel Heidegger – der für mich selber einer der wichtigsten Philosophen geworden ist – habe ich im Juli 1950 in jener einen Seminarsitzung auf dem Ratschert in der Nähe von Todtnauberg persönlich mitbekommen, in der er seine akademische Wiederkehr übte und dabei ganz als jener interpretatorisch pedanti|sche Denkwebel agierte, der er sein konnte: erschrocken floh ich damals aus Freiburg nach Münster zurück. (Ehrenpromotion, 1994, S. 146f.)

 

Radikalitätsabstinenzler
Johann Gottlieb Fichte – einerseits – war ein philosophischer Prediger, ein unerbittlicher Evidenzmissionar, ein Weltverbesserungseiferer; und ich – als Skeptiker durch Abschied vom Prinzipiellen ohne wirkungsgeschichtlichen Willen zur Macht – ich mag keine philosophischen Missionare. Aber zugleich …: … Seine Fähigkeit, die Dinge – mit Sinn für äußerste Konsequenz auf die Spitze zu treiben, ist unüberboten. Und so bewundere ich sie, die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794, … als ein Werk, das – manifest abschreckend, latent faszinierend – jene Philosophie radikal auf die Spitze treibt, die nicht mehr Gott, sondern das menschliche Ich zum Prinzip und Weltschöpfer macht. Dieser Radikalposition muß gerade ein skeptischer Radikalitätsabstinenzler – konsequent inkonsequent – mit einer Radikalfrage zu Leibe rücken, nämlich dieser: Wieso wurde – in der Philosophie – diese extreme Ich-Position nötig? (Ehrenpromotion, 1994, S. 148)

 

Momentaufnahme
[D]en Leser – den mutigen und den unmutigen – erwartet die Momentaufnahme des Gedankenzustands eines Philosophen, der sich langsam zu bewegen pflegt, und der darum – bei einer Belichtungszeit von knapp acht Jahren – halbwegs konturenscharf erfaßt sein könnte. (Vorbemerkung Abschied vom Prinzipiellen, 1995, S. 3)

 

Ammenschlafmethode
Benno v. Wiese – mein Hauptlehrer in der neueren deutschen Literaturwissenschaft… Seine Vorlesungen (zuerst das Tragödienbuch) habe ich nach der Ammenschlafmethode gehört (nur aufwachen, wenn das eigenen Problembaby schreit: das war für mich die Theodizee, was ja wohl nicht gerade ein abwegiges Problem ist angesichts des Holocaust). (Bürgerlichkeitsverweigerung, 1995, S. 32)

 

Vielschläfer
[Z]ur Verjüngung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung tauge ich – 67jährig – nur dann, wenn nicht meine abgelaufenen Lebensjahre zählen, sondern meine abgelaufenen Wachzeiten. Ein Vielschläfer ist da jünger als ein Wenigschläfer; und ich bin ein Vielschläfer. … [Ich] gehe … früh ins Bett und stehe spät auf; es ist manchmal wirklich nicht einfach, meinen täglichen Mittagsschlaf dazwischenzubekommen. (Selbstvorstellung, 1995, S. 9)

 

Überlebtes Lebensziel
Ich bin Jahrgang 1928, geboren in Stolp in Hinterpommern. Zur Schule ging ich zunächst ebenfalls in Hinterpommern: in Kolberg. 1940 mit zwölf kam ich – ich erwähne das, um es nicht nicht zu erwähnen – auf ein Naziinternat, eine Adolf-Hitler-Schule, war schließlich Luftwaffenhelfer und beim Volkssturm; im August 1945 mit siebzehn hatte ich meine Kriegsgefangenschaft schon hinter mir. Ich widerstand meiner Neigung zur Architektur und Malerei und studierte Philosophie: in Münster bei Joachim Ritter, in Freiburg bei Max Müller, der mein Doktorvater wurde. 1963 habilitierte ich mich in Münster und erreichte dadurch mein Lebensziel: Privatdozent zu sein. Zwei Jahre später ging es schief mit diesem Lebensziel; denn da war ich nicht mehr Privatdozent, sondern ordentlicher Professor für Philosophie in Gießen. (Selbstvorstellung, 1995, S. 9f.)

 

Schandmaulkompetenz
Alte Menschen können unbekümmerter nicht nur merken, sondern auch reden. Zuweilen verfügen sie über eine solide Schandmaulkompetenz. Man braucht im Alter keinen Mut mehr, um in Fettnäpfchen zu treten, weil man nicht mehr genug Zukunft hat, um wiedergetreten werden zu können. (Alter, 1999, S. 138)

 

Philosophie der Geschichte der Resignation der Philosophie der Geschichte
Nach 1954 hatte ich eine Zeitlang die Vorstellung, eine Philosophie der Geschichte der Resignation der Philosophie der Geschichte sei ratsam. Das führte zu immer stärkeren Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Ungefähr ab 1960 war der entscheidende Einfall dieser: der Rechtshandel (Prozeß) Geschichtsphilosophie kommt aus dem Rechtshandel (Prozeß) der Theodizee, und die autonomistische Geschichtsphilosophie – die ein entscheidendes Motiv seit dem deutschen Idealismus bildete – ist eine säkularisierte Theodizee, eine Theodizee durch das Ende Gottes (sozusagen: Theodizee gelungen, Gott tot). Von daher habe ich dann die Geschichtsphilosophie – mit immer stärkerer Betonung der menschlichen Endlichkeit – zunehmend kritisiert: schließlich durch Absage an die Utopie einer gleichschaltenden Alleingeschichte der Weltverbesserung und Diesseitserlösung, und zwar zugunsten eines philosophischen – auch geschichtsphilosophischen – Pluralismus. Diese Absage an die Geschichtsphilosophie hat mich – das konkretisierte sich nach 1968 – dann auch dazu gebracht, eine politisch liberal konservative Position zu beziehen. Es hat mich – was zu Anfang nicht in meiner Absicht lag – auf die Idee gebracht, bei mir ‚Konservatives‘ zu finden mit der (von Martin Kriele und Hermann Lübbe dankbar übernommenen) Regel: die Beweislast hat der Veränderer. (Weigerungsverweigerer, 2003, S. 15f.)

 

Schulsprecher?
[Es] existiert … unter den Ritter-Schülern eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung, die sie teilweise gerade auch gegen die Frankfurter Kritische Theorie, ihre Vergröberung zu den Positionen der Achtundsechziger und ihre Wacht am Nein in Opposition brachte. Ich selber habe das als Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung beschrieben; aber ich bin nicht der Schulsprecher der Ritter-Schule: es gibt nämlich keinen. (Weigerungsverweigerer, 2003, S. 18f.)

 

Weltabwehr durch Schlafen
Ich meine, es gehört zumindest auch zur Skepsis, Positivitätsverdrängungen zu beweifeln und Affirmationsverbote zu übertreten. Wir Menschen sind viel zu zerbrechlich, um irgendeine Positivität der Wirklichkeit zu mißachten und „die Rose im Kreuz der Gegenwart“ (Hegel) übersehen zu dürfen. Darum bin ich – auch und gerade in bezug auf die bürgerliche Welt – dagegen, den eigenen Negativitätsbedarf zu übertreiben. Meine Weltabwehr absolviere ich nicht durch Philosophie, sondern durch Schlafen: ich bin ein ‚Weigerungsverweigerer‘. Das Normative ist vor allem das Kleine: Das kleine Jasagen, das schwieriger ist als das große Neinsagen. (Weigerungsverweigerer, 2003, S. 19f.)

 

Verzicht auf Krisenstolz
Die Vorstellung, jetzt ist der absolute Augenblick, in dem die Menschheit gerettet werden muß, und die Zuspitzung der Gegenwart zur großen Entscheidungsgrenzsituation zwischen Allem und Nichts: das geht mir viel zu weit. Ich bin gegen den großen Außerordentlichkeitsbedarf, auch im Negativen. Die Menschen haben schon genug Probleme, auch diesseits des großen Ausnahmezustands: diesen unendlichen Krisenstolz können wir uns gar nicht leisten. Darum wehre ich mich gegen ökologisches Krisengeschrei und habe auch wenig übrig für die Globalisierungsgegner. Die Angstübertreibung ist eine Luxusreaktion: man sollte sie zumindest dosieren. Natürlich habe ich Angst: zum Beispiel vor zu schwerem Sterben. Aber die ‚zivilisatorischen Ängste‘ gehorchen der Freudschen Theorie des Angsttraums: die Angst, die man bei ihm hat, ist nicht die Angst vor dem Schrecklichen, das man träumt, sondern die Angst vor dem eigenen Wunsch nach dem Schrecklichen, das man träumt. Der Angsttraum – und so mag es auch bei den ‚zivilisatorischen Ängsten‘ sein – konserviert, getarnt als seine Abwehr, einen schrecklichen Wunsch: Man sollte auch diese Wunschpflege bleibenlassen. (Weigerungsverweigerer, 2003, S. 21f.)

 

Jubiläumsfeier
Ich finde es gut, dass – irgendetwas muss ja wohl gemacht werden bei alternden und ruhestandsgebrechlichen Emeriti – diese Art von Jubiläumsfeier jetzt bei meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag verrichtet wird. Ob ich den achtzigsten noch erreiche, ist (ich will meinen Ärzten nicht zu nahe treten) nicht so sehr wahrscheinlich. Falls ich ihn doch noch erleben sollte, würde mir mit Sicherheit die Kondition fehlen, so etwas grässlich Feierliches noch einmal zu überstehen. Im Grunde ist das jetzt schon so. (Dankrede, 2003, S. 37)

 

Ober-Taugenichts
Spiegel: Sind Sie der Ober-Taugenichts der deutschen Philosophie?
Marquard: Das kann man durchaus sagen. Aber man sollte auch hinzufügen, dass dieser Taugenichts einmal Fachgutachter für systematische Philosophie war und zum Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie gewählt wurde. Der Taugenichts ist vielleicht ein guter Agent fürs Übrigbleiben. (Götter, 2003, S. 154)

 

Letzter Tag
Spiegel: Wenn Sie wüssten, ich lebe nur noch einen Tag, was täten Sie an diesem letzten Tag?
Marquard: Schlafen. Weil ich wüsste, es ist der letzte Tag, würde das wohl nicht klappen. Aber ich schlafe nun mal sehr gern. (Götter, 2003, S. 154)

 

Wunder von Bern
[F]ür mich war der Juli 1954 nicht das Wunder von Bern, sondern das Wunder meiner Promotion. Danach habe ich mich dann lebenslang als Philosoph herumgeschlagen. (Doktorjubiläum, 2004, S. 10)

 

Überaltert
Unser Promotionsalter lag damals bei 25/26 Jahren, das heutige bei über 30 Jahren: so wird die Universität gezielt ins Spätere verlegt. Mir gefällt dieser ganze Trend nicht; aber vermutlich liegt das daran, daß ich – über 11 Jahre inzwischen als Emeritus – ganz und gar überaltert und reaktionär bin: einen Schlaganfall habe ich auch schon hinter mir, und was ist von so jemandem noch zu erwarten (außer der Wahrheit)? (Doktorjubiläum, 2004, S. 10f.)

 

Wieder-Vorlesen
Es hilft nichts: ich zähle jetzt zu den Alten. Radikal ist das Alter, 1999, wenn man es nicht als Bevorstehendes bemerkt, sondern es fast schon hinter sich hat. Es ist ein Lebensabschnitt gemäßigter, manchmal starker, manchmal auch fröhlicher Depression. Zum Alter gehört, über das Alter nachzudenken. … Ich finde es dabei nicht richtig, daß Wissenschaftler in ihren Vorträgen stets ganz Originelles sagen müssen, während Dichter das vorlesen dürfen, was sie lange vorher schon geschrieben und veröffentlicht haben… Auch bei Wissenschaftlern, meine ich, bei Philosophen muß das zuweilen so sein: ich jedenfalls mache – altersradikal – vom Wieder-Vorlesen hier Gebrauch. Ich habe ein langes Leben hinter mir und dabei nicht nur Unvernünftiges geschrieben: sonst wäre ich ja nicht in dieser Akademie. Ich biete hier eine Mischung von Patina und Innovation: ich lese Altes von mir vor und Neues dazu und hoffe, daß Sie mir das nicht übelnehmen. (Zukunftsverminderung, 2006, S. 1)

 

Zur Philosophie der Skepsis

 

Illusionen
[Die Skepsis] steht nicht gegen [das Interesse an einer besseren Zukunft], sondern gegen die Illusionen dieses Interesses. Eine Teilmenge dieser Illusionen ist die Geschichtsphilosophie. Zu ihnen gehört die Meinung, Veränderung sei eo ipso Verbesserung. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint; die von der Geschichtsphilosophie betriebenen Veränderungen sind in der Regel gut gemeint. Dagegen – wie gegen jede andere Illusion – verhält sich der Skeptiker skeptisch. (Schwierigkeiten, 1973, S. 32)

 

Zu viele Thesen
Wer nicht aus der Geschichte herauskommt, erreicht keine absolute Position. Aber muß man denn eine absolute Position erreichen? … die Skepsis gelingt nicht dadurch, daß man gar keine These vertritt, sondern (als Teilung auchnoch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind) dadurch, daß man jeweils zu viele Thesen vertritt… (Hermeneutik, 1979, S. 138)

 

Abschied vom Prinzipiellen
Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nicht Prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen. (Prinzipiell, 1981, S. 17)

 

Einsamkeit
Einsamkeit suchen – und mögen – die Skeptiker. Repräsentativ ist etwa … Montaigne, der sich (nach intensiver öffentlicher Wirksamkeit) zurückzog in die solitude, die Einsamkeit. Um zu lesen, zu schreiben und zu erfahren, ohne je abschließend Bescheid zu wissen, retirierte er in „die dritte Etage eines Turms“: Die Skeptiker … sitzen im Turm, hilfsweise – seit es mehr Reihenhäuser als Türme gibt – in einem Arbeitszimmer im Souterrain. Mit Bedacht setzen sie sich zwischen die Stühle der herrschenden Lehren. (Einsamkeitsfähigkeit, 1983, S. 117)

 

Tausend Antworten
Freilich: wer auf ein Problem gar keine Antwort gibt, verliert schließlich das Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, glaubt das Problem gelöst zu haben und wird leicht dogmatisch: auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele Antworten zu geben: das – etwa bei der Theodizee – bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen: es muß tausend Antworten geben, vielleicht im Orient tausendundeine und in Spanien tausendunddrei. (Entlastungen, 1983, S. 29)

 

Löwenfreundlicher Löwenjäger
[D]er Skeptiker [ist] verliebt in jene Metaphysik, … die Probleme offenläßt, so daß es ihr im Fazit ergeht wie jenem löwenfreundlichen Löwenjäger, der, gefragt, wieviele Löwen er schon erlegt habe, gestehen durfte: keinen, und drauf die tröstende Antwort bekam: bei Löwen ist das schon viel. Just so – darum mag sie der Skeptiker – ergeht es der Metaphysik und so auch der Theodizee; von ihren Problemen hat sie gelöst: keines. Jedoch: für Menschen ist das schon viel. (Entlastungen, 1983, S. 29)

 

Unendliches Gespräch
Das unendliche Gespräch steht nicht unter Handlungszwang und daher nicht unter Zeitdruck. … Unendliche Gespräche haben keine praktischen Ziele (oder haben sie nur als Vorwand): insofern ist das geschichtlich Vorhandene – diesseits von Verbot und Erlaubnis – unendlich interessantes Sujet für Interpretationen, deren Ergebnisse – das definiert die ästhetische Situation – hochgradig folgenlos sind, hilfsweise – bei potientiell praktischen Gesprächsfolgen – gut entsorgt sein müssen (z. B. durch jene sicheren Deponien, die die Bücher sind). Gesprächsziel ist das Gespräch selber… (Über-Wir, 1984, S. 50)

 

Wer kommt heraus?
Die Frage: „was kommt heraus?“, ist beim unendlichen Gespräch zu ersetzen durch die Frage: „wer kommt heraus?“, mit der Antwort: „alle, und zwar möglichst verschieden“. (Über-Wir, 1984, S. 51)

 

Der Dritte
Skepsis ist … jenes … Verfahren, das zwei gegensätzliche Überzeugungen in solcher Art aufeinanderprallen läßt, daß beide dadurch so viel an Kraft einbüßen, daß der Einzelne – als lachender oder weinender Dritte – von ihnen freikommt… (Zufällig, 1984, S. 133)

 

Tugendhafte Mitte
Sextus Empiricus hat die Philosophen eingeteilt in die, die gefunden zu haben glauben (Dogmatiker), die, die nicht finden zu können behaupten (akademische Skeptiker), und die, die noch suchen (pyrrhonische Skeptiker). Bei den Skeptikern gibt es also zwei Fraktionen, und man kann an die falsche Fraktion geraten: an die Vertreter der – spieltriebhaft unentwegt alles bezweifelnden – akademischen Skepsis. Wenn man dieser Fraktion argumentativ den Garaus macht, bleibt immer noch die andere übrig, die bei weitem zähere, die es – z. B. – als erfrischende Konditionsspritze empfindet, von Zeit zu Zeit widerlegt zu werden; denn sie versteht die Skepsis als tugendhafte Mitte zwischen zwei Lastern: dem absoluten Wissen und dem absoluten Nichtwissen. (Skeptiker, 1984, S. 6f.)

 

Zwei-fel
Erstens: Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung. Der skeptische Zweifel ist – wie das Wort Zweifel verrät, das mit der „zwei“ auch die Vielheit enthält – jenes (schulmäßig „isosthenes diaphonia“ genannte) Verfahren, zwei gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen und dadurch beide so sehr an Kraft einbüßen zu lassen, daß der Einzelne – divide et fuge! – als lachender oder weinender Dritter von ihnen freikommt in die Distanz, die je eigene Individualität. (Skeptiker, 1984, S. 7)

 

Usualismus
Zweitens:Skepsis ist Usualismus, der Sinn fürs Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten. (Skeptiker, 1984, S. 7)

 

Kontingenz
Drittens: Skepsis ist – ebendarum – die Bereitschaft zur eigenen Kontingenz. (Skeptiker, 1984, S. 8)

 

Liebe zur Weisheit
Ist die Philosophie noch Liebe zur Weisheit? Auf diese Frage antwortet … die kleine Veränderungsthese mit „ja“, und zwar deswegen, weil es auch modern und gerade heute philosophisch die Skepsis gibt. (Weisheit, 1988, S. 102)

 

Philosophie mit Distanz zur Philosophie
Ein guter Philosoph ist nur der, der nicht nur Philosoph ist. Das – diese Philosophie mit Distanz zur Philosophie – ist das, was ich unter Skepsis verstehe, zu der also auch ein wenig Vertrauen in die vorhandene Wirklichkeit gehört und ein wenig Widerstand gegen den Negationskonformismus. Völlig falsch wäre es aber, daraus folgende Konsequenz zu ziehen: nun die Skepsis zum einzigen Wirklichkeitsverhältnis zu machen. (Weisheit, 1988, S. 112)

 

Einverständnis als Empörung
Horkheimer [macht] der heutigen Skepsis folgenden Vorwurf…: indem die Skepsis auch noch heute den Einzelnen, das Individuum will, akzeptiert sie – meint er – die reaktionäre Spätform der bürgerlichen Gesellschaft und hält sie fest. Indes, so möchte ich – immanent – dagegenhalten: der gegenwärtige Skeptiker akzeptiert diese Spätform der bürgerlichen Gesellschaft nicht notwendigerweise mehr, als jeder, der in ihr denkt, sie als Bedingung dafür, daß er denkt, dadurch akzeptiert, daß er sie voraussetzt: auch wer mit Empörung von ihr lebt, lebt von ihr; gerade seine Empörung ist dann – bereichert um eine Geste – das Einverständnis. Eine Philosophie also, die die Skepsis mit einem derartigen Argument angreift, legt der Skepsis im wesentlichen das zur Last, was sie, die angreifende, ebenso selber ist; worin sie sich von der Skepsis unterscheidet, ist also vor allem, daß sie es nicht sich selber zum Einwand macht, sondern nur anderen und jedenfalls der Skepsis. Diese – die nicht so vermessen ist, sich die totale Vernichtung der Übel zuzutrauen – ist also das, was auch die kritische Theorie der Skepsis ist, nur mit weniger Illusionen. (Gewaltenteilung, 1988, S. 70f.)

 

Illusionsdefizit
Aber gerade das – ist Horkheimers weiterer Einwand – trifft nicht zu: gerade die gegenwärtige Skepsis – meint er – ist eine besonders intensive indirekte Illusionspflege. Ich gebe zu: tatsächlich kann die Illusionsabstinenz der Skepsis in Illusionspromiskuität übergehen; … sie erhöht, indem sie durch ihre Zweifel sozusagen ein Illusionsdefizit erzeugt, gerade dadurch die Anfälligkeit für Illusionen. Der traditionelle Konservatismus der Skepsis ist der Versuch eines Remediums dagegen: er empfiehlt bei jedem Anfall begeisterter Zustimmung zu zögern und darauf zu bestehen, daß die Begeisterung die Beweislast trägt. (Gewaltenteilung, 1988, S. 71)

 

Nous-Knacker
Die Skeptiker – scheint es – sind Nous-Knacker: darum herrscht traditionell Zweifel daran, ob sie überhaupt zu den Philosophen gehören… man kann sie auch … sehen: als eine … besonders breite philosophische Tradition, die nur wegen ihres jedem Übermaß abgeneigten Sensationsdefizits überdurchschnittlich unauffällig bleibt. (Gewaltenteilung, 1988, S. 75)

 

Zweifelnsbezweifelnd zweifeln
Sextus Empiricus … hat die Philosophen eingeteilt in die, die gefunden zu haben behaupten (Dogmatiker), die, die nicht finden zu können behaupten (Akademiker), und die, die noch suchen (Pyrrhonäer): die also so sehr zweifeln, daß sie – im Sinne von Hans Magnus Enzensbergers „Ende der Konsequenz“ lobenswert inkonsequent – zweifelnsbezweifelnd zweifeln. (Gewaltenteilung, 1988, S. 76)

 

Der Irrtum des Anderen
Die Skeptiker zweifeln; sie rechnen damit, daß die Menschen auch im Sinne des Allzumenschlichen menschlich sind und daß Irren menschlich ist: der eigene Irrtum, aber – niemals zu vergessen – auch der Irrtum des Anderen; und der Skeptiker würde „die Tugend der Skepsis“, die „Bescheidenheit“ (Hermann Cohen) vergessen, würde er seinen Mitmenschen nicht mehr Irrtum zutrauen als sich selber. (Gewaltenteilung, 1988, S. 76f.)

 

Tausendfüßler
[D]er pyrrhonische Skeptiker weiß also beileibe nicht nichts, er weiß nur nichts Absolutes. Der Skeptiker zersetzt nicht, er mäßigt. … Die tausend Zweifel des Skeptikers gleichen den Füßen jenes weisen Tausendfüßlers, der – Teilung der Gewalten, die die Füße sind – wohlweislich tausend Füße hatte: nicht, um blitzschnell laufen und ganz hoch springen, sondern, um über möglichst viele Füße stolpern zu können; denn das begünstigt… die Langsamkeit, also jenes gemäßigte Tempo, bei dem man schonend, d. h. vorsichtig und rücksichtsvoll leben kann. Small (that means: slow) is beautiful: insbesondere bei Änderungen, z. B. bei Wachstumsbegrenzungen. Skeptiker sind Liebhaber der Langsamkeit und darum disponiert zur Beschaulichkeit: denn der Skeptiker sucht zwar, aber … so, daß er nicht finden muß und darum beim Suchen – auch beim Diskurs – bummeln und abschweifen darf. (Gewaltenteilung, 1988, S. 77f.)

 

Buntheiten
Skepsis ist der Sinn für die Buntheiten unserer Lebenswirklichkeit. (Gewaltenteilung, 1988, S. 80)

 

Konsensdefizit
Auch hier ist es der Skeptiker, der in diesem scheinbaren Ärgernis – dem chronischen Konsensdefizit der Philosophie – das Positive und Gute erblickt: nämlich erneut die Chance zur Individualität auch beim Denken. (Gewaltenteilung, 1988, S. 85)

 

Zustimmungen
Indem die Skepsis illusionäre und ruinöse Zustimmungen zerstört, macht sie menschliche Zustimmungen allererst möglich. (Zustimmung, 1992, S. 10)

 

Skeptische Generation
Helmut Schelsky [nannte die] … deutsche Jugend im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg die skeptische Generation: desillusioniert, ernüchtert, antiideologisch und gerade dadurch besonders lebenstüchtig. Ich gehöre zu dieser skeptischen Generation: zwar nicht lebenstüchtig (wer ist schon lebenstüchtig und zugleich Philosoph?), aber skeptisch. Und die Skepsis der skeptischen Generation – das widerspricht der These von der unterbliebenen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor 1968 – war die direkte, ausdrückliche und völlig rationale Antwort auf den nationalsozialistischen Totalitarismus mit seinen grausamen Folgen. Und dazu gehörte, daß man sich auch keinen neuen Totalitarismus einreden lassen wollte. (Bürgerlichkeitsverweigerung, 1995, S. 34)

 

Absage an Negationskonformismen
Meine Philosophie nannte und nenne ich Skepsis und die Skepsis den Sinn für Gewaltenteilung bis hin zur Teilung auch noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind. Sie paralysiert die Versuchung, sich einer einzigen totalitären Alleingewalt zu unterwerfen. So war meine Skepsis die Antwort auf die Erfahrung bis 1945. Mein Mahnsatz – den Beleg dafür hatte ich gerade geliefert – war zunächst: „Ich“ kann mich irren. Ab 1968 habe ich ihn ergänzt: Auch „andere“ können sich irren, z. B. wenn sie – durch Flucht aus dem Gewissen-Haben in das Gewissen-Sein – das richtige „nie wieder Nationalsozialismus“ zum falschen „nie wieder Identifizierung“ pervertieren. Darum wurde meine Skepsis zur Absage an die Negationskonformismen, an das fiat utopia, pereat mundus, und so zum Schritt in die sanften Identifizierungen: die mit der Lebenskürze; die mit den Kompensationen; die mit der modernen Welt; die mit der Bundesrepublik; die mit der Bürgerlichkeit; die mit der mittelhessischen Nahwelt: Auf den Tag genau heute wohne ich – zusammen mit meiner Frau – seit dreißig Jahren in Gießen, die letzten zweieinhalb Jahre als Emeritus, nun also endlich doch noch als eine Art Privatdozent. (Selbstvorstellung, 1995, S. 10)

 

Individuum
Wer eine Philosophie sucht, die politisches Engagement für das Individuum intendiert, sollte darum – meine ich – weniger an den Existentialismus denken als vielmehr an die Skepsis, die auf Gewaltenteilung setzt und der Verweigerung der Bürgerlichkeit entgegentritt: durch Mut zur Bürgerlichkeit. (Bürgerlichkeit 2, 1995, S. 96)

 

Radikalitätsverzicht
Wie kann man für die Bürgerlichkeit – also gegen die Verweigerung der Bürgerlichkeit – sein und dennoch Heinrich Heine mögen? … Es sind seine Inkonsequenzen, die Heine wichtig und liebenswert machen; es sind seine Fähigkeiten zur Abweichung von sich selbst, die seine Identität definieren, so wie es bei der bürgerlichen Welt ihre Oppositionshaltigkeit ist, die sie zustimmungsfähig macht. Anders gesagt: Es ist der Radikalitätsverzicht und die Skepsis, die die Sympathie für Heine und die Option für die bürgerliche Welt kompatibel machen. (Heine, 1997, S. 41)

 

Ende der Konsequenz
[Es gilt], hier das zu betreiben, was Hans Magnus Enzensberger in seinen Politischen Brosamen als „Ende der Konsequenz“ bezeichnet und gelobt hat. Denn bei Heine sind gerade die Inkonsequenzen bedeutsam, und zwar positiv… (Heine, 1997, S. 48)

 

Heines Inkonsequenzen
Da ist:
a) der Umstand, daß Heine schließlich zur alten Religion zurückkehrt… Das ist kein Verrat an der Aufklärung, 1996, sondern … der Normalverlauf moderner Mentalität unter der Bedingung erfolgreicher Aufklärung: je mehr Wirklichkeit die Menschen durch Aufklärung rationell beherrschen, desto mehr erfahren sie zugleich, was sie nicht rational beherrschen können, sondern was – z. B. als Kontingenzlage der „Matratzengruft“ – kontingent bleibt und unverfügbar. Darum brauchen sie – zusätzlich zur rationellen Verfügung – die Kontingenzbewältigung durch Religion. Die Religion stirbt modern nicht ab, sondern im Gegenteil: je aufgeklärter die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird die Religion, schließlich auch und gerade für den Aufklärer Heine. Da ist:
b) Heines Interpretation der klassischen deutschen Philosophie als Traum der Französischen Revolution…: das ist – anders als jedenfalls ich es seit Mitte der 50er Jahre zunächst gelesen habe – nicht die Ermunterung der deutschen Philosophie, zur Revolution zu werden, sondern die Warnung davor. … die Verwandlung der absoluten Philosophie in die absolute Revolution – der „deutsche Donner“ – führt zum gesteigerten Terror. … Da ist:
c) der Radikalitätsverzicht Heines, wo er … das „Ende der Kunstperiode“ will und den Anfang der Revolutionsperiode. Denn Heine hat das Ästhetische nicht nur angegriffen, sondern auch bewahrt: er – der aggressive politische Schriftsteller – blieb zugleich ein „deutscher Dichter“. (Heine, 1997, S. 49f.)

 

Der Skeptiker Heinrich Heine
Die Sache von Heinrich Heine … war nicht der Radikalismus, sondern die Skepsis. … Skeptiker ist einer, der zweifelt, weil er mehrere – mindestens, wie das Wort Zweifel sagt, zwei – Seelen in seiner Brust, mehrere – mindestens zwei – Tendenzen in seinem Leben, mehrere – mindestens zwei – Geschichten in seiner Wirklichkeit hat, und der mehrere – mindestens zwei – Positionen vertritt, die einander durch „isosthenes diaphonia“ neutralisieren. Heine ist kein Monist; er tritt nicht für ein einziges Wirklichkeitsverhältnis ein, sondern – mindestens – für zwei: für die Emanzipation und für die Religion; für die Revolution und nicht für die Revolution; für das Ende der Kunstperiode und doch für die Kunst und das Ästhetische. (Heine, 1997, S. 51f.)

 

Strampeln
Dieser Mangel an Selbstsicherheit existiert, weil die Skeptiker nicht – als Inhaber eines Standpunkts (nach David Hilbert ist „ein Standpunkt ein Gesichtskreis mit dem Radius null“) – standpunktfest stehen, sondern weil die Skeptiker schwimmen. Ihnen geht es ähnlich wie jener Fliege, die in ein Milchfaß fiel und die gleichwohl nicht ertrank, weil sie nicht aufgab, sondern so lange strampelte, bis dadurch die Milch zu Butter wurde, so daß die Fliege wieder die Chance bekam wegzufliegen: dieses Strampeln entspricht der Bemühung um Stil in der Skepsis. Dabei muß natürlich präzise, geduldig und gut gestrampelt werden, zugunsten literarischer Bonität: also daß die Skeptiker-Texte zugleich ernste und vergnügliche Texte sind, durchsichtige und komponierte, spannende und entspannende Texte, rhythmisch anspruchsvolle und jedenfalls unverwechselbare Texte, lesbare – stilistisch ehrgeizige – Texte also, die lesbarkeitshalber immer noch einmal umgeschrieben werden müssen, bis sie so lesbar sind, daß sogar ihr Autor sie versteht und dann – mit, wie Roland Barthes sagte, „plaisir du texte“ – schließlich auch seine Mitmenschen sie goutieren. Das gilt für die schriftliche wie für die mündliche Form. Nötiger als overhead ist dabei head. (Endlichkeit, 2001, S. 20f.)

 

Interessantheit der Skepsis
Es reicht nicht aus, philosophische Sätze zu formulieren, die nur durch ihre Langweiligkeit wahr sind: weil bei ihnen sogar der Irrtum gähnt und sich nicht für sie interessiert. Also muß gerade die skeptische Philosophie – sie vor allem – interessant zu sein versuchen: sie muß aus Gedanken bestehen, die man auch in schweren Lebenslagen noch bemerkt und mit denen man es notfalls ein Leben lang aushalten kann. Darum braucht sie Erfahrung: sie muß – wenn auch noch so indirekt – existentielle und zeitdiagnostische Gehalte haben und – vor allem – Lebenserfahrung verarbeiten, auch wenn das die empiriophoben reinen Aprioristen schreckt: also jene reinen Philosophen, die ihre reine Philosophie streng nach dem Königsberger Reinheitsgebot von 1781 brauen. (Endlichkeit, 2001, S. 21)

 

Ohne-ihn-Philosophie
Spiegel: Habermas nannte Ihr Denken einmal die „Ohne-mich-Philosophie“.
Marquard: Und ich habe ihm geantwortet, das sei bloß die Ohne-ihn-Philosophie. … Der Skeptiker redet mit allen, der Diskursethiker letzlich nur mit Gleichgesinnten. (Götter, 2003, S. 153)

 

Schönwetter-Philosophie?
Spiegel: Ist das nicht eine Schönwetter-Philosophie – allenfalls geeignet für relative Wohlstandszeiten wie die gegenwärtige? Hätte man mit Ihrer Philosophie jemals die Französische Revolution angezettelt? Wo bleibt der Skeptiker in krass inhumanen Zeiten?
Marquard: Der Skeptiker rechnet damit, dass seine Philosophie eine unter anderen ist. Er behauptet ja nicht, dass er ein universales Prinzip vertritt, das die Welt rettet. Ich schließe nicht aus, dass andere in einigen Punkten besser sind als ich, zum Beispiel mutiger beim Verändern. Gegen Missstände würde ich mich immer wehren, aber ohne dafür ein neues Prinzip zu suchen. Mein Plädoyer für die Bürgerlichkeit setzt natürlich den bürgerlichen Staat voraus, der ohne die Französische Revolution nicht das wäre, was er ist. Im Rahmen dieses liberalen Staates bin ich für den Ausgleich zwischen Erneuerung und Schicksal, Beschleunigung und Langsamkeit, Globalisierung und Herkommen. Damit würde ich dann einer totalen Globalisierung und Modernisierung Widerstand leisten. (Götter, 2003, S. 153f.)

 

Gewaltenteilung
Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern der Sinn für Gewaltenteilung. (Vorbemerkung Individuum, 2004, S. 7)

 

Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben
Skeptiker … zweifeln, also kultivieren sie – wie das Wort Zweifel sagt – mindestens zwei, also eine Mehrzahl von Überzeugungen in ihrem Kopf und von Wirklichkeitstendenzen in ihrer Wirklichkeit. Das befähigt uns, durch Gewaltenteilung ein Individuum zu werden…, indem wir – durch Lebenspluralisierung – mehr merken: durch den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. (Vorbemerkung Individuum, 2004, S. 7)

 

Der Philosoph als Schriftsteller

 

Beliebigkeitsersparung
[Mein] Buch Skeptische Methode im Blick auf Kant [1958] … galt als stilistisch eigenwillig: Form – Zeitdruckersatz unter Mußebedingungen – gehört als Mittel der Beliebigkeitsersparung zu den Produktionsschrittmachern beim Schreiben für den, dem Schreiben nicht leicht fällt. (Prinzipiell, 1981, S. 8)

 

Transzendentalbelletristik
[I]ch meine …, daß man in der Philosophie dauerhafteren Umgang nur mit solchen Gedanken suchen sollte, die man auch in schwereren Lebenslagen noch bemerkt und mit denen man es notfalls ein Leben lang aushalten kann. Das schließt – wie ich vor allem bei Kierkegaard und Heine lernte – die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht aus, sondern gerade ein; das ästhetische Kompositions- und Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn aushaltbarer zu machen. Dadurch fand ich zu meinem Genre: zur Transzendentalbelletristik. (Prinzipiell, 1981, S. 9)

 

Lesbarkeit
Es gibt die naive Zuversicht von Autoren, dadurch, daß sie Texte erzeugt haben, einen Anspruch erworben zu haben, gelesen zu werden. Indes: Texte sind – angesichts der Lebenskürze und Zeitknappheit der sterblichen Menschen – von vornherein Belastungen und Belästigungen. Sie müssen – wenn sie zeitknappe Menschen als Leser zumutbar erreichen wollen – Buße dafür tun, daß es sie gibt. Das gilt vor allem auch für philosophische Texte. Die erfolgreiche Buße von Texten für ihre Existenz ist die Lesbarkeit. Die Lesbarkeit von zeitbeanspruchenden Texten ist … ihre Annäherung an die optimale Zeitnutzung und Zeiterfüllung: an die Musik. Das gelingt dadurch, daß Texte – insbesondere auch philosophische Texte – komponierte Texte, in ihren Teilen aufeinanderbezogene Texte, durchsichtige Texte, spannende Texte, rhythmische Texte, mehrstimmige Texte, polyphone Texte – und so fort – werden; denn es gilt: in den Texten der Philosophie ist soviel Lesbarkeit, als Musik in ihnen ist. Je musikalischer ein philosophischer Text ist, desto menschlicher – endlichkeitsfreundlicher – ist er. (Musik, 1990, S. 143f.)

 

Gut schreiben als Nächstenliebe
Nicht gut zu schreiben: das wäre gewissermaßen unterlassene Hilfeleistung. Gut zu schreiben: das gehört zur Nächstenliebe; die gut geschriebene Philosophie wird zur leserfreundlichen Lebenshilfe aus fürsorglicher Zuwendung, aus caritas. Darum nenne ich Josef Piepers philosophischen Stil … den Stil als karitative Maßnahme. (Schriftsteller 1, 1995, S. 132)

 

Socken für Sockenhersteller
Es muß notwendigerweise und hinreichend und zentral diejenigen geben, die Philosophie für alle schreiben: die Philosophen als Schriftsteller. Transzendentales Wolkentreten genügt dabei nicht: die Philosophie muß – wenn auch noch so indirekt – z. B. zeitdiagnostische Gehalte haben und Lebenserfahrung verarbeiten, auch wenn das die rigoristischen Aprioristen schreckt, also jene reinen Philosophen, die ihre reine Philosophie streng nach dem Königsberger Reinheitsgebot von 1781 brauen. Auch im Fach Philosophie sind Fachflüchter wichtiger als Fachhocker; und am wichtigsten sind die, die zugleich hocken und flüchten. Philosophen, die Philosophie nur für Philosophen schreiben, agieren fast so absonderlich wie Sockenhersteller es täten, die Socken nur für Sockenhersteller herstellten. Sie werden in der Regel nicht einmal von Philosophen gelesen, so daß sie tatsächlich völlig angewiesen sind auf jene negativen Literaturpreise, die die Druckkostenzuschüsse sind: die Auszeichnungen fürs voraussichtliche Nichtgelesenwerden. Schreiben ist in der Regel primär eine Mitweltbelästigung; auch Philosophen sollten dafür Buße tun: durch Lesbarkeit. (Schriftsteller 1, 1995, S. 133f.)

 

Leichtigkeit als Form
Und immer noch fallen mir Denken und Schreiben schwer; aber es lohnte sich nicht, wenn das anders wäre. Ich brauche die Leichtigkeit als Form, um mich auszuhalten, mich an den Denk- und Schreibtisch zu locken und um Buße zu tun dafür, daß ich meine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästige. (Selbstvorstellung, 1995, S. 10)

Dazu passt eine persönliche Begegnung mit Prof. Marquard am 19. Februar 2003: Ich hatte Marquards Buch „Glück im Unglück“ im damals noch existierenden Academica-Antiquariat gekauft und der Antiquar, Herr Martschin, hatte einen Individuum-Aufsatz von Marquard als sehr verständlich gelobt, weil er Hand und Fuß hatte und nicht aufgeblasen war, wie das Scheinwissen vieler anderer Professoren. Wie es der Zufall wollte, stieg am Marktplatz mit mir Herr Marquard in den Bus, und ich sprach ihn auf Herrn Martschins Lob an. Da meinte er: „Ich schreibe so lange an einem Artikel, bis ich ihn selbst verstanden habe.“ (Helmut Schütz)

 

Problemdrucksteigerungsprosa
Hans Blumenberg war als Philosophie zugleich ein bedeutender Schriftsteller. … Er hat eindrucksvolle wissenschaftliche Prosa geschrieben: gewissermaßen Problemdrucksteigerungsprosa, durch die philosophische Problemlagen alptraumfähig werden in seinen – wie ich sie genannt habe – als gelehrte Wälzer getarnten Problemkrimis, die uns merkender machen für das, was los ist. (Entlastung, 1996, S. 114f.)

 

Der multiple Philosoph
Auch als Autor pflegte er die stilistische Gewaltenteilung und teilte – je älter er wurde – den einen Autor Hans Blumenberg in jene Vielfalt von Autoren, die er – der multiple Philosoph – in sich vereinte. (Entlastung, 1996, S. 116f.)

 

Heine und Kierkegaard
Heine hat – wie Kierkegaard – erhebliche Stilbedeutung und Lebensbedeutung für mich. (Heine, 1997, S. 42)

 

Ultrakurzphilosophie
Zu einem kurzen Leben gehört eine kurze Philosophie. Darum muß auch ein Vortrag, der sie zur Sprache bringt, kurz sein. Ich fasse mich ultrakurz… (Zeit, 1997, S. 9)

 

Gelegenheitsarbeiten statt Hauptwerk
Im übrigen ist die Skepsis – gerade dort, wo sie zur Anthropologie des Stattdessen wird – eine Philosophie, die vor allem Gelegenheitsarbeiten produziert und von der kein Hauptwerk zu erwarten ist. So ist auch das Bändchen, das hier nun vorliegt, trotz seines unbescheidenen Titels ein Parergon: kein Zentral- und Hauptwerk, sondern günstigstenfalls etwas stattdessen. (Vorbemerkung Philosophie des Stattdessen, 2000, S. 8)

 

Eigentlichkeitsposition oder Torheitsfähigkeit
Es gehört zum Menschen und zum Schriftsteller, das politische Feld zu erfahren und bei seiner Gestaltung mitzuwirken. … Freilich: Daraus folgt nicht, daß Schriftsteller eine Sonderstellung und Vorzugsverfassung in bezug auf das Politische haben. Sie haben nicht die politische Eigentlichkeitsposition; und wo sie sie beanspruchen, mißlingt ihr Verhältnis zum Politischen. … Die Schriftsteller haben im Politischen nicht einmal eine Vorzugskompetenz als Formulierer: ihre Fähigkeiten zur politisch situationssensiblen und folgenempfindlichen Rede sind in der Regel eher ungeübt und darum mindestens begrenzt. … Politische Äußerungen von Schriftstellern sind – wie die aller anderen Bürger – torheitsfähig und darum umstreitbar; und daß sie kritisiert werden, ist deswegen normal und keine Majestätsbeleidigung und Götterlästerung. (Schriftsteller 2, 2000, S. 23f.)

 

Politische Macht den Schriftstellern?
Niemand sollte jammern, daß die politisch Mächtigen auf die Schriftsteller zu wenig hören. Denn nur, wenn die Schriftsteller politisch geschickt politisch Kluges äußern, sollte man auf sie hören und tut das ja auch: aber nicht, weil die Schriftsteller sind, sondern weil sie Kluges äußern, was sie ja keineswegs immer tun. Daß im Felde des Politischen die Übel erst dann aufhören, wenn die Mächtigen den Schriftstellern gehorchen oder die Schriftsteller die Mächtigen sind: diese Variante von Platons Philosophen-Könige-Satz ist ebenso falsch wie Platons Philosophen-Könige-Satz selber, der vor allem die Gefahr heraufbeschwört, daß die politische Macht weltfremd oder die Weltfremdheit politisch mächtig wird. (Schriftsteller 2, 2000, S. 24)

 

Stilbedarf
[I]n der Philosophie gibt es gerade so viel Stilbedarf, wie sie unabsolut, also wie Skepsis in ihr ist. Ihr Stilwille kompensiert ihre Schwäche: die Skepsis muß aus der Not philosophischer Selbstunsicherheit die Tugend literarischer Ansehnlichkeit machen. (Endlichkeit, 2001, S. 20)

 

Buße durch Stil
Texte sind – angesichts der Lebenskürze der sterblichen Menschen: sozusagen als Angriff auf ihre begrenzten Aufmerksamkeitsvermögen und knappen Lebenszeitbudgets – immer Belastungen und Belästigungen ihrer Mitmenschen. Das bedeutet: jeder Text muß dafür Buße tun, daß es ihn gibt. Das aber gelingt der Tendenz nach durch Stil. Es schließt die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht nur nicht aus, sondern gerade ein. Das stilistische und ästhetische Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, daß er es für notwendig hält, ihn erträglicher zu machen. Der skeptische Philosoph braucht die Leichtigkeit als Form, um sich auszuhalten: um sich selbst an den Denk- und Schreibtisch zu locken und um Buße zu tun dafür, daß er seine Mitmenschen mit Denken und Schreiben belästigt. (Endlichkeit, 2001, S. 22)

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